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<strong>Reichsverfassung</strong> <strong>und</strong> <strong>Landstän<strong>de</strong></strong><br />

von Prof. Dr. Heinz-Günther Borck<br />

Wenn <strong>de</strong>r Landtag von Rheinland-Pfalz ein Symposion zur Parlamentsgeschichte im Gebiet <strong>de</strong>s heutigen<br />

Rheinland-Pfalz organisiert, dann ist die Frage nach <strong>de</strong>m Warum? nicht unberechtigt. Warum<br />

wen<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r Landtag, warum überhaupt wen<strong>de</strong>n wir uns vergangenen Zeiten zu? Bei dieser Frage<br />

nach <strong>de</strong>m Sinn <strong>de</strong>r Geschichte kommt mir ein Bild aus <strong>de</strong>r germanischen Sagenwelt in <strong>de</strong>n Sinn. Zu<br />

Füßen <strong>de</strong>r Weltenesche Yggdrasil, die Unterwelt, Welt <strong>und</strong> Götterreich miteinan<strong>de</strong>r verbin<strong>de</strong>t, sitzen<br />

die drei Nornen Urd - das was wur<strong>de</strong>, die Vergangenheit, Werdandi - das was wird, die Gegenwart,<br />

Skuld - das was sein soll, die Zukunft – <strong>und</strong> weben miteinan<strong>de</strong>r am Geflecht <strong>de</strong>s Schicksals, das<br />

gleichbe<strong>de</strong>utend mit <strong>de</strong>m Ablauf <strong>de</strong>s Geschehen<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Zeit <strong>und</strong> damit mit Geschichte ist.<br />

Vergangenheit, Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft sind, so dieses schöne Bild aus germanischer Vorzeit, unauflöslich<br />

miteinan<strong>de</strong>r verwoben – unsere Gegenwart ist ja die Vergangenheit <strong>de</strong>r Zukunft, sowie je<strong>de</strong><br />

Vergangenheit einmal die Zukunft einer Gegenwart war <strong>und</strong> je<strong>de</strong> Zukunft zur Vergangenheit ihrer eigenen<br />

Zukunft wer<strong>de</strong>n wird.<br />

In <strong>de</strong>r ihm eigenen dunklen Sprache hat Nietzsche sich <strong>de</strong>m Zusammenhang von Vergangenheit <strong>und</strong><br />

Zukunft so genähert: „Wer über alte Ursprünge weise wur<strong>de</strong>, siehe, <strong>de</strong>r wird zuletzt nach Quellen <strong>de</strong>r<br />

Zukunft suchen <strong>und</strong> nach neuen Ursprüngen“. 1<br />

Vergangenheit, Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft fließen in <strong>de</strong>r Geschichte zusammen: wer <strong>de</strong>n Blick auf Geschichte<br />

richtet, nimmt die Kommunikation mit jener Zukunft auf, die heute unsere Gegenwart ist.<br />

Auch Nietzsche meint damit, dass <strong>de</strong>r Weise, in<strong>de</strong>m er sich <strong>de</strong>n Quellen <strong>de</strong>r Vergangenheit zuwen<strong>de</strong>t,<br />

zugleich seinen Blick auf die Ursprünge <strong>de</strong>r Zukunft verstehend richtet.<br />

Wenn wir heute uns mit <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>s Parlamentarismus befassen, so erfüllen wir damit einen<br />

staatspolitischen Auftrag, einen Auftrag, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Lan<strong>de</strong>sarchiven von Rheinland-Pfalz gesetzlich erteilt<br />

ist <strong>und</strong> <strong>de</strong>n auch die historische Forschung an <strong>de</strong>n Universitäten erfüllt: wenn wir uns mit <strong>de</strong>n<br />

Wurzeln unserer Gegenwart befassen <strong>und</strong> diese offen legen, dann nehmen wir in <strong>de</strong>m beschriebenen<br />

Sinne gleichsam eine Kommunikation auch mit Zukunft auf, nämlich jener vergangenen Zukunft, die<br />

heute unsere Gegenwart ist o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>ren Verständnis je<strong>de</strong>nfalls wesentlich erleichtert. Aus diesem Zusammenhang<br />

folgt, dass <strong>de</strong>r wahre, <strong>de</strong>r staatspolitisch be<strong>de</strong>utsame Sinn einer Beschäftigung mit Geschichte<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Archiven gesetzlich aufgegebenen För<strong>de</strong>rung ihres Verständnisses darin bestehen<br />

muss, <strong>de</strong>m vertiefen<strong>de</strong>n Verständnis <strong>de</strong>r je eigenen Gegenwart zu dienen; dieses ist erfor<strong>de</strong>rlich, will<br />

man auf vernünftige Weise an <strong>de</strong>r planvollen Gestaltung von Zukunft mitwirken.<br />

Auch in unserem von Erfindungen geprägten technischen Zeitalter, das Geschichte zu machen behauptet<br />

<strong>und</strong> sich doch oft <strong>de</strong>r Geschichte verweigert, bedarf es eigentlich kaum einer Rechtfertigung dieses<br />

Satzes, <strong>de</strong>nn in Wahrheit besteht ein <strong>de</strong>rartiger Zusammenhang auch heute bei je<strong>de</strong>r Art von Planung,<br />

selbst wenn sie sich technisch-statistisch gebär<strong>de</strong>t; <strong>de</strong>nn Planung von heute, die in Zukunft wirken<br />

soll, bedient sich immer <strong>de</strong>r Daten, die gestern gewonnen wur<strong>de</strong>n <strong>und</strong> ebenso kritischer Wertung bedürfen<br />

wie die Quellen <strong>de</strong>r Geschichte.<br />

Bei meinem Thema „Reichverfassung <strong>und</strong> <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>“ will ich daher, ausgehend von <strong>de</strong>r Zukunft <strong>de</strong>r<br />

Vergangenheit, nämlich unserer Gegenwart, zunächst <strong>de</strong>n Blick auf die letzten zweih<strong>und</strong>ert Jahre richten,<br />

in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Zusammenhang zwischen Verfassung <strong>und</strong> Landtag/<strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n offensichtlich ist.<br />

1 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 3. Teil, Von alten <strong>und</strong> neuen Tafeln Zf. 25, in: das Hauptwerk,<br />

Hrsg. V. Jost Perfahl, Bd. 3, München 1990, S. 234.<br />

1


Wenn heute das Gr<strong>und</strong>gesetz vom 23. Mai 1949 in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>mokratischen <strong>und</strong> sozialen B<strong>und</strong>esstaat<br />

„B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland“ alle Staatsgewalt vom Volke ausgehen lässt 2 , dann folgt daraus zwingend,<br />

dass in <strong>de</strong>n Glie<strong>de</strong>rn dieses B<strong>und</strong>esstaates, <strong>de</strong>n Län<strong>de</strong>rn, die verfassungsmäßige Ordnung nicht<br />

von <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s B<strong>und</strong>es wesentlich abweichen darf, son<strong>de</strong>rn ebenso <strong>de</strong>n Gr<strong>und</strong>sätzen <strong>de</strong>s republikanischen,<br />

<strong>de</strong>mokratischen <strong>und</strong> sozialen Rechtsstaates entsprechen muss 3 . Auf allen Ebenen <strong>de</strong>s Staates,<br />

also auch in <strong>de</strong>n Län<strong>de</strong>rn, Kreisen <strong>und</strong> Gemein<strong>de</strong>n, muss eine Volksvertretung aus allgemeinen, unmittelbaren,<br />

freien, gleichen <strong>und</strong> geheimen Wahlen hervorgegangen sein, <strong>und</strong> die Übereinstimmung<br />

<strong>de</strong>r verfassungsmäßigen Ordnung <strong>de</strong>r Län<strong>de</strong>r insbeson<strong>de</strong>re mit <strong>de</strong>n Gr<strong>und</strong>rechten <strong>de</strong>r Verfassung wird<br />

ebenso gewährleistet 4 , wobei zusätzlich die Artikel 31 5 <strong>und</strong> 37 6 die durchgehen<strong>de</strong> Gleichheit <strong>de</strong>r Verfassungsordnung<br />

<strong>und</strong> ihre tatsächliche Geltung sichern. Auch die Verfassung <strong>de</strong>r DDR vom 7.10.1949<br />

kannte ähnliche Regelungen 7 .<br />

Damit war weitgehend <strong>de</strong>r vorübergehend durch das Gesetz über <strong>de</strong>n Neuaufbau <strong>de</strong>s Reiches vom<br />

30.1.1934 aufgehobene Rechtszustand <strong>de</strong>r Weimarer <strong>Reichsverfassung</strong> wie<strong>de</strong>r hergestellt wor<strong>de</strong>n 8 .<br />

1934 hatte die nationalsozialistische Reichsregierung die Volksvertretungen <strong>de</strong>r Län<strong>de</strong>r beseitigt, ihre<br />

Hoheitsrechte auf das Reich übergeleitet <strong>und</strong> die Lan<strong>de</strong>sregierungen <strong>de</strong>n Weisungen <strong>de</strong>r Reichsregierung<br />

unterstellt. Demgegenüber hatte die Weimarer <strong>Reichsverfassung</strong> vom 11. 8. 1919 9 in Artikel 17<br />

festgelegt, dass je<strong>de</strong>s Land eine freistaatliche Verfassung haben müsse <strong>und</strong> dass die Volksvertretungen<br />

von Männer <strong>und</strong> Frauen nach <strong>de</strong>n Gr<strong>und</strong>sätzen <strong>de</strong>r allgemeinen, gleichen, unmittelbaren <strong>und</strong> geheimen<br />

Wahl zu wählen seien. Auch hier galt <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>satz „ Reichsrecht bricht Lan<strong>de</strong>srecht“ 10 .<br />

Dagegen hatte die Bismarcksche <strong>Reichsverfassung</strong> vom 16.4.1871 11 keine unmittelbaren Eingriffe in<br />

die Rechte <strong>de</strong>r B<strong>und</strong>esstaaten vorgenommen, vielmehr das Reich als „einen ewigen B<strong>und</strong> zum Schutze<br />

<strong>de</strong>s B<strong>und</strong>esgebietes <strong>und</strong> <strong>de</strong>s innerhalb <strong>de</strong>sselben gültigen Rechtes, sowie zur Pflege <strong>de</strong>r Wohlfahrt <strong>de</strong>s<br />

<strong>de</strong>utschen Volkes“ – so <strong>de</strong>r Vorspruch <strong>de</strong>r Verfassung – beschrieben <strong>und</strong> damit im Gr<strong>und</strong>satz die Fortdauer<br />

einzelstaatlich gelten<strong>de</strong>n Rechts gewährleistet, freilich mit <strong>de</strong>r Bestimmung <strong>de</strong>s Artikels 2, wonach<br />

Reichsgesetze <strong>de</strong>n Lan<strong>de</strong>sgesetzen vorgehen sollten, gleichwohl die Gr<strong>und</strong>lage für eine künftige<br />

einheitliche Entwicklung geschaffen. Allerdings war im Falle von Verfassungsstreitigkeiten, wenn in<br />

einem <strong>de</strong>r B<strong>und</strong>esstaaten zu <strong>de</strong>ren Schlichtung keine Behör<strong>de</strong> eingerichtet war, nicht <strong>de</strong>r Reichstag<br />

o<strong>de</strong>r das Reichsministerium, son<strong>de</strong>rn auf Anrufung eines streiten<strong>de</strong>n Teiles <strong>de</strong>r B<strong>und</strong>esrat für einen<br />

gütlichen Ausgleich zuständig 12 . Auch hier war jedoch für <strong>de</strong>n Notfall die Lösung durch die Reichsgesetzgebung<br />

vorgesehen.<br />

Das war im Gr<strong>und</strong>e ein Rückschritt gegenüber <strong>de</strong>r Verfassung <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Reiches vom 28. März<br />

1849 13 , die bereits sehr viel weiter gehen<strong>de</strong> Regelungen für die einzelnen <strong>de</strong>utschen Staaten enthalten<br />

hatte. 1849 waren nicht nur gr<strong>und</strong>sätzlich Lan<strong>de</strong>sverfassungen mit Volksvertretung <strong>und</strong> Ministerver­<br />

2 Artikel 20 Abs. 1 <strong>und</strong> Abs. 2 GG.<br />

3 Artikel 28, Abs. 1 GG.<br />

4 Artikel 28, Abs. 3 GG.<br />

5 B<strong>und</strong>esrecht bricht Lan<strong>de</strong>srecht.<br />

6 B<strong>und</strong>eszwang.<br />

7 Dort hieß es in Artikel 109, dass die Lan<strong>de</strong>sverfassungen <strong>de</strong>n Gr<strong>und</strong>sätzen <strong>de</strong>r Verfassung <strong>de</strong>r Republik entsprechen<br />

müssen.<br />

8 Reichsgesetzblatt Teil I, S. 75.<br />

9 Reichsgesetzblatt 1919, S. 1383ff.<br />

10 Artikel 13 Abs. 1 WRV.<br />

11 B<strong>und</strong>esgesetzblatt 1871, S. 64ff.<br />

12 Artikel 76 BRV.<br />

13<br />

Günter Dürig <strong>und</strong> Walter Rudolf (Hrsg.), Texte zur <strong>de</strong>utschen Verfassungsgeschichte, München <strong>und</strong> Berlin<br />

1967, S. 51ff.<br />

2


antwortlichkeit 14 , mit <strong>de</strong>m Recht <strong>de</strong>r Gesetzgebungsvorschläge, <strong>de</strong>r Beschlussfassung über <strong>de</strong>n Staatshaushalt<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>m Recht <strong>de</strong>r Ministeranklage vorgesehen 15 , son<strong>de</strong>rn es wur<strong>de</strong> auch ein Wi<strong>de</strong>rspruch<br />

zwischen Verfassungen <strong>de</strong>s Einzelstaates <strong>und</strong> <strong>de</strong>r <strong>Reichsverfassung</strong> ausgeschlossen sowie eine Än<strong>de</strong>rung<br />

<strong>de</strong>r Regierungsform in Einzelstaaten an die Zustimmung <strong>de</strong>r Reichsgewalt geb<strong>und</strong>en 16 . Mit <strong>de</strong>r<br />

Bestimmung <strong>de</strong>s § 88, wonach nicht nur die Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Zweiten Kammer, <strong>de</strong>s Staatenhauses, zur<br />

Hälfte durch die jeweilige Volksvertretungen zu ernennen waren, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>utschen Staaten, die<br />

aus mehreren Provinzen o<strong>de</strong>r Län<strong>de</strong>rn mit beson<strong>de</strong>ren Verfassungen o<strong>de</strong>r Verwaltungen bestün<strong>de</strong>n,<br />

die Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Staatenhauses nicht von <strong>de</strong>r allgemeinen Lan<strong>de</strong>svertretung, son<strong>de</strong>rn von <strong>de</strong>n Vertretungen<br />

einzelner Län<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r Provinzen 17 ernannt wer<strong>de</strong>n sollten, wur<strong>de</strong> – ein sehr mo<strong>de</strong>rner Gedanke!<br />

– einer starken Regionalisierung unter Berücksichtigung historischer Glie<strong>de</strong>rungen Rechnung<br />

getragen, wenn nicht Vorschub geleistet.<br />

Diese Bestimmungen gingen weit über die <strong>de</strong>r nachnapoleonischen B<strong>und</strong>esakte vom 8.6.1815 18 <strong>und</strong><br />

<strong>de</strong>r Wiener Schlussakte vom 15.5.1820 19 hinaus. Wohl hatte die B<strong>und</strong>esakte für alle B<strong>und</strong>esstaaten<br />

eine landständische Verfassung gefor<strong>de</strong>rt 20 , <strong>und</strong> die Wiener Schlussakte sah in <strong>de</strong>n Artikeln 53-56 die<br />

B<strong>und</strong>esversammlung in <strong>de</strong>r Pflicht, Rechte <strong>und</strong> Verhältnisse <strong>de</strong>r Untertanen entsprechend <strong>de</strong>n Garantien<br />

<strong>de</strong>r B<strong>und</strong>esakte, also insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>s Artikels 13, zu schützen. Gleichwohl galt die Verfassungsfrage<br />

für die souveränen Fürsten <strong>de</strong>r B<strong>und</strong>esstaaten als innere Lan<strong>de</strong>sangelegenheit, die unter Berücksichtigung<br />

sowohl früherer als auch gegenwärtig obwalten<strong>de</strong>r Verhältnisse geordnet wer<strong>de</strong>n konnte 21 .<br />

Damit war <strong>de</strong>r in Artikel 2 <strong>de</strong>r Schlussakte enthaltene Gr<strong>und</strong>satz „dieser Verein besteht in seinem Innern<br />

als eine Gemeinschaft selbständiger, unter sich unabhängiger Staaten, mit wechselseitigen gleichen<br />

Vertragsrechten <strong>und</strong> Vertragsobliegenheiten, in seinen äußeren Verhältnissen aber, als eine in politischer<br />

Einheit verb<strong>und</strong>enen Gesamtmacht“ voll bestätigt, auch wenn Artikel 56 die Souveränitätsrechte<br />

erheblich einschränkte: „Die in anerkannter Wirksamkeit bestehen<strong>de</strong>n landständischen Verfassungen<br />

können nur auf verfassungsfähigem Wege wie<strong>de</strong>r abgeän<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n“, ohne dass <strong>de</strong>r B<strong>und</strong><br />

freilich in gravieren<strong>de</strong>n Streitfällen, so bei <strong>de</strong>r Aufhebung <strong>de</strong>r Hannoverschen Verfassung 1837 22 , sich<br />

ohne weiteres durchsetzen konnte, zumal die Artikel 58-62 das Einwirken <strong>de</strong>s B<strong>und</strong>es auf die landständischen<br />

Verhältnisse sehr einengten.<br />

Damit sind wir an <strong>de</strong>r engeren Zeitgrenze meines Themas, beim Heiligen Römischen Reich <strong>de</strong>utscher<br />

Nation angelangt. Es wird nieman<strong>de</strong>n verw<strong>und</strong>ern, dass im alten Heiligen Römischen Reich Deutscher<br />

Nation keine so klaren Verfassungsverhältnisse herrschten, ja, wer <strong>de</strong>n von Fritz Hartung 23 gewählten,<br />

eher preußisch geleiteten verfassungsgeschichtlichen Blick auf die <strong>Reichsverfassung</strong> unter <strong>de</strong>m<br />

Aspekt staatlicher Machtentfaltung richtet, <strong>de</strong>r wird sogleich auf das so beliebte Zitat von Pufendorf<br />

stoßen 24 , <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r <strong>Reichsverfassung</strong> vollständige Regellosigkeit sah <strong>und</strong> <strong>de</strong>shalb das Reich als „Irre­<br />

14 § 186 RV.<br />

15 § 187 RV.<br />

16 §§ 194 <strong>und</strong> 195 RV.<br />

17 Ausdrücklich genannt sind die Provinzialstän<strong>de</strong>, wie es sie in Preußen gab.<br />

18 Düring/Rudolf (Anm. 13), S. 11ff.<br />

19 Ebda. S. 21ff.<br />

20 Artikel 13.<br />

21 Artikel 55.<br />

22 Gerhard Dilcher, Der Protest <strong>de</strong>r Göttinger Sieben. Zur Rolle von Recht <strong>und</strong> Ethik, Politik <strong>und</strong>Geshichte im<br />

Hannoverschen Verfassungskonflikt, Hannover 1988 (Schriftenreihe <strong>de</strong>r Juristischen Studiengesellschaft Hannover,<br />

Heft 18).<br />

23 Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jh. bis zur Gegenwart, 9. A. Stuttgart 1969.<br />

24<br />

Severinus <strong>de</strong> Monzambano (=Samuel Pufendorf), De statu imperii Germanici, Genf, Columesius 1673 Kap. 6<br />

§ 9 (= QuStudGeschDtReich hrsg. K. Zeumer, Bd. 3, H. 4, bearb. F. Salomon), Weimar 1910. S. 126.<br />

3


gegnen uns in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahrh<strong>und</strong>erten immer wie<strong>de</strong>r <strong>und</strong> sind letztlich auch Gr<strong>und</strong>lage <strong>de</strong>s ganzen<br />

Lehnswesens gewor<strong>de</strong>n – an die Zustimmung ihrer aus Freien bestehen<strong>de</strong>n Gefolgschaft geb<strong>und</strong>en.<br />

Schon Tacitus beschreibt die öffentlichen Zusammenkünfte, auf <strong>de</strong>nen gr<strong>und</strong>sätzlich die wichtigen<br />

Angelegenheiten vom gesamten Volke <strong>und</strong> nur die unwichtigeren von <strong>de</strong>n Fürsten entschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n<br />

31 . Diese Bindung <strong>de</strong>s Herrschers an die Zustimmung seiner Gefolgschaft setzt sich in <strong>de</strong>r Bindung<br />

<strong>de</strong>s Gesetzgebers an die Zustimmung <strong>de</strong>r Betroffenen fort, jene Zustimmung, die das ungeschriebenen<br />

Gesetz germanisch-mittelalterlicher Herrschaftskontrolle <strong>und</strong> <strong>de</strong>n eigentlich Geltungsgr<strong>und</strong> von Recht<br />

darstellt; bereits in <strong>de</strong>n Kapitularien fin<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r formelhafte Gr<strong>und</strong>satz „(quoniam) lex consensu<br />

populi et constitutione regis fit“ 32 . Diese Formel strahlt auch auf das Lehnswesen aus, das in seinem<br />

Kern die Verpflichtung <strong>de</strong>s Lehnsherrn zu Schutz <strong>und</strong> Schirm, die <strong>de</strong>s Lehnsmannes zu Rat <strong>und</strong> Tat<br />

enthält.<br />

Rat <strong>und</strong> Tat sind aber nicht allein Pflicht, son<strong>de</strong>rn können wegen <strong>de</strong>s erwähnten Gegenseitigkeitsprinzips<br />

auch zum Recht wer<strong>de</strong>n, <strong>und</strong> dass „Recht“ als tragen<strong>de</strong>s Element <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Staatslebens angesehen<br />

wer<strong>de</strong>n muß, zeigt sich vielerorts in <strong>de</strong>n Kapitularien 33 , aber nirgendwo klarer als in <strong>de</strong>m be<strong>de</strong>utendsten<br />

Rechtsbuch <strong>de</strong>s Mittelalters, <strong>de</strong>m Sachsenspiegel, wo Rechtswahrung die wichtigste<br />

Pflicht überhaupt <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Königs ist 34 : „Sobald man <strong>de</strong>n König kürt, soll er <strong>de</strong>m Reiche Hul<strong>de</strong><br />

tun <strong>und</strong> schwören, dass er das Recht stärken <strong>und</strong> das Unrecht schwächen <strong>und</strong> das Reich vertreten wer<strong>de</strong><br />

in seinem Rechte, wie er könne <strong>und</strong> vermöge“. Dem entspricht die weitere Vorschrift <strong>de</strong>s Sachsenspiegels,<br />

wonach <strong>de</strong>r Lehnsmann <strong>de</strong>r unrechten Tat seines Königs <strong>und</strong> seines Richters sich wi<strong>de</strong>rsetzen<br />

<strong>und</strong> helfen darf, sie abzuwehren, ohne damit wi<strong>de</strong>r seine Treupflicht zu han<strong>de</strong>ln <strong>und</strong> seinen Treueid<br />

zu verletzen 35 . Und dass dies wirkliches Reichsrecht war, zeigt sich in <strong>de</strong>n Beschlüssen <strong>de</strong>s Nürnberger<br />

Reichstages vom 19. Nov. 1274 36 , <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m König gr<strong>und</strong>sätzlich allumfassen<strong>de</strong>s Jurisdiktionsrecht<br />

einräumte.<br />

Fast zeitgleich mit <strong>de</strong>m Sachsenspiegel wer<strong>de</strong>n im 13. Jahrh<strong>und</strong>ert die Gr<strong>und</strong>lagen für die künftige<br />

Verfassungsentwicklung im Reich gelegt. Während <strong>de</strong>r Reichsspruch gegen die Genossenschaften <strong>de</strong>r<br />

Städte 37 noch die Verbindungen von Städten ohne Zustimmung <strong>de</strong>s jeweiligen Stadtherrn verbietet <strong>und</strong><br />

damit für die Städte genossenschaftliche Zusammenschlüsse als reichsverfassungswidrig erklärt, legt<br />

<strong>de</strong>r wenige Monate später von Heinrich mit Zustimmung <strong>de</strong>r Fürsten getroffene Reichsspruch vom 1.<br />

Mai 1231 38 die Gr<strong>und</strong>lage für die Einrichtung von Landtagen: „Super qua re requisito consensu<br />

principum fuit taliter diffinitum: ut neque principes neque alii quilibet constitutiones vel nova iura<br />

facere possunt, nisi meliorum et maiorum terre consensus primitus habeatur“.<br />

Diese Vorschrift, wonach keine Rechtsetzung erlaubt sei ohne die Zustimmung <strong>de</strong>r Vornehmen <strong>und</strong><br />

Großen <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s, schränkte die neuentstehen<strong>de</strong> Lan<strong>de</strong>sherrschaft – von <strong>de</strong>n domini terrae ist 1232<br />

die Re<strong>de</strong> – empfindlich ein, <strong>und</strong> es ist zu vermuten, dass die bereits angesprochene Verpflichtung von<br />

31 Tacitus, Germania 11.1.<br />

32 MGH CAP. II, Nr. 273 C.6 (Edictum Pistense vom 25. Juni 864).<br />

33<br />

Vgl. z. B. das Kap. von 802 (MGH LL S.2 Bd. 1, S. 91 ff.(abgedruckt bei Wilhelm Altmann <strong>und</strong> Ernst Bernheim,<br />

Ausgewählte Urk<strong>und</strong>en zur Erläuterung <strong>de</strong>r Verfassungsgeschichte Deutschlands im Mittelalter, 4.A.<br />

Berlin 1909, S.3 ff.): „Ut judices sec<strong>und</strong>um scriptam legem judicent, non sec<strong>und</strong>um suum arbitrium.“(Zf.26)<br />

34 Landrecht III, 54,2.<br />

35 Sachsenspiegel, Landrecht III, 78.<br />

36 Altmann-Bernheim Nr. 16, S. 31 ff.(MGH LL S. 4 Bd.3 S.59 ff.), Zf. 3<br />

37<br />

Vom 23. Januar 1231 in MGH Constitutiones 2 Nr. 299, S. 413f., auch Karl Zeumer, Quellensammlung zur<br />

Geschichte <strong>de</strong>r <strong>Reichsverfassung</strong> in Mittelalter <strong>und</strong> Neuzeit, 2 B<strong>de</strong>. 2. A. Tübingen 1913, hier Bd.1, S. 50;<br />

<strong>und</strong> Lorenz Weinrich, Quellen z. dt. Verfassungs-, Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialgesch. bis 1250 (= Frhr. v. Stein<br />

Gedächtnisausg. Bd. 32), Darmstadt 1977, Nr. 108, S. 422f.<br />

38 MGH Constitutiones 2 Nr. 305, S. 420, Zeumer (Anm. 37), Bd. 1, S. 52.<br />

5


consilium <strong>und</strong> auxilium hier eine Wirkung, <strong>und</strong> zwar nicht nur für <strong>de</strong>n Herrn, son<strong>de</strong>rn auch gegen ihn,<br />

entfaltet.<br />

Dies entsprach <strong>de</strong>r Regel <strong>de</strong>s kanonischen Rechtes 39 „Quod omnes tangit, <strong>de</strong>bet ab omnibus<br />

approbari“ ebenso wie <strong>de</strong>m Gr<strong>und</strong>satz <strong>de</strong>r Kapitularien <strong>und</strong> war eine in dieser Zeit häufig benutzte<br />

Formel, sodass man gleichsam von einer Überlieferung <strong>de</strong>s Mitbestimmungsprinzips selbst dort sprechen<br />

kann, wo unmittelbare institutionelle Kontinuitäten nicht erkennbar sind 40 . An<strong>de</strong>rs als ältere Mitsprachegremien<br />

han<strong>de</strong>lt es sich bei <strong>de</strong>n nun im 13. <strong>und</strong> 14. Jahrh<strong>und</strong>ert entstehen<strong>de</strong>n Stän<strong>de</strong>n jedoch<br />

nicht allein um eine Versammlung mächtiger Persönlichkeiten, son<strong>de</strong>rn um einen korporativen Zusammenschluss,<br />

so, wie er gera<strong>de</strong> 1231 <strong>de</strong>n Städten verboten wor<strong>de</strong>n war, 41 <strong>und</strong> neben die traditionell<br />

zur Mitsprache berechtigten Herrenschichten von Geistlichkeit <strong>und</strong> A<strong>de</strong>l traten auch Städte. Dabei<br />

wur<strong>de</strong> die Stärke korporativer Entwicklungen in Deutschland durch <strong>de</strong>n Verfall <strong>de</strong>r Reichsgewalt im<br />

13. Jahrh<strong>und</strong>ert beschleunigt. Mit <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Stauferherrschaft traten Städtebün<strong>de</strong> auf wie <strong>de</strong>r<br />

Rheinische B<strong>und</strong> von 1254, <strong>de</strong>r eine Einung zum Schutze <strong>de</strong>s Landfrie<strong>de</strong>ns darstellte <strong>und</strong> insoweit in<br />

<strong>de</strong>r Phase <strong>de</strong>s Nie<strong>de</strong>rgangs <strong>de</strong>r Reichsgewalt auf bündischer Gr<strong>und</strong>lage die Wahrung <strong>de</strong>r öffentlichen<br />

Ordnung mit Schiedsgerichtsbarkeit übernahm: die Aufgaben im B<strong>und</strong>esvertrag <strong>de</strong>cken sich weitgehend<br />

mit <strong>de</strong>n Bestimmungen <strong>de</strong>s Mainzer Reichslandfrie<strong>de</strong>ns vom 15.8. 1235 42 .<br />

Das Reichsweistum über die Berücksichtigung <strong>de</strong>r Zustimmung <strong>de</strong>r Vornehmen <strong>und</strong> Großen <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s<br />

von 1231 ließ erkennen, dass die in <strong>de</strong>n reichsfürstlichen Lan<strong>de</strong>n angesessene, begüterte Ritterschaft<br />

laufend an Einfluss gewonnen <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Anspruch erhoben hatte, in wichtigen Fragen mitzure<strong>de</strong>n.<br />

Wenn das Reichsweistum Herrschaftsverän<strong>de</strong>rungen untersagt, so spiegelt sich darin <strong>de</strong>r Versuch<br />

<strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Königs wi<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r entstehen<strong>de</strong>n Lan<strong>de</strong>sherrschaft keinen Freibrief für eine willkürliche<br />

Verän<strong>de</strong>rung bestehen<strong>de</strong>r Rechtsverhältnisse auszustellen 43 .<br />

So beginnt <strong>de</strong>nn im 13. Jahrh<strong>und</strong>ert mit <strong>de</strong>m Segen <strong>de</strong>s Reiches die genossenschaftliche 44 Zusammenschließung<br />

jener maiores et meliores, also zunächst <strong>de</strong>r Ritterschaft, <strong>und</strong> dies am <strong>de</strong>utlichsten in<br />

<strong>de</strong>n Gebieten, in <strong>de</strong>nen Erinnerungen an alte Stammesversammlungen aufkommen konnten, wie etwa<br />

in Bayern. Daneben aber waren es auch die kirchlichen Gr<strong>und</strong>herren <strong>und</strong> Städte, die zur wirksamen<br />

Unterstützung <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>sherrn , nicht zuletzt durch die Bereitstellung <strong>de</strong>r für <strong>de</strong>n Ausbau <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s<br />

benötigten Geldmittel, heranzuziehen waren. Seit <strong>de</strong>m vierten Laterankonzil von 1215 45 , das <strong>de</strong>n<br />

Domkapiteln das ausschließliche Wahlrecht gewährte, schlossen in <strong>de</strong>n geistlichen Territorien diese<br />

sich in Durchsetzung <strong>de</strong>s ihnen eingeräumten Einflusses genossenschaftlich zusammen, während oft<br />

die Ritterschaft zunächst abseits stand. Das Gegenteil war in <strong>de</strong>n weltlichen Territorien <strong>de</strong>r Fall, in <strong>de</strong>nen<br />

Prälaten oft erst am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 14. Jahrh<strong>und</strong>erts o<strong>de</strong>r sogar im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert zu <strong>de</strong>n längst bestehen<strong>de</strong>n<br />

Ritter- <strong>und</strong> Städtetagen sich gesellten.<br />

39 Liber sextus <strong>de</strong>cretalium domini bonifacii papae octavi Buch 5 Titel 12 Regel 29.<br />

40 Vgl. Hans Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Auflage 1990, Bd. 1, S. 204f.<br />

41 20./23.1.1231, MGH Const. 2, Nr. 299, S. 413f., Weinrich (Anm. 37) Nr.106, S.418; Zeumer (Anm. 37) Bd.<br />

1, S. 50.<br />

42 Weinrich (Anm. 37) Nr. 119, S. 462ff. „quod nulla civitas, nullum opidum communiones, constitutiones, colligationes,<br />

confe<strong>de</strong>rationes vel conjurationes aliquas, quocumque nomine censeantur, facere possent, eas penitus<br />

abjudicantes, et quod nos sine domini sui assensu civitatibus seu opidis in regno nostro constitutis auctoritatem<br />

faciendi communiones, constitutiones, colligationes, confe<strong>de</strong>rationes vel conjurationes aliquas, quecumque nomina<br />

imponantur eis<strong>de</strong>m, non poteramus nec <strong>de</strong>bebamus impertiri, et quod domino civitatum et opidorum sine<br />

nostre majestatis assensu similia in suis civitatibus facere non licebat“; Zeumer (Anm. 37), Bd. 1, S. 68ff.<br />

43 Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Von Frankreich bis zur Wie<strong>de</strong>rvereinigung Deutschlands,<br />

4. A. München 2001, S. 93f.<br />

44 Vgl. das Standardwerk von Otto von Gierke, Das Deutsche Genossenschaftsrecht, Berlin1868, Nachdruck<br />

Darmstadt 1954.<br />

45 Willoweit (Anm. 43), S. 94.<br />

6


Die Entstehung <strong>de</strong>r <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> muss mithin vor <strong>de</strong>m Hintergr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r „Einungen“ gesehen wer<strong>de</strong>n 46 ,<br />

die seit <strong>de</strong>m 13. Jahrh<strong>und</strong>ert ein wesentliches <strong>und</strong> zeitweise sehr zukunftsträchtig aussehen<strong>de</strong>s Element<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Verfassungsentwicklung waren. Im 13. <strong>und</strong> 14. Jahrh<strong>und</strong>ert traten sie vorzugsweise<br />

als regionale Landfrie<strong>de</strong>nseinungen mit <strong>und</strong> ohne Geheiß o<strong>de</strong>r Beteiligung <strong>de</strong>s Königs auf; dabei<br />

war es <strong>de</strong>r oben erwähnte Rheinische Städteb<strong>und</strong>, <strong>de</strong>r im Interregnum wirtschaftliche, aber auch Verfassungsinteressen<br />

im Kampf gegen unberechtigte Rheinzölle <strong>und</strong> für die Sicherung <strong>de</strong>s Landfrie<strong>de</strong>ns<br />

durchsetzen wollte <strong>und</strong> sich wohl bewusst an <strong>de</strong>n Mainzer Reichslandfrie<strong>de</strong>n von 1235 anlehnte, ja<br />

sich im Gr<strong>und</strong>e als <strong>de</strong>ssen Vollzugsorgan sah. Die hier erkennbaren Ansätze zur Entwicklung eines<br />

genossenschaftlich organisierten Staatswesens setzten sich jedoch nur in einer <strong>de</strong>r vielen Einungen,<br />

nämlich <strong>de</strong>r 1291 von Uri, Schwyz <strong>und</strong> Unterwal<strong>de</strong>n gebil<strong>de</strong>ten schweizerischen Eidgenossenschaft<br />

fort 47 , während es im Reich zur Konsolidierung <strong>de</strong>s A<strong>de</strong>lsregiments auf <strong>de</strong>m im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert sich<br />

verfestigen<strong>de</strong>n <strong>und</strong> seit 1495 dann regelmäßig tagen<strong>de</strong>n Reichstag kam, in <strong>de</strong>ssen Organisation von<br />

Kurfürstenkolleg, Reichsfürstenrat <strong>und</strong> Städtekurie sich gleichwohl Spuren ständischen Einungswesens<br />

fin<strong>de</strong>n 48 . Eine <strong>de</strong>r zugr<strong>und</strong>e liegen<strong>de</strong>n Einungen, nämlich in Gestalt <strong>de</strong>r kurfürstlichen Verbindungen,<br />

<strong>de</strong>r Kurvereine, die seit 1338 auftreten, hat sich in Form <strong>de</strong>s immer wie<strong>de</strong>r erneuerten <strong>und</strong> bis<br />

zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Alten Reiches, wenn auch ohne nennenswerte politische Be<strong>de</strong>utung, bestehen<strong>de</strong>n Kurvereins<br />

von 1558 sogar bis zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Alten Reiches erhalten 49 .<br />

So ist die Entwicklung <strong>de</strong>r Landtage vor <strong>de</strong>m Hintergr<strong>und</strong> <strong>de</strong>s lehnsrechtlichen Prinzips von consilium<br />

et auxilium <strong>und</strong> <strong>de</strong>r daraus folgen<strong>de</strong>n For<strong>de</strong>rung nach Mitbestimmung ebenso wie vor <strong>de</strong>n genossenschaftlichen<br />

Strukturen insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>s 13. <strong>und</strong> 14. Jahrh<strong>und</strong>erts zu sehen, aber auch vor <strong>de</strong>m allmählichen<br />

Vordringen <strong>de</strong>r Geldwirtschaft, die die Lan<strong>de</strong>sherren immer stärker auf die Unterstützung<br />

durch geistliche Institutionen, Ritterschaft <strong>und</strong> Städte – hieraus wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>shalb im Allgemeinen die<br />

drei üblichen <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> – anwies. Dabei entwickelten die Stän<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>m Interesse heraus, das Land<br />

als Einheit zu erhalten <strong>und</strong> die innere <strong>und</strong> äußere Frie<strong>de</strong>nswahrung als Gr<strong>und</strong>lage gesellschaftlichen<br />

Zusammenlebens zu gewährleisten, früh ein Lan<strong>de</strong>sbewusstsein, das <strong>de</strong>n Zufälligkeiten dynastischer<br />

Herrschaft insbeson<strong>de</strong>re im Bereich <strong>de</strong>r weltlichen Fürstentümer, bei <strong>de</strong>nen Erbteilungen <strong>und</strong> erbenloses<br />

Aussterben gravieren<strong>de</strong> Folgen haben konnte, entgegen stand. Institutionelle Festigung verlangte<br />

<strong>de</strong>n genossenschaftlichen, korporativen Zusammenschluss 50 . So entstan<strong>de</strong>n die schon erwähnten Kernstän<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>s A<strong>de</strong>ls als führen<strong>de</strong> Gruppe in Militär <strong>und</strong> Verwaltung, <strong>de</strong>r Städte als Träger wirtschaftlicher<br />

Macht <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Geistlichkeit in Form <strong>de</strong>r landsässigen Bistümer <strong>und</strong> Klöster als Inhaber geistlicher<br />

<strong>und</strong> weltlicher Macht in ihrer Herrschaft über Land <strong>und</strong> Leute. Ihren ständischen Einungen folgten<br />

schließlich die gemeinsamen Zusammentritte auf Landtagen.<br />

Dass ein wesentlicher Gesichtspunkt <strong>de</strong>s ständischen Zusammenschlusses nicht nur <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstand<br />

gegen die 1231 erwähnten neuen Rechte, son<strong>de</strong>rn insbeson<strong>de</strong>re gegen <strong>de</strong>n damit verb<strong>und</strong>enen möglichen<br />

finanziellen Ertrag, d. h. die Ausschreibung neuer Steuern war, zeigt sich darin, dass bereits im<br />

13. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> damit zeitnah zum Reichsweistum als älteste Belege für frühe Formen landständischer<br />

Verfassung Be<strong>de</strong>verträge begegnen, <strong>de</strong>ren früheste 1249 aus Schlesien stammen, aber auch<br />

schon 1280 in <strong>de</strong>r Mark Bran<strong>de</strong>nburg, 1292 im Erzbistum Mag<strong>de</strong>burg <strong>und</strong> schließlich 1302 in Bayern<br />

anzutreffen sind. Be<strong>de</strong> war das Recht <strong>de</strong>s Fürsten, in bestimmten Notfällen 51 um finanzielle Hilfe zu<br />

46 Willoweit (Anm. 43), S. 119ff.<br />

47 Willoweit (Anm. 43), S. 121.<br />

48 Willoweit (Anm. 43), S. 123.<br />

49<br />

Im Lan<strong>de</strong>shauptarchiv fin<strong>de</strong>n sich in Best. 1A Beitrittserklärungen neuer Kurfürsten bis zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 18.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts. So traten noch im Oktober 1790 König Friedrich Wilhelm II. von Preußen (für Kurbran<strong>de</strong>nburg)<br />

sowie Kursachsen <strong>de</strong>m Kurverein von 1558 bei (LHA Koblenz Best. 1 A Nr. 10677 <strong>und</strong> 10676).<br />

50<br />

Kersten Krüger, Die landständische Verfassung (= Enzyklopädie <strong>de</strong>utscher Geschichte Bd. 67), München<br />

2003, S. 3f.<br />

51 Lan<strong>de</strong>snot, Krieg <strong>und</strong> Gefangenschaft <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>sherrn, Ritterschlag seiner Söhne, Heirat <strong>de</strong>r Prinzessinnen.<br />

7


„bitten“ – daher <strong>de</strong>r Name. Aus diesen Be<strong>de</strong>verträgen leitet sich unmittelbar <strong>und</strong> allgemein anerkannt<br />

das Recht <strong>de</strong>r Stän<strong>de</strong> im Lan<strong>de</strong> auf Steuerbewilligung <strong>und</strong> über dieses Recht die Teilhabe an <strong>de</strong>r Finanzverwaltung<br />

<strong>und</strong> oft auch an <strong>de</strong>r Regierung ab. Derartige Steuerbewilligungen als außeror<strong>de</strong>ntliche<br />

direkte Abgaben begegnen im Wesentlichen seit <strong>de</strong>m 15. Jahrh<strong>und</strong>ert, wobei Mag<strong>de</strong>burg, Österreich<br />

<strong>und</strong> Preußen, aber auch das Bistum Osnabrück <strong>und</strong> die Mark Bran<strong>de</strong>nburg in <strong>de</strong>r Zeit zwischen 1400<br />

<strong>und</strong> 1472 <strong>de</strong>n Anfang machen; mit <strong>de</strong>r sächsischen Akzise von 1435 bewilligte sogar erstmals ein<br />

Landtag seinem Lan<strong>de</strong>sherrn eine indirekte Steuer 52 .<br />

Am Ran<strong>de</strong> sei vermerkt, dass neben <strong>de</strong>r Finanzfrage auch das Ziel, die Einheit <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s zu erhalten<br />

<strong>und</strong> die innere <strong>und</strong> äußere Frie<strong>de</strong>nswahrung zu gewährleisten, ständische Zusammenschlüsse zur Folge<br />

hatten, von <strong>de</strong>nen die bayerischen Einungen aus A<strong>de</strong>l, Städten <strong>und</strong> Geistlichkeit ab 1307 schließlich<br />

auf <strong>de</strong>n Landtagen von 1506 <strong>und</strong> 1511 sogar zur Festlegung <strong>de</strong>r Unteilbarkeit <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s <strong>und</strong> <strong>de</strong>r<br />

Primogenitur führten <strong>und</strong> schließlich 1514 in die Gesamtfö<strong>de</strong>ration <strong>de</strong>r bayerischen Stän<strong>de</strong> einmün<strong>de</strong>ten.<br />

Aber auch in an<strong>de</strong>ren weltlichen 53 <strong>und</strong> geistlichen Territorien 54 kam es zu <strong>de</strong>rartigen Unionen, die<br />

stets das Interesse <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s als ihre Rechtfertigung geltend machten.<br />

Dies sind alles Beispiele für die Institutionalisierung <strong>de</strong>r Beziehungen zwischen Fürst <strong>und</strong> Stän<strong>de</strong>n im<br />

Landtag, die im allgemeinen in das 15. Jahrh<strong>und</strong>ert fällt. Dies geschah im Erzbistum Mag<strong>de</strong>burg um<br />

1400, in <strong>de</strong>r Grafschaft Mark nach 1419, in Bayern 1453, in Württemberg 1457 <strong>und</strong> in Bran<strong>de</strong>nburg<br />

1472 55 . Die Stän<strong>de</strong> sicherten sich <strong>de</strong>n Einfluss auf fürstliche Regierung <strong>und</strong> Administration sowie auf<br />

die Organisationen <strong>de</strong>r neuentstehen<strong>de</strong>n staatlichen gesellschaftlichen Ordnung <strong>de</strong>s frühmo<strong>de</strong>rnen<br />

Staates mehrfach durch regelrechte Herrschaftsverträge. Die be<strong>de</strong>utendsten waren <strong>de</strong>r Vergleich <strong>de</strong>s<br />

Kurfürsten Albrecht Achilles von Bran<strong>de</strong>nburg mit seiner Landschaft 1472 <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Tübinger Vertrag<br />

zwischen <strong>de</strong>m Herzog von Württemberg <strong>und</strong> seinen Städten 1514.<br />

Diese Entwicklung vollzog sich weitgehend selbständig in <strong>de</strong>n einzelnen Territorien, jedoch nicht im<br />

rechtsfreien Raum; vielmehr blieben die Rechte von Kaiser <strong>und</strong> Reich ein möglicher För<strong>de</strong>rungs- wie<br />

Hin<strong>de</strong>rungsgr<strong>und</strong> für die Ausgestaltung <strong>de</strong>r Landtagsrechte.<br />

Das zeigte sich in Kurtrier 56 in <strong>de</strong>n Vorgängen um die Lan<strong>de</strong>seinung von 1456 57 . Nach <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />

Kurfürsten Jakob I. von Sierck drohte angesichts <strong>de</strong>r vorangegangenen Wirren um Erzbischof, Kurfürst<br />

<strong>und</strong> A<strong>de</strong>l, in die auch einige Städte eingeb<strong>und</strong>en waren, ein neues <strong>und</strong> <strong>de</strong>m ganzen Lan<strong>de</strong> schädliches<br />

Schisma. In <strong>de</strong>r Union vom 10.Mai 1456 einigten sich nun die bisher verfein<strong>de</strong>ten Parteien,<br />

nämlich die weltlichen Stän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Stifts, Grafen, Herren <strong>und</strong> Ritterschaft sowie 11 Städte <strong>und</strong> die dazugehörigen<br />

Dörfer <strong>und</strong> Pflegen darauf, angesichts <strong>de</strong>r Wirren um Wahl <strong>und</strong> Absetzung <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>sherrn<br />

künftig keinen neuen Herren mehr anzunehmen, „wenn sie sich nicht vorher darüber gemeinlich<br />

besprochen“ hätten, <strong>und</strong> verban<strong>de</strong>n damit die For<strong>de</strong>rung, <strong>de</strong>r neue Erzbischof müsse ihnen geloben<br />

<strong>und</strong> schwören, sie bei ihren alten löblichen hergebrachten Freiheiten <strong>und</strong> Gewohnheiten zu lassen, <strong>und</strong><br />

ihnen darüber auch einen beson<strong>de</strong>ren Revers ausstellen mit einem im Einungstext festgelegten Wort­<br />

52 Krüger (Anm. 50), S. 4.<br />

53<br />

Braunschweig-Lüneburg 1392, Or<strong>de</strong>nsland Preußen 1410, Kleve <strong>und</strong> Mark sowie Jülich <strong>und</strong> Berg 1426, Holstein<br />

<strong>und</strong> Schleswig 1460.<br />

54<br />

In Münster Domkapitel, Ritterschaft <strong>und</strong> Städte 1309 mit Beitritt <strong>de</strong>s Bischofs 1370, in Köln Ritterschaft <strong>und</strong><br />

Städte 1437 mit Beitritt von Erzbischof <strong>und</strong> Domkapitel 1463, in Pa<strong>de</strong>rborn 1413, in Osnabrück 1423 <strong>und</strong> in<br />

Trier 1456.<br />

55 Boldt (Anm. 40), S. 213ff.<br />

56 Auf das im Einzelnen das Referat Wagner eingehen wird.<br />

57<br />

LHA Koblenz Best. 1 A 2223-2226 <strong>und</strong> Best. 1 C Nr. 16212; vgl. die Ausführungen bei Gustav Knetsch, Die<br />

landständische Verfassung <strong>und</strong> reichsritterschaftliche Bewegung im Kurstaate Trier, vornehmlich im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert,<br />

Berlin 1909, S. 30ff., vgl. Johann Nikolaus Hontheim, Historica Trevirensis diplomatica, Bd. 2,<br />

Augsburg <strong>und</strong> Würzburg 1750, S. 423ff.<br />

8


laut. Für <strong>de</strong>n Fall <strong>de</strong>r Kränkung ihrer Freiheiten o<strong>de</strong>r irgendwelcher Neuerungen – man mag hieraus<br />

das „nova iura facere“ von 1231 erkennen – sicherten sie sich gegenseitigen Beistand mit Leib <strong>und</strong><br />

Blut zu. Auch sollte eine Huldigung für <strong>de</strong>n Lan<strong>de</strong>sherrn nicht ohne vorherige Gewissheit stattfin<strong>de</strong>n,<br />

dass das Domkapitel diesem nicht gegen Nutzen, Heil <strong>und</strong> Wohlfahrt <strong>de</strong>s Stifts in seiner Wahlkapitulation<br />

58 Pflichten auferlegt habe.<br />

Dieses Misstrauen rührte daher 59 , dass an<strong>de</strong>rs als in Köln, <strong>de</strong>ssen Erblan<strong>de</strong>svereinigung von 1463 auch<br />

für die Wahlkapitulation bin<strong>de</strong>nd war, was im Wesentlichen im gemeinsamen finanziellen Interesse<br />

von Domkapitel <strong>und</strong> übrigen Stän<strong>de</strong>n begrün<strong>de</strong>t lag, <strong>de</strong>r Trierer Kurfürst bis dahin mit <strong>de</strong>m Subsidium<br />

seiner Geistlichkeit ausgekommen <strong>und</strong> von <strong>de</strong>n Steuerbewilligungen <strong>de</strong>r Stän<strong>de</strong> nicht abhängig gewesen<br />

war; <strong>de</strong>shalb waren sich Erzbischof <strong>und</strong> Domkapitel auch einig im Wi<strong>de</strong>rstand gegen die nun, wie<br />

Knetsch es nennt, „ungerufen emporstreben<strong>de</strong> Macht“ 60 <strong>de</strong>r Stän<strong>de</strong>. Als es zur Doppelwahl Johanns<br />

von Ba<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Dieters von Isenburg kam, weigerten sich trotz einer päpstlichen Bulle A<strong>de</strong>l <strong>und</strong> Städte,<br />

<strong>de</strong>n Huldigungseid zu leisten, <strong>und</strong> bezogen sich dabei auf ihre Union. Johann II. von Ba<strong>de</strong>n sah<br />

sich schließlich gezwungen, <strong>de</strong>n Unionsmitglie<strong>de</strong>rn zu bestätigen, dass er durch seine Wahlkapitulation<br />

nicht gezwungen sei, „uch von uwer eynunge zu dringen a<strong>de</strong>r einiche sache zu handhaben, die<br />

wed<strong>de</strong>r unsers stifts <strong>und</strong> siner unnersaissen heil <strong>und</strong> wailfaren sy“ 61 . Die Stän<strong>de</strong> gaben sich zwar vorbehaltlich<br />

ihrer Einung, die <strong>de</strong>r Erzbischof nicht anerkennen wollte, damit zufrie<strong>de</strong>n; doch erließ am<br />

18. April 1457 Kaiser Friedrich III. ein Mandat an die Städte <strong>de</strong>s Erzstifts, in <strong>de</strong>m er die Einung von<br />

1456 für Kaiser <strong>und</strong> Reich an Obrigkeit, Herrlichkeit <strong>und</strong> Gerechtigkeit nachteilig <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Gol<strong>de</strong>nen<br />

Bulle zuwi<strong>de</strong>rlaufend erklärte, weshalb sie binnen sechs Wochen aufzulösen sei 62 . Auch <strong>de</strong>r Papst<br />

meinte sich einmischen zu sollen <strong>und</strong> verlangte am 8. August 1457 bei Strafe <strong>de</strong>s Banns die Kassation<br />

<strong>de</strong>s Bündnisses.<br />

Allerdings entfalteten diese Mandate keine nennenswerte Wirkung; vielmehr wur<strong>de</strong> 1502 bei <strong>de</strong>r Koadjutorwahl<br />

<strong>de</strong>s nachmaligen Erzbischofs Jakobs II. von Ba<strong>de</strong>n, eines Neffen Johanns II., die Einung<br />

ausdrücklich erneuert 63 .<br />

Mittlerweile war es aufs Reichsebene zu neuen <strong>und</strong> unmittelbar in die Befugnisse <strong>de</strong>r <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>,<br />

nämlich ihr zentrales Steuerbewilligungsrecht eingreifen<strong>de</strong>n Regelungen gekommen.<br />

Im Wormser Reichsabschied vom 6. August 1495 64 wur<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>r Ordnung von <strong>de</strong>m gemeinen Pfennig<br />

<strong>de</strong>r Versuch unternommen, zum Wi<strong>de</strong>rstand gegen die Fein<strong>de</strong> Christi, die Türken, eine allgemeine<br />

Reichssteuer auf vier Jahre auszuschreiben, die „von je<strong>de</strong>rmann, Geistlichen <strong>und</strong> Weltlichen, Frauen<br />

<strong>und</strong> Männern, welcher Wür<strong>de</strong>n, Or<strong>de</strong>ns, Stan<strong>de</strong>s die sind, niemand ausgeschlossen“, im Heiligen<br />

Reich bezahlt wer<strong>de</strong>n sollte, <strong>und</strong> zwar in <strong>de</strong>r Höhe von 1/000 <strong>de</strong>r beweglichen <strong>und</strong> unbeweglichen Güter<br />

o<strong>de</strong>r Renten 65 . Für die Begrenzung <strong>de</strong>r Anlage auf vier Jahre stellte Maximilian Reversalien aus 66 .<br />

Es nimmt nicht W<strong>und</strong>er, dass das Unternehmen, das we<strong>de</strong>r die Heranziehung <strong>de</strong>r Reichsstän<strong>de</strong> selbst,<br />

58<br />

Johannes Kremer, Studien zur Geschichte <strong>de</strong>r Trierer Wahlkapitulationen (= West<strong>de</strong>utsche Zeitschrift für<br />

Geschichte <strong>und</strong> Kunst, Ergänzungsheft 16), Trier 1911, S. 133.<br />

59 Vgl. Knetsch (Anm. 57), S. 33f.<br />

60 Ebda., S. 35.<br />

61 Ebda., S. 36<br />

62<br />

Johann Jakob Moser, Von <strong>de</strong>rer Teutschen Reichsstän<strong>de</strong> Lan<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ren <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n, Untertanen, Lan<strong>de</strong>sfreiheiten,<br />

Beschwer<strong>de</strong>n, Schul<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Zusammenkünften, Frankfurt <strong>und</strong> Leipzig 1769, S. 659ff.; Hontheim<br />

(Anm. 57) Bd. 2, S. 428f.<br />

63 LHA Koblenz Best. 1 A Nr. 2878 <strong>und</strong> 2879. Vgl. Knetsch (Anm. 57, S. 36f.; Hontheim (Anm. 57) Bd. 2, S.<br />

64<br />

556ff.<br />

Sammlung <strong>de</strong>r Reichsabschie<strong>de</strong> Teil II, Frankfurt 1747, S. 3ff., hier S. 14f.; Zeumer (Anm. 37) Bd. 2, Nr.<br />

173-176, S. 281ff.<br />

65 Sammlung (Anm. 64) Teil II, S. 15.<br />

66 Sammlung (Anm. 64) Teil II, S. 17.<br />

9


noch die <strong>de</strong>r <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> vorsah, son<strong>de</strong>rn auf die Pfarrer gestützt sein sollte, vollständig fehlschlug.<br />

Faktisch scheiterte <strong>de</strong>r Eingriff in die Rechte <strong>de</strong>r <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>, die sich höchst unwillig zur Zahlung einer<br />

entsprechen<strong>de</strong>n Steuer zeigten <strong>und</strong> im Kurfürstentum Trier 1502 von ihrem Lan<strong>de</strong>sherrn förmlich<br />

Vorstellung beim Kaiser wegen Abstellung <strong>de</strong>r Reichssteuer verlangten 67 . Das Schicksal dieser<br />

Reichssteuer war kein an<strong>de</strong>re als das <strong>de</strong>r Reichskriegssteuerordnung von 1427, die ebenfalls an <strong>de</strong>r<br />

fehlen<strong>de</strong>n Mitwirkung <strong>de</strong>r territorialen Gewalten gescheitert war 68 .<br />

Erst im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert kam es im Zuge <strong>de</strong>r weiteren Institutionalisierung <strong>de</strong>s Reiches zu neuen verfassungsrechtlich<br />

relevanten Regelungen. Die Wahlkapitulation Kaiser Karls V. vom 3. Juli 1519 69<br />

verlangte in § 1 vom Kaiser, Frie<strong>de</strong>n, Recht <strong>und</strong> Einigkeit im Reich zu erhalten <strong>und</strong> nach <strong>de</strong>ssen Ordnungen,<br />

Freiheiten <strong>und</strong> altem löblichen Herkommen richten zu lassen. Gleichermaßen sollte er nach<br />

§ 4 Kurfürsten sowie an<strong>de</strong>ren Reichsstän<strong>de</strong>n nicht nur bei allen Rechten <strong>und</strong> Gerechtigkeiten, Freiheiten<br />

<strong>und</strong> Privilegien, son<strong>de</strong>rn auch bei ihren Gebräuchen <strong>und</strong> „guten Gewohnheiten, so sie bisher gehabt<br />

o<strong>de</strong>r in Übung gewesen seien“ schützen <strong>und</strong> schirmen ohne Beeinträchtigung <strong>de</strong>r Rechte Dritter.<br />

Hierunter konnte man wohl auch, wie die spätere Entwicklung dieser Bestimmung erweist, mittelbar<br />

ebenso <strong>de</strong>n Schutz <strong>de</strong>r Rechte Dritter <strong>und</strong> damit ggf. <strong>de</strong>r Rechte <strong>de</strong>r <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> verstehen. Zwar wollte<br />

§ 6 <strong>de</strong>r Wahlkapitulation die Obrigkeiten schützen, wenn er <strong>de</strong>m Kaiser die nachfolgen<strong>de</strong> Verpflichtung<br />

auferlegte: „Wir sollen <strong>und</strong> wollen auch alle unziemliche, gehässige Bündnisse, Verstrickungen<br />

<strong>und</strong> Zusammentuungen <strong>de</strong>r Untertanen, <strong>de</strong>s A<strong>de</strong>ls <strong>und</strong> gemeinen Volks, auch die Empörung,<br />

Aufruhr <strong>und</strong> ungebührliche Gewalt gegen die Kurfürsten, Fürsten <strong>und</strong> an<strong>de</strong>re vorgenommen, <strong>und</strong> die<br />

hinfüro geschehen möchten, aufheben, abschaffen <strong>und</strong> mit ihrer, <strong>de</strong>r Kurfürsten, Fürsten <strong>und</strong> an<strong>de</strong>rer<br />

Stän<strong>de</strong> Rat <strong>und</strong> Hilfe daran sein, dass solches, wie sich gebührt <strong>und</strong> billig ist, in künftige Zeit verboten<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>m zuvorgekommen wer<strong>de</strong>“.<br />

Freilich war auch hier <strong>de</strong>r politischen Auslegung weiter Raum gelassen, weil unter unziemlichen<br />

Bündnissen nicht unbedingt die Vereinigungen <strong>de</strong>r Stän<strong>de</strong> <strong>und</strong> noch viel weniger die <strong>de</strong>r <strong>Landstän<strong>de</strong></strong><br />

zu verstehen waren, <strong>de</strong>nen die Einberufung durch die jeweiligen Lan<strong>de</strong>sherren vielmehr die gewohnheitsrechtliche<br />

Legitimität verschafft <strong>und</strong> damit die reichsrechtlich so genannte „Gehässigkeit“ genommen<br />

hatte.<br />

Ebenso kam § 9, wonach <strong>de</strong>r Kaiser von <strong>de</strong>n Gebieten <strong>de</strong>s Reichs nicht ohne Wissen, Willen <strong>und</strong> Zulassen<br />

<strong>de</strong>r Kurfürsten weggeben o<strong>de</strong>r versetzen noch sonst wie veräußern dürfte, <strong>de</strong>n Interessen <strong>de</strong>r<br />

<strong>Landstän<strong>de</strong></strong> <strong>und</strong> insbeson<strong>de</strong>re ihrem Wi<strong>de</strong>rstand gegen etwaige Teilungen <strong>de</strong>s Territoriums ganz entschie<strong>de</strong>n<br />

zugute. Wenn § 22 je<strong>de</strong>rmann ohne Ansehen <strong>de</strong>s Stan<strong>de</strong>s zusicherte, Acht <strong>und</strong> Aberacht<br />

nicht ohne vorheriges rechtliches Gehör auszusprechen, dann galt dies auch für <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> <strong>und</strong> an<strong>de</strong>re<br />

Untertanen <strong>und</strong> setzte mit seinem heute „rechtsstaatlich“ zu nennen<strong>de</strong>n Ansatz <strong>de</strong>r etwaigen Willkür<br />

<strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>sherren enge Grenzen.<br />

Mit <strong>de</strong>m Anschlag für die Romzugshilfe in Form <strong>de</strong>r Truppen zu Ross <strong>und</strong> Fuß, <strong>de</strong>r sogenannten<br />

Wormser Matrikel, vom 15. <strong>und</strong> 17. Mai 1521 70 bahnte sich in<strong>de</strong>s in <strong>de</strong>m Kernbereich <strong>de</strong>r landständischen<br />

Rechte, <strong>de</strong>r Steuerbewilligung, eine einschnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Än<strong>de</strong>rung ihrer Befugnisse an, da nunmehr<br />

vom Reich verfügte finanzielle Lasten auf sie zukamen, zu <strong>de</strong>nen sich auch noch die Zahlungen für<br />

<strong>de</strong>n Unterhalt <strong>de</strong>s 1495 eingerichteten Reichskammergerichts gesellten.<br />

67 Knetsch (Anm. 57), S. 39.<br />

68 Willoweit (Anm. 43), S. 111ff.<br />

69 Zeumer (Anm. 37) Bd. 2 Nr. 180, S. 309f.; LHA Koblenz Best. 1 A Nr. 9324 (9325).<br />

70 Zeumer (Anm. 37) Bd. 2 Nr. 181, S. 313ff.; Sammlung (Anm. 64) Teil II, S. 216ff.<br />

10


Dass hieraus eine dauern<strong>de</strong> Steuerpflicht erwachsen wür<strong>de</strong>, konnte spätestens aufgr<strong>und</strong> <strong>de</strong>s Augsburger<br />

Reichsabschie<strong>de</strong>s vom 19. November 1530 71 kaum noch übersehen wer<strong>de</strong>n. In Zusammenhang mit<br />

<strong>de</strong>n Regelungen zur Türkenhilfe wur<strong>de</strong> nämlich ausdrücklich eine Collectation <strong>und</strong> Steuer <strong>de</strong>r Untertanen<br />

beschlossen: „Und dieweil diese eilen<strong>de</strong> Hilfe gegen <strong>de</strong>n Türken etwas tapfer <strong>und</strong> groß, <strong>und</strong> ein<br />

gemeinchristlich gutes Werk ist, welches menniglichen zu Schutz <strong>und</strong> Trost kommt, soll <strong>und</strong> mag ein<br />

je<strong>de</strong>r Kurfürst, Fürst <strong>und</strong> Stand seine Untertanen um Hilfe <strong>und</strong> Steuer ersuchen“ 72 . Damit versicherten<br />

sich die Reichsstän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Autorität von Kaiser <strong>und</strong> Reich, um ihre <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> zum Gehorsam zu<br />

zwingen <strong>und</strong> nicht selbst auf <strong>de</strong>n Steuern sitzen zu bleiben.<br />

Tatsächlich schritt das Reich auf diesem Wege fort. In <strong>de</strong>r Reichsexekutionsordnung von 25. September<br />

1555 73 war in § 82 die Angelegenheit ähnlich, aber <strong>de</strong>utlicher <strong>und</strong> zwingend so geregelt: „Dieweil<br />

nun diese Hilfe zur Vollziehung <strong>de</strong>s hie vorgesetzten Friedstands, Exekution <strong>und</strong> Handhabung <strong>de</strong>s<br />

Landfrie<strong>de</strong>ns, zur Erhaltung gemeiner Sicherheit <strong>und</strong> Ruhe, dass auch ein je<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>m seinen, <strong>de</strong>sto<br />

getröster bleiben möge, fürgenommen, <strong>und</strong> die Stän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Reichs <strong>und</strong> Obrigkeiten diesem heilsamen<br />

fürnehmen <strong>de</strong>sto steifer nachsetzen, auch <strong>de</strong>sjenigen, so zu gemeiner Wohlfahrten eines je<strong>de</strong>n ge<strong>de</strong>ihen,<br />

gelangen, erfolgen <strong>und</strong> erschwingen mögen, so haben Wir Uns mit <strong>de</strong>n Stän<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Botschaften,<br />

<strong>und</strong> sie hinwie<strong>de</strong>r sich mit uns verglichen <strong>und</strong> entschlossen, das <strong>de</strong>rwegen eine je<strong>de</strong> Obrigkeit Macht<br />

haben soll, ihre Untertanen, geistlich <strong>und</strong> weltlich, sie seien exemt o<strong>de</strong>r nichtexemt, gefreiet o<strong>de</strong>r nicht<br />

gefreiet, mit Steuer zu belegen, doch höher <strong>und</strong> weiter nicht, dann sofern einer je<strong>de</strong>n Obrigkeit gebührend<br />

Anteil auf <strong>de</strong>s Reichs Anschläge je<strong>de</strong>smals, so <strong>und</strong> wann die Hilfe <strong>und</strong> wie lang die zu leisten<br />

sich erstreckt, <strong>und</strong> die Untertanen hierin zu Gehorsamen schuldig sind, <strong>de</strong>nen auch die bestimmte Maß<br />

<strong>de</strong>rselbigen Hilfe zuför<strong>de</strong>rst eigentlich <strong>und</strong> ausdrücklich k<strong>und</strong>bar <strong>und</strong> namhaft gemacht wer<strong>de</strong>n soll;<br />

dass auch <strong>de</strong>r kaiserliche Fiskal gegen <strong>de</strong>n Ungehorsam vor <strong>de</strong>m kaiserlichen Kammergericht, wie gewöhnlich<br />

<strong>und</strong> sich gebührt, prozedieren <strong>und</strong> sie zur Bezahlung anhalten soll“. Bei diesen Fragen ging<br />

es um die Finanzierung <strong>de</strong>r vom Reich <strong>de</strong>n Reichskreisen als Exekutivorgan <strong>de</strong>r Reichsstaatsgewalt<br />

aufgetragenen <strong>und</strong> mit Kosten für das Kriegsvolk verb<strong>und</strong>enen Maßnahmen <strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong>nssicherung im<br />

Kreisgebiet 74 .<br />

Damit zeichnete sich ab, dass <strong>de</strong>n <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n in Fragen <strong>de</strong>r von ihren Lan<strong>de</strong>sherren bewilligten<br />

Reichssteuern insoweit die Hän<strong>de</strong> geb<strong>und</strong>en waren, auch wenn die interne Verteilung <strong>de</strong>r Steuern im<br />

einzelnen – <strong>und</strong> in Kurtrier z. B. war dies an<strong>de</strong>rthalb Jahrh<strong>und</strong>erte lang <strong>de</strong>r Fall – strittig sein konnte.<br />

An die Stelle <strong>de</strong>r quaestio an trat nunmehr von Reichs wegen auf <strong>de</strong>n Landtagen die quaestio quo<br />

modo.<br />

Tatsächlich wer<strong>de</strong>n im Laufe <strong>de</strong>s 16. Jahrh<strong>und</strong>erts diese Regelungen auf verschie<strong>de</strong>nen Reichs- <strong>und</strong><br />

Deputationstagen immer wie<strong>de</strong>r eingeschärft, wird also auf <strong>de</strong>m Weg über die Steuerhoheit <strong>de</strong>s Reiches<br />

gleichzeitig die Obrigkeit <strong>de</strong>r Territorialgewalten abgesichert. So drohte <strong>de</strong>r Deputationsabschied<br />

von Speyer 75 in § 15 bei „unserer <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Heiligen Reichs schweren Ungnad“ die Eintreibung <strong>de</strong>r<br />

Kammerzieler per fiskalischem Prozess gegen Zahlungsunwillige, was auch <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> sein konnten,<br />

an. In <strong>de</strong>n Bestimmungen <strong>de</strong>s Augsburger Reichsabschie<strong>de</strong>s vom 19.8.1559 76 klingt in <strong>de</strong>n Zuständigkeitsregelungen<br />

<strong>de</strong>s § 46, wonach nämlich auch exemte Gebiete <strong>und</strong> gefreite Personen bei beschlosse­<br />

71 Sammlung (Anm. 64) Teil II, S. 324ff. Zur Haltung <strong>de</strong>r trierischen <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> in Steuerfragen vgl. LHA Koblenz<br />

Best. 1 E Nr. 1233 ff.<br />

72 Ebda. § 118.<br />

73<br />

Sammlung (Anm. 64)Teil III, S. 43-136 sowie Zeumer (Anm. 37)Bd. 2 Nr. 190, S. 371f.(§§ 31ff. <strong>de</strong>s Reichsabschie<strong>de</strong>s).<br />

74 Hierauf wird das Referat Hartmann näher eingehen.<br />

75 16.8.1557, Sammlung (Anm. 64) Teil III, S. 153f.<br />

76 Ebda. S. 163f., § 19f. über die Exekutionsordnung.<br />

11


ner Exekutionsordnung Kreistag <strong>und</strong> Kreissstän<strong>de</strong>n Folge zu leisten haben, die Verpflichtung zur Erfüllung<br />

von Reichsabschie<strong>de</strong>n an 77 .<br />

Da im Wormser Deputationstag vom 18.03.1564 78 die unbedingte Geltung <strong>de</strong>r Reichsexekutionsordnung<br />

für je<strong>de</strong>rmann unbescha<strong>de</strong>t früher erteilter Gna<strong>de</strong>n, Privilegien, Freiheiten, Herkommen, Bündnisse<br />

<strong>und</strong> selbst kaiserlicher Rechtsverleihungen für zwingend erklärt wur<strong>de</strong> 79 , war damit auch die<br />

1555 ausgesprochene Pflicht <strong>de</strong>r <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> zur Leistung <strong>de</strong>r Exekutionskosten erneuert, ja es bahnte<br />

sich eine weitere, dauern<strong>de</strong> Belastung durch die Regelung <strong>de</strong>s § 37 an, wonach eine ständige Reichslandfrie<strong>de</strong>nastruppe<br />

von 1500 Reitern, wenn auch zunächst nur für drei Monate, aber auf <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>r<br />

Kosten <strong>de</strong>r Reichsmatrikel, geplant war. Angesichts <strong>de</strong>r andauern<strong>de</strong>n Bedrohung durch <strong>de</strong>n „Erbfeind<br />

<strong>de</strong>r gemeinen Christenheit“, <strong>de</strong>n Türken, erinnert auch <strong>de</strong>r Augsburger Reichsabschied vom<br />

30.5.1566 80 wie<strong>de</strong>r an die allgemeine Steuerpflicht, die <strong>de</strong>n <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n das Recht <strong>de</strong>r Beratung über<br />

die Frage „ob ?“ nimmt, ohne die Frage „wie ?“ zu entschei<strong>de</strong>n: „So soll es <strong>de</strong>rowegen einer je<strong>de</strong>n<br />

Obrigkeit, wie rechtmäßig Herkommen <strong>und</strong> Recht ist, freistehen <strong>und</strong> zugelassen sein, ihre Untertanen,<br />

geistlich <strong>und</strong> weltlich, sie seien exemt o<strong>de</strong>r nichtexemt, gefreiet o<strong>de</strong>r nicht gefreiet, niemand ausgenommen,<br />

<strong>de</strong>rhalben mit Steuern zu belegen, doch höher <strong>und</strong> weiter nicht, dann sofern sich einer je<strong>de</strong>n<br />

Obrigkeit gebühren<strong>de</strong>n Anlage erstrecken wird, <strong>und</strong> dass sich <strong>de</strong>n Untertanen zufor<strong>de</strong>rst eigentlich<br />

<strong>und</strong> ausdrücklich diese Hilfe k<strong>und</strong>bar gemacht wer<strong>de</strong>“ 81 . Genannt wer<strong>de</strong>n nun ausdrücklich auch die<br />

Domkapitel, die in <strong>de</strong>n hohen Stiften ebenso wie Untertanen, Städte <strong>und</strong> eingesessene Bürger, aber<br />

auch Kurfürsten <strong>und</strong> Fürsten <strong>und</strong> je<strong>de</strong>rmann unbescha<strong>de</strong>t aller Verträge, Obligationen, Statuten, Gebräuche,<br />

Gewohnheiten <strong>und</strong> Herkommen ihre Anteile an <strong>de</strong>r Reichssteuer zu entrichten hätten 82 . Bei<br />

Verweigerung wird die „poena dupli“ also die Zahlung in doppelter Höhe als Strafe verfügt <strong>und</strong> die<br />

Möglichkeit <strong>de</strong>r Wendung ans Reichskammergericht in dieser Steuerfrage ausgeschlossen 83 .<br />

Der infolge <strong>de</strong>s Regensburger Reichstages 1567 84 , <strong>de</strong>ssen § 54 die Regelung von Kriegskosten <strong>und</strong><br />

Militärorganisation durch einen dazu einzuberufen<strong>de</strong>n allgemeinen Kreistag in Erfurt vorgesehen hatte,<br />

dort tatsächlich am 27. September 1567 zustan<strong>de</strong> gekommene allgemeine Kreistag 85 wur<strong>de</strong> zwar<br />

vom kurrheinischen, obersächsischen, österreichischen, fränkischen, schwäbischen, bayerischen,<br />

rheinländischen, nie<strong>de</strong>rländisch-westfälischen <strong>und</strong> nie<strong>de</strong>rsächsischen Reichskreis besucht; lediglich<br />

<strong>de</strong>r burg<strong>und</strong>ische Reichskreis fehlte. Das unbefriedigen<strong>de</strong> Ergebnis <strong>de</strong>r Beratungen über Kriegskosten,<br />

Kosten bei künftigen Fällen <strong>de</strong>r Vollstreckung <strong>de</strong>r Reichsacht sowie neuen Reichsanlagen war jedoch<br />

nach §§ 32-34 die Abdankung <strong>de</strong>r Landfrie<strong>de</strong>nstruppe: „Darum wir uns auch solche Mittel <strong>und</strong> Wege<br />

nicht zuwi<strong>de</strong>r sein lassen, dass zu etwas Erleichterung <strong>de</strong>r hohen gemeinen Stän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Heiligen<br />

Reichs <strong>und</strong> <strong>de</strong>ren Untertanen auferwachsenen Kontributionen <strong>und</strong> Bür<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n also im Rüst <strong>und</strong> Wartgeld<br />

bestellten Rittmeistern <strong>und</strong> Reisigen alsbald abzudanken ...“ 86 . Damit war <strong>de</strong>r Kelch einer zwingen<strong>de</strong>n<br />

Dauerbelastung für die Landtage noch einmal vorübergegangen, freilich im Reich auch die<br />

Möglichkeit, ein miles perpetuus (stehen<strong>de</strong>s Heer) zu schaffen, für immer vertan.<br />

77 Darin wird <strong>de</strong>r Versuch, eine stärkere territoriale Ausgestaltung <strong>de</strong>r auf die Reichsstän<strong>de</strong>, nicht auf reichsständische<br />

Territorien gegrün<strong>de</strong>ten Reichskreise zu bewirken, <strong>de</strong>utlich, so wie § 44 <strong>de</strong>s Reichsabschie<strong>de</strong>s mit<br />

<strong>de</strong>r verbindlichen Einführung <strong>de</strong>s Mehrheitsprinzips ebenso zu größerer Durchschlagskraft <strong>de</strong>r Kreisverfassung<br />

beitragen will.<br />

78 Sammlung (Anm. 64) Teil III, S. 201f.<br />

79 Ebda. § 33.<br />

80 Sammlung (Anm. 64) Teil III, S. 211f.<br />

81 § 41 <strong>de</strong>s Reichsabschie<strong>de</strong>s, weitgehend <strong>de</strong>ckungsgleich mit § 82 <strong>de</strong>r Reichsexekutionsordnung (Anm.. 73)<br />

82 § 42 <strong>de</strong>s Reichsabschie<strong>de</strong>s.<br />

83 §§ 43-46 <strong>de</strong>s Reichsabschie<strong>de</strong>s.<br />

84 Sammlung (Anm. 64) Teil III, S. 247f.<br />

85 Sammlung (Anm. 64) Teil III, S. 263f.<br />

86 Ebda. § 34.<br />

12


Eine gr<strong>und</strong>sätzlich neue Rechtslage trat erst mit <strong>de</strong>m Westfälischen Frie<strong>de</strong>n vom 14./24. Oktober 1648<br />

ein 87 . Artikel 8 (§ 1) <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>nsvertrages bestätigte <strong>de</strong>n Kurfürsten, Fürsten <strong>und</strong> Stän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Reiches<br />

samt <strong>und</strong> son<strong>de</strong>rs alle ihre hergebrachten Rechte, Prärogativen, Freiheiten, Privilegien <strong>und</strong> freie<br />

Rechtsausübung „tam in ecclesiasticis quam politicis“ <strong>und</strong> schützte sie gegen je<strong>de</strong> Beeinträchtigung (8<br />

§ 1). Art. 8 § 2 gewährleistete ihnen das Stimmrecht am Reichstag sowie das Bündnisrecht, jedoch mit<br />

<strong>de</strong>r Einschränkung, dass die Bündnisse sich nicht gegen Kaiser <strong>und</strong> Reich, <strong>de</strong>n Landfrie<strong>de</strong>n <strong>und</strong> gegen<br />

diesen Westfälischen Frie<strong>de</strong>n richten dürften, <strong>und</strong> vorbehaltlich auch <strong>de</strong>s Lehnsei<strong>de</strong>s, mit <strong>de</strong>m je<strong>de</strong>r<br />

Reichsstand Kaiser <strong>und</strong> Reich verb<strong>und</strong>en war.<br />

Die Rechtsgarantien beschränkten sich in<strong>de</strong>s nicht auf die Reichsstän<strong>de</strong>. Da Artikel 3 § 1 ausdrücklich<br />

auch die früheren Verhältnisse <strong>de</strong>r Vasallen <strong>und</strong> Untertanen, Bürger <strong>und</strong> Einwohner hinsichtlich ihrer<br />

Wür<strong>de</strong>n, Rechte <strong>und</strong> Privilegien vollständig wie<strong>de</strong>rherstellte, war implizit auch die Existenz <strong>de</strong>r <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>,<br />

wo sie <strong>de</strong>nn bestan<strong>de</strong>n, <strong>und</strong> <strong>de</strong>ren Recht auf Sitz <strong>und</strong> Stimme in Landtagen anerkannt 88 .<br />

Auch in Religionsfragen gab es Garantien für die <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>. So wur<strong>de</strong> in Artikel 5 § 31, nach<strong>de</strong>m im<br />

vorhergehen<strong>de</strong>n Paragraphen das ius reformandi ebenso wie das beneficium emigrandi verkün<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n<br />

waren, gleichwohl <strong>de</strong>n Landsassen, Vasallen <strong>und</strong> sonstigen Untertanen katholischer Reichsstän<strong>de</strong>,<br />

die im Stichjahr 1624 sich entwe<strong>de</strong>r aufgr<strong>und</strong> eines Vertrages, eines Privilegs o<strong>de</strong>r langen <strong>und</strong> ungestörten<br />

Gebrauches zur Augsburger Konfession bekannt hatten, ihre Rechte garantiert, ja Art. 5 § 33<br />

erkannte ausdrücklich die Rechtskraft aller Verträge <strong>und</strong> vertragsähnlichen Abmachungen zwischen<br />

Reichsstän<strong>de</strong>n <strong>und</strong> ihren <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n 89 über öffentlichen o<strong>de</strong>r privaten Religionsgebrauch an <strong>und</strong> gestattete<br />

Än<strong>de</strong>rungen nur im gegenseitigen Einvernehmen.<br />

Im Übrigen enthalten auch die weiteren Territorialbestimmungen zahlreiche Regelungen zur Fortgeltung<br />

bestehen<strong>de</strong>n Rechtes, im Falle Osnabrücks beispielsweise unter Anerkennung <strong>de</strong>r dort gelten<strong>de</strong>n<br />

Wahlkapitulationen für die Bischöfe, <strong>de</strong>ren Amt alternierend <strong>de</strong>m Hause Braunschweig-Lüneburg eingeräumt<br />

wur<strong>de</strong> 90 .<br />

Auf <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>lage <strong>de</strong>r Bestimmungen <strong>de</strong>s Westfälischen Frie<strong>de</strong>ns, u. a. über die allgemeine Amnestie,<br />

fand endlich auch <strong>de</strong>r seit <strong>de</strong>r Wahl <strong>de</strong>s Trierer Kurfürsten Philipp von Sötern 1623 andauern<strong>de</strong><br />

heftige Streit zwischen Kurfürsten, Domkapitel <strong>und</strong> <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n sein En<strong>de</strong>. Die Stän<strong>de</strong> hatten in einer<br />

22 Artikel umfassen<strong>de</strong>n, von ihnen als „status regiminis patriae trevirensis“ bezeichneten Beschwer<strong>de</strong><br />

an <strong>de</strong>n Reichshofrat über das Gewaltregiment <strong>de</strong>s Kurfürsten die Gr<strong>und</strong>sätze <strong>de</strong>r Trierischen Verfassung<br />

dargelegt. In dieser „lex f<strong>und</strong>amentalis“, also Gr<strong>und</strong>gesetz genannten Schrift 91 war nach Auffassung<br />

ihrer Autoren nichts weiter als berechtigter Wi<strong>de</strong>rstand gegen <strong>de</strong>n Versuch <strong>de</strong>s Kurfürsten zu sehen,<br />

die <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> auszulöschen, von <strong>de</strong>nen es lt. Artikel 3 seit unvor<strong>de</strong>nklichen Zeiten drei gegeben<br />

habe, nämlich Prälaten <strong>und</strong> Geistliche als ein Stand, A<strong>de</strong>l <strong>und</strong> Ritterschaft als zweiter, Städte <strong>und</strong> Pflegen<br />

als dritter.<br />

Am Wichtigsten aber ist unter <strong>de</strong>m Aspekt meiner Betrachtung Artikel 1 dieser Schrift von 1627. In<br />

ihm wird festgestellt: „Erstlich ein regieren<strong>de</strong>r Erzbischof <strong>und</strong> Kurfürst zu Trier ist kein absolutus do­<br />

87 Frie<strong>de</strong> von Münster <strong>und</strong> Osnabrück, in: Sammlung (Anm. 64) Teil III, S. 574 ff.; Zeumer (Anm. 37) Bd. 2, Nr.<br />

197 <strong>und</strong> 198, S. 395 ff. bzw. 434 ff.<br />

88<br />

Vgl. Barbara Stollberg-Rielinger, Vormün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Volkes? Konzepte landständischer Repräsentation in <strong>de</strong>r<br />

Spätphase <strong>de</strong>s Alten Reiches (= Historische Forschungen Bd. 64), Berlin 1999, S. 22ff. mit weiterer Literatur.<br />

89 status provinciales.<br />

90 Vgl. Artikel 12 § 3, § 6, § 7.<br />

91<br />

Hontheim (Anm. 57) Bd. 3, Augsburg <strong>und</strong> Würzburg 1750, S. 287ff. Der „Status“ ist die am 24. Feb. 1627<br />

an <strong>de</strong>n Kaiser gegangenen Appellationsschrift <strong>de</strong>r Stän<strong>de</strong> zugr<strong>und</strong>e gelegt, <strong>und</strong> auch das kaiserliche „Proctectorium“<br />

vom 2.8.1631 an Kurmainz <strong>und</strong> Kurbayern beruht darauf. - Zu <strong>de</strong>n trierischen Verfassungsverhältnissen<br />

vgl. Richard Laufner, Die <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> von Kurtrier im 17. <strong>und</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>ert, in: Rheinische Vierteljahrsblätter<br />

32, 1968, S. 290 ff.<br />

13


minus <strong>de</strong>s Erzstifts, <strong>und</strong> Kurfürstentums Trier, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>pendiert in temporalibus von einem regieren<strong>de</strong>n<br />

römischen Kaiser, <strong>und</strong> ist schuldig, seine Regierung nach Inhalt vorangezogener, mit einem<br />

hochwürdigen Domkapitel bei vergangener Wahl aufgerichter geschworenen Pakten, auch <strong>de</strong>n Rechten,<br />

Reichs- <strong>und</strong> Landtagsabschie<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m alten Herkommen, <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Billigkeit gemäß anzustellen,<br />

<strong>und</strong> keine Neuerungen 92 einzuführen, in Maßen dann auch alle Kurfürsten nacheinan<strong>de</strong>r von 100 <strong>und</strong><br />

mehr Jahren hero bei Einnehmung <strong>de</strong>r Huldigungen <strong>de</strong>n Untertanen allenthalben reciproce gnädigst<br />

versprochen <strong>und</strong> zugesagt, daß sie die Untertanen bei ihren hergebrachten Freiheiten, Rechten <strong>und</strong> Gerechtigkeiten<br />

lassen, <strong>und</strong> dieselbe vielmehr erweitern als ringern wollen“. 93<br />

Die Stän<strong>de</strong> verlangten also angesichts <strong>de</strong>r Begrenztheit <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>sherrschaft aufgr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Abhängigkeit<br />

von Kaiser <strong>und</strong> Reich die Entscheidung <strong>de</strong>s Kaisers, was <strong>de</strong>r Kurfürst für eine Rebellion hielt <strong>und</strong><br />

gewaltsam militärisch unterdrücken wollte. Es ging in <strong>de</strong>r Schrift <strong>de</strong>s weiteren um die Beteiligung <strong>de</strong>s<br />

Domkapitels an Regierungs- <strong>und</strong> Lan<strong>de</strong>ssachen einschließlich <strong>de</strong>r Ausschreibung <strong>de</strong>r Landtage selbst,<br />

um die Abwicklung <strong>de</strong>s Ausschuss- <strong>und</strong> Rechnungswesens durch die Direktoren <strong>de</strong>r <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>, <strong>de</strong>ren<br />

eigenmächtige Ausschreibung ohne kurfürstliche Anweisung <strong>de</strong>n <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n nicht mehr gestattet<br />

wer<strong>de</strong>n sollte, <strong>und</strong> schließlich die selbständige Verteilung <strong>de</strong>r Steuern, <strong>de</strong>n so genannten „modus<br />

quot(is)andi“, in <strong>de</strong>n sich <strong>de</strong>r Kurfürst nur im Falle <strong>de</strong>r Uneinigkeit <strong>de</strong>r Stän<strong>de</strong> zu mischen habe; dies<br />

gelte auch für die Erhebung <strong>de</strong>r Reichssteuern, <strong>de</strong>ren tatsächliche Aufbringungsart ausschließlich Sache<br />

<strong>de</strong>r <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> sei 94 .<br />

In <strong>de</strong>r facti species vom 24. Februar 1627, die die Stän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r an <strong>de</strong>n Reichshofrat gerichteten Interpellation<br />

beigefügt hatten 95 , wur<strong>de</strong>n die seit 1625 erhobenen Steuern insbeson<strong>de</strong>re für eine reichsgesetzlich<br />

nicht steuerpflichtig machen<strong>de</strong> „Privatsoldateska“, die Einführung einer Bausteuer <strong>und</strong> einer<br />

Weinabgabe beklagt <strong>und</strong> insbeson<strong>de</strong>re das kurfürstliche Verfahren, die Vertreter <strong>de</strong>s ersten Stan<strong>de</strong>s,<br />

die Geistlichen, mit militärischer Gewalt zur Unterschreibung <strong>de</strong>s Landtagsabschie<strong>de</strong>s vom 7.8.1625<br />

zu zwingen, beanstan<strong>de</strong>t. 1627 hatte <strong>de</strong>r Streit einen Höhepunkt erreicht, als <strong>de</strong>r Kurfürst mit Rezess<br />

vom 22. Februar sämtliche ständische For<strong>de</strong>rungen als Verstoß gegen seine Obrigkeit verwarf. Daraufhin<br />

appellierten unter ausdrücklichem Bezug auf Reichsabschie<strong>de</strong>, gemeines Recht <strong>und</strong> natürliche<br />

Billigkeit die weltlichen Stän<strong>de</strong> am 24. Februar 1627 einhellig an <strong>de</strong>n Kaiser „als ungezweifeltes<br />

höchstes Oberhaupt“ 96 .<br />

Die Wirren zwischen Kurfürsten, Domkapitel <strong>und</strong> <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n fan<strong>de</strong>n nach vorübergehen<strong>de</strong>r Gefangensetzung<br />

<strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>sherrn schließlich im kaiserlich autorisierten Binger Rezess vom 23. August<br />

1650 ihr En<strong>de</strong> 97 . Der Vorspruch stellt unter ausdrücklicher Berufung auf <strong>de</strong>n Westfälischen Frie<strong>de</strong>n<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>n Nürnberger Exekutionsrezess vom 11./21. September 1649 98 <strong>und</strong> damit unter ausdrücklichem<br />

Bezug auf das Reichsrecht <strong>und</strong> die darin vorgesehene Universalamnestie auch die Streitigkeiten zwischen<br />

<strong>de</strong>m Kurfürsten als <strong>de</strong>m Haupt <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Domkapiteln als <strong>de</strong>n Glie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s sowie gleichermaßen<br />

<strong>de</strong>n geistlichen <strong>und</strong> weltlichen erzstiftischen Stän<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Angehörigen „in ewigen Vergess“<br />

99 . Mit <strong>de</strong>r Feststellung, dass <strong>de</strong>r Kurfürst - ebenso wie das Domkapitel - in Administration <strong>und</strong> Re­<br />

92 Hier klingen die Bestimmungen <strong>de</strong>s Reichsweistums von 1231 an.<br />

93 Hontheim (Anm. 57) Bd. 3, S. 289f.<br />

94 Artikel 11.<br />

95 Hontheim (Anm. 57) Bd. 3, S. 299ff.<br />

96<br />

Hontheim, (Anm. 57) Bd. 3, S. 301; weiterer Gang <strong>de</strong>r Angelegenheiten S. 302ff. Vgl. Winfried Dotzauer,<br />

Der historische Raum <strong>de</strong>s B<strong>und</strong>eslan<strong>de</strong>s Rheinland-Pfalz von 1500-1815, Frankfurt am Main u. a. 1993, S.<br />

99ff.<br />

97<br />

Abgedruckt Hontheim (Anm. 57) Bd. 3, S. 663ff. Vgl. die Akten im LHA Koblenz Best. 1 E Nr. 1218 <strong>und</strong><br />

1219 sowie Best. 1 C 16242, 16250, 16252-16254, 16256.<br />

98 Reichsabschie<strong>de</strong> Teil III, S. 625f. bzw. (16./26. Juni 1650) S. 629f.<br />

99 Hontheim (Anm. 57) Bd. 3, S. 664.<br />

14


gierung von Land <strong>und</strong> Leuten gemäß seiner kurfürstlichen Wahlkapitulation <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Herkommen<br />

eingesetzt wird entsprechend <strong>de</strong>n Rechten seiner Vorgänger <strong>und</strong> dass <strong>de</strong>n <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n die von alters<br />

her eingeräumten Rechte <strong>und</strong> hergebrachten Privilegien, Freiheiten <strong>und</strong> Gerechtigkeiten restituiert <strong>und</strong><br />

redintegriert wür<strong>de</strong>n, war <strong>de</strong>r künftigen Entwicklung eines „dominatus absolutus“, wie er Sötern vorgeworfen<br />

wor<strong>de</strong>n war, ein fester Riegel vorgeschoben.<br />

Nunmehr war die Stellung <strong>de</strong>r <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> ebenso wie die <strong>de</strong>s Domkapitels reichsrechtlich sanktioniert,<br />

<strong>und</strong> auch die immer wie<strong>de</strong>r umstrittenen Wahlkapitulationen <strong>de</strong>r Kurfürsten 100 waren jetzt<br />

reichsrechtlich anerkannt <strong>und</strong> damit tatsächlich, wie 20 Jahre vorher behauptet, zur lex f<strong>und</strong>amentalis,<br />

zum Gr<strong>und</strong>gesetz <strong>de</strong>r Trierer Staatsverfassung gewor<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>r künftige Versuch, gegen sie anzugehen,<br />

musste als Angriff auf die reichsverfassungsmäßigen Rechte <strong>de</strong>r Beteiligten erscheinen <strong>und</strong> vor<br />

<strong>de</strong>n Reichsgerichten en<strong>de</strong>n. Fortan galt die geschworene erzbischöfliche Kapitulation als „norma et regula<br />

<strong>de</strong>r kurfürstlichen Regierung“ 101 <strong>und</strong> verband <strong>de</strong>n Erzbischof, die geistlichen wie auch weltlichen<br />

<strong>Landstän<strong>de</strong></strong> im Falle künftiger Reichs-, Land- <strong>und</strong> Kammersteuern weiterhin, wie hergebracht, auf<br />

Landtagen <strong>und</strong> an<strong>de</strong>ren or<strong>de</strong>ntlichen Zusammenkünften bei ihrem freien Stimmrecht <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Entscheidung<br />

über <strong>de</strong>n modus quotisandi zu belassen sowie ihre For<strong>de</strong>rungen nach Rechnungslegung hinzunehmen;<br />

lediglich bei Nichtvergleichung <strong>de</strong>r Stän<strong>de</strong> blieb es nach <strong>de</strong>n Gr<strong>und</strong>sätzen <strong>de</strong>r Obrigkeit<br />

bei <strong>de</strong>r lan<strong>de</strong>sfürstlichen Inspektion <strong>und</strong> Direktion.<br />

Dieser in Trier von <strong>de</strong>n kaiserlichen Reichssub<strong>de</strong>legierten, die von Kurmainz, Kurköln <strong>und</strong> Bamberg<br />

gestellt waren, unterschriebene <strong>und</strong> gesiegelte Rezess stellt augenfällig unter Beweis, dass das Reich<br />

auch nach <strong>de</strong>m Westfälischen Frie<strong>de</strong>n min<strong>de</strong>stens im rheinischen Raum durchaus <strong>de</strong>m Gr<strong>und</strong>satz <strong>de</strong>r<br />

Oberherrschaft von Kaiser <strong>und</strong> Reich Geltung verschaffen konnte, auch wenn sich diese nicht weiter<br />

erstrecken sollten, als es – um mit <strong>de</strong>n Worten Mosers zu sprechen – „<strong>de</strong>n Reichsgr<strong>und</strong>gesetzen <strong>und</strong><br />

<strong>de</strong>m Reichsherkommen gemäß“ war 102 .<br />

Bereits wenige Jahre später, im jüngsten Reichsabschied vom 17. Mai 1654 103 , fiel auf Reichsebene<br />

eine weitere folgenreiche Entscheidung, die tief <strong>und</strong> nunmehr endgültig in die Steuerbewilligungsrechte<br />

<strong>de</strong>r <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> eingriff. In Zusammenhang mit <strong>de</strong>r Sicherung <strong>de</strong>s Landfrie<strong>de</strong>ns <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Verbesserung<br />

<strong>de</strong>r Exekutionsordnung entschied § 180 104 : „<strong>und</strong> gleich wie dieses hoch angelegene Werk zu allgemeiner<br />

Wohlfahrt, <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Heiligen Reichs beständigem Ruhestand zielet, wovon kein Kurfürst<br />

o<strong>de</strong>r Stand, auch <strong>de</strong>rselben Untertanen zu eximieren; also soll, auf <strong>de</strong>n Fall sich jemand obbesagter<br />

Exekutionsordnung wi<strong>de</strong>rsetzen, <strong>und</strong> an unserm kaiserlichen Reichshofrat o<strong>de</strong>r kaiserlichem Kammergericht<br />

einigerlei Prozess dagegen zu suchen sich gelüsten lassen wür<strong>de</strong>, ein solcher keineswegs angehört,<br />

son<strong>de</strong>rn a limine iudicii ab- <strong>und</strong> zu schuldiger Parition angewiesen, in <strong>de</strong>ssen Entstehung aber,<br />

nach Laut <strong>de</strong>r Exekutionsordnung wir <strong>de</strong>nselben zu verfahren erlaubt <strong>und</strong> freigelassen, <strong>und</strong> hiervon einiger<br />

Immediat- o<strong>de</strong>r Mediatstand, Stadt, Landsass <strong>und</strong> Untertan nicht ausgenommen, son<strong>de</strong>rlich aber<br />

sollen je<strong>de</strong>s Kurfürsten <strong>und</strong> Stands Landsassen, Untertanen <strong>und</strong> Bürger zu Besetz- <strong>und</strong> Erhaltung <strong>de</strong>r<br />

einem o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn Reichsstand zugehörigen nötigen Festungen, Plätzen <strong>und</strong> Garnisonen, ihren Landsfürsten,<br />

Herrschaften <strong>und</strong> Obern mit hülfflichem Beitrag gehorsamlich anhand zu gehen schuldig<br />

sein“. Damit war die gr<strong>und</strong>sätzliche Verpflichtung <strong>de</strong>r <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> zur Bewilligung <strong>de</strong>r beschlossenen<br />

Reichsanlagen ein<strong>de</strong>utig <strong>und</strong> bleibend bis zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Alten Reiches entschie<strong>de</strong>n; zugleich war <strong>de</strong>n<br />

Lan<strong>de</strong>sobrigkeiten ein Druckmittel gegen ihre Stän<strong>de</strong> in die Hand gegeben, diese zum Gehorsam zu<br />

100 Kremer (Anm. 58), S. 120f.<br />

101 Hontheim (Anm. 57) Bd. 3, S. 665.<br />

102 Johann Jakob Moser, Von <strong>de</strong>rer Teutschen Reichsstän<strong>de</strong> Lan<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ren <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n, Untertanen, Lan<strong>de</strong>sfreiheiten,<br />

Beschwer<strong>de</strong>n, Schul<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Zusammenkünften, Frankfurt <strong>und</strong> Leipzig 1769, S. 283ff.<br />

103 Sammlung (Anm. 64) Teil III, S. 640f.<br />

104 Ebda. S. 674.<br />

15


zwingen, <strong>de</strong>nn die in § 180 enthaltene Beschränkung <strong>de</strong>r ständischen Zahlungspflicht auf „nötige“<br />

Festungen <strong>und</strong> sonstige militärische Einrichtungen bot politischer Auslegung weiten Raum.<br />

So nimmt es <strong>de</strong>nn nicht w<strong>und</strong>er, dass Versuche, diesen zu nutzen, tatsächlich 1671 <strong>und</strong> 72 stattfan<strong>de</strong>n,<br />

allerdings auf <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rstand Kaiser Leopolds I. stießen: Im kaiserlichen Kommissions<strong>de</strong>kret vom<br />

13./3. Februar 1671 105 wird die Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>s § 180, wie sie kurfürstliches Kollegium <strong>und</strong> Mehrheit<br />

<strong>de</strong>s Reichsfürstenrates vorgeschlagen hatten, in höflichen, aber bestimmten Formulierungen abgelehnt.<br />

Mit <strong>de</strong>r Feststellung, es bedürfe wegen <strong>de</strong>s § 180 „keiner abson<strong>de</strong>rlichen Ausführung, son<strong>de</strong>rn es ist<br />

sowohl aus <strong>de</strong>nen heilsamen Reichssatzungen, als <strong>de</strong>r uralten Observanz, genugsamlich bekannt <strong>und</strong><br />

erweislich, wessen nicht allein Kurfürsten <strong>und</strong> Stän<strong>de</strong>, wegen <strong>de</strong>r Reichsanlagen, gegen ihren Untertanen,<br />

berechtiget, son<strong>de</strong>rn auch wieweit die Mediatlandstän<strong>de</strong>, Landsassen <strong>und</strong> Untertanen in Kraft<br />

<strong>de</strong>sselben schuldig <strong>und</strong> gehalten seien, <strong>de</strong>r Exekutionsordnung gebühren<strong>de</strong> Folge zu leisten, <strong>und</strong> ihren<br />

Landsfürsten, Herrschaften <strong>und</strong> Oberen zu Besetz <strong>und</strong> Erhaltung <strong>de</strong>r ihnen zugehörigen nötigen(!)<br />

Festungen, Plätze <strong>und</strong> Besatzungen mit hülfflichem Beitrag gehorsamlich an die Hand zu gehen“ 106 .<br />

Der Kaiser klei<strong>de</strong>t seine Ablehnung in die wahlkapitulationsmäßige Form, er wolle je<strong>de</strong>n bei seiner<br />

hergebrachten Befugnis kräftig schützen, weshalb ihm nichts angenehmer gewesen wäre, als es bei<br />

<strong>de</strong>n Bestimmungen <strong>de</strong>s Reichsabschie<strong>de</strong>s von 1654 in <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>s Landfrie<strong>de</strong>ns zu belassen. Jetzt<br />

habe er erkennen müssen, dass eine ganz neue <strong>und</strong> mit <strong>de</strong>n vorigen Reichsabschie<strong>de</strong>n <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Westfälischen<br />

Frie<strong>de</strong>n nicht übereinstimmen<strong>de</strong> Reichskonstitution <strong>und</strong> insbeson<strong>de</strong>re dieses nachgesucht<br />

wer<strong>de</strong>, „dass eines je<strong>de</strong>n Kurfürsten <strong>und</strong> Stands <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>, Landsassen, Städte <strong>und</strong> Untertanen nicht<br />

allein zur Lands<strong>de</strong>fensionsverfassung, son<strong>de</strong>rn auch zur Handhab- <strong>und</strong> Erfüllung <strong>de</strong>r gedachtem Instrumento<br />

pacis nicht zuwi<strong>de</strong>rlaufen<strong>de</strong>n Bündnissen, wie auch nicht nur zur Erhalt <strong>und</strong> Besetzungen<br />

<strong>de</strong>r nötigen, son<strong>de</strong>rn in<strong>de</strong>finite <strong>de</strong>r Festungen, Orte <strong>und</strong> Plätze, auch zur Verpflegung <strong>de</strong>r Völker <strong>und</strong><br />

an<strong>de</strong>rn hierher gehörigen Notwendigkeiten ... die je<strong>de</strong>s Mal erfor<strong>de</strong>rte Mittel, <strong>und</strong> folgentlich alles,<br />

was an sie, <strong>und</strong> so oft es begehrt wird, gehorsam <strong>und</strong> unweigerlich darzugeben schuldig seien, <strong>und</strong><br />

dass einige Klage <strong>de</strong>r Untertanen we<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>m kaiserlichen Reichshofrat, noch Kammergericht, hierwi<strong>de</strong>r<br />

nicht angenommen, <strong>und</strong> alle Prozesse <strong>und</strong> Mandata sowohl <strong>de</strong>r vergangenen, als gegenwärtig<br />

<strong>und</strong> künftigen Zeit abgetan <strong>und</strong> aufgehoben seien, auf <strong>de</strong>nen <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n, Landsassen <strong>und</strong> Untertanen<br />

einige privilegia <strong>und</strong> exemtiones, <strong>und</strong> wie sie auch Namen haben, o<strong>de</strong>r zu was Zeit selbiger erlangt<br />

sein möchten, nicht zustatten kommen sollen; ...“ 107 .<br />

Das Kommissions<strong>de</strong>kret <strong>de</strong>s Kaisers erklärt zwar, er könne Kurfürsten, Fürsten <strong>und</strong> an<strong>de</strong>re Reichsstän<strong>de</strong>,<br />

die weitergehen<strong>de</strong> Rechte, als im § 180 JRA festgestellt seien, gegen ihre Untertanen <strong>und</strong><br />

Landsassen rechtmäßig hergebracht hätten, dabei schützen. Der Kaiser sei aber nicht bereit, eine Aus<strong>de</strong>hnung<br />

dieses Paragraphen gr<strong>und</strong>sätzlich „zumalen ungehört <strong>und</strong> unvernommener“ Weise zuzulassen,<br />

schon gar nicht darein zu willigen, dass Gerichtsverfahren in <strong>de</strong>rartigen Angelegenheiten kassiert<br />

<strong>und</strong> die Beschwer<strong>de</strong> bei <strong>de</strong>n hohen Reichsgerichten nicht zugelassen wer<strong>de</strong>n solle; vielmehr wür<strong>de</strong> er<br />

sich veranlasst sehen „einen je<strong>de</strong>n bei <strong>de</strong>me, wessen er berechtiget, <strong>und</strong> wie es bis dato observiert wor<strong>de</strong>n,<br />

in alle Wege verbleiben zu lassen“ 108 . Nach Auffassung <strong>de</strong>s Kaisers verhalte er sich damit entsprechend<br />

<strong>de</strong>m Westfälischen Frie<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Reichskonstitutionen <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Reichsherkommen.<br />

Zwar wur<strong>de</strong> die Zusage erneuert, dass <strong>de</strong>n Reichsstän<strong>de</strong>n gegen solche Landsassen <strong>und</strong> Untertanen,<br />

die gegen ihre Lan<strong>de</strong>sherrn sich <strong>de</strong>n Schutz bei an<strong>de</strong>rn Potentaten <strong>und</strong> Republiken vermittels irgendwelcher<br />

Verträge, wie immer die hießen, suchten, das Recht zustehe, sich auch mit Assistenz benachbarter<br />

Stän<strong>de</strong> gegen die ungehorsamen <strong>und</strong> wi<strong>de</strong>rsätzlichen Untertanen bei ihrer „wissentlichen Be­<br />

105 Sammlung (Anm. 64) Teil IV, S. 83ff.<br />

106 Ebda., S. 83.<br />

107 Ebda., S. 84.<br />

108 Ebda.<br />

16


fugnis zu manutenieren“, <strong>und</strong> wie<strong>de</strong>rholt wur<strong>de</strong> auch die Zusage <strong>de</strong>r Wahlkapitulation, bei <strong>de</strong>n hohen<br />

Reichsgerichten die Klagen <strong>de</strong>r Landsassen <strong>und</strong> Untertanen gegen ihre Lan<strong>de</strong>sfürsten „behutsamlich“<br />

zu behan<strong>de</strong>ln <strong>und</strong> insbeson<strong>de</strong>re Klagen gegen die Anwendung <strong>de</strong>s § 180 <strong>de</strong>s Jüngsten Reichsabschie<strong>de</strong>s<br />

von vornherein abzuweisen sowie im Zweifelsfalle reiflich überlegte Mandate <strong>und</strong> Reskripte ausgehen<br />

zu lassen <strong>und</strong> überhaupt nicht willkürlich Prozesse zu beginnen, „außer, dass es die Notorietät<br />

<strong>de</strong>r Sachen, <strong>und</strong> augenscheinliche Billigkeit erfor<strong>de</strong>rt“ 109 . Das Kommissions<strong>de</strong>kret ist übrigens von Bischof<br />

Marquard von Eichstätt als kaiserlichem Prinzipalkommissar am 12. Februar 1671 unterzeichnet<br />

<strong>und</strong> gesiegelt wor<strong>de</strong>n; das Datum vom 3./13. Februar ist das <strong>de</strong>r so genannten Diktatur in Regensburg.<br />

Ein zweites kaiserliches Kommissions<strong>de</strong>kret in <strong>de</strong>rselben Sache erging unter <strong>de</strong>m 10./20. September<br />

1672 110 . Erneut lehnte <strong>de</strong>r Kaiser eine Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r Anwendbarkeit <strong>de</strong>s § 180 JRA ab <strong>und</strong> verwahrte<br />

sich dagegen, dass interessierte Stän<strong>de</strong> gegen die auf sie entfallenen Reichsanlagen immerfort protestieren<br />

<strong>und</strong> ihre Einwilligung nicht geben wollten, „es seie ihnen dann vorhero, <strong>de</strong>r verlangten Extension<br />

halber, Satisfaktion wi<strong>de</strong>rfahren, ohnangesehen Seine Kaiserliche Majestät sich darüber bereits<br />

<strong>de</strong>rgestalt erkläret hätten, dass ein mehrers an dieselbe mit Recht <strong>und</strong> Fug nicht begehrt wer<strong>de</strong>n könnte“.<br />

Mit relativer Schärfe wird festgestellt, es stehe <strong>de</strong>n Reichskonstitutionen <strong>und</strong> <strong>de</strong>r ununterbrochenen<br />

Observanz entgegen <strong>und</strong> wür<strong>de</strong> die gesamte Ordnung <strong>de</strong>r Dinge ins Gegenteil verkehren <strong>und</strong> ein<br />

„unzulässiges seltsames Ansehen gewinnen“ 111 , wenn man sich an die Reichsschlüsse lediglich nach<br />

eigenem Gutdünken halten wolle. Wegen <strong>de</strong>r Repartition <strong>de</strong>r Reichsanschläge auf die Kreise <strong>und</strong> <strong>de</strong>r<br />

Aufbringung <strong>de</strong>r Kontributionen verlangte <strong>de</strong>r Kaiser nunmehr umgehen<strong>de</strong> Beratungen auf eine<br />

reichsverfassungsmäßige Art <strong>und</strong> Weise, womit das versuchte Junktim zwischen securitas publica <strong>und</strong><br />

Extensionspunkt als verfassungswidrig <strong>de</strong>klariert <strong>und</strong> abgelehnt war.<br />

Damit war aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>s Reiches <strong>de</strong>r Schlussstrich unter die Diskussion um die „Extension“ <strong>de</strong>s §<br />

180 JRA gezogen; <strong>de</strong>r Versuch <strong>de</strong>r Mehrheit <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>sherren, ihre Obrigkeit zu Lasten <strong>de</strong>r <strong>Landstän<strong>de</strong></strong><br />

auf <strong>de</strong>m Umweg über eine reichsgesetzliche Blankovollmacht zur Steuererhebung auszubauen, war<br />

<strong>und</strong> blieb gescheitert.<br />

Allerdings zeigen etwa die Steuerstreitigkeiten in Trier, dass die Stän<strong>de</strong> diese Unterstützung durch<br />

Kaiser <strong>und</strong> Reich nicht unbedingt dankten 112 . Freilich hatte bei <strong>de</strong>n dortigen <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstand<br />

gegen je<strong>de</strong> Art von Steuerbewilligung seit <strong>de</strong>m 23. November 1562 113 , als <strong>de</strong>r Kaiser <strong>de</strong>m Kurfürsten<br />

ein Privileg zur Erhebung einer Weinakzise erteilt hatte, das sofort auf erbitterten <strong>und</strong> erfolgreichen<br />

Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Stän<strong>de</strong> gestoßen war, eine lange <strong>und</strong> kaum gestörte Tradition 114 . Erst als nach<br />

<strong>de</strong>m Dreißigjährigen Krieg Karl Kaspar von <strong>de</strong>r Leyen die Abgabe auch auf die bis dahin eximierten<br />

Geistlichen aus<strong>de</strong>hnte 115 , kam es zu einer gewissen Beruhigung; endgültig aber fand <strong>de</strong>r Streit nicht<br />

sein En<strong>de</strong>, bevor Kurfürst Johann Hugo die Anerkennung auch dieser indirekten Steuer als einer<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich landständisch zu bewilligen<strong>de</strong>n Abgabe ausgesprochen hatte.<br />

109 Ebda. S. 84.<br />

110<br />

Sammlung (Anm. 64) Teil IV, S. 86f. (Regensburger Diktatur, eigentliches Datum 17. September 1672)<br />

111 Ebda., S. 86.<br />

112<br />

Vgl. Walter Loch, Die kurtrierischen <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> während <strong>de</strong>r Regierungszeit <strong>de</strong>r Kurfürsten Johann Hugo<br />

von Roßbeck <strong>und</strong> Karl Josef von Lothringen (1676-1715), phil. Diss. Bonn 1950 (maschinenschriftlich), S.<br />

40f. über Reichsmatrikel <strong>und</strong> Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Stän<strong>de</strong> gegen die Zahlung von Reichssteuern, zu <strong>de</strong>r sie z. T.<br />

vom Kurfürsten unter Drohung mit <strong>de</strong>r Reichsexekution gezwungen wer<strong>de</strong>n mussten (S. 46).<br />

113<br />

Johann Josef Scotti, Sammlung <strong>de</strong>r Gesetze <strong>und</strong> Verordnungen, welche in <strong>de</strong>m vormaligen Kurfürstentum<br />

Trier über Gegenstän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>shoheit, Verfassung, Verwaltung <strong>und</strong> Rechtspflege ergangen sind, Düsseldorf<br />

1832, Teil I, Nr. 101.<br />

114 Loch (Anm. 112), S. 51f.<br />

115 Am 27.3.1657, vgl. Loch (Anm. 112), S. 53.<br />

17


Zahlreiche Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen dieser Jahren machen <strong>de</strong>utlich, dass sowohl § 82 <strong>de</strong>r Reichsexekutionsordnung<br />

als auch § 180 <strong>de</strong>s Jüngsten Reichsabschieds gewichtige Argumente <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>sherrn für<br />

die For<strong>de</strong>rung von Steuern <strong>und</strong> für die Auffassung waren, dass gr<strong>und</strong>sätzlich die Stän<strong>de</strong> die Lasten <strong>de</strong>s<br />

Lan<strong>de</strong>s für das Reich zu tragen hätten 116 . Im Streit um die Kosten <strong>de</strong>r Leibgar<strong>de</strong>, für die in einem vergleichbaren<br />

Fall bei einem Prozess <strong>de</strong>r Untertanen gegen die Grafen von Nassau-Usingen <strong>de</strong>r Reichshofrat<br />

am 26.9.1727 die Erhebung einer Schatzung für die dortige Schlosswache verbot 117 , hatte sich<br />

in Trier Kurfürst Karl von Lothringen jedoch durchgesetzt.<br />

Im großen Steuerstreit von 1704 118 , in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r geistliche erste Stand sich weigerte, die von ihm verlangten<br />

Lan<strong>de</strong>ssteuern zu bezahlen, <strong>und</strong> sich an <strong>de</strong>n Papst wandte, sah <strong>de</strong>r Kurfürst eine Appellation<br />

<strong>de</strong>s dritten Stan<strong>de</strong>s an <strong>de</strong>n Reichshofrat mit Recht voraus. Dieser fühlte sich durch die Bestimmungen<br />

<strong>de</strong>s Binger Rezesses von 1650 dazu berechtigt, <strong>und</strong> tatsächlich gebot Leopold I. am 25.7.1704 <strong>de</strong>m<br />

Klerus, die Appellation an die Kurie, die als reichsverfassungswidrig eingestuft wur<strong>de</strong>, zurückzunehmen,<br />

da <strong>de</strong>rartige Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen unter <strong>de</strong>n <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n in Steuerangelegenheiten vor <strong>de</strong>n<br />

Reichshofrat gehörten. In<strong>de</strong>ssen en<strong>de</strong>ten die Verhandlungen schließlich am 23. November 1714 doch<br />

mit einem Vergleich zwischen <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong>sherrn <strong>und</strong> seinen Stän<strong>de</strong>n, sodass es we<strong>de</strong>r zu einer Entscheidung<br />

<strong>de</strong>s Reichshofrates noch <strong>de</strong>r päpstlichen Kurie kam 119 .<br />

Überblickt man die weitere Entwicklung <strong>de</strong>s Verhältnisses von reichsverfassungsmäßigen Rechten <strong>de</strong>s<br />

Kaisers <strong>und</strong> Einwirkung auf die Landtage, so wird <strong>de</strong>utlich, dass die <strong>Reichsverfassung</strong> gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

entsprechend <strong>de</strong>n Bedingungen <strong>de</strong>r Wahlkapitulationen die Sicherung bestehen<strong>de</strong>r Rechte anstrebte,<br />

eine Entmachtung <strong>de</strong>r Landtage wegen <strong>de</strong>s damit einhergehen<strong>de</strong>n Verlustes wohlerworbener Rechte<br />

<strong>de</strong>r <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> also nicht hinnehmen konnte. Wie im Streit zwischen <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n <strong>und</strong> trierischem<br />

Kurfürsten im Dreißigjährigen Krieg die Mitwirkung <strong>de</strong>s Kaisers schließlich die Rechte <strong>de</strong>s Landtages<br />

<strong>und</strong> seiner Stän<strong>de</strong> sicherte <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Kurfürsten auf die Anerkennung <strong>de</strong>s bestehen<strong>de</strong>n Rechtszustan<strong>de</strong>s<br />

verpflichtete, so war auch 1672 endgültig <strong>de</strong>r Versuch <strong>de</strong>r Reichsstän<strong>de</strong>, das Recht <strong>de</strong>r <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> auf<br />

Steuerbewilligung in eine gr<strong>und</strong>sätzliche Pflicht zur Steuerbewilligung zu verkehren, gescheitert.<br />

Immer wie<strong>de</strong>r sah sich das Reich im 17. <strong>und</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>ert veranlasst, in innere Verfassungskonflikte<br />

ebenso bei Reichsstädten wie bei <strong>de</strong>n Territorien einzugreifen, <strong>und</strong> zwar dies stets mit <strong>de</strong>m Ziel, die<br />

althergebrachten Rechte <strong>und</strong> Verfassungen zu wahren <strong>und</strong> dabei - <strong>und</strong> damit - gleichzeitig die <strong>de</strong>s Reiches<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>s Kaisers zu stärken 120 . In mehreren großen Konflikten zwischen Lan<strong>de</strong>sherren <strong>und</strong> <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n<br />

gelang es <strong>de</strong>m Kaiser, seinen reichsverfassungsmäßigen Auftrag durchzusetzen <strong>und</strong> die landständischen<br />

Rechte zu schützen. Das war in <strong>de</strong>n Konflikten um Ostfriesland 1721 bis 1731, um Mecklenburg<br />

1716 bis 1755 <strong>und</strong> um Württemberg zweimal, 1733 bis 1738 <strong>und</strong> 1763 bis 1770, <strong>de</strong>r Fall.<br />

Dabei waren in Ostfriesland 121 auf <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>lage kaiserlicher Rezesse von 1590 <strong>und</strong> 1597 durch Gutachten<br />

<strong>de</strong>s Reichshofrates vom 1. Oktober 1688 Fürst <strong>und</strong> <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> schließlich zu gegenseitiger Respektierung<br />

ihrer Rechte verpflichtet wor<strong>de</strong>n 122 : „Und gleich wie die <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> verb<strong>und</strong>en seien,<br />

116 Loch (Anm. 112), S. 56ff., beson<strong>de</strong>rs S. 58.<br />

117 Loch(Anm. 112), S. 58.<br />

118 Loch (Anm. 112), S. 121f.<br />

119 Loch (Anm. 112), S. 150.<br />

120<br />

Vgl. Krüger (Anm. 50), S. 28f., Moser, Von <strong>de</strong>r Teutschen Reichsstän<strong>de</strong> Lan<strong>de</strong>n, 1769, S. 283f., S. 886f.,<br />

für Trier S. 659f. <strong>und</strong> S. 949f. Gr<strong>und</strong>legend F. H. Schubert, Volkssouveränität <strong>und</strong> Heiliges Römisches<br />

Reich, in: HZ 213, 1971, S. 91ff. <strong>und</strong> Heinz Rausch (Hrsg.), Die geschichtlichen Gr<strong>und</strong>lagen <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen<br />

Volksvertretung, 2 B<strong>de</strong>. Darmstadt 1974, 1980.<br />

121<br />

Bernd Kappelhoff, Absolutistisches Regiment o<strong>de</strong>r Stän<strong>de</strong>herrschaft? Landherr <strong>und</strong> <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> in Ostfriesland<br />

..., Hil<strong>de</strong>sheim 1982 (= Veröffentlichungen <strong>de</strong>r Historischen Kommission für Nie<strong>de</strong>rsachsen <strong>und</strong> Bremen<br />

24), mit weiterer Literatur.<br />

122 Moser (Anm. 120), S. 983ff., Zitat S. 996f.<br />

18


nach Inhalt <strong>de</strong>r ostfriesischen Konkordaten, ihrem Lan<strong>de</strong>sfürsten an seinen ihm zukommen<strong>de</strong>n Rechten,<br />

Hoheiten <strong>und</strong> Regalien keinen Eintrag noch Verkleinerung zu tun, ... also soll auch hinwie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Lan<strong>de</strong>sfürst, gegen vorhergesetzte wirkliche Bezeugung seiner gehorsamen <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>, dieselbe <strong>und</strong><br />

alle Untertanen bei ihren Privilegien, altem Herkommen <strong>und</strong> guten Gewohnheiten, auch ihrem Hab<br />

<strong>und</strong> Gütern in- <strong>und</strong> außerhalb Lan<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r Billig- <strong>und</strong> Gerechtigkeit ganz ungekränkt lassen, auch gegen<br />

an<strong>de</strong>re schützen <strong>und</strong> schirmen“. Gleichwohl kam es in Ostfriesland neuerlich zu teilweise militärisch<br />

ausgetragenen Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen zwischen <strong>de</strong>m Grafen Christian Eberhard <strong>und</strong> seinen <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n,<br />

die auf <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>lage einer Entscheidung <strong>de</strong>s kaiserlichen Reichshofrates vom 18. August<br />

1721, wonach <strong>de</strong>r Fürst seine Lan<strong>de</strong>sregierung nach <strong>de</strong>r allgemein bekannten <strong>Reichsverfassung</strong> führen<br />

<strong>und</strong> auch die <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> die Lan<strong>de</strong>saccor<strong>de</strong> nicht an<strong>de</strong>rs gebrauchen dürften, als die <strong>Reichsverfassung</strong><br />

das regele 123 , schließlich in <strong>de</strong>r kaiserlichen Finalresolution von 1731 mit einer Teilamnestie en<strong>de</strong>ten<br />

<strong>und</strong> einen geschwächten ostfriesischen Landtag zur Folge hatten.<br />

Erfolgreich verlief auch das Einschreiten <strong>de</strong>s Reichshofrates gegen Herzog Karl Leopold von Mecklenburg-Schwerin,<br />

<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Kaiser nach ersten Mahnungen 1715 schließlich am 13.4.1722 <strong>de</strong>utlich<br />

darlegte, dass er die Vasallen <strong>und</strong> Untertanen bei ihrem aus Verträgen <strong>und</strong> Lan<strong>de</strong>sreversalien sowie<br />

darauf gegrün<strong>de</strong>ten kaiserlichen Verordnungen erlangten Recht erhalten <strong>und</strong> gegen die „darwi<strong>de</strong>r unternommenen<br />

Bedrängnisse“ zu beschützen habe 124 . Diese Auseinan<strong>de</strong>rsetzung en<strong>de</strong>te schließlich unter<br />

kaiserlicher Vermittlung mit einem lan<strong>de</strong>sgr<strong>und</strong>gesetzlichen Erbvergleich vom 18. April 1755 125 ,<br />

<strong>de</strong>r, ähnlich <strong>de</strong>m Binger Rezess von 1650 in Kurtrier, je<strong>de</strong> Art lan<strong>de</strong>sherrlichen Absolutismus unterband<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>m Landtag die beherrschen<strong>de</strong> Stellung unter Führung <strong>de</strong>s A<strong>de</strong>ls bis 1918 beließ.<br />

Mit <strong>de</strong>r Pflicht zur Anzeige beim Kaiser 126 <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Anerkennung <strong>de</strong>s Vergleichs als „Pragmatisches<br />

Lan<strong>de</strong>s-F<strong>und</strong>amental-Gesetz“ 127 , das in Druck gegeben 128 <strong>und</strong> im Streitfall von <strong>de</strong>r Reichsgerichtsbarkeit<br />

überprüft wer<strong>de</strong>n sollte 129 , sowie <strong>de</strong>r Anerkennung <strong>de</strong>r reichskonstitutionsmäßigen Rechte <strong>de</strong>s<br />

Kaisers <strong>und</strong> seiner Kommissare überhaupt 130 war die enge Verbindung von landständischer Verfassung<br />

<strong>und</strong> <strong>Reichsverfassung</strong> für je<strong>de</strong>rmann erkennbar <strong>und</strong> unbestreitbar.<br />

In <strong>de</strong>m dritten großen Streitfall <strong>de</strong>s 18. Jahrh<strong>und</strong>erts, in Württemberg 131 , hatten die Herzöge Eberhard<br />

Ludwig <strong>und</strong> Karl Alexan<strong>de</strong>r von 1699 bis 1731 trotz Nichtberufung <strong>de</strong>r Landtage doch die ständischen<br />

Mitbestimmungsrechte nicht völlig beseitigen können, aber so viele Konflikte aufgehäuft, dass nur ein<br />

vom Kaiser bestätigter Vergleich von 1738 schließlich die Ruhe um <strong>de</strong>n Preis gestärkter Funktionen<br />

<strong>de</strong>s Landtages wie<strong>de</strong>rherstellen konnte. Gegen weitere Versuche zur Abschaffung <strong>de</strong>s Landtages unter<br />

Herzog Karl Eugen beim Reichshofrat eingereichte Klagen führten 1764 zum Erfolg in <strong>de</strong>m Vergleich<br />

von 1770 132 , <strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>rum die Rechte <strong>de</strong>s Landtages bestätigte.<br />

123 Vgl. Moser, ebda S. 1005f.<br />

124<br />

Moser, Von <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>shoheit <strong>de</strong>rer Teutschen Reichsstän<strong>de</strong> überhaupt, Frankfurt <strong>und</strong> Leipzig 1773, S.<br />

264-281, hier S. 280f.<br />

125<br />

Des durchlauchtigsten Fürsten <strong>und</strong> Herrn Herrn Christian Lu<strong>de</strong>wigs ... mit <strong>de</strong>ro Ritter- <strong>und</strong> Landschaft getroffener<br />

Lan<strong>de</strong>s-Gr<strong>und</strong>-Gesetzlicher Erb-Vergleich, von Dato Rostock 18. April 1755 (gedruckt). Vgl. Kersten<br />

Krüger, Der Lan<strong>de</strong>s-Gr<strong>und</strong>-Gesetzliche Erb-Vergleich von 1755. Mecklenburg zwischen Monarchie <strong>und</strong><br />

A<strong>de</strong>lsrepublik. In: A<strong>de</strong>l – Geistlichkeit – Militär. Festschrift für Eckardt Opitz zum 60. Geburtstag, hrsg. v.<br />

Michael Bursch <strong>und</strong> Jörg Hillmann, Bochum 1999, S. 91ff.<br />

126 Ebda. § 528.<br />

127 Erklärung von Landmarschall, Ritterschaft <strong>und</strong> <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n, Erbvergleich S. 271.<br />

128 Ebda. § 520.<br />

129 Ebda. § 522.<br />

130 Vgl. ebda. § 1 <strong>und</strong> öfter.<br />

131<br />

Walter Grube, Der Stuttgarter Landtag 1457-1957. Von <strong>de</strong>n <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n zum <strong>de</strong>mokratischen Parlament,<br />

Stuttgart 1957.<br />

132<br />

Volker Press, Der württembergische Landtag im Zeitalter <strong>de</strong>s Umbruchs 1770-1830, in: Zeitschrift für württembergische<br />

Lan<strong>de</strong>sgeschichte 42, 1983, S. 255ff.<br />

19


Ähnlich hatte auch <strong>de</strong>r im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert in Trier beginnen<strong>de</strong> Streit um die Landstandschaft <strong>de</strong>r Ritterschaft<br />

erst am 2. Juli 1729 mit einem während <strong>de</strong>r Sedisvakanz vom Domkapitel geschlossenen,<br />

von Kaiser Karl VI. am 5. September 1729 bestätigten Vertrag sein En<strong>de</strong> fin<strong>de</strong>n können. In ihm<br />

entließ das Domkapitel als zweiter Lan<strong>de</strong>sherr die gesamte Ritterschaft als Reichsritterschaft <strong>und</strong> damit<br />

ein Drittel aller <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> aus <strong>de</strong>m Landtagsverband, ein in seiner Art einmaliger Vorgang 133 .<br />

Zweifellos kann man auch diese tief in die Landtagsverfassung eingreifen<strong>de</strong>n Vorgänge als durchaus<br />

konsequente verfassungsmäßige Anwendung <strong>de</strong>r kaiserlichen Wahlkapitulationen ansehen 134 . Sie bestätigt<br />

Mosers These „es bleibet also, solang die <strong>de</strong>rmalige teutsche <strong>Reichsverfassung</strong> währet, dabei:<br />

Aller <strong>und</strong> je<strong>de</strong>r Reichsstän<strong>de</strong> Lan<strong>de</strong>shoheit ist <strong>de</strong>m Kaiser <strong>und</strong> Reich subordiniert“ 135 . Tatsächlich<br />

zieht sich dieser Gr<strong>und</strong>satz durch die auf <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>lage <strong>de</strong>s Projekts <strong>de</strong>r perpetuierlichen kaiserlichen<br />

Wahlkapitulation vom 4., 6. <strong>und</strong> 7. Juli 1711 136 immer wie<strong>de</strong>r erneuerten, ergänzten, jedoch in <strong>de</strong>r<br />

Kernglie<strong>de</strong>rung beibehaltenen Wahlkapitulationen 137 .<br />

Für das Verhältnis von <strong>Reichsverfassung</strong> <strong>und</strong> Landtagen bzw. landständischen Rechten war <strong>und</strong> blieb<br />

maßgebend Artikel 15 <strong>de</strong>s Projekts <strong>de</strong>r ständigen Wahlkapitulation bzw. Artikel 15 § 1 <strong>de</strong>r letzten<br />

Wahlkapitulation Franz II vom 5. Juli 1792 138 , in <strong>de</strong>m es hieß: „Wir wollen die mittelbaren Reichs<strong>und</strong><br />

<strong>de</strong>r Stän<strong>de</strong> Lan<strong>de</strong>suntertanen in unserm kaiserlichen Schutze haben, <strong>und</strong> zum schuldigen Gehorsam<br />

gegen ihre Lan<strong>de</strong>sobrigkeiten anhalten“.<br />

Der Schutz <strong>de</strong>r mittelbaren Stän<strong>de</strong> war ein Schutz <strong>de</strong>r <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>, <strong>und</strong> die Verpflichtung zum Gehorsam<br />

reichte eben nicht weiter, als sie diesen zu leisten „schuldig“ waren – was in Zusammenhang mit<br />

Art. 1 § 8 <strong>de</strong>r Wahlkapitulation zu sehen ist, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Reichsgerichten <strong>und</strong> an<strong>de</strong>ren Eingriffe in die<br />

Lan<strong>de</strong>s- <strong>und</strong> Regierungshoheit wi<strong>de</strong>r die Reichsgesetze – aber eben nur wi<strong>de</strong>r diese! – verbot. Artikel<br />

2 § 3 sicherte zu, dass niemand in Religionssachen <strong>de</strong>m Westfälischen Frie<strong>de</strong>n <strong>und</strong> „<strong>de</strong>n mit an<strong>de</strong>ren<br />

Reichsstän<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n reichsverfassungsmäßig errichteten Verträgen, <strong>und</strong> diesen gemäß<br />

ausgestellten Reversalien entgegen“ in seinen Rechten beeinträchtigt wer<strong>de</strong>n solle. Auch die Bestimmungen<br />

<strong>de</strong>s Artikels 8 <strong>de</strong>r Wahlkapitulation in Zollsachen richten sich mehrfach nicht nur an die<br />

Reichsstän<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn auch <strong>und</strong> unmittelbar an die <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> 139 . Artikel 14 <strong>de</strong>r Wahlkapitulation, <strong>de</strong>r<br />

bei rein geistlichen Angelegenheiten das letztinstanzliche Urteil <strong>de</strong>s römischen Stuhls o<strong>de</strong>r einer vom<br />

Papst genehmigten Instanz anerkennt, regelt in § 6 nicht nur die Ausnahmen für die evangelischen<br />

Reichsstän<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn auch für die unter katholischer geistlicher o<strong>de</strong>r weltlicher Obrigkeit wohnen<strong>de</strong>n<br />

Landsassen <strong>und</strong> damit wie<strong>de</strong>rum die <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>.<br />

Ich komme noch einmal auf <strong>de</strong>n Artikel 15 zurück. Nach<strong>de</strong>m § 1 die <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> unter kaiserlichen<br />

Schutz genommen hatte, verspricht er in Artikel 15 § 2, keine Landsassen von lan<strong>de</strong>sfürstlicher Obrig­<br />

133<br />

134<br />

Gedruckt mit kaiserlicher Bestätigung bei f (Anm. 113) Teil II, Nr. 427, S. 493f. <strong>und</strong> beschrieben auch bei<br />

Johann Jakob Moser, Neueste Geschichte <strong>de</strong>r unmittelbaren Reichsritterschaft, Bd. 2, Frankfurt <strong>und</strong> Leipzig<br />

1776, S. 232ff. Vgl. LHA Koblenz Best. 1 E Nr. 1229-1231 (1577-1729).<br />

Zu <strong>de</strong>ren gr<strong>und</strong>sätzlicher Be<strong>de</strong>utung Gerd Kleinheyer, Die kaiserlichen Wahlkapitulationen. Geschichte,<br />

Wesen <strong>und</strong> Funktion (= Studien <strong>und</strong> Quellen zur Geschichte <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Verfassungsrechts, Reihe A Bd.<br />

1), Karlsruhe 1968 <strong>und</strong> zur älteren staatsrechtlichen Wertung Johann Jakob Moser, Von Teutschland <strong>und</strong><br />

<strong>de</strong>ssen Staatsverfassung überhaupt, Stuttgart 1766, S. 195f. (Reichsgr<strong>und</strong>gesetze), insbeson<strong>de</strong>re S. 297 ff.<br />

(Wahlkapitulationen).<br />

135 Moser (Anm. 30), S. 259.<br />

136 Sammlung (Anm. 64) Teil IV, S. 233ff.; Zeumer (Anm. 37) Bd. 2 Nr. 205, S. 474ff.<br />

137<br />

Zum Versuch, die perpetuierliche Kapitulation, wie sie Artikel 8 § 3 <strong>de</strong>s Westfälischen Frie<strong>de</strong>ns vorsah,<br />

durch Reichstagsbeschluss zustan<strong>de</strong> zu bringen <strong>und</strong> das Verhältnis von Kurfürsten <strong>und</strong> übrigen Reichsstän<strong>de</strong>n<br />

dabei zu regeln, vergleiche Kleinheyer (Anm. 134), S. 86f.<br />

138 Ratifiziert am 12. Juli 1792, LHA Koblenz Best. 1 A Nr. 11 534 <strong>und</strong> 10 684.<br />

139<br />

Vgl. § 11 wegen städtischer Abgaben o<strong>de</strong>r § 14 die Generalklausel, wonach Verstöße bei Immediatstän<strong>de</strong>n<br />

ebenso wie bei mittelbaren <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n zu ahn<strong>de</strong>n sind.<br />

20


keit <strong>und</strong> hergebrachten Steuern zu befreien, nach § 3 ist auch nicht zu billigen, dass die <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> die<br />

Disposition über die Landsteuern einschließlich <strong>de</strong>ren vollständiger Verwaltung mit Ausschließung<br />

<strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>sherrn „privative“ an sich ziehen. Dabei wird ausdrücklich auf die Zahlungspflicht nach §<br />

180 <strong>de</strong>s Jüngsten Reichsabschieds hingewiesen.<br />

Wenn nach Art. 15 § 4 Prozesse <strong>de</strong>r <strong>Landstän<strong>de</strong></strong> <strong>und</strong> Untertanen in dieser Angelegenheit abgewiesen<br />

<strong>und</strong> die Beschwer<strong>de</strong>führer zu schuldiger Parition an Lan<strong>de</strong>sfürsten <strong>und</strong> -herrn gewiesen wer<strong>de</strong>n sollen,<br />

so zeigt die Einschränkung, dass in solchen Fällen Klageanträge „nicht leichtlich gehöret“ wer<strong>de</strong>n sollen,<br />

dass gr<strong>und</strong>sätzlich in schwerwiegen<strong>de</strong>n Fällen doch die Zuständigkeit von Reichshofrat <strong>und</strong><br />

Reichkammergericht bestehen blieb. In Art. 15 § 5 WK wur<strong>de</strong>n Prozesse gegen die Lan<strong>de</strong>sfürsten <strong>und</strong><br />

Obrigkeiten ohne <strong>de</strong>ren vorherige schriftliche Stellungnahme für null <strong>und</strong> nichtig erklärt, <strong>und</strong> Art. 15 §<br />

6 WK enthält in Fortsetzung <strong>de</strong>r schon bei Karl V. 1519 enthaltenen Regelung wie<strong>de</strong>r die alte Bestimmung<br />

über unziemliche hässliche Verbündnisse, Verstrickungen <strong>und</strong> Zusammentuung <strong>de</strong>r Untertanen,<br />

die verboten sind. Im Art. 15 § 7 WK heißt es, dass keineswegs dazu durch Erteilung unzeitiger Prozesse,<br />

Kommissionen, Reskripte <strong>und</strong> <strong>de</strong>rgleichen Übereilung Anlass gegeben wer<strong>de</strong>n dürfe. In<strong>de</strong>s enthält<br />

Art. 15 § 9 einen Passus, <strong>de</strong>r die vorangehen<strong>de</strong>n in an<strong>de</strong>rem Lichte erscheinen lässt: „Da aber die<br />

Streitigkeiten vor <strong>de</strong>m Richter mit Rechte verfangen wären, sollen selbige aufs schleunigste ausgeführt<br />

<strong>und</strong> entschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n“.<br />

Von einem gr<strong>und</strong>sätzlichen Verbot an die Reichsgerichte, bei <strong>de</strong>rartigen Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen zwischen<br />

Lan<strong>de</strong>sherren <strong>und</strong> <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n Prozesse anzunehmen, kann also nicht die Re<strong>de</strong> sein. Vielmehr<br />

blieb hier ein weiterer politischer Spielraum, wie auch die geschil<strong>de</strong>rten Vorgänge im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

erkennen lassen.<br />

Dies erklärt sich ganz wesentlich aus <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Gr<strong>und</strong>satz <strong>de</strong>s Rechtsstaats ähneln<strong>de</strong>n Generalklausel<br />

<strong>de</strong>r Wahlkapitulation, Artikel 16 § 1, jener alten Hauptaufgabe eines <strong>de</strong>utschen Königs <strong>und</strong> Kaisers,<br />

wie sie seit <strong>de</strong>m Sachsenspiegel unangefochten gilt: „Wir sollen <strong>und</strong> wollen im römischen Reiche<br />

Frie<strong>de</strong> <strong>und</strong> Einigkeit pflanzen, Recht <strong>und</strong> Gerechtigkeit aufrichten <strong>und</strong> verfügen, damit sie ihren gebührlichen<br />

Gang, <strong>de</strong>m Armen wir <strong>de</strong>m Reichen, ohne Unterschied <strong>de</strong>r Personen, Stan<strong>de</strong>s, Wür<strong>de</strong>n <strong>und</strong><br />

Religionen, auch in Sachen uns <strong>und</strong> unseres Hauses eigenes Interesse betreffend gewinnen <strong>und</strong> haben,<br />

auch behalten <strong>und</strong> in selben Ordnungen, Freiheiten <strong>und</strong> altem löblichen Herkommen nach verrichtet<br />

wer<strong>de</strong>n möge“ 140 .<br />

Artikel 16 § 7 sieht die ungehin<strong>de</strong>rte Justiz bei <strong>de</strong>n Reichsgerichten vor, die nach Artikel 16 § 9 auf<br />

<strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>lage <strong>de</strong>r F<strong>und</strong>amentalgesetze <strong>de</strong>s Reiches von <strong>de</strong>r Gol<strong>de</strong>nen Bulle bis zum Westfälischen<br />

Frie<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Nürnberger Exekutionsrezess zu entschei<strong>de</strong>n haben. Artikel 18 § 1 verlangt, dass künftig<br />

keine Exemtionen von <strong>de</strong>r Reichsjurisdiktion mehr über die vorhan<strong>de</strong>nen hinaus gestattet wer<strong>de</strong>n sollen.<br />

Nach Artikel 18 § 2 wird zwar <strong>de</strong>n eximierten Stän<strong>de</strong>n dieser Rechtsstatus garantiert, sie haben aber<br />

auch ihrerseits die Verträge aufs genaueste zu beachten <strong>und</strong> einzuhalten, beson<strong>de</strong>rs was ihre Pflichten<br />

gegenüber <strong>de</strong>m Reich anlangt. Hier war das Recht angelegt, bei Verstoß gegen reichsständische<br />

Pflichten von Verwirkung gewährter Privilegien auszugehen <strong>und</strong> damit das Verfassungsrecht fortzuentwickeln.<br />

In diese Richtung geht auch Artikel 18 § 6 WK. Danach soll „die Notdurft väterlich beobachtet“ wer<strong>de</strong>n,<br />

wenn Appellations- <strong>und</strong> ähnliche Privilegien zum Präjudiz eines Dritten wer<strong>de</strong>n können. Gemäß<br />

Artikel 9 § 6 sollen Klagen von <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n <strong>und</strong> Untertanen gegen ihre Obrigkeiten zunächst bei <strong>de</strong>n<br />

or<strong>de</strong>ntlichen Lan<strong>de</strong>sgerichten entschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Reichsgerichten nicht gestattet wer<strong>de</strong>n,<br />

140 Vgl. dazu Moser, Von <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>shoheit S. 257f.<br />

21


über solche Klagen in letzter Instanz zu entschei<strong>de</strong>n, wenn privilegia <strong>de</strong> non appellando vorhan<strong>de</strong>n<br />

sind, es sei <strong>de</strong>nn, darin wäre ein ausdrücklicher Vorbehalt zugunsten <strong>de</strong>r Reichsgerichtsbarkeit enthalten,<br />

o<strong>de</strong>r wenn „ein an<strong>de</strong>res durch Verträge mit <strong>de</strong>n Landschaften <strong>und</strong> Obrigkeiten ... bestimmet ...“<br />

wäre.<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich ist zwar zunächst das Austrägalverfahren 141 zu beachten. Nach Artikel 19 § 7 sind jedoch<br />

an<strong>de</strong>re Fälle <strong>de</strong>nkbar: „Wo aber in Sachen, da <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>, Untertanen o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Reichsstädten<br />

die Bürger, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>ren Ausschüsse wi<strong>de</strong>r ihre Obrigkeit Klage führen, die Jurisdiktion f<strong>und</strong>ieret, dannoch,<br />

ehe <strong>und</strong> bevor die Mandate, Reskripte, o<strong>de</strong>r etwa in <strong>de</strong>ren Stelle treten<strong>de</strong> Ordinationen ergehen,<br />

die beklagte Obrigkeit je<strong>de</strong>s Mal <strong>und</strong> in allen Fällen mit ihrem Bericht <strong>und</strong> gegen Notdurft zufor<strong>de</strong>rst<br />

vernehmen, gestalten bei <strong>de</strong>ssen Hinterbleibung ihnen gestattet, <strong>und</strong> zugelassen sein sollen, solchen<br />

Mandaten o<strong>de</strong>r Reskripten ... keine Parition zu leisten, <strong>und</strong> wenn alsdann sich befin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, dass<br />

die Untertanen billige Ursache zu Klagen haben, <strong>de</strong>m Prozesse schleunig, jedoch mit Beobachtung <strong>de</strong>r<br />

substantialium abhelfen, inmittels sie gleichwohl zum schuldigen Gehorsam gegen ihre Obrigkeit anweisen“.<br />

Je nach <strong>de</strong>n politischen Machtverhältnissen konnten diese weit auslegbaren, unklaren Bestimmungen<br />

auf eine Schwächung <strong>de</strong>r Autorität <strong>und</strong> Legitimität <strong>de</strong>r 1356 in <strong>de</strong>r Gol<strong>de</strong>nen Bulle <strong>und</strong><br />

später gewährten Appellationsprivilegien hinauslaufen, die bei Rechtsverweigerung ohnehin <strong>de</strong>m Kaiserlichen<br />

oberherrlichen Gerichtsanspruch zu weichen hatten.<br />

Fragen wir nach <strong>de</strong>m Ergebnis dieser Untersuchung zum Verhältnis von <strong>Reichsverfassung</strong> <strong>und</strong> <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>n,<br />

so scheint mir festzustehen, dass das Heilige Römische Reich sich ungeachtet aller nach seinem<br />

Untergang erhobenen Vorwürfe <strong>de</strong>s 19. Jahrh<strong>und</strong>erts keineswegs im Sinne Pufendorfs lediglich<br />

als das einem Ungeheuer ähnliche Durcheinan<strong>de</strong>r von Herrschaftsformen darstellt, son<strong>de</strong>rn dass <strong>de</strong>r<br />

leiten<strong>de</strong> Gedanke <strong>de</strong>r Bindung von Macht an Recht seinen hohen Stellenwert seit <strong>de</strong>n Kapitularien <strong>und</strong><br />

<strong>de</strong>m Sachsenspiegel bis hin: zur letzten Wahlkapitulation Kaiser Franz II. behalten hat 142 . Der aus <strong>de</strong>m<br />

Lehnssystem sich ergeben<strong>de</strong> Gr<strong>und</strong>satz von auxilium et consilium, von Rat <strong>und</strong> Tat, die Einung als<br />

Zusammenschluss gleicher, aber auch unterschiedlicher Stän<strong>de</strong> <strong>und</strong> die Reihe <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>gesetze <strong>de</strong>s<br />

Reiches mit <strong>de</strong>n schließlich wichtigsten, <strong>de</strong>n Wahlkapitulationen, sie sind es, die ebenso Ursache für<br />

die Entstehung landständischer Verfassung wie Voraussetzung für ihren Fortbestand waren 143 .<br />

Mit ihrer reichsverfassungsrechtlichen Absicherung stellen sich die landständischen Rechtsverhältnisse<br />

im alten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Sinne <strong>de</strong>s eingangs Gesagten durchaus in<br />

mancherlei Hinsicht als echte Vorläufer <strong>de</strong>s heutigen b<strong>und</strong>esstaatlichen Systems dar, in <strong>de</strong>m sich seit<br />

<strong>de</strong>r Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Artikels 23 GG mit <strong>de</strong>r Einführung europarechtlicher Zuständigkeiten <strong>de</strong>r Län<strong>de</strong>r ja<br />

sogar wie<strong>de</strong>r Anklänge an 1648 gewährte Rechte fin<strong>de</strong>n 144 .<br />

So wird verständlich, was im Umfeld <strong>de</strong>r Französischen Revolution im Kurtrierischen Intelligenzblatt<br />

145 in Zusammenhang mit <strong>de</strong>n Wirren <strong>de</strong>r so genannten Lütticher Revolution <strong>de</strong>r dortigen <strong>Landstän<strong>de</strong></strong><br />

gegen ihren fürstbischöflichen Lan<strong>de</strong>sherrn geschrieben wur<strong>de</strong>: „... hoffentlich wird jetzt die<br />

141<br />

Als Schlichtungsverfahren zwischen Reichsstän<strong>de</strong>n durch § 28 <strong>de</strong>r Reichskammergerichtsordnung vom<br />

7.8.1495 eingeführt (Sammlung (Anm. 64) Teil II, S. 10).<br />

142<br />

Die zentrale Rolle <strong>de</strong>s Rechts in <strong>de</strong>r <strong>Reichsverfassung</strong> ist für Moser entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Rechtsgr<strong>und</strong>satz bei <strong>de</strong>r<br />

Entscheidung, wer im Streitfalle die Beweislast zu tragen hat. Seiner Ansicht nach hat <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>sherr nur bei<br />

<strong>de</strong>r Regierung <strong>de</strong>s Staates in <strong>de</strong>n das Gemeinwohl betreffen<strong>de</strong>n Angelegenheiten entsprechend <strong>de</strong>m allgemeinen<br />

Reichsherkommen die Rechtsvermutung für sich, wenn kein an<strong>de</strong>rer Regierungsrechte nachweisen<br />

kann; dagegen heißt es für die <strong>Landstän<strong>de</strong></strong>: „<strong>Landstän<strong>de</strong></strong> <strong>und</strong> Untertanen haben die Vermutung für sich bei allem,<br />

was zum Nachteil <strong>und</strong> Einschränkung ihrer althergebrachten Freiheiten <strong>und</strong> Gerechtsamen gereichet“.<br />

(Staatsverfassung S. 521).<br />

143<br />

Vgl. hierzu auch Karl Otmar Freiherr von Aretin, Heiliges Römisches Reich 1776 bis 1806. <strong>Reichsverfassung</strong><br />

<strong>und</strong> Staatssouveränität (= Veröffentlichungen <strong>de</strong>s Instituts für Europäische Geschichte Mainz Bd. 38),<br />

Wiesba<strong>de</strong>n 1967, S. 26f. mit weiterer Literatur.<br />

144 S. o. Anm. 87.<br />

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Ruhe bald wie<strong>de</strong>r eintreten <strong>und</strong> unter Deutschlands glücklichem Himmel <strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong> dauerhaft bleiben,<br />

<strong>de</strong>n es seiner <strong>Reichsverfassung</strong> zu verdanken hat, die von <strong>de</strong>m Geiste wahrer Freiheit durchweht ist,<br />

weil durch sie auch <strong>de</strong>r Geringste Schutz gegen wirkliche Unterdrückung fin<strong>de</strong>t“.<br />

145<br />

Vom 11. September 1789, Nr. 73 Beilage (gedruckt bei Joseph Hansen, Quellen zur Geschichte <strong>de</strong>s Rheinlan<strong>de</strong>s<br />

im Zeitalter <strong>de</strong>r Französischen Revolution 1780-1807 (= Publikationen <strong>de</strong>r Gesellschaft für rheinische<br />

Geschichtsk<strong>und</strong>e Bd. 42) S. 435.<br />

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