10 Jahre gelungene Naturschutzarbeit
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Gelbbauchunken leben in den<br />
seichten, fischfreien Kleingewässern<br />
im Weidegebiet Elsegg.<br />
Als erster Baustein von<br />
Sielmanns Biotopverbund<br />
Bodensee wurde der Heinz-<br />
Sielmann-Weiher im Winter<br />
2004/2005 fertiggestellt.<br />
Die Graugans gehört zu den elf<br />
neuen Brutvogelarten, die sich<br />
am Heinz-Sielmann-Weiher<br />
bereits angesiedelt haben.<br />
Kurzcharakteristik Sielmanns<br />
Biotopverbund Bodensee<br />
Hintergrund-„Philosophie“<br />
und Entstehungsgeschichte<br />
Obwohl es allein in Deutschland in jedem Bundesland<br />
mindestens eine Form von Biotopverbund gibt, ist<br />
„Sielmanns Biotopverbund Bodensee“ (BVB) dennoch<br />
einzigartig, von herausragender Bedeutung und hat<br />
damit richtungsweisenden Modellcharakter. Der 2011<br />
der Öffentlichkeit vorgestellte Fachplan Biotopverbund<br />
von Baden-Württemberg z. B. stellt im Wesentlichen<br />
Kartierungsergebnisse dar. Sie zeigen auf, wo zwischen<br />
mehr oder weniger wertvollen Biotopen Gebiete mit<br />
wichtigen Brückenfunktionen liegen, die bei künftigen<br />
Änderungen der Flächennutzung geschont werden<br />
sollten. In vielen anderen Fällen wird versucht, besondere<br />
Biotope durch Habitatbrücken – z. B. Heckengürtel<br />
– aktiv miteinander zu verbinden. Das gilt etwa für<br />
die geplante bundesweite Waldvernetzung durch den<br />
BUND. Dabei sollen Reste von Eichen-Buchen-Wäldern<br />
miteinander verbunden werden, sodass sich Wildkatzen<br />
und andere Arten über einen „Wegeplan“ wieder weiträumig<br />
bewegen können. Im Biotopverbund Bodensee<br />
hingegen wird ein gänzlich neuer Weg beschritten.<br />
Zunächst werden wertvolle Lebensräume – zumeist<br />
komplexe Feuchtgebiete – völlig neu geschaffen, und<br />
zwar durch Renaturierung bisher v. a. landwirtschaftlich<br />
extensiv genutzter Flächen. Sie werden dabei so<br />
dicht aneinandergereiht – auch unter Einbeziehung<br />
bereits bestehender reichhaltiger Habitate, dass Tiere<br />
wie Pflanzen benachbarte Biotopverbundgebiete durch<br />
natürliche Ausbreitung (Dispersion) besiedeln können.<br />
Auf diese Weise entsteht zwischen dem Mosaik vom<br />
Menschen bewohnter Ortschaften ein parallel angelegtes<br />
Netzwerk von Lebensräumen („Wohnzimmern“)<br />
für Tiere und Pflanzen. Die Feuchtgebietskomplexe<br />
des Verbunds sind dabei vielfach durch Fließgewässer<br />
vernetzt, die als Verbindungswege für Amphibien u. a.<br />
dienen. Vögel und viele Insekten können die geringen<br />
Entfernungen zu Nachbargebieten im Verbund leicht<br />
mit kurzen Flügen überwinden; Pflanzensamen, kleine<br />
Fische u. v. a. werden durch Wind, Vögel (Fischchen in<br />
deren Bauchgefieder) u. a. passiv dort hintransportiert.<br />
So entstehen in der in den letzten Jahrzehnten meist<br />
intensiv genutzten und damit vielerorts „ausgeräumten“<br />
und deshalb artenarmen Kulturlandschaft wieder<br />
neue artenreiche Tier- und Pflanzengesellschaften in<br />
eigens für sie geschaffenen Siedlungen (Biozönosen,<br />
„Oasen aus Menschenhand“). Da die neuen Biotope<br />
für viele Arten nur relativ kleinen Populationen ausreichend<br />
Lebensraum bieten können, ist wesentlich,<br />
dass die Kleinpopulationen benachbarter Gebiete<br />
ständig in Verbindung stehen und sich gegenseitig<br />
stabilisieren können. Auf diese Weise entstehen<br />
größere überlebensfähige (Meta-)Populationen, die<br />
auch ausreichend genetische Variabilität aufbauen<br />
können. Die wiederum ist Voraussetzung z. B. für<br />
Anpassungsvorgänge (Mikroevolutionsprozesse), wie<br />
sie die gegenwärtige Klimaerwärmung erfordert.<br />
Im BVB werden durch Renaturierung v. a. komplexe<br />
Feuchtgebiete neu geschaffen, da sich in ihnen erfahrungsgemäß<br />
die höchste Arten- und Individuendichte<br />
(größtmögliche Biodiversität) entwickeln kann – bei<br />
Tieren wie Pflanzen. Daneben werden auch weniger<br />
artenreiche, aber dennoch sehr wertvolle Biotope<br />
renaturiert oder stabilisiert, nämlich Auwald- und<br />
Streuobstgebiete, Trockenrasen, extensiv genutzte<br />
Wiesen oder Ruderalflächen.<br />
Obwohl der älteste Lebensraum im BVB – der Heinz-<br />
Sielmann-Weiher im Billafinger Tal – erst knapp zehn<br />
<strong>Jahre</strong> alt ist, schreibt er bereits eine einzigartige<br />
Erfolgsgeschichte (s. S. 16 und 17). Damit wird der BVB<br />
zu einem Modell, das in ganz Deutschland umgesetzt<br />
werden sollte.<br />
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich auf unserer Erde<br />
ein galoppierendes Artensterben von wild lebenden Tieren<br />
und Pflanzen ausgebreitet, das es in diesem Ausmaß wohl<br />
niemals zuvor gegeben hat. Dieser Artenrückgang ist<br />
keine Naturkatastrophe, sondern hausgemacht – bewirkt<br />
durch eine einzige, ungeheuer dominante Säugetierart:<br />
den Menschen. Mehr als zehn Millionen Tier- und<br />
Pflanzen arten besiedeln – noch – unseren Planeten, aber<br />
zurzeit werden jährlich Tausende davon ausgerottet. Und<br />
die über sieben Milliarden Menschen, die die Bevölkerungsexplosion<br />
bisher ergeben hat, fordern weiterhin<br />
ihren Tribut. Weltweit ist zurzeit jede achte Vogel-, jede<br />
fünfte Säugetier- und jede dritte Amphibienart gefährdet,<br />
nicht zu überleben; bei den Pflanzen sind sogar sieben<br />
von zehn Arten bedroht 1 . Dieses Horrorszenarium gilt<br />
nicht nur für entlegene Gebiete wie etwa Südostasien<br />
oder Zentralafrika mit enormem Bevölkerungsdruck,<br />
Armut und mangelndem Naturschutzbewusstsein,<br />
sondern auch für Mitteleuropa und hier insbesondere<br />
auch für Deutschland. Bei uns ist inzwischen rund die<br />
Hälfte aller wild lebenden Tier- und Pflanzenarten gefährdet.<br />
Und wenn auch noch nicht im ganzen Land ausgestorben,<br />
fehlen doch inzwischen in fast allen kleineren<br />
Bezirken wie Gemeindegemarkungen rund ein Drittel der<br />
noch bis in die 1950er-<strong>Jahre</strong> ansässigen Arten 1 .<br />
Bei uns hat der Artenrückgang bereits um 1800 eingesetzt<br />
– mit zunehmender Intensivierung der Landwirtschaft<br />
sowie steigendem Flächenverbrauch für Siedlungen, Industrieanlagen,<br />
Verkehrswege u. a. Obwohl schon um 1850<br />
erkannt, sind Maßnahmen wie zahlreiche Naturschutzverordnungen,<br />
Konventionen oder die Einrichtung von<br />
Naturschutzgebieten bisher immer nur hinterhergehinkt –<br />
sie waren durchweg halbherzig und nie präventiv. Deshalb<br />
sind trotz aller Bemühungen die sogenannten „Roten<br />
Listen“ gefährdeter Arten bis ins Internationale Jahr der<br />
Biodiversität 20<strong>10</strong> länger und länger geworden – und sie<br />
wachsen täglich weiter an.<br />
Wir 2 haben deshalb 1988 ein neues progressives Naturschutzkonzept<br />
entwickelt: die Einrichtung von „Wohnräumen“<br />
für Tiere und Pflanzen in jeder politischen<br />
Gemeinde, durch Renaturierung von <strong>10</strong> – 15 Prozent der<br />
Landesfläche. Auf diese Weise entstünde ein dichtes Netzwerk<br />
hochwertiger Lebensräume, das den meisten Arten<br />
eine Chance geben würde, zu überleben und reduzierte<br />
Bestände wieder aufzubauen.<br />
Mit meiner Emeritierung fasste ich den Plan, dieses neue<br />
Konzept mit einem Pilotprojekt im Bodenseeraum zu<br />
testen. In der frühen Planungsphase im November 2003<br />
wandte ich mich im Hinblick auf Unterstützung des<br />
Vorhabens an meinen väterlichen Freund Heinz Sielmann.<br />
Wir kannten uns seit 1955, und über gemeinsame Naturschutzinteressen<br />
waren wir uns im Laufe der <strong>Jahre</strong> nähergekommen.<br />
Er war von der Grundidee der Renaturierung<br />
spontan begeistert, und dann war gemeinsam rasch der<br />
Plan für einen „Biotopverbund Bodensee“ geschmiedet,<br />
der mithilfe der Heinz Sielmann Stiftung realisiert wird.<br />
Schon im Januar 2004 begann die Detailplanung und alsbald<br />
auch die praktische Arbeit. Das erste Teilprojekt, der<br />
„Heinz-Sielmann-Weiher“ mit angrenzendem Feuchtbiotop-Mosaik<br />
(rund zehn Hektar) – wurde im Billafinger<br />
Urstromtal (zwischen Stockach und Überlingen) angelegt.<br />
Dieses Gebiet mit intensiver landwirtschaftlicher Nutzung<br />
wurde gewählt, weil dort die Vogelbestände von<br />
1971 – 2004 reichlich drei Jahrzehnte lang registriert worden<br />
waren und die für unser Land typischen Rückgänge<br />
zeigten (u. a. Verschwinden von 14 Brutvogelarten der insgesamt<br />
115 festgestellten Vogelarten 3 ). Nach Einrichtung<br />
des Feuchtgebietes stieg die Anzahl der beobachteten<br />
Arten auf bisher 173 an – also um 50 Prozent, und 11 Arten<br />
siedelten sich als neue Brutvögel an. Weitere Erfolge sind:<br />
Von den 75 in Deutschland lebenden Libellenarten wanderten<br />
33 in das Gebiet ein, und bei den Amphibien z. B. ist<br />
die Erdkrötenpopulation von kleinen Restbeständen auf<br />
rund 5.000 angestiegen u. a. m. (s. S. 17).<br />
2 Berthold et. al. 1988<br />
1 Berthold & Mohr 2012<br />
3 Berthold 2003<br />
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