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Nr. 243 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV - Ostpreußen

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Der Mann im Apfelbaum<br />

Von Siegfried Lenz<br />

Einen seltsamen Baum, Herrschaften,<br />

gab es bei uns in Suleyken;<br />

wohl den seltsamsten Baum von der<br />

Welt. Was sich auf seinen Zweiglein<br />

schaukelte, es waren die Blüten des<br />

Aberglaubens, und es waren – aber<br />

ich will der Reihe nach erzählen.<br />

Vierunddreißig Apfelbäume, so wird<br />

berichtet, besaß der Adam Arbatzki,<br />

keinen aber pflegte und bevorzugte<br />

er mehr als den, welcher unmittelbar<br />

neben seinem Häuschen stand. Es<br />

war, betrachtete man alles aus der<br />

Entfernung, ein sonderbares Verhältnis,<br />

das dieser Adam Arbatzki mit<br />

seinem Bäumchen hatte: nicht nur,<br />

dass er ihm reichlich und vom besten<br />

Dünger gab, dass er zur Zeit der<br />

Nachtfröste ein Koksöfchen neben<br />

ihm aufstellte – zuweilen, wie mehrmals<br />

festgestellt wurde, pflegte er<br />

sich sogar mit ihm zu unterhalten.<br />

Plauderte schließlich so ungeniert mit<br />

dem Bäumchen, bis seine Frau, ein<br />

ganz junges Marjellchen namens<br />

Sofja, einiges mitbekam und ihn darob<br />

mit folgenden Worten zur Rede<br />

stellte: „Ich habe, Adam, im letzten<br />

Winter rechnen gelernt. Und ich habe<br />

ausgerechnet, dass du bei Sonne<br />

vier, bei Regen sieben Sätze mit mir<br />

redest. Mit meinen Ohren aber, die<br />

ich habe, um zu hören, habe ich es<br />

erlauscht, dass du mit jenem Bäumchen,<br />

das immer mehr in die Breite<br />

geht und schon in alle Fenster hineinlugt,<br />

mehr als zehn Sätze sprichst.<br />

Demzufolge möchte ich bitten um<br />

Aufklärung. Das ist ja wohl möglich.“<br />

Adam Arbatzki, er lächelte mild und<br />

müde, besann sich ein wenig und<br />

sprach dann mit leiser Stimme: „Die<br />

zehn Sätzchen, moia Zonka, die ich<br />

sprech’ zu dem Baum, sprech’ ich<br />

zu mir selbst. Denn dies Bäumchen<br />

ist niemand anderes als meine Wenigkeit.<br />

Ich habe es gepflanzt, damit<br />

ich schlüpfen kann in es, wenn ich<br />

tot bin. Und damit ich aufpassen<br />

kann auf dich, Sofja. Du bist noch<br />

jung, moia Zonka, und wer jung ist,<br />

stellt sich womöglich ziemlich dreibastig<br />

an. Somit möchte ich dich<br />

schon heute ein bisschen warnen.<br />

Das Bäumchen – und das heißt ich –<br />

kann hineinlugen in alle Fenster und<br />

sehen, was vor sich geht. Wenn zuviel<br />

vor sich geht nach meinem Tode,<br />

werd’ ich mich schon auf gewisse<br />

Weise melden.“<br />

Dies Gespräch fand statt an einem<br />

Dienstag; an einem Mittwoch legte<br />

sich Adam Arbatzki ins Bett, an einem<br />

Donnerstag schickte er nach<br />

dem Arzt, und da er sich an dem Arzt<br />

nicht vergriff, sondern schluckte, was<br />

dieser ihm verschrieb, starb er an einem<br />

Sonntag zur Kaffeezeit. Eigentlich<br />

war er auch alt genug dafür.<br />

Na, die Sofja, das kribblige Marjellchen,<br />

sorgte sich, dass ihr Adam<br />

Arbatzki ein schönes Plätzchen fand,<br />

mottete seine Jacken und Hosen ein<br />

und verhielt sich ruhig. Wenigstens<br />

einstweilen. Aber nach und nach ließ<br />

sie die Trauer hinter sich – war ja<br />

auch zu jung, um sich künftighin nur<br />

zu grämen – und erging sich in dem,<br />

worin das Leben, scheint’s, zur<br />

Hauptsache besteht: nämlich in Geschäftigkeit.<br />

Diese Geschäftigkeit<br />

führte sie, was keinen wundern wird,<br />

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