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takt - VDS

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Zur Diskussion<br />

selbst nicht in der inneren Vorstellung.<br />

Ich versuche mir vorzustellen,<br />

wie ich mich selbst vorne hin<br />

stelle und ein deutsches Volkslied<br />

schmettere. Auch das geht nicht.<br />

Ich glaube, das finnische Publikum<br />

fände das total normal. Nur<br />

wir selbst, wir haben da einen<br />

inneren Riegel, der sich schließt,<br />

sobald wir unsere Volksmusik als<br />

unsere eigene Identität leben und<br />

vorleben sollen. Viel einfacher<br />

wäre etwas ausländisches, für<br />

die Schüler natürlich ein englischsprachiger<br />

Popsong. Aber ich bin<br />

mir sicher: Eher würden sie auf<br />

der Bühne ein finnisches Volkslied<br />

singen als ein deutsches.<br />

Das gleiche Phänomen erleben<br />

wir ähnlich vielleicht im Schulchor.<br />

Kommt ein Ensemble aus<br />

Italien zu Gast, dann erwarten wir<br />

italienische Lieder. Und wir bekommen<br />

sie auch zu hören. Sind<br />

wir selbst in Italien, dann singen<br />

wir etwas in Englisch, in Französisch<br />

oder Hebräisch, vielleicht<br />

auch in Italienisch, aber auch in<br />

deutsch? Wir können natürlich<br />

in Larmoyanz verfallen und den<br />

Untergang des Abendlandes herbei<br />

reden, der mit dem Verfall<br />

der Volksmusik einhergeht. Aber<br />

wir sollten wohl zunächst bemerken,<br />

dass die Verkrampfung, die<br />

wir beim Thema Volksmusik ganz<br />

ähnlich erleben wie in der aktuellen<br />

Integrationsdebatte, ein spezifisch<br />

deutsches Phänomen ist.<br />

Es ist bestimmt kein Zufall, dass<br />

sich gerade unser Land so schwer<br />

damit tut, Fremde zu integrieren,<br />

wo wir selbst ein gewisses Unbehagen<br />

in der eigenen Kultur verspüren.<br />

Das hat natürlich ganz viel mit<br />

unserer Geschichte tun. Dass wir<br />

heute nicht mehr so unbefangen<br />

vom deutschen Wald singen wie<br />

die Finnen von dem ihren hängt<br />

auch damit zusammen, dass wir<br />

uns selbst nicht ganz über den<br />

Weg trauen. Wo ist die Grenze<br />

zwischen „volkstümlich“ und „völkisch“?<br />

Auch 65 Jahre nach dem<br />

Ende der Nazityrannei ist die Geschichte<br />

nicht vorbei. Diese besonderen<br />

Umstände sollten wir<br />

nicht vergessen, wenn wir über<br />

die Rolle der Musik in der Integrationsarbeit<br />

sprechen. Natürlich<br />

kann auch bei uns der Musikunterricht<br />

einen ganz wesentlichen<br />

Beitrag für das soziale Gefüge<br />

leisten. Nur dürfen wir nicht denken,<br />

es würde reichen, wenn wir<br />

Migranten „Horch, was kommt<br />

von draußen rein“ beibringen.<br />

Der Zusammenhang von Musikunterricht<br />

und Integration ist<br />

differenziert zu betrachten. Hier<br />

sechs Thesen:<br />

1. Keine Integration ohne Identifikation.<br />

In Bezug auf die Musik<br />

heißt das: Ein Land ohne Identifikation<br />

mit der eigenen Volksmusik<br />

kann nicht von Migranten<br />

erwarten, dass ausgerechnet sie<br />

sich dafür interessieren.<br />

2. Entkrampfung und Identifikation<br />

gehören zusammen. In<br />

Deutschland müsste sich erst einmal<br />

das Verhältnis zur eigenen<br />

Vergangenheit entkrampfen, um<br />

eine Wiedergeburt der Volksmusikkultur<br />

zu ermöglichen. Erste<br />

Schritte sind vielleicht schon gemacht.<br />

Niemand kann jedoch<br />

ernsthaft wünschen, dass Entkrampfung<br />

mit Vergessen einhergeht.<br />

Die mühsame Auseinandersetzung<br />

mit unserer Geschichte,<br />

die natürlich auch zur Distanz<br />

und zur Entfremdung geführt<br />

hat, war notwendig. Sie ist selbst<br />

inzwischen zum Teil unserer Kultur<br />

geworden. Daraus ergibt sich<br />

zwangsläufig....<br />

3. Identifikation kann weder<br />

staatlich verordnet noch durch<br />

Lehrpläne erzwungen werden. Sie<br />

könnte allenfalls wachsen, wenn<br />

eine gemeinsame musikalische<br />

Erlebnisbasis bei Lehrern wie bei<br />

Schülern vorhanden wäre. Sollen<br />

wir Musiklehrer uns überhaupt<br />

als Pfleger eines nationalen musikalischen<br />

Erbes verstehen, als<br />

Museumswächter der deutschen<br />

Volksmusik, die vom Aussterben<br />

bedrohte Exponate sorgsam vor<br />

Frischluft in Glasvitrinen schützen.<br />

Bitte nicht berühren! Mit<br />

dieser Rolle werden sich wohl die<br />

wenigsten anfreunden können.<br />

4. Kunstmusik als Chance. Die<br />

Großen der Musik, von Josquin<br />

bis Boulez, entzogen sich schon<br />

immer einer einseitig nationalen<br />

Rezeption. Die Kunstmusik ist im<br />

Kern ein europäisches Phänomen.<br />

Identifikation mit den Werten<br />

anspruchsvoller Musik müsste<br />

doch immer ein vorrangiges<br />

Ziel unserer Arbeit sein. Musikalische<br />

Kompetenzen erwerben,<br />

statt sich national vereinnahmen<br />

zu lassen! Gerade beim Thema<br />

Integration kann ein Kanon klassischer<br />

Werke der europäischen<br />

Musikliteratur nützlich sein, europäische<br />

Werte mit zu formulieren.<br />

Mozarts „Entführung“ sollte<br />

man da vielleicht heraus nehmen.<br />

Oder gerade nicht? Auch in anderer<br />

Hinsicht wird es schwer, ausgerechnet<br />

der Klassik die Rolle zu<br />

geben, als gesellschaftlicher Kitt<br />

zu wirken: Kann es überhaupt gelingen,<br />

im echten Brennpunkt angemessenes<br />

Verständnis für diese<br />

Werke zu wecken, wo dies schon<br />

im wohlbehüteten Gymnasium<br />

oft misslingt? Einzelbeispiele zeigen<br />

immer wieder, dass es funktionieren<br />

kann, wie z.B. Simon<br />

Rattles „Rhythm is it“. Aber ob es<br />

sich um Modelle mit großer Breitenwirkung<br />

handeln kann, bleibt<br />

vorerst zumindest fraglich.<br />

5. Popmusik als Chance. Wenn<br />

es eine Musik gibt, die die Jugendlichen<br />

der ganzen Welt jetzt<br />

schon eint, dann natürlich der<br />

con.<strong>takt</strong> 2/2010 5

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