Nr. 243 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV - Ostpreußen
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einander. Dann hörte ich meine Mutter,<br />
die in ein Loch oder einen Krater<br />
gefallen war, um Hilfe rufen. Ich fand<br />
einen beherzten Mann, der ihr heraus<br />
half. Gott sei Dank waren wir<br />
beide bis jetzt noch nicht verletzt<br />
und liefen zurück zu unserem Schlitten,<br />
an dem Rosemarie auf uns warten<br />
sollte.<br />
Inzwischen aber hatten die deutschen<br />
Soldaten die Straßen räumen<br />
lassen und die Flüchtlinge in Häuser<br />
oder Luftschutzkeller getrieben. Von<br />
meiner Schwester war keine Spur<br />
mehr vorhanden, und auch in den in<br />
der Nähe stehenden Häusern waren<br />
keine Menschen mehr. Unser Schlitten<br />
stand noch so da, wie wir ihn<br />
verlassen hatten, nur zwei kleine<br />
Koffer fehlten, die hatte Rosi mitgenommen,<br />
mehr hatte sie nicht tragen<br />
können. Mutti und ich rannten nun<br />
zu unserem Haus in der Hohensteiner<br />
Straße zurück, die Stufen hinauf<br />
in unsere Wohnung und sahen<br />
durch das Schlafzimmerfenster, wie<br />
die Russen sich ihren Weg in die<br />
Stadt freischossen, viele Häuser gingen<br />
in Flammen auf.<br />
Meine Mutter weinte leise vor sich<br />
hin und sagte zu mir: Wo mag nur<br />
die Rosi sein? Plötzlich hörten wir<br />
unten die Haustür aufgehen. Im Flur<br />
erschien Herr Bechert, ein Mitbewohner<br />
des Hauses, in SS-Uniform.<br />
Er sagte uns, dass er seine Familie<br />
gerade über Schleichwege aus Allenstein<br />
heraus in Sicherheit gebracht<br />
hätte. Er wollte uns auch herausbringen,<br />
aber Mutti kämpfte mit<br />
sich, weil Rosi ja nicht da war. Doch<br />
Herr Bechert sagte, dass die Russen<br />
alle, die ihnen in die Hände fallen<br />
werden, grausam umbringen würden<br />
und dass sie sich selbst und<br />
mich so noch retten könnte. Daraufhin<br />
entschloss sich meine Mutter unter<br />
Tränen mitzufahren. Im Auto befand<br />
sich außerdem ein Freund von<br />
Herrn Bechert in Zivil.<br />
Also fuhren wir auf Schleichwegen<br />
durch sehr kleine Gassen, mussten<br />
dann aber doch einen Marktplatz<br />
überqueren, und dann geschah es.<br />
Noch vor einer Stunde, so erzählte<br />
uns Herr Bechert, standen hier Soldaten<br />
an einem dicken, gefällten<br />
Baum, um den Russen Einhalt zu<br />
gebieten und alle Fahrzeuge zu kontrollieren.<br />
Inzwischen aber war bereits<br />
der Russe an dieses Hindernis<br />
mit seinen großen Panzern herangekommen,<br />
und so fuhren wir ihm direkt<br />
in die Arme. Der Mann in Zivil<br />
vorn neben Herrn Bechert riss sich<br />
schnell sein Hakenkreuzabzeichen<br />
vom Revers herunter und rief meiner<br />
Mutter zu, schnell mit dem Kind das<br />
Auto zu verlassen, da die Russen<br />
nicht lange fackeln und durch die<br />
Autoscheiben schießen würden. Sie<br />
rissen mich dann gemeinsam heraus,<br />
da das Auto nur zwei Türen<br />
hatte. Hierbei verlor ich meinen rechten<br />
Schuh und stand nun bei ca. –<br />
20° Kälte auf Strümpfen im Schnee.<br />
So stand ich zitternd, mit erhobenen<br />
Händen, neben meiner Mutter und<br />
den beiden Männern. Die Gewehre<br />
der Russen waren auf uns gerichtet.<br />
Ich hatte wahnsinnige Angst und<br />
klammerte mich an Mutti fest.<br />
Doch dann geschah etwas mit mir,<br />
das ich bis heute noch als göttliche<br />
Fügung ansehe. Plötzlich ließ ich<br />
meine Mutter los, drehte mich um<br />
und sah unter all den Soldaten, die<br />
um uns her standen, einen, der mir<br />
eine Coca-Cola-Dose entgegenstreckte<br />
und mich damit wahr-<br />
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