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„Das Wesen der Zeit ist das Maß des Gewordenen und eine ...

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DAS WESEN DER ZEIT –SYMPOSIUMSVORTRAG – 09/07– JANINE CHRISTGEN<br />

4<br />

- JANINE CHRISTGEN<br />

explizit Gedachte ausdrücken kann, noch <strong>eine</strong> genaue Dechiffrierung möglich macht. Daher<br />

scheint es auch nicht <strong>eine</strong> richtige Lesart, nicht <strong>eine</strong> „Wahrheit“ <strong>des</strong> musikalischen Textes zu<br />

geben. Diese Gedanken erschließen, warum ich im Voraus, die <strong>Zeit</strong> <strong>der</strong> Postmo<strong>der</strong>ne von<br />

jener <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne zu trennen suchte, zeigt sich hier doch, <strong>das</strong>s die Absage an die „Wahrheit“<br />

ihren Nie<strong>der</strong>schlag auch im Umgang mit <strong>der</strong> Rezeption musikalischer Texte findet.<br />

Zen<strong>der</strong> greift zur Verdeutlichung auf Höl<strong>der</strong>lins Mnemosyne-Text zurück: „Zeichen sind wir,<br />

deutungslos,/Schmerzlos sind wir <strong>und</strong> haben fast/ Die Sprache in <strong>der</strong> Fremde verloren.“ 9<br />

Mnemosyne, die Mutter <strong>der</strong> Musen, „<strong>ist</strong> im gleichen Moment in die Zukunft eilen<strong>der</strong><br />

utopischer Entwurf <strong>und</strong> Erinnerung an <strong>das</strong> Uralte.“ 10 Zeichen, die in ihrer Chiffrierung nicht<br />

mehr verstanden werden, sind deutungslos, haben ihre Sprachfähigkeit in <strong>eine</strong>r vergangenen<br />

<strong>Zeit</strong> eingebüßt <strong>und</strong> bedürfen nun <strong>der</strong> Übersetzungstätigkeit <strong>des</strong> Interpreten.<br />

Diese Gedanken schließen an Isers „Leerstellentheorie“ an: „Die Schrift <strong>des</strong> Kompon<strong>ist</strong>en<br />

entwirft an Stelle <strong>des</strong> <strong>eine</strong>n intendierten Stücks in Wirklichkeit unendlich viele. [...] Durch die<br />

Erfindung <strong>der</strong> musikalischen Schrift <strong>ist</strong> also gerade nicht die Möglichkeit entstanden, ein<br />

`musikalisches Objekt` eindeutig zu fixieren.“ 11 Zen<strong>der</strong> versteht die Urschrift als Basis für<br />

alle sich aus ihr formierenden differenten Lesarten. Die Werkentfaltung tritt durch <strong>das</strong><br />

„Lesen“ <strong>des</strong> Textes, durch die Kommunikation mit dem Text zutage. Wolfgang Iser geht<br />

davon aus, <strong>das</strong>s „die Schrift immer mehr ausdrückt, als dies dem Schreibenden bewusst <strong>ist</strong>“ 12 .<br />

Als Gründe für diesen Sachverhalt lassen sich die Arbriträt <strong>der</strong> Zeichen, <strong>der</strong> Wandel <strong>der</strong><br />

Chiffren <strong>und</strong> ihrer Bedeutung sowie <strong>der</strong> Wandel <strong>der</strong> Rezipienten (u.a. aus h<strong>ist</strong>orischen <strong>und</strong><br />

soziologischen Gründen) anführen. Die polyvalenten Möglichkeiten <strong>der</strong> Aktualisierung halten<br />

den Text dabei lebendig. Die Kommunikation mit dem Text vollzieht sich – nach Iser –<br />

gerade vermittels <strong>des</strong>sen Unbestimmtheitsstellen, die als „Aussparungen“ im Text bestimmt<br />

werden können, welche <strong>der</strong> Leser im Vorgang s<strong>eine</strong>r Lektüre individuell erschließt <strong>und</strong> auf<br />

mannigfaltige Weise gefüllt werden können.<br />

Nach diesen gr<strong>und</strong>sätzlichen theoretischen Bemerkungen zu Zen<strong>der</strong>s Vorgehensweise soll<br />

nun die Erläuterung anhand <strong>eine</strong>s Beispiels erfolgen. Dazu sei hier <strong>das</strong> erste Lied <strong>des</strong> Zyklus<br />

gewählt, da es nicht nur in Schubert Zyklus von beson<strong>der</strong>er Bedeutung <strong>ist</strong>, son<strong>der</strong>n gerade<br />

auch bei Zen<strong>der</strong> viel von <strong>der</strong> Arbeitsweise erfahren lässt, die s<strong>eine</strong> gesamte<br />

Zyklusbearbeitung kennzeichnet.<br />

9 Zitiert nach: Vogt, Harry: Musik <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>, S. 10.<br />

10 Zen<strong>der</strong>, Hans: Ein Vierteljahrhun<strong>der</strong>t später, S. 7.<br />

11 Zen<strong>der</strong>, Hans: Gedanken über die Bedeutung <strong>der</strong> schriftlichen Aufzeichnung für die Musik, S. 200.<br />

12 Gebauer, Gunter/Wulf, Chr<strong>ist</strong>oph: Unsinnliche Ähnlichkeit: zur Sprachanthropologie W. Benjamins, S. 377.

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