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Bleibe in der Zeit - Community of Protestant Churches in Europe

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Agenda 10<br />

<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Evangelischer Gottesdienst <strong>in</strong> Süd-Mittel-Osteuropa<br />

zwischen Bewahrung und Verän<strong>der</strong>ung<br />

E<strong>in</strong>e Studie anhand von Fallbeispielen<br />

Fassung 2012<br />

GEKE-Regionalgruppe Südosteuropa<br />

im Auftrag <strong>der</strong><br />

Geme<strong>in</strong>schaft Evangelischer Kirchen <strong>in</strong> Europa


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Inhalt<br />

Inhalt<br />

1. Gottesdienst – Vergegenwärtigung <strong>der</strong> bunten Gnade Gottes (1. Petrus 4,10) ................... 4<br />

1.1 Gottesdienst im Wandel <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>en – Der Auftrag <strong>der</strong> 6. Vollversammlung <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft<br />

Evangelischer Kirchen <strong>in</strong> Europa (GEKE) 4<br />

1.2 Ausgangsfrage und Ziele <strong>der</strong> Studie 5<br />

1.3 Methode und Aufbau <strong>der</strong> Studie 6<br />

1.4 <strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> 7<br />

2 Gottesdienste im Wandel – signifikante Beispiele aus den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe .. 7<br />

2.1 Migration als Herausfor<strong>der</strong>ung für den Gottesdienst - Italien 7<br />

2.2 Methodistische Gottesdienste <strong>in</strong> Ost und West im Vergleich 10<br />

2.3 Gottesdienst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Großstadt 12<br />

2.3.1 Gottesdienst als Kontrapunkt im Stadtleben - Schweiz 13<br />

2.3.2 Nationale und kulturelle Identität im Gottesdienst - Rumänien 14<br />

2.3.3 Internationale Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> den Metropolen - Österreich 15<br />

2.3.4 Passantengeme<strong>in</strong>de und Citykirche - Deutschland und Schweiz 16<br />

2.4 Die Kle<strong>in</strong>stgeme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> <strong>der</strong> Diaspora 18<br />

2.4.1 Evangelische Restgeme<strong>in</strong>den - Rumänien 18<br />

2.4.2 Wie<strong>der</strong> gegründete Kle<strong>in</strong>stgeme<strong>in</strong>den - Ukra<strong>in</strong>e 19<br />

3 Gesellschaftliche Kontexte im Umbruch ................................................................................ 21<br />

3.1.1 Verän<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> Europa <strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten 21<br />

3.1.2 Entwicklung <strong>in</strong> den Transformationslän<strong>der</strong>n 21<br />

3.1.3 Russland – e<strong>in</strong>e Weltmacht def<strong>in</strong>iert sich neu 22<br />

3.1.4 Westliche Län<strong>der</strong> 22<br />

3.2 Kirchen im Umbruch 23<br />

3.2.1 Die Rolle <strong>der</strong> Kirchen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wende 23<br />

3.2.2 Kirchen <strong>in</strong> den neuen Staaten 23<br />

3.2.3 Umgang mit <strong>der</strong> Vergangenheit 24<br />

3.3 Auswirkungen <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungen auf das Geme<strong>in</strong>deleben und den Gottesdienst, <strong>in</strong><br />

Mittelosteuropa 24<br />

3.3.1 Folgen des Verschw<strong>in</strong>dens national-homogener Strukturen <strong>in</strong> MOE für die Ortsgeme<strong>in</strong>den 24<br />

3.3.2 Folgen für die Ortsgeme<strong>in</strong>den durch Arbeitsmigration und Landflucht 24<br />

3.3.3 Herausfor<strong>der</strong>ungen für die Ortsgeme<strong>in</strong>den an <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Benachteiligten und Verlierer <strong>der</strong><br />

Verän<strong>der</strong>ungen 25<br />

3.3.4 Geme<strong>in</strong>den bieten neue Heimat für Migranten 25<br />

3.4 Postmo<strong>der</strong>ne Millieuorientierung 26<br />

3.5 Das Selbstverständnis des postmo<strong>der</strong>nen Menschen 27<br />

1


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Inhalt<br />

3.5.1 Die Tendenz <strong>der</strong> Individualisierung und das Bedürfnis nach Geme<strong>in</strong>schaft 27<br />

3.5.2 Bedürfnis nach Spiritualität und Feier 28<br />

4 Theologie und Gottesdienst ..................................................................................................... 29<br />

4.1 Kommunikative Geme<strong>in</strong>schaft 29<br />

4.2 Gottesdienst als Begegnung und Geme<strong>in</strong>schaft 29<br />

4.2.1 Gott begegnet den Menschen <strong>in</strong> Verkündigung, Taufe und Abendmahl. 29<br />

4.2.2 Gott begegnet den Menschen, so dass sie dankend, lobend und bekennend antworten. 30<br />

4.2.3 Gott begegnet den Menschen, dass sie zur Geme<strong>in</strong>schaft untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verbunden werden. 31<br />

4.3 Der Gottesdienst als verb<strong>in</strong>dendes Zentrum <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>dearbeit 31<br />

5 Die Feier des Gottesdienstes <strong>in</strong> den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe ..................................... 32<br />

5.1 Der Gottesdienst, e<strong>in</strong> Fest 32<br />

5.2 Wort und Sakrament im evangelischen Gottesdienst 33<br />

5.2.1 Das Wort im evangelischen Gottesdienst 34<br />

5.2.2 Die Feier des Abendmahls 35<br />

5.3 Liturgische Gestaltung des Gottesdienstes 36<br />

5.3.1 Liturgiereformen im Wandel <strong>der</strong> Gesellschaft 37<br />

5.3.2 Rückbes<strong>in</strong>nung auf alte liturgische Formen 38<br />

5.3.3 Vere<strong>in</strong>heitlichung <strong>der</strong> liturgischen Prägung 39<br />

5.3.4 Sprache und Liturgie 40<br />

5.4 Gesang und Musik im evangelischen Gottesdienst 41<br />

5.4.1 Kirchenmusik – Klang des Evangeliums 41<br />

5.4.2 Der Geme<strong>in</strong>degesang im Gottesdienst 41<br />

5.4.3 Das Liedgut <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>den 42<br />

5.4.4 Chorarbeit und Konzerte - Kulturevent o<strong>der</strong> missionarische Gelegenheit? 43<br />

5.4.5 Ausbildung und Qualitätssicherung für die Kirchenmusik 43<br />

5.5 Zur Ästhetik des Gottesdienstes: <strong>Zeit</strong> und Raum 44<br />

5.6 Leitung und Beteiligung 45<br />

5.7 Das Geme<strong>in</strong>same wächst. Zusammenfassung 45<br />

6 Neue Gottesdienste für e<strong>in</strong>e sich verän<strong>der</strong>nde Gesellschaft ............................................... 47<br />

6.1 Alternative Gottesdienste 47<br />

6.2 Kle<strong>in</strong>e gottesdienstliche Formen 49<br />

6.3 Gottesdienste im Lebenslauf 50<br />

6.3.1 Kasualien als missionarische Gelegenheit 50<br />

6.3.2 E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung von Kasualien <strong>in</strong> die Geme<strong>in</strong>de 50<br />

6.3.3 Nachholende Kasualarbeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> ehemaligen Sowjetunion 50<br />

6.3.4 E<strong>in</strong>beziehung des E<strong>in</strong>zelnen 51<br />

6.3.5 Beson<strong>der</strong>e Kasualien 51<br />

2


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Inhalt<br />

6.4 Gottesdienste zu gesellschaftlichen Anlässen 52<br />

6.4.1 Die Mitwirkung von Kirchen <strong>in</strong> staatlichen o<strong>der</strong> öffentlichen Institutionen: 52<br />

6.4.2 Kirchliche Begleitung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zivilgesellschaft 53<br />

6.4.3 Gottesdienste bei Katastrophen 53<br />

6.4.4 Kirchliche Angebote für die Gesellschaft 54<br />

6.4.5 Ökumenische und multireligiöse Veranstaltungen 54<br />

6.5 Pr<strong>of</strong>essionalisierung <strong>der</strong> Gottesdienste 55<br />

6.6 Gottesdienste <strong>in</strong> den Medien 55<br />

6.7 Gottesdienst und Gesellschaft. Zusammenfassung 56<br />

7 <strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> – E<strong>in</strong>sichten und Perspektiven .................................................................. 57<br />

7.1 Der Gottesdienst zwischen Grundform und Reform 57<br />

7.2 Gottesdienst-Entwicklung <strong>in</strong> den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe 57<br />

7.2.1 Evangelischer Reichtum und neue Fragen 57<br />

7.2.2 Vielfalt und neue Verb<strong>in</strong>dlichkeit – Agendenreformen und alternative Gottesdienste 58<br />

7.2.3 Evangelischer Gottesdienst und ökumenische Verbundenheit 58<br />

7.2.4 Gottesdienst <strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>de und Gesellschaft 59<br />

7.2.5 Gottesdienst zwischen Ost und West im Vergleich 59<br />

7.2.6 Gottesdienst des E<strong>in</strong>zelnen und <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft 59<br />

7.2.7 Vom Gottesdienst aus Geme<strong>in</strong>de neu leben und Kirche neu denken 59<br />

7.3 Kriterien zur Gestaltung von Verän<strong>der</strong>ungsprozessen <strong>der</strong> kirchlichen Gottesdienstkultur 60<br />

7.4 Folgerungen und Anstöße für die Weiterarbeit 61<br />

7.4.1 Gottesdienst im Mittelpunkt von Austausch und Begegnung 61<br />

7.4.2 Liturgische Vorschläge für e<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen Gottesdienst 62<br />

7.4.3 Gottesdienst und Bildung 62<br />

ANHANG: DIE KIRCHEN DER REGIONALGRUPPE SÜDOSTEUROPA: ................................................................... 63<br />

3


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> Gottesdienst – Vergegenwärtigung <strong>der</strong> bunten Gnade Gottes (1. Petrus 4,10)<br />

1. Gottesdienst – Vergegenwärtigung <strong>der</strong> bunten Gnade Gottes (1.<br />

Petrus 4,10)<br />

Millionen von Christ<strong>in</strong>nen und Christen besuchen jeden Sonntag Gottesdienste <strong>in</strong> evangelischen<br />

Kirchen Europas. Geme<strong>in</strong>den unterschiedlicher Prägung mit ihren haupt- und ehrenamtlichen<br />

Mitarbeitenden, Kantor<strong>in</strong>nen und Kantoren, Pfarrer<strong>in</strong>nen und Pfarrern verwenden großes Engagement<br />

und viel Liebe auf die Gestaltung dieser Feier. Geprägt von teilweise jahrhun<strong>der</strong>tealten<br />

Traditionen wird <strong>der</strong> Gottesdienst jede Woche neu gefeiert. In allen Sprachen Europas wird gepredigt<br />

und gebetet, nach verschiedenen Liturgien wird das Abendmahl gefeiert, <strong>in</strong> verschiedenen<br />

Stilen wird gesungen, <strong>in</strong> riesigen Kathedralen und <strong>in</strong> w<strong>in</strong>zigen Dorfkirchen - und so wird das<br />

Evangelium zu Gehör gebracht.<br />

Groß ist auch die Vielfalt <strong>der</strong> Gottesdienste zu an<strong>der</strong>en <strong>Zeit</strong>en und an an<strong>der</strong>en Orten: Gottesdienste<br />

zu Hochzeiten o<strong>der</strong> Beerdigungen, Gottesdienste im Radio, Fernsehen o<strong>der</strong> per Internet,<br />

Gottesdienste zu großen öffentlichen Veranstaltungen, aber auch anlässlich von Katastrophen,<br />

Gottesdienste <strong>in</strong> Schulen o<strong>der</strong> Altersheimen. Kaum überschaubar und immer wie<strong>der</strong><br />

überraschend neu ist die Fülle gottesdienstlicher Feiern mitten im Alltag.<br />

Der große Reichtum gottesdienstlicher Praxis ist ermutigend, Geschenk und Auftrag zugleich.<br />

Der Gottesdienst prägt Kirchen, er trägt Menschen. Die vorliegende Studie nimmt diese Erfahrungen<br />

dankbar auf und versucht, den Reichtum, <strong>der</strong> damit gegeben ist, zu entfalten. Und sie<br />

zielt darauf, die Gottesdiensterfahrungen e<strong>in</strong>zelner Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu<br />

verknüpfen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vielfalt das Verb<strong>in</strong>dende zu erkennen. Auch so kann über Landes-, Sprach-<br />

und Konfessionsgrenzen Gottesdienstgeme<strong>in</strong>schaft wachsen.<br />

1.1 Gottesdienst im Wandel <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>en – Der Auftrag <strong>der</strong> 6. Vollversammlung<br />

<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft Evangelischer Kirchen <strong>in</strong> Europa (GEKE)<br />

Die 5. Vollversammlung <strong>der</strong> Leuenberger Kirchengeme<strong>in</strong>schaft 2001 <strong>in</strong> Belfast hat den Willen<br />

bekundet, dass die <strong>in</strong> ihr verbundenen Kirchen auch geistlich stärker zusammenwachsen, und<br />

das Präsidium <strong>der</strong> GEKE hat auf <strong>der</strong> 6. Vollversammlung 2006 <strong>in</strong> Budapest e<strong>in</strong>drücklich festgehalten,<br />

dass die Geme<strong>in</strong>schaft Evangelischer Kirchen <strong>in</strong> Europa „vor allem gottesdienstliche<br />

Geme<strong>in</strong>schaft ist“, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> regelmäßigen Feier des Gottesdienstes ihren Ausdruck f<strong>in</strong>det 1 . Im<br />

Schlussbericht schlägt die Vollversammlung von Budapest daher vor, sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Projekt nä-<br />

1 Bericht des Präsidiums – Vollversammlung Budapest 2006, Geme<strong>in</strong>schaft gestalten – Evangelisches Pr<strong>of</strong>il <strong>in</strong><br />

Europa, S.1<br />

4


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> Gottesdienst – Vergegenwärtigung <strong>der</strong> bunten Gnade Gottes (1. Petrus 4,10)<br />

her mit dem Thema Gottesdienst zu beschäftigen: „Es ist e<strong>in</strong>e beständige Aufgabe, den Gottesdienst<br />

<strong>in</strong> Kontakt und Wechselwirkung mit verschiedenen Lebenswelten zu halten. Diese Aufgabe<br />

wird <strong>in</strong> vielen evangelischen Kirchen mit Engagement geleistet. Wichtig ist es, Kriterien für<br />

notwendige Verän<strong>der</strong>ungen zu entwickeln, ohne das konfessionelle Pr<strong>of</strong>il und lokale Traditionen<br />

als identitätsstiftende Merkmale zu vernachlässigen“ 2 .<br />

Der Rat hat das Anliegen <strong>der</strong> Vollversammlung aufgenommen und die Regionalgruppe Süd-<br />

Ost-Europa mit e<strong>in</strong>em Projekt zum „Gottesdienst im Wandel <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>en“ beauftragt. Das Ergebnis<br />

stellt die Regionalgruppe mit dieser Studie vor. Sie geht aus von konkreten Beispielen aus<br />

den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe, beschäftigt sich mit regionalen und konfessionellen Unterschieden<br />

und sucht dabei immer wie<strong>der</strong> geme<strong>in</strong>same Herausfor<strong>der</strong>ungen auf, mit denen Kirchen<br />

auch über die Region h<strong>in</strong>aus konfrontiert s<strong>in</strong>d.<br />

1.2 Ausgangsfrage und Ziele <strong>der</strong> Studie<br />

Die GEKE ist als Kanzel- und Abendmahlsgeme<strong>in</strong>schaft Gottesdienstgeme<strong>in</strong>schaft. Dies gilt <strong>in</strong><br />

ganz beson<strong>der</strong>er Weise für die Regionalgruppe Südosteuropa. Die Feier des geme<strong>in</strong>samen<br />

Gottesdienstes war seit Gründung <strong>der</strong> Gruppe e<strong>in</strong> wesentliches Element <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft,<br />

gerade <strong>in</strong> schwierigen <strong>Zeit</strong>en des Kalten Kriegs. Wichtig ist auch zu sehen, dass die Kirchen <strong>der</strong><br />

Regionalgruppen Diasporakirchen, also Kirchen im M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitenstatus s<strong>in</strong>d. Gerade für diese<br />

Kirchen und Geme<strong>in</strong>den ist Gottesdienst e<strong>in</strong>e wesentliche, manchmal fast die e<strong>in</strong>zige Form <strong>der</strong><br />

Kommunikation und Identifikation nach <strong>in</strong>nen wie nach außen. In <strong>der</strong> Begegnung <strong>der</strong> Kirchen<br />

<strong>der</strong> Regionalgruppe wurde immer wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Reichtum gottesdienstlicher Feiern erkannt und<br />

erlebt. Über die Vielfalt sich auszutauschen und dar<strong>in</strong> das Verb<strong>in</strong>dliche über die eigenen Grenzen<br />

h<strong>in</strong>weg zu erkennen, war ebenfalls e<strong>in</strong> wichtiges Thema bei den Begegnungen – schon vor<br />

dem Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Arbeit an <strong>der</strong> Studie nach <strong>der</strong> Vollversammlung <strong>in</strong> Budapest 2006. Durch die<br />

Beauftragung <strong>in</strong> Budapest kam e<strong>in</strong>e neue Arbeitsperspektive h<strong>in</strong>zu: die neuen Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />

für das gottesdienstliche Leben wahrzunehmen, die sich durch die rasanten gesellschaftlichen<br />

Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> letzten Jahre und Jahrzehnte neu aufdrängen. Konkrete Fragestellungen,<br />

die uns begleiteten, seien hier genannt.<br />

1) Die Ereignisse des Jahres 1989 leiteten für Gesellschaft und Kirche <strong>in</strong> Europa e<strong>in</strong>schneidende<br />

Verän<strong>der</strong>ungen e<strong>in</strong>. Welche Auswirkungen haben diese Prozesse auf das<br />

gottesdienstliche Leben <strong>der</strong> Kirchen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regionalgruppe?<br />

2<br />

6. Vollversammlung <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft Evangelischer Kirchen <strong>in</strong> <strong>Europe</strong> (GEKE) – Leuenberger<br />

Kirchengeme<strong>in</strong>schaft –, 12.-18.9.2006 <strong>in</strong> Budapest, SCHLUSSBERICHT, Freiheit verb<strong>in</strong>det, S.9<br />

5


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> Gottesdienst – Vergegenwärtigung <strong>der</strong> bunten Gnade Gottes (1. Petrus 4,10)<br />

2) In den westlichen Kirchen bee<strong>in</strong>flussen Individualisierung und Pluralisierung die Gottesdienstkultur.<br />

Inwiefern f<strong>in</strong>den sich im ehemaligen Ostblock vergleichbare Entwicklungen?<br />

3) Europa wächst zusammen. Menschen unterschiedlicher Sprachen, Traditionen o<strong>der</strong> aus<br />

unterschiedlichen Kulturkreisen leben neben- und mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong>. Wie reagieren die Kirchen<br />

<strong>der</strong> Regionalgruppe mit ihren gottesdienstlichen Feiern auf diese Herausfor<strong>der</strong>ungen?<br />

4) Viele Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe bef<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er extremen M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitensituation.<br />

Welche Auswirkungen hat dies auf die Entwicklung des Gottesdienstes?<br />

5) Die Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe verstehen den Sonntagsgottesdienst als zentralen Ausdruck<br />

ihres Kirchese<strong>in</strong>s. Wie verhält sich die erlebbare Praxis zu diesem Anspruch?<br />

6) Die GEKE hat <strong>in</strong> <strong>der</strong> Leuenberger Konkordie e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same theologische Grundlage.<br />

Welche Kriterien lassen sich daraus im Blick auf die Entwicklung des Gottesdienstes<br />

gew<strong>in</strong>nen?<br />

1.3 Methode und Aufbau <strong>der</strong> Studie<br />

Die vorliegende Studie entstand <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em mehrjährigen Erfahrungsaustausch <strong>in</strong> <strong>der</strong> GEKE-<br />

Regionalgruppe Südosteuropa. Die Fallstudien und Beispiele beruhen auf schriftlich formulierten<br />

E<strong>in</strong>schätzungen <strong>der</strong> Delegierten zu gottesdienstlichen Entwicklungen <strong>in</strong> ihrer Kirche. Für die<br />

Studie wurden signifikante Beispiele ausgewählt und redaktionell bearbeitet. Dieser Erfahrungsbezug<br />

zum gottesdienstlichen Leben prägt den Stil <strong>der</strong> Studie. So ist es nicht verwun<strong>der</strong>lich,<br />

dass die Fallstudien e<strong>in</strong>en breiten Raum e<strong>in</strong>nehmen und e<strong>in</strong>en eigenen Abschnitt erhalten. Aber<br />

auch <strong>in</strong> den an<strong>der</strong>en Teilen <strong>der</strong> Studien f<strong>in</strong>den sich nicht nur Rückverweise auf die Fallstudien,<br />

es wird auch dort immer wie<strong>der</strong> erfahrungsorientiert argumentiert.<br />

In den Fallstudien (Ziffer 2) werden signifikante Beispiele für den Wandel <strong>der</strong> Gottesdienstkultur<br />

aus <strong>der</strong> Praxis <strong>der</strong> Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe dargestellt. Diesen Wandel genauer zu bestimmen<br />

und Schwerpunkte <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungen herauszuarbeiten, die Chancen, aber auch die<br />

Schwierigkeiten <strong>in</strong> diesem Prozessen zu benennen und das Verb<strong>in</strong>dliche zu f<strong>in</strong>den, ist die Aufgabe<br />

<strong>der</strong> Analyse <strong>in</strong> den weiteren Teilen <strong>der</strong> Studie. Dazu werden zunächst die gesellschaftlichen<br />

Rahmenbed<strong>in</strong>gungen und Wahrnehmungsmuster <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung dargestellt (Ziffer 3)<br />

und <strong>in</strong> Beziehung gesetzt zu e<strong>in</strong>er theologischen Orientierung (Ziffer 4). Nach <strong>der</strong> Darstellung<br />

<strong>der</strong> gesellschaftlichen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen und <strong>der</strong> theologischen Leitperspektiven werden <strong>in</strong><br />

den nächsten Abschnitten zunächst die Feier des Gottesdienstes im Spiegel ihrer gelebten Vielfalt<br />

(Ziffer 5), sodann die Entfaltung des Gottesdienstes <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er sich verän<strong>der</strong>nden Gesellschaft<br />

6


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Gottesdienste im Wandel – signifikante Beispiele aus den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

<strong>in</strong> den Blick genommen (Ziffer 6). Im Abschnitt „E<strong>in</strong>sichten und Perspektiven“ (Ziffer 7) werden<br />

die Ergebnisse schließlich zusammengefasst und Anstöße für die Weiterarbeit formuliert.<br />

1.4 <strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Der Titel „<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>“ wurde gewählt, weil er e<strong>in</strong>e für den Gottesdienst wesentliche<br />

Grundspannung zwischen Verän<strong>der</strong>ung und Beständigkeit, Wandel und Wesentlichem, <strong>Zeit</strong> und<br />

Ewigkeit formuliert.<br />

Der Gottesdienst ist e<strong>in</strong> Raum <strong>der</strong> Beständigkeit, e<strong>in</strong> Ort, <strong>der</strong> bleibt was er ist weil er Ort <strong>der</strong><br />

Begegnung mit dem ewigen Gott ist. Er ist e<strong>in</strong>e <strong>Bleibe</strong>, e<strong>in</strong> Zufluchtsort <strong>in</strong> den Wechselfällen<br />

des Lebens, bietet Geborgenheit und Heimat. Er bietet aber auch Orientierung für die Gestaltung<br />

<strong>der</strong> Lebenszeit des E<strong>in</strong>zelnen - e<strong>in</strong>gebunden <strong>in</strong> die Fragen <strong>der</strong> Gegenwart und <strong>in</strong> den Zusammenhang<br />

<strong>der</strong> Generationen. Dieser Ort ist aber ke<strong>in</strong>e Insel, die erratisch aus dem Fluss <strong>der</strong><br />

<strong>Zeit</strong> herausragen würde, son<strong>der</strong>n er hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Gestaltung <strong>in</strong> vielerlei H<strong>in</strong>sicht Anteil an <strong>der</strong><br />

<strong>Zeit</strong>, <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>der</strong> Gottesdienst stattf<strong>in</strong>det. Denn Gottes Wort ereignet sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> und nimmt<br />

Gestalt <strong>in</strong> ihr. Hier gew<strong>in</strong>nt die Formulierung „<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>!“ auch e<strong>in</strong>e ermahnende o<strong>der</strong><br />

ermunternden, e<strong>in</strong>e auffor<strong>der</strong>nde Bedeutung: den sich wandelnden <strong>Zeit</strong>bezug ernst zu nehmen,<br />

um damit auch den Wandel <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>en, die Menschen erleben und manchmal auch erleiden,<br />

Gestalt zu verleihen. Weil das Wort Gottes <strong>in</strong> die <strong>Zeit</strong> spricht, än<strong>der</strong>t sich mit <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> auch die<br />

Form des Gottesdienstes. Zwischen Aktualisieren und Bewahren f<strong>in</strong>det <strong>der</strong> Gottesdienst se<strong>in</strong>e<br />

aktuelle Gestalt. Er bleibt gerade dar<strong>in</strong> <strong>der</strong> Dienst Gottes an se<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>de und die Antwort<br />

<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> ihrer jeweiligen Situation. Im Wandel und als zeitliches Geschehen kann <strong>der</strong><br />

Gottesdienst die Begegnung mit dem Ewigen ermöglichen. Zugleich schw<strong>in</strong>gt die eschatologische<br />

H<strong>of</strong>fnung mit, dass diese <strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> sich wandelnden und vergehenden <strong>Zeit</strong> auch e<strong>in</strong><br />

Vorsche<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bleibe</strong> jenseits aller <strong>Zeit</strong>en, e<strong>in</strong>e <strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> alle Ewigkeit ist.<br />

2 Gottesdienste im Wandel – signifikante Beispiele aus den Kirchen<br />

<strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

2.1 Migration als Herausfor<strong>der</strong>ung für den Gottesdienst - Italien<br />

Unione delle chiese valdesi e metodiste<br />

In den letzten Jahrzehnten kamen mit den Migrantenströmen auch mehrere hun<strong>der</strong>ttausend<br />

evangelische Christen aus Afrika nach Italien. Auch wenn sich nur e<strong>in</strong> Bruchteil <strong>in</strong> den historischen<br />

Waldenser- o<strong>der</strong> Methodistengeme<strong>in</strong>den wie<strong>der</strong>erkennt und dort e<strong>in</strong>e spirituelle Heimat<br />

sucht (daneben s<strong>in</strong>d zahlreiche ethnische Freikirchen entstanden), hat dies manche Waldensergeme<strong>in</strong>den<br />

stark verän<strong>der</strong>t. Vor allem im Nordosten Italiens und <strong>in</strong> den großen Städten (Mai-<br />

7


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Gottesdienste im Wandel – signifikante Beispiele aus den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

land, Rom, Palermo etc.) hat die Ankunft evangelischer Migranten das Wachstum <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>den<br />

beschleunigt. In vielen kle<strong>in</strong>en Diasporageme<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>zwischen die Migranten zur<br />

Mehrheit geworden und die E<strong>in</strong>heimischen zur M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit <strong>in</strong> <strong>der</strong> eigenen Kirche.<br />

Die Waldensergeme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Brescia beispielsweise, hat e<strong>in</strong>e 150 jährige Tradition, bestand jedoch<br />

nur noch aus wenigen e<strong>in</strong>heimischen Familien. In den letzten 15 Jahren erfuhr sie durch<br />

die Immigrationswelle e<strong>in</strong>e explosionsartige Entwicklung. Die Zahl <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>deglie<strong>der</strong> hat sich<br />

vervielfacht. Etwa 80% s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>zwischen junge Familien aus Ghana und an<strong>der</strong>en vorwiegend<br />

afrikanischen Län<strong>der</strong>n, vor allem mit methodistischem, aber auch mit presbyterianischem H<strong>in</strong>tergrund.<br />

Für die Identität e<strong>in</strong>er konfessionellen M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit, die seit Jahrhun<strong>der</strong>ten ganz bewusst die Rolle<br />

e<strong>in</strong>er evangelischen Diasporakirche <strong>in</strong>mitten <strong>der</strong> römisch-katholisch geprägten Gesellschaft<br />

Italiens e<strong>in</strong>genommen hat, und nun zur M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit im eigenen Haus wird, bedeutet dies e<strong>in</strong>e<br />

große Herausfor<strong>der</strong>ung. Tausende evangelische Migranten <strong>in</strong> den kle<strong>in</strong>en traditionellen Geme<strong>in</strong>den<br />

stellen mit ihren spezifischen Glaubenstraditionen, ihren kulturellen Wurzeln und theologischen<br />

Bezügen das Zusammenleben <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de, ihre Struktur und Organisation und<br />

nicht zuletzt die Feier des Gottesdienstes vor e<strong>in</strong>e Zerreißprobe.<br />

Geme<strong>in</strong>den haben auf diese Herausfor<strong>der</strong>ung unterschiedlich reagiert:<br />

1) E<strong>in</strong>ige beherbergen an<strong>der</strong>e Geme<strong>in</strong>den o<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>degruppen <strong>in</strong> den eigenen kirchlichen<br />

Räumen, doch je<strong>der</strong> Teil feiert se<strong>in</strong>en eigenen Gottesdienst und ist eigenständig<br />

organisiert. Gelegentlich kann es zu Kontakten und Austausch zwischen den beiden<br />

Gruppen kommen, doch ist dies nicht das vorrangige Ziel dieser Existenz nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>.<br />

2) An an<strong>der</strong>en Orten schließen sich E<strong>in</strong>heimische und Migranten zu e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Geme<strong>in</strong>de<br />

zusammen. In dieser gibt es verschiedene Gottesdienstangebote, um den jeweiligen<br />

Traditionen, Kulturen und verschiedenen Sprachen Rechnung zu tragen. In diesen<br />

Geme<strong>in</strong>den ist das Zusammenwachsen <strong>der</strong> verschiedenen Gruppen e<strong>in</strong> Anliegen. Darum<br />

f<strong>in</strong>den immer wie<strong>der</strong> auch geme<strong>in</strong>same Gottesdienste statt.<br />

3) Der Versuch, als E<strong>in</strong>heimische und Migranten geme<strong>in</strong>sam zu e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>de zusammen<br />

zu wachsen und dies auch jeden Sonntag im geme<strong>in</strong>samen Gottesdienst zu leben,<br />

wird nur <strong>in</strong> wenigen Geme<strong>in</strong>den unternommen, stellt aber e<strong>in</strong> Modell <strong>der</strong> Integration dar,<br />

das zum Prüfste<strong>in</strong> für gelebte Gottesdienstgeme<strong>in</strong>schaft werden kann. Dieses am weitesten<br />

gehende Modell soll hier genauer betrachtet werden.<br />

8


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Gottesdienste im Wandel – signifikante Beispiele aus den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

Die Herausfor<strong>der</strong>ung bei solchen Brückengottesdiensten zwischen fremden Kulturen besteht<br />

e<strong>in</strong>erseits dar<strong>in</strong>, die Identität <strong>der</strong> e<strong>in</strong>heimischen Gläubigen zu wahren, den Gottesdienst also<br />

(wie<strong>der</strong>)erkennbar <strong>in</strong> <strong>der</strong> waldensischen Tradition zu gestalten, und an<strong>der</strong>erseits dar<strong>in</strong>, gleichzeitig<br />

Migranten ansprechend e<strong>in</strong>en Raum zu eröffnen, so dass sie sich <strong>in</strong> diesem geme<strong>in</strong>samen<br />

Gottesdienst als ihrem Gottesdienst „zu Hause“ fühlen. Um die Voraussetzungen dafür zu<br />

schaffen muss <strong>der</strong> Gottesdienst mehrsprachig werden. Der Gottesdienst <strong>in</strong> Brescia wird zwar<br />

vorwiegend auf Italienisch gehalten und folgt <strong>der</strong> Gottesdienstordnung <strong>der</strong> Waldenserkirche,<br />

aber <strong>der</strong> zentrale Teil <strong>der</strong> Wortverkündigung, d.h. Bibellesung und Predigt s<strong>in</strong>d zweisprachig auf<br />

Italienisch und Englisch. Dem Pfarrer o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Pfarrer<strong>in</strong> liegt daran, die englischsprachige<br />

Mehrheit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Predigt, aber auch bei Begrüßung und Segen, E<strong>in</strong>ladung zum Abendmahl etc.<br />

direkt anzusprechen. Da e<strong>in</strong>ige Migrant<strong>in</strong>nen und Migranten aus <strong>der</strong> ersten Generation nur die<br />

traditionelle ghanaische Sprache Twi verstehen, f<strong>in</strong>det zusätzlich nach dem Gottesdienst e<strong>in</strong><br />

Bibelgespräch zum Predigttext <strong>in</strong> Twi statt.<br />

Bei <strong>der</strong> Auswahl <strong>der</strong> Lie<strong>der</strong> im Gottesdienst wird e<strong>in</strong>erseits auf geme<strong>in</strong>sames Liedgut zurückgegriffen<br />

(Traditionsbewahrung), zum Teil s<strong>in</strong>d auch mehrsprachige Lie<strong>der</strong> schon länger <strong>in</strong> Gebrauch.<br />

An<strong>der</strong>erseits werden Lie<strong>der</strong> <strong>der</strong> jeweils an<strong>der</strong>en Tradition e<strong>in</strong>geübt und gesungen. Konkrete<br />

Hilfestellung dazu gibt e<strong>in</strong> zweisprachiges Lie<strong>der</strong>buch, das vor e<strong>in</strong>igen Jahren e<strong>in</strong>geführt<br />

wurde und regelmäßig verwendet wird. Die Lie<strong>der</strong> werden nicht nur mit <strong>der</strong> Orgel, son<strong>der</strong>n auch<br />

mit traditionellen afrikanischen Schlag- und Rhythmus<strong>in</strong>strumenten begleitet. In die geme<strong>in</strong>samen<br />

Gottesdienste werden neue liturgische Elemente afrikanischen Ursprungs e<strong>in</strong>gebaut (z.B.<br />

Tanz).<br />

Spirituelle Leitungspersönlichkeiten <strong>der</strong> Migrantengruppe wollen aktiv am Gottesdienst partizipieren,<br />

Charismen und Gaben <strong>der</strong> Ghanesen sollen e<strong>in</strong>fließen können. Hierfür bietet die Waldenserkirche<br />

seit 2008 e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>terkulturellen Fortbildungskurs für Prediger und Prediger<strong>in</strong>nen<br />

aus gemischten Geme<strong>in</strong>den an, <strong>der</strong> versucht, spirituelle Leiter aus Migrantengruppen, zukünftige<br />

Laienprediger (sowohl e<strong>in</strong>heimische als auch Migranten) und Pfarrer<strong>in</strong>nen und Pfarrer (als<br />

Tutoren) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen, <strong>in</strong>terkulturellen Lernprozess e<strong>in</strong>zub<strong>in</strong>den. Dennoch stellt dies<br />

für die Geme<strong>in</strong>den e<strong>in</strong>e große Herausfor<strong>der</strong>ung dar, ebenso wie die kulturellen Unterschiede,<br />

z.B. e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Umgang mit <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> (<strong>der</strong> eigenen und <strong>der</strong> von an<strong>der</strong>en, <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> für Gott).<br />

Sche<strong>in</strong>bar nur organisatorische Fragen wie die Länge des Gottesdienstes o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Predigt, <strong>der</strong><br />

zeitliche Beg<strong>in</strong>n des Gottesdienstes, Pünktlichkeit etc. bergen großes Konfliktpotential.<br />

Die evangelische Kirchen <strong>in</strong> Italien haben versucht, geme<strong>in</strong>sam Projekte und Strategien für die<br />

verschiedenen Integrationsmodelle zu entwickeln: Auf <strong>der</strong> Ebene „Fö<strong>der</strong>ation <strong>der</strong> evangelischen<br />

Kirchen <strong>in</strong> Italien“ ist 2003 die Arbeitsgruppe „Essere Chiesa Insieme“ (ECI), d.h. „Geme<strong>in</strong>sam<br />

9


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Gottesdienste im Wandel – signifikante Beispiele aus den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

Kirche se<strong>in</strong>“ entstanden. Sie begleitet Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> den Herausfor<strong>der</strong>ungen von Migration und<br />

Integration.<br />

In Zukunft sollen noch stärker flexible Gottesdienstmodelle entwickelt, <strong>in</strong> denen e<strong>in</strong>e unterschiedliche<br />

Gewichtung <strong>der</strong> liturgischen Elemente und <strong>der</strong> verschiedenen „Predigtstile“ praktiziert<br />

werden kann, um den unterschiedlichen Erwartungen gerecht werden zu können. Vorstellbar<br />

wäre auch e<strong>in</strong> Wechsel <strong>der</strong> unterschiedlichen Gottesdienstformen, wobei aber <strong>of</strong>fen bleibt,<br />

ob diese sich dann als geme<strong>in</strong>same e<strong>in</strong>prägen.<br />

Gel<strong>in</strong>gt das geme<strong>in</strong>same Gottesdienstfeiern von E<strong>in</strong>heimischen und Migranten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er multikulturellen<br />

Geme<strong>in</strong>de, so dass Unterschiede bereichernd erlebt und geme<strong>in</strong>sam praktiziert werden,<br />

dann ist das, jedenfalls <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellen italienischen und vielleicht auch europäischen Realität<br />

e<strong>in</strong> gesellschaftskritisches und prophetisches Zeichen gegen Rassismus und Ausgrenzung und<br />

e<strong>in</strong> Beitrag zu gel<strong>in</strong>gen<strong>der</strong> Integration.<br />

2.2 Methodistische Gottesdienste <strong>in</strong> Ost und West im Vergleich<br />

Evangelisch-methodistische Kirche (EmK) <strong>in</strong> Deutschland, Österreich<br />

und Serbien<br />

Die Evangelisch-methodistische Kirche (EmK) ist nicht <strong>in</strong> nationalen o<strong>der</strong> landeskirchlichen<br />

Strukturen verfasst und bildet somit als e<strong>in</strong>e kirchliche Organisation e<strong>in</strong>e Brücke zwischen West<br />

und Ost. Gleichwohl muss grundsätzlich beachtet werden, dass <strong>in</strong> den drei Län<strong>der</strong>n Deutschland,<br />

Österreich und Serbien die EmK <strong>in</strong> sehr unterschiedlichen Kontexten lebt. Es gilt nicht nur<br />

den Ost-West-Vergleich son<strong>der</strong>n auch den konfessionellen Kontext (protestantisches, katholisches,<br />

orthodoxes Umfeld) zu beachten, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en deutlichen E<strong>in</strong>fluss auf die Gestaltung und<br />

Entwicklung des Gottesdienstes hat.<br />

In allen drei Län<strong>der</strong>n werden <strong>in</strong> <strong>der</strong> evangelisch-methodistischen Kirche die Gebete <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel<br />

frei gesprochen. Der Geme<strong>in</strong>degesang hat e<strong>in</strong>en hohen Stellenwert. Das Glaubensbekenntnis<br />

wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nur bei Abendmahlsgottesdiensten o<strong>der</strong> bei beson<strong>der</strong>en Gelegenheiten gesprochen.<br />

Für K<strong>in</strong><strong>der</strong> gibt es <strong>in</strong> den meisten Geme<strong>in</strong>den e<strong>in</strong> eigenes Programm. Dabei nehmen<br />

die K<strong>in</strong><strong>der</strong> am Beg<strong>in</strong>n des Gottesdienstes teil und gehen danach <strong>in</strong> die Sonntagsschule. Doch<br />

e<strong>in</strong>e län<strong>der</strong>übergreifende, verb<strong>in</strong>dliche, traditionelle Gottesdienstordnung gibt es <strong>in</strong> <strong>der</strong> methodistischen<br />

Kirche nicht. Vielmehr hat sich <strong>in</strong> den verschiedenen Län<strong>der</strong>n jeweils e<strong>in</strong>e Hauptform<br />

entwickelt und zwar <strong>in</strong> Anlehnung o<strong>der</strong> Abgrenzung zu Gottesdienstformen <strong>in</strong> ihrem Umfeld. In<br />

Österreich orientiert sich <strong>der</strong> Gottesdienst im Aufbau deutlicher an <strong>der</strong> lutherischen bzw. römisch-katholischen<br />

Ordnung. In Serbien hat <strong>der</strong> Gottesdienst dagegen eher freikirchlichen Cha-<br />

10


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Gottesdienste im Wandel – signifikante Beispiele aus den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

rakter, wobei <strong>der</strong> Vormittagsgottesdienst <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Gestaltung bewusst liturgische Elemente<br />

stärker berücksichtigt.<br />

Wie im Gottesdienstablauf lässt sich auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Perikopenordnung e<strong>in</strong>e gewisse Anlehnung an<br />

die Praxis im Umfeld erkennen. In Deutschland ist die Textwahl den Pfarrer<strong>in</strong>nen und Pfarrern<br />

überlassen. Viele orientieren sich an <strong>der</strong> Perikopenordnung <strong>der</strong> Evangelischen Kirche. In e<strong>in</strong>zelnen<br />

vor allem jüngeren Geme<strong>in</strong>den spielen auch Predigtreihen zu bestimmten Themen o<strong>der</strong><br />

biblischen Büchern e<strong>in</strong>e tragende Rolle. In Österreich wird die Leseordnung <strong>der</strong> weltweiten United<br />

Methodist Church verwendet, die für alle Kirchen im angelsächsischen Bereich gleich ist<br />

(„Revised Common Lectionary“) und – was die Evangelientexte betrifft – auch <strong>der</strong> katholischen<br />

Ordnung entspricht (3-Jahres-Zyklus bei dem jeweils e<strong>in</strong> synoptisches Evangelium im Vor<strong>der</strong>grund<br />

steht). In Serbien werden die Lese- und Predigttexte <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel frei gewählt.<br />

Das geme<strong>in</strong>same S<strong>in</strong>gen im Gottesdienst ist von großer Bedeutung. „Methodism was born <strong>in</strong><br />

song“, wird <strong>of</strong>t gesagt. Im deutschsprachigen Raum gibt es seit 2002 e<strong>in</strong> neues Gesangbuch,<br />

das auch ökumenisch große Beachtung gefunden hat. Es löste das Gesangbuch aus dem Jahr<br />

1969 ab, das traditionsvergessen auf methodistisches Liedgut weitgehend verzichtet und stattdessen<br />

reformatorisches, nachreformatorisches und pietistisches Liedgut aufgenommen hatte.<br />

Das neue Gesangbuch hat e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutiges methodistisches Pr<strong>of</strong>il, das schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> Disposition<br />

zum Ausdruck kommt. Der Aufbau orientiert sich am Apostolicum. Viele Lie<strong>der</strong> stammen aus<br />

dem angelsächsischen Raum und wurden mit neuen deutschen Übersetzungen aufgenommen,<br />

darunter auch 22 Lie<strong>der</strong> von Charles Wesley und von an<strong>der</strong>en methodistischen Dichtern. Es<br />

wurde Wert darauf gelegt auch mo<strong>der</strong>nes Liedgut aus verschiedenen Traditionen zu übernehmen<br />

(Iona, Taize, Kirchentage u.a.). E<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>es Merkmal ist auch die Internationalität. So<br />

f<strong>in</strong>den wir Lie<strong>der</strong> nicht nur aus dem europäischen Raum son<strong>der</strong>n auch aus Afrika, Late<strong>in</strong>amerika,<br />

Neuseeland, Karibik, Ch<strong>in</strong>a. E<strong>in</strong>ige Lie<strong>der</strong> wurden <strong>in</strong> mehreren Sprachen abgedruckt. Mo<strong>der</strong>ne<br />

Themen wurden ebenfalls berücksichtigt. Selbstverständlich enthält das Gesangbuch<br />

auch den geme<strong>in</strong>samen deutschsprachigen gesamtevangelischen Liedschatz und e<strong>in</strong>e Vielzahl<br />

von ökumenischen Lie<strong>der</strong>n. 99 <strong>der</strong> 167 Titel von Colours <strong>of</strong> Grace s<strong>in</strong>d geme<strong>in</strong>sam. E<strong>in</strong>e alte<br />

Tradition methodistischer Gesangbücher wurde beibehalten: fast alle Lie<strong>der</strong> s<strong>in</strong>d mit e<strong>in</strong>em vierstimmigen<br />

Chorsatz abgedruckt.<br />

Dieses Gesangbuch hat große Zustimmung gefunden und wird im deutschsprachigen Raum<br />

praktisch <strong>in</strong> allen EmK-Geme<strong>in</strong>den und darüber h<strong>in</strong>aus verwendet. In Österreich wurde es auch<br />

als <strong>of</strong>fizielles Schulbuch anerkannt und wird im Religionsunterricht e<strong>in</strong>gesetzt.<br />

In den nicht deutschsprachigen Län<strong>der</strong>n, wie z.B. Serbien, werden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel traditionelle<br />

Gesangbücher verwendet, die das evangelische Liedgut <strong>in</strong> <strong>der</strong> Landessprache enthalten. Neue<br />

11


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Gottesdienste im Wandel – signifikante Beispiele aus den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

Lie<strong>der</strong>bücher <strong>in</strong> methodistischer Tradition können nicht für diese kle<strong>in</strong>e Sprach<strong>in</strong>sel übersetzt<br />

und gedruckt werden. Zusätzlich f<strong>in</strong>den auch mo<strong>der</strong>ne Lie<strong>der</strong> (z.T. aus dem charismatischen<br />

Bereich) im Gottesdienst Verwendung.<br />

In den letzten 20 Jahren haben sich die traditionellen Gottesdienstformen kaum verän<strong>der</strong>t. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

ist <strong>in</strong> allen drei Län<strong>der</strong>n die Freiheit im Umgang mit diesen Gottesdienstformen viel<br />

größer geworden. Dabei ist <strong>in</strong> Deutschland und Österreich das liturgische Interesse bei vielen<br />

Pastor<strong>in</strong>nen und Pastoren gewachsen. Doch f<strong>in</strong>det man auch die Tendenz weitgehend auf liturgische<br />

Elemente zu verzichten und den Gottesdienst zeitgemäß zu „mo<strong>der</strong>ieren“. Die Frage<br />

nach <strong>der</strong> „Kundenfreundlichkeit“ des Gottesdienstes hat heute e<strong>in</strong> viel größeres Gewicht.<br />

In Serbien wird unter dem E<strong>in</strong>druck, dass Jugendliche mit dem traditionellen Hauptgottesdienst<br />

kaum mehr erreicht werden, von e<strong>in</strong>zelnen Pfarrern versucht, Elemente des Feierns und <strong>der</strong><br />

Freude z.B. durch mo<strong>der</strong>ne Lie<strong>der</strong> aufzunehmen. Hier wächst das Bedürfnis, über den traditionellen<br />

Gottesdienst h<strong>in</strong>aus Zielgruppen anzusprechen, die nicht zum Hauptgottesdienst f<strong>in</strong>den.<br />

Die Beteiligung von Laien am Gottesdienst hat zugenommen. Sie s<strong>in</strong>d heute für die Gestaltung<br />

und Mitwirkung sehr wichtig. Sie beteiligen sich als Liturg/<strong>in</strong>nen und Lektor/<strong>in</strong>nen, als<br />

Abendmahlshelfer und übernehmen bei entsprechen<strong>der</strong> Schulung und Ausbildung auch Verkündigungsdienste.<br />

Viele Wortgottesdienste werden <strong>in</strong> allen drei Län<strong>der</strong>n nur von Laien gestaltet.<br />

In Österreich wird schon seit mehr als 20 Jahren das Abendmahl an allen Hauptfeiertagen und<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel am ersten Sonntag im Monat gefeiert. K<strong>in</strong><strong>der</strong> jeden Alters s<strong>in</strong>d willkommen. In<br />

Deutschland hat sich <strong>in</strong> den letzten 20 Jahren e<strong>in</strong>e ähnliche Praxis entwickelt. Früher wurde das<br />

Abendmahl nur 4 bis 6 Mal im Jahr gefeiert. In Serbien wird das Abendmahl nach wie vor eher<br />

selten, 5 bis 6 Mal im Jahr gefeiert. K<strong>in</strong><strong>der</strong>n dürfen dort erst nach <strong>der</strong> Konfirmation (mit ca. 13<br />

Jahren) teilnehmen. Für das Abendmahl wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel die dafür vorgesehene Liturgie verwendet.<br />

In Deutschland und Österreich gibt es vier verschiedene Liturgien (traditionell bis mo<strong>der</strong>n)<br />

zur Auswahl, die im Gesangbuch abgedruckt s<strong>in</strong>d. In Serbien s<strong>in</strong>d drei<br />

Abendmahlsliturgien <strong>in</strong> Verwendung. Die Vielfalt <strong>der</strong> Abendmahlsliturgien hat <strong>in</strong> den letzten 20<br />

Jahren zugenommen.<br />

2.3 Gottesdienst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Großstadt<br />

Die Verän<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> den Innenstädten <strong>der</strong> Großstädte machen neue Konzeptionen für gottesdienstliche<br />

Räume und Gottesdienstfeiern erfor<strong>der</strong>lich. Beispiele aus <strong>der</strong> Schweiz und<br />

Deutschland, sowie aus Österreich und Rumänien zeigen Entwicklungen <strong>in</strong> Großstädten.<br />

12


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Gottesdienste im Wandel – signifikante Beispiele aus den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

2.3.1 Gottesdienst als Kontrapunkt im Stadtleben - Schweiz<br />

Innenstädte entvölkern sich zusehends. Für die kle<strong>in</strong>er werdenden Kirchgeme<strong>in</strong>den stellen die<br />

kirchlichen Gebäude <strong>of</strong>tmals e<strong>in</strong>e f<strong>in</strong>anzielle Belastung dar. Umgekehrt gilt: Der Raum <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Stadt wird immer knapper, die öffentlichen Räume werden privatisiert, die Sakralität wan<strong>der</strong>t <strong>in</strong><br />

Bankenhäuser, Shopp<strong>in</strong>gcenters und Sportstadien h<strong>in</strong>aus. Für die Kirchen bedeutet dies, dass<br />

neben parochialen auch nicht-parochiale Strukturen z.B. Flughafen-, Shopp<strong>in</strong>g-, City- o<strong>der</strong><br />

Bahnh<strong>of</strong>skirchen entstehen. In dem neuen Gefüge muss sich Kirche ihren Platz und ihr Publikum<br />

„erobern“. Sie sieht sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er enormen Konkurrenzsituation zu e<strong>in</strong>er Vielzahl von säkularen<br />

Angeboten.<br />

Geöffnete Innenstadtkirchen pr<strong>of</strong>itieren von <strong>der</strong> zentralen Lage und werden für die Ausübung<br />

spiritueller Bedürfnisse aufgesucht. Stadtkirchen s<strong>in</strong>d Er<strong>in</strong>nerungs- und H<strong>of</strong>fnungsräume, sie<br />

bilden e<strong>in</strong>en Teil des Gewissens und <strong>der</strong> Gewissheit e<strong>in</strong>er Stadt. Sie s<strong>in</strong>d Zeugen des Unverfügbaren<br />

im Verfügbaren, des Ewigen im Vergänglichen. In dieser Fremdheit geschieht „Gottesdienst“<br />

mitten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hektik des Alltags, mitten im Abbruch <strong>der</strong> Traditionen. Der Sonntags-<br />

Gottesdienst erweist sich zunehmend als un-zeitiges Angebot <strong>in</strong> <strong>der</strong> Freizeitgestaltung <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Stadt. An<strong>der</strong>e gottesdienstliche Angebote füllen die Räume. Dabei werden die Kirchen dann<br />

wahrgenommen, wenn sie e<strong>in</strong> prophetisch geme<strong>in</strong>tes Gegenprogramm zum Stadtleben bieten<br />

kann: Gastfreundlichkeit versus Anonymität, Stille versus Lärm und Hektik, Echt- und Schlichtheit<br />

versus Kommerz. Kirche kann auch dort attraktiv se<strong>in</strong>, wo und wenn sie nicht das Sett<strong>in</strong>g<br />

bestimmt, son<strong>der</strong>n sich an Programme <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt anschließt und sich auf sie bezieht. (Zirkus,<br />

Festivals, Messen, Schulen, Sport- und Kulturevents ...).<br />

Stadtkirchen suchen sich zu pr<strong>of</strong>ilieren nach Milieus, Zielgruppen und Sprachwelten: Heilungsund<br />

Segnungsgottesdienste, Familien-/Generationenkirche, experimentelle Gottesdienste, Kirche<br />

mit multireligiöser Ausrichtung, <strong>in</strong>tegrative Gottesdienste für Migranten, Gottesdienste mit<br />

bestimmtem Frömmigkeitsstil, traditionelle Sonntagsgottesdienste, Kultur-Gottesdienste, Event-<br />

Gottesdienste, Gottesdienste für Menschen mit hohen <strong>in</strong>tellektuellen und musikalischen Ansprüchen<br />

etc. Durch solche Öffnung <strong>der</strong> kirchlichen Räume und die Vielfalt von gottesdienstlichen<br />

und religiösen Frömmigkeitspraxen verliert <strong>der</strong> Sonntagmorgengottesdienst se<strong>in</strong>e Monopolstellung.<br />

An se<strong>in</strong>e Stelle treten <strong>in</strong>dividuelle o<strong>der</strong> geme<strong>in</strong>schaftliche spirituelle Erfahrungen <strong>in</strong><br />

unterschiedlichen Tages- o<strong>der</strong> Wochenrhythmen.<br />

Die Gottesdienstbesucher <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Stadt kommen aus unterschiedlichen Kulturen, mit verschiedenen<br />

Bedürfnissen, Absichten und Wünschen. Untersuchungen im religiösen Bereich zeigen<br />

den deutlichen Trend, Geme<strong>in</strong>schaft mit Gleichges<strong>in</strong>nten zu suchen: Die Freunde des Naturjodels<br />

wollen mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>in</strong> Kirchen mit demselben Klang Gottesdienst feiern. Doch auch lebens-<br />

13


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Gottesdienste im Wandel – signifikante Beispiele aus den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

biografische Milieus wollen vermehrt geme<strong>in</strong>sam gefeiert werden angesichts von Brüchen und<br />

Schwellen: Eltern von verstorbenen K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, Aidsbetr<strong>of</strong>fene, etc. Die Inkulturation urbaner<br />

Frömmigkeit o<strong>der</strong> Spiritualität zeigt sich dar<strong>in</strong>, dass persönliche Bedürfnisse (Frieden mit sich<br />

o<strong>der</strong> Gott, Taufe des K<strong>in</strong>des, etc.) und kulturelle Absichten (schöne Musik, Raumerleben, Fenster)<br />

zur e<strong>in</strong>en Gestimmtheit und Atmosphäre verschmelzen. Gottesdienst wird als Gesamt<strong>in</strong>itiierung<br />

erlebt, das Konzert <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadtkirche wird zum religiösen Erlebnis.<br />

Wurden früher die Kirchen <strong>der</strong> Stadt für die ganze Stadtbevölkerung gebaut und durch die Reformation<br />

funktionalisiert für den Frieden <strong>der</strong> sich versammelnden christlichen Geme<strong>in</strong>de und<br />

<strong>der</strong> draußen während dem Gottesdienst <strong>in</strong> Ruhe und Zucht verharrenden christlichen Stadt,<br />

könnte heute diese typisch reformierte Funktionalität zur Bewahrung des treuga dei, des Gottesfriedens,<br />

neu als Asyl- und Schutzort im pulsierenden Großstadtleben für das E<strong>in</strong>üben e<strong>in</strong>es die<br />

Schranken <strong>der</strong> Konfessionen und vielleicht auch Religionen überschreitenden Gebets <strong>in</strong>terpretiert<br />

werden. Damit wären Stadtkirchen zusammen mit den <strong>in</strong>terreligiösen „Räumen <strong>der</strong> Stille“<br />

an neu entstandenen Orten urbaner Mobilität und Ballungszentren Vorreiter<strong>in</strong>nen neuer Kirchlichkeit.<br />

2.3.2 Nationale und kulturelle Identität im Gottesdienst - Rumänien<br />

Der sonntägliche Hauptgottesdienst bildet für die Großstadtgeme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Bukarest den Höhepunkt<br />

des Geme<strong>in</strong>delebens. In ihm kulm<strong>in</strong>ieren die konfessionelle Identität und das ethnische<br />

Bewusstse<strong>in</strong>. Gottesdienst ist darum immer mehr, er ist nicht nur kultische Verehrung son<strong>der</strong>n<br />

auch Pflege des Geme<strong>in</strong>schaftsgefühls. In e<strong>in</strong>er Großstadtsituation hat jede gottesdienstliche<br />

Veranstaltung für die M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit e<strong>in</strong>e persönliche Komponente. Menschen unterschiedlicher<br />

Herkunft kommen zusammen, begegnen sich, tauschen sich aus und knüpfen Kontakte. So<br />

vermittelt <strong>der</strong> Gottesdienst stets e<strong>in</strong> Gefühl <strong>der</strong> Dazugehörigkeit, <strong>in</strong> Gebieten extremer Diaspora<br />

e<strong>in</strong> Gefühl <strong>der</strong> Heimat. Der Gottesdienst wird so zum Ort <strong>der</strong> Begegnung. In nicht seltenen Fällen<br />

def<strong>in</strong>iert <strong>der</strong> Gottesdienst die eigene Spiritualität und geschieht <strong>in</strong> Abgrenzung zu den an<strong>der</strong>en<br />

Konfessionen. In Bukarest umfasst die Gottesdienstgeme<strong>in</strong>de e<strong>in</strong> breites soziales Spektrum.<br />

Da sitzen Menschen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Berufskategorien, Auffassungen,<br />

Sprachen und Kulturen zusammen. So ist je<strong>der</strong> Gottesdienst e<strong>in</strong>e wahre Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

für alle daran Beteiligten. Als deutschsprachiger Gottesdienst ist er <strong>in</strong> Bukarest e<strong>in</strong>e Attraktion<br />

für <strong>in</strong>ternationales Publikum und wechselnde Besucher. E<strong>in</strong> wesentliches Kennzeichen <strong>der</strong><br />

Geme<strong>in</strong>de ist, dass sie – <strong>in</strong>nerhalb des traditionellen Rahmens - sehr <strong>of</strong>fen neuen liturgischen<br />

Formen gegenübersteht. Neue Lie<strong>der</strong>, Gebete und Lesungen im heutigen Deutsch, verschiedene<br />

Formen <strong>der</strong> Hauptgebete, Dialogpredigten usw. können hier praktiziert werden. E<strong>in</strong>e Großstadtgeme<strong>in</strong>de<br />

ist <strong>of</strong>fen für alle möglichen Gottesdienstformen, wie z.B. Jugend- und Familien-<br />

14


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Gottesdienste im Wandel – signifikante Beispiele aus den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

gottesdienste, musikalische Vespern sowie ökumenische Gebetsgottesdienste. Diese s<strong>in</strong>d jedoch<br />

ke<strong>in</strong> Ersatz und ke<strong>in</strong>e Alternative zum traditionellen Sonntagsgottesdienst.<br />

E<strong>in</strong>e zentrale Rolle spielt die Kirchenmusik. Die Geme<strong>in</strong>de besitzt e<strong>in</strong>en Chor (Mart<strong>in</strong>-Luther<br />

Chor) sowie e<strong>in</strong> Ensemble für Barockmusik. Dazu kommen zwei historische Orgeln. Unter diesen<br />

Voraussetzungen werden regelmäßig Konzerte veranstaltet, die e<strong>in</strong> breites Publikum anziehen.<br />

Es s<strong>in</strong>d nicht <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Geme<strong>in</strong>deglie<strong>der</strong>, son<strong>der</strong>n Musikfreunde. So kommt es, dass<br />

die lutherische Kirche e<strong>in</strong> bedeuten<strong>der</strong> Kulturträger <strong>in</strong> Bukarest ist. Der Gottesdienst selber wird<br />

jedoch kaum als e<strong>in</strong> kulturelles Angebot empfunden. Er ragt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Beson<strong>der</strong>heit und<br />

Sakralität hervor und kann sich nicht <strong>in</strong> die Serie deutschsprachiger kultureller Angebote e<strong>in</strong>reihen.<br />

Wer zum Gottesdienst kommt, kommt um <strong>der</strong> Seele willen, nicht um Kultur zu pflegen.<br />

Die Sprache des Gottesdienstes ist deutsch. Dies ist Bekenntnis und Identität. Es zeigt sich<br />

aber immer mehr, dass deutsch nicht mehr von allen gesprochen wird. Daher sucht man nach<br />

Alternativformen. In Bukarest gibt es zurzeit mehrere Angebote geistlicher Veranstaltungen auf<br />

Rumänisch: Jeden Montag f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Morgenandacht statt, und an jedem ersten Sonntag im<br />

Monat kann im Gottesdienst e<strong>in</strong>e biblische Lesung auf Rumänisch erfolgen o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Gebet gesprochen<br />

werden. E<strong>in</strong>e Zusammenfassung <strong>der</strong> Predigt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Landessprache ist <strong>in</strong> allen Gottesdiensten<br />

üblich. Die Kasualhandlungen s<strong>in</strong>d zum Teil zweisprachig o<strong>der</strong> vollständig rumänisch.<br />

Letztere erfreuen sich großen Interesses. Gesucht s<strong>in</strong>d auch beson<strong>der</strong>e Festgottesdienste wie<br />

Osternachtfeier, Christvesper, Konfirmation und ökumenische Gebetsgottesdienste.<br />

2.3.3 Internationale Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> den Metropolen - Österreich<br />

Die englischsprachige Geme<strong>in</strong>de <strong>der</strong> Evangelisch-methodistischen Kirche <strong>in</strong> Wien (Englishspeak<strong>in</strong>g<br />

United Methodist Church) ist e<strong>in</strong> typisches Beispiel für e<strong>in</strong>e Internationale Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Großstadt [www.esumc.at]. Im Gottesdienst versammeln sich Menschen aus fast 40 Nationen,<br />

e<strong>in</strong> Drittel <strong>der</strong> Besucher/<strong>in</strong>nen ist schwarz. Es s<strong>in</strong>d Flüchtl<strong>in</strong>ge, Studierende, Geschäftsleute,<br />

Migrant/<strong>in</strong>n/en, Angehörige von Botschaften und UNO-Mitarbeitende, sowie Touristen. E<strong>in</strong>ige<br />

s<strong>in</strong>d nur kurz <strong>in</strong> Wien, an<strong>der</strong>e bleiben e<strong>in</strong>ige Jahre. Die durchschnittliche Verweildauer (ohne<br />

Touristen) beträgt etwa drei Jahre. Das Durchschnittsalter ist relativ niedrig. Es kommen viele<br />

Familien mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Dementsprechend gibt es auch e<strong>in</strong> sehr anspruchsvolles Sonntagsschulprogramm<br />

parallel zum Gottesdienst <strong>in</strong> sechs verschiedenen Altersgruppen. Senioren f<strong>in</strong>det<br />

man fast ke<strong>in</strong>e. Spätestens im Rentenalter kehren viele wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> ihre ursprüngliche Heimat<br />

zurück. Die Menschen kommen nicht nur aus unterschiedlichen Län<strong>der</strong>n und Kulturen – Englisch<br />

ist für viele gar nicht die Muttersprache –, sie kommen auch aus unterschiedlichen Konfessionen.<br />

In <strong>in</strong>ternationalen Geme<strong>in</strong>den sche<strong>in</strong>t die Konfession ke<strong>in</strong>e große Rolle zu spielen.<br />

Wichtiger als die konfessionelle Zugehörigkeit s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> Stil des Gottesdienstes, die Qualität des<br />

15


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Gottesdienste im Wandel – signifikante Beispiele aus den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>programms und <strong>der</strong> Angebote für Jugendliche, die Erreichbarkeit und die persönlichen<br />

Beziehungen. Entsprechend wechselt <strong>der</strong> Stil des Gottesdienstes <strong>of</strong>t, um möglichst vielen Gottesdienstbesucher/<strong>in</strong>nen<br />

gerecht zu werden. Am ersten Sonntag im Monat wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel e<strong>in</strong><br />

traditioneller Gottesdienst angeboten mit Orgelmusik und klassischem Chor, an e<strong>in</strong>em weiteren<br />

Sonntag folgt e<strong>in</strong> zeitgenössischer Gottesdienst mit mo<strong>der</strong>nen Lie<strong>der</strong>n und freier Gestaltung. Es<br />

s<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong> Gospel-Chor. Am dritten Sonntag f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong> Gottesdienst im afrikanischen Stil statt mit<br />

Trommeln und e<strong>in</strong>em afrikanischen Chor. In unregelmäßigen Abständen gestalten ihn koreanische<br />

und ch<strong>in</strong>esische Christ/<strong>in</strong>nen. Es hat sich bewährt, den Gottesdienst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten<br />

Tradition zu beheimaten, anstatt e<strong>in</strong>en Stil- und Traditionsmix im Gottesdienst zu versuchen.<br />

Nur etwa die Hälfte <strong>der</strong> Gottesdienstbesucher/<strong>in</strong>nen stammt aus e<strong>in</strong>er methodistischen Kirche.<br />

Die an<strong>der</strong>en kommen aus presbyterianischen Kirchen o<strong>der</strong> aus protestantischen Freikirchen.<br />

E<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ger Teil ist katholisch.<br />

Der Gottesdienst f<strong>in</strong>det am Sonntag erst um 11.15 Uhr statt. Viele bleiben zu e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>fachen<br />

geme<strong>in</strong>samen Mittagessen. Dabei br<strong>in</strong>gen die meisten etwas mit („Pot luck“), das dann geteilt<br />

wird. Die Jugendlichen o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>ige <strong>der</strong> Eltern mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n verbr<strong>in</strong>gen auch den Nachmittag geme<strong>in</strong>sam.<br />

Da die Fluktuation <strong>der</strong> Gottesdienstbesucher/<strong>in</strong>nen relativ hoch ist und nur e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er<br />

Teil <strong>der</strong> Kirchenglie<strong>der</strong> über längere <strong>Zeit</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de verbunden bleibt, gibt es nur e<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ges<br />

Geschichtsbewusstse<strong>in</strong>. Die Geme<strong>in</strong>de lebt vor allem im Hier und Heute, das aber mit e<strong>in</strong>er<br />

großen Lebendigkeit und Buntheit.<br />

2.3.4 Passantengeme<strong>in</strong>de und Citykirche - Deutschland und Schweiz<br />

Für die großen Innenstadtkirchen ergeben sich beson<strong>der</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ungen. In Nürnberg<br />

etwa bef<strong>in</strong>den sich auf engstem Raum <strong>in</strong> <strong>der</strong> Innenstadt mehrere große historische Kirchen.<br />

Während auf ihrem Geme<strong>in</strong>degebiet unzählige Menschen bei Banken, Verwaltungen, <strong>in</strong> den<br />

großen Kaufhäusern und exklusiven Boutiquen arbeiten, wohnen kaum noch Menschen <strong>in</strong> den<br />

Stadtzentren. Zur <strong>Zeit</strong> des Sonntagvormittagsgottesdienstes ist - an<strong>der</strong>s als unter <strong>der</strong> Woche -<br />

die Innenstadt wie ausgestorben. Der Rhythmus <strong>der</strong> Stadt mit vielen Veranstaltungen beson<strong>der</strong>s<br />

am Samstagabend steht e<strong>in</strong>em Morgengottesdienst entgegen. So ist die sonntägliche Gottesdienstgeme<strong>in</strong>de<br />

kle<strong>in</strong>, es sei denn, die Kirche zieht durch e<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>es kirchenmusikalisches<br />

Gottesdienstprogramm o<strong>der</strong> durch an<strong>der</strong>e spezielle Aktivitäten Menschen an.<br />

Auch <strong>in</strong> Zürich trifft sich zum Gottesdienst <strong>in</strong> <strong>der</strong> City-Kirche nur e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>de. Es ist<br />

überwiegend e<strong>in</strong>e anonyme Gruppe mit immer wie<strong>der</strong> neuen Gesichtern, die auftauchen und<br />

wie<strong>der</strong> verschw<strong>in</strong>den, e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>de mit e<strong>in</strong>em großen Prozentsatz von „angeschlagenen“<br />

Menschen, psychisch, sozial, f<strong>in</strong>anziell <strong>in</strong> prekären Situationen. Je<strong>der</strong> Gottesdienst beg<strong>in</strong>nt von<br />

Null, man kann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er „Reihenpredigt“ nie darauf zählen, dass <strong>der</strong> letzte Gottesdienst besucht<br />

16


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Gottesdienste im Wandel – signifikante Beispiele aus den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

wurde. Etwas zu entwickeln, die Geme<strong>in</strong>de zu bauen und zu bilden, ist unmöglich. Das hat<br />

Auswirkungen auf den Gesang. Die Lie<strong>der</strong> s<strong>in</strong>d jeden Sonntag neu. E<strong>in</strong> Monatslied e<strong>in</strong>zuüben,<br />

ist fast unmöglich. Der Gesang und die aktive Beteiligung am Gottesdienst s<strong>in</strong>d deshalb häufig<br />

schwach.<br />

In Nürnberg gibt es täglich Möglichkeiten, e<strong>in</strong>e Kurzandacht zu besuchen, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nach<br />

e<strong>in</strong>em ganz e<strong>in</strong>fachen Grundmuster aus Orgelmusik, Lesung, kurzer Ansprache, Lied, Gebet<br />

und Segen aufgebaut ist und ca. 15 M<strong>in</strong>uten dauert. Die Zahl <strong>der</strong> Teilnehmenden variiert stark -<br />

manchmal ist e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Runde von 15 Personen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kirche verstreut, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vorweihnachtszeit<br />

können aber auch weit über hun<strong>der</strong>t Menschen mitfeiern. An Donnerstagen wird das Andachtsangebot<br />

durch e<strong>in</strong>en Abendmahlsgottesdienst um 18.30 Uhr ergänzt. Die Gottesdienstordnung<br />

hierfür ist im E<strong>in</strong>gangsteil verkürzt und sieht nur e<strong>in</strong>e kurze Predigt vor. Der Schwerpunkt<br />

liegt auf <strong>der</strong> (gesprochenen) Abendmahlsliturgie. Die Teilnehmenden setzen sich wie bei<br />

den Andachten vor allem aus zufällig Anwesenden zusammen. Nur wenige kommen gezielt zu<br />

diesem Gottesdienst.<br />

City-Kirchen gibt es <strong>in</strong> ganz unterschiedlichen Versionen, je nach Situation vor Ort, aber <strong>in</strong> allen<br />

größeren Städten Deutschlands und <strong>der</strong> Schweiz. Geme<strong>in</strong>sam ist ihnen, dass sie werktags geöffnet<br />

und personell betreut s<strong>in</strong>d. Dies ermöglicht Menschen die ganze Woche h<strong>in</strong>durch mitten<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt e<strong>in</strong>en Raum zu f<strong>in</strong>den, <strong>in</strong> dem Begegnungen möglich s<strong>in</strong>d, und wo sie zu sich selbst<br />

kommen können. Mit Bes<strong>in</strong>nung, Meditation, Kirchenführungen, Ausstellungen, Konzerten und<br />

an<strong>der</strong>en Veranstaltungen möchte die City-Kirche e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> die ganze Stadt ausstrahlende Plattform<br />

schaffen für den Dialog unterschiedlicher Versuche zur S<strong>in</strong>ngebung des Lebens. Sie<br />

möchte auf diese Weise auch Themen zur Sprache br<strong>in</strong>gen, die <strong>in</strong> unserer Gesellschaft ke<strong>in</strong>e<br />

Stimme haben.<br />

Das Konkurrenzangebot an Gottesdiensten und an an<strong>der</strong>en Veranstaltungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt ist<br />

enorm. Doch City-Kirchen positionieren sich selbstbewusst im städtischen Gefüge von Angebot<br />

und Nachfrage. Neben Konsum- und Musentempeln, neben Repräsentationsbauten politischer<br />

Macht treten die City-Kirchen als Gotteshäuser für die Unverfügbarkeit des Menschen e<strong>in</strong>: Der<br />

Mensch ist gerade dadurch Mensch, dass er nicht sich selbst gehört, son<strong>der</strong>n Gott, <strong>der</strong> alle<br />

Menschen zu Brü<strong>der</strong>n und Schwestern macht.<br />

Während <strong>der</strong> Woche s<strong>in</strong>d Menschenströme von Kunden, Berufstätigen und Touristen <strong>in</strong> den<br />

Innenstädten unterwegs. Diese Menschen, die sich wochentags um die Kirche bewegen - und<br />

sie als Ruhesuchende o<strong>der</strong> als Touristen auch aufsuchen, gehören <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nicht zur Sonntagsgeme<strong>in</strong>de.<br />

Vielmehr kann man sie als „Passanten"-Geme<strong>in</strong>de bezeichnen, als Geme<strong>in</strong>de<br />

von Menschen, die vorüberkommen, für wenige M<strong>in</strong>uten e<strong>in</strong>treten, etwas verweilen - sei es, um<br />

17


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Gottesdienste im Wandel – signifikante Beispiele aus den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

Kunstwerke zu bestaunen o<strong>der</strong> um zu beten. Mehrere hun<strong>der</strong>t evangelische Kirchen <strong>in</strong> Bayern<br />

s<strong>in</strong>d täglich geöffnet: für Tagesgäste ebenso wie für Geme<strong>in</strong>deglie<strong>der</strong>, für kulturhistorisch Interessierte<br />

ebenso wie für jene, die im hektischen Alltag Stille suchen. Für sie versuchen die City-<br />

Kirchen geistliche Räume e<strong>in</strong>ladend zu gestalten und Kirchen neu zu erschließen - als Orte <strong>der</strong><br />

vielfältigen Begegnung Gottes mit den Menschen.<br />

In vielen Kirchen liegen Gäste- und/o<strong>der</strong> Gebet-Bücher auf, <strong>in</strong> die Besucher<strong>in</strong>nen etwas e<strong>in</strong>tragen<br />

können. Diese Bücher zeugen davon, dass viele Menschen ihre ganz persönlichen „kle<strong>in</strong>en"<br />

Gottesdienste abhalten - etwa durch Gebet und Fürbitte, selbst wenn sie nicht zum regulären<br />

Potential <strong>der</strong> Gottesdienstbesucher bei Hauptgottesdiensten gehören. Inwieweit die „kle<strong>in</strong>en<br />

Gottesdienste" zufälliger o<strong>der</strong> gezielter Kirchenbesucher mitten im Alltag tatsächlich auch ausdrücklich<br />

gottesdienstlichen Charakter haben, liegt neben <strong>der</strong> gottesdienstlichen Sozialisation<br />

und Erfahrung <strong>der</strong> Menschen auch an <strong>der</strong> Art und Weise, wie e<strong>in</strong> Kirchenraum und se<strong>in</strong>e Gestaltung<br />

Menschen zu lenken und anzuregen vermag. E<strong>in</strong>e Kerzenwand mit unaufdr<strong>in</strong>glichen<br />

Anregungen zur Gestaltung des eigenen Gebets, Kirchenführer, die zur Wahrnehmung <strong>der</strong><br />

„Predigt <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong>" anregen, s<strong>in</strong>d dabei mögliche Bauste<strong>in</strong>e. Auch geistliche Musik und kirchenpädagogische<br />

Angebote können hier e<strong>in</strong>e Rolle spielen.<br />

2.4 Die Kle<strong>in</strong>stgeme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> <strong>der</strong> Diaspora<br />

2.4.1 Evangelische Restgeme<strong>in</strong>den - Rumänien<br />

Zur (Bukarester) Diaspora gehören sechs Kle<strong>in</strong>stgeme<strong>in</strong>den, die geographisch sehr weit ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

liegen. Diese umfassen im Durchschnitt ca. 15 Geme<strong>in</strong>deglie<strong>der</strong>, die <strong>in</strong> den meisten<br />

Fällen, <strong>der</strong> deutschen Sprache nicht mehr kundig s<strong>in</strong>d. Die Gottesdienstfeier f<strong>in</strong>det <strong>of</strong>t unter<br />

erheblichen Schwierigkeiten statt. Es muss improvisiert o<strong>der</strong> weggelassen werden, weil es ke<strong>in</strong>e<br />

rumänischsprachige Gottesdienstagende gibt. Viele liturgische Stücke müssen übersetzt werden,<br />

die gesungene Liturgie entfällt. Da aber die lutherische Kirche immer deutschsprachig war,<br />

fällt es schwer, lutherische Identität <strong>in</strong> rumänischen Formulierungen wie<strong>der</strong> zu f<strong>in</strong>den. Außer <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em bescheidenen zweisprachigen Lie<strong>der</strong>buch, liegen ke<strong>in</strong>e Choräle <strong>in</strong> rumänischer Übersetzung<br />

vor.<br />

In vier <strong>der</strong> sechs Diasporageme<strong>in</strong>den f<strong>in</strong>den zweisprachige Gottesdienste statt. Dabei wird <strong>der</strong><br />

Verkündigungsteil (Biblische Lesungen, Glaubensbekenntnis, Predigt und Hauptgebet) auf Rumänisch<br />

gestaltet, die restliche Liturgie <strong>in</strong> deutscher Sprache gehalten. Im Gottesdienst agiert<br />

alle<strong>in</strong> <strong>der</strong> Pfarrer o<strong>der</strong> die Pfarrer<strong>in</strong>. Beson<strong>der</strong>s belastend ist die ger<strong>in</strong>ge Beteiligung <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />

am Gottesdienstgeschehen. Durch die unregelmäßigen Gottesdienste hat die Geme<strong>in</strong>de<br />

sich unbewusst zurückgezogen. Sie kennt die Gottesdienstordnung, die Responsorien und<br />

18


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Gottesdienste im Wandel – signifikante Beispiele aus den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

Lie<strong>der</strong> nicht mehr. So ist <strong>in</strong> den meisten Diasporageme<strong>in</strong>den nur noch e<strong>in</strong> Rumpfgottesdienst<br />

möglich. Weil die klassische Ordnung nicht mehr e<strong>in</strong>gehalten werden kann, müssen Alternativformen<br />

gesucht werden. Da hat sich die e<strong>in</strong>fache Ordnung bewährt, die ke<strong>in</strong>en großen liturgischen<br />

Aufwand nach sich zieht. Die Ordnung setzt sich zusammen aus: Lied - Votum-<br />

Psalmgebet und Gloria Patri - Lied - Schriftlesungen und Glaubensbekenntnis - Lied - Predigt -<br />

Hauptgebet -Vaterunser und Segen - Lied.<br />

Vielen Geme<strong>in</strong>deglie<strong>der</strong>n ist die Gottesdienstordnung fremd und darum <strong>in</strong>nerlich nicht mehr<br />

nachvollziehbar. Sie wird als e<strong>in</strong> Überbleibsel <strong>der</strong> alten <strong>Zeit</strong> empfunden. Dabei spielt e<strong>in</strong>e große<br />

Rolle, dass <strong>der</strong> Gottesdienst <strong>of</strong>t nicht mehr <strong>in</strong> <strong>der</strong> eigenen Kirche stattf<strong>in</strong>det, weil diese an e<strong>in</strong>e<br />

orthodoxe o<strong>der</strong> freikirchliche Geme<strong>in</strong>de vermietet o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>fach abgerissen wurde.<br />

Der Gottesdienst f<strong>in</strong>det so unregelmäßig statt, dass die Geme<strong>in</strong>den schlicht unterbetreut s<strong>in</strong>d.<br />

Dabei reicht <strong>der</strong> Gottesdienst alle<strong>in</strong> bei Weitem nicht aus, um den religiösen Bedürfnissen dieser<br />

weitverstreuten Geme<strong>in</strong>deglie<strong>der</strong> nachzukommen. Gleichzeitig entsteht für den Pfarrer <strong>der</strong><br />

E<strong>in</strong>druck, dass die Geme<strong>in</strong>den gar nicht mehr erwarten als den Gottesdienst. Sie s<strong>in</strong>d dankbar,<br />

wenn man kommt und begnügen sich damit. Das vermittelt das unbefriedigende Gefühl nur e<strong>in</strong><br />

religiöser Dienstleister zu se<strong>in</strong>.<br />

Mit dem Verblassen <strong>der</strong> lutherischen Traditionen haben viele Geme<strong>in</strong>deglie<strong>der</strong> Elemente <strong>der</strong><br />

Mehrheitskonfession übernommen. Dies zeigt sich zum Beispiel beim zaghaften Kreuzzeichen,<br />

dem priesterlichen Handkuss o<strong>der</strong> dem Fasten vor dem Abendmahl.<br />

2.4.2 Wie<strong>der</strong> gegründete Kle<strong>in</strong>stgeme<strong>in</strong>den - Ukra<strong>in</strong>e<br />

Während <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> des Stal<strong>in</strong>ismus (seit den 30er Jahren) und auch danach wurden die lutherischen<br />

Geme<strong>in</strong>den, wie die vieler an<strong>der</strong>er Konfessionen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sowjetunion verfolgt und unterdrückt<br />

und schließlich zerschlagen. Kirchengebäude wurden zerstört o<strong>der</strong> beschlagnahmt, tausende<br />

Geme<strong>in</strong>deglie<strong>der</strong> umgebracht, verschleppt o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>gesperrt, weil sie deutschstämmig<br />

o<strong>der</strong> religiös waren.<br />

Nach ihrer Unabhängigkeit beschloss die Ukra<strong>in</strong>e e<strong>in</strong> liberales Religionsgesetz. Die Geme<strong>in</strong>den<br />

konnten neu gegründet und registriert werden. So wurde die Deutsche Evangelisch- Lutherische<br />

Kirche <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e (DELKU) wie<strong>der</strong> <strong>in</strong>s Leben gerufen. Kle<strong>in</strong>e Gruppen Deutschstämmiger<br />

sammelten sich wie<strong>der</strong>, bemühten sich aber <strong>of</strong>t, nicht aufzufallen, son<strong>der</strong>n im Gegenteil unter<br />

sich zu bleiben. In den neunziger Jahren und im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhun<strong>der</strong>ts nahm<br />

e<strong>in</strong>e große Zahl Deutschstämmiger die Gelegenheit wahr, nach Deutschland auszuwan<strong>der</strong>n.<br />

Von den 35 Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> <strong>der</strong> DELKU haben sieben weniger als 20 Geme<strong>in</strong>deglie<strong>der</strong>. Sie werden<br />

heute von 16 Pastoren betreut, was dazu führt, dass <strong>der</strong> Gottesdienst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mehrzahl <strong>der</strong><br />

19


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Gottesdienste im Wandel – signifikante Beispiele aus den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

Geme<strong>in</strong>den durch Prädikant<strong>in</strong>nen o<strong>der</strong> Prädikanten geleitet wird. Diese engagieren sich ehrenamtlich<br />

und mit unterschiedlich hoher Qualifikation; manche s<strong>in</strong>d Lektoren, die Lesegottesdienste<br />

halten, e<strong>in</strong>ige wenige s<strong>in</strong>d qualifiziert, selbst Predigten zu schreiben. Darum verschickt die<br />

DELKU für jeden Sonntag Lesepredigten, die von den Pastoren geschrieben werden.<br />

Aufgrund <strong>der</strong> langen Verfolgungsgeschichte ist das Wissen um die eigene Tradition, um den<br />

lutherischen Gottesdienst, um Bibel, Bekenntnis o<strong>der</strong> Liedgut ger<strong>in</strong>g. Der liturgische Ablauf des<br />

Hauptgottesdienstes muss immer wie<strong>der</strong> neu <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung gerufen und e<strong>in</strong>geübt werden. Das<br />

<strong>der</strong>zeit im Gebrauch bef<strong>in</strong>dliche „Russisch-deutsche Gesangbuch" mit etwa 100 Lie<strong>der</strong>n bietet<br />

<strong>in</strong>haltlich und musikalisch e<strong>in</strong>en sehr begrenzten Schatz an Möglichkeiten; aber selbst dieser<br />

wird nicht überall ausgeschöpft. In manchen Geme<strong>in</strong>den, <strong>in</strong> denen ke<strong>in</strong>e musikalisch Kundigen<br />

vorhanden s<strong>in</strong>d, beschränkt sich das Liedgut auf fünf bis zehn Melodien.<br />

Längst nicht überall gibt es eigene Räume, geschweige denn Wohnungen o<strong>der</strong> Häuser. Manche<br />

Geme<strong>in</strong>den treffen sich zum Gottesdienst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Privatwohnung <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>devorsitzenden,<br />

manchen wird von den deutschen Kulturvere<strong>in</strong>en Gastrecht gewährt. An<strong>der</strong>e müssen für den<br />

Gottesdienst <strong>in</strong> Räumen von Bibliotheken o<strong>der</strong> Hotels hohe Mieten bezahlen. Nicht auf eigene<br />

Räume zurückgreifen zu können, beschneidet die Möglichkeiten für den Geme<strong>in</strong>deaufbau und<br />

das gottesdienstliche Leben erheblich. Die Geme<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d immer auf das E<strong>in</strong>verständnis <strong>der</strong><br />

Gastgeber angewiesen und können die Räume nicht nach den eigenen gottesdienstlichen Bedürfnissen<br />

herrichten. Häufig müssen die Räume gewechselt und neue Orte für den Gottesdienst<br />

gesucht werden. Wo mit Hilfe von Partnern (aus Deutschland) eigene Räume, Häuser<br />

o<strong>der</strong> Kirchen erworben werden konnten, stiegen die Attraktivität – und die Mitglie<strong>der</strong>zahl - <strong>der</strong><br />

Geme<strong>in</strong>de deutlich an. Doch stellt sich für die Kirchenleitung die Frage, welche Investitionen<br />

s<strong>in</strong>nvoll und im Blick auf die Folgekosten verantwortbar s<strong>in</strong>d angesichts e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Zahl von<br />

Geme<strong>in</strong>deglie<strong>der</strong>n.<br />

Die alten Geme<strong>in</strong>deglie<strong>der</strong> hängen an <strong>der</strong> deutschen Sprache für die liturgischen Teile und für<br />

die alten Lie<strong>der</strong>, obwohl sie selbst <strong>in</strong> dieser Sprache kaum mehr beheimatet s<strong>in</strong>d. Jüngere —<br />

wenn sie denn dazu stoßen — sprechen die Landessprache. Wachsen können Geme<strong>in</strong>den jedoch<br />

nur, wenn es ihnen gel<strong>in</strong>gt, Menschen <strong>in</strong> ihrer Sprache anzusprechen.<br />

Für die kle<strong>in</strong>en Geme<strong>in</strong>den <strong>der</strong> DELKU ist die Situation schwierig. Nicht alle werden überleben.<br />

Manche werden fusionieren können. Manche werden wachsen und bestehen, wenn Infrastruktur<br />

und geme<strong>in</strong>dliches Engagement zu e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>ladenden Atmosphäre beitragen. Der sonntägliche<br />

Gottesdienst meistens mit anschließendem „Kirchenkaffee" wird weiterh<strong>in</strong> das Zentrum des<br />

Geme<strong>in</strong>delebens se<strong>in</strong> — <strong>der</strong> Sonntag ist <strong>der</strong> Tag, an dem man sich treffen kann, <strong>der</strong> Gottesdienst<br />

<strong>der</strong> geme<strong>in</strong>same Anlass. Wichtig ist e<strong>in</strong> verlässlicher geme<strong>in</strong>samer Ort und e<strong>in</strong>e Form<br />

20


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Gesellschaftliche Kontexte im Umbruch<br />

des Gottesdienstes, die vertraute Formen e<strong>in</strong>übt und die Fragen und Nöte wie die H<strong>of</strong>fnungen<br />

unserer <strong>Zeit</strong> zur Sprache br<strong>in</strong>gt.<br />

3 Gesellschaftliche Kontexte im Umbruch<br />

Die hier geschil<strong>der</strong>ten Fallbeispiele geben E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> das Leben und die gottesdienstliche Praxis<br />

<strong>in</strong> den Mitgliedskirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe Südosteuropa. In e<strong>in</strong>em Raum, <strong>der</strong> sich wie ke<strong>in</strong><br />

an<strong>der</strong>er <strong>in</strong> Europa <strong>in</strong> den letzten 20 Jahren verän<strong>der</strong>t hat, suchen Kirchen Antworten auf diese<br />

Verän<strong>der</strong>ungen, versuchen mit ihren Gottesdiensten nahe bei den Menschen zu se<strong>in</strong> und auf<br />

die verän<strong>der</strong>ten Bedürfnisse zu reagieren, ohne die eigene Identität preiszugeben.<br />

3.1.1 Verän<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> Europa <strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten<br />

Viele Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Kontexte <strong>in</strong> Mittelosteuropa s<strong>in</strong>d direkt mit dem Zusammenbruch des<br />

Eisernen Vorhangs verbunden. Dabei hatte dieser sehr unterschiedliche Entwicklungen <strong>in</strong> den<br />

e<strong>in</strong>zelnen Län<strong>der</strong>n zur Folge. Im Rahmen dieser Studie kann nicht auf E<strong>in</strong>zelheiten e<strong>in</strong>gegangen<br />

werden, doch ist zu differenzieren zwischen den Transformationslän<strong>der</strong>n, die später <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

EU aufg<strong>in</strong>gen, den Län<strong>der</strong>n <strong>der</strong> ehemaligen Sowjetunion, und den westlichen Län<strong>der</strong>n.<br />

3.1.2 Entwicklung <strong>in</strong> den Transformationslän<strong>der</strong>n<br />

Die gesellschaftliche und politische Wende <strong>in</strong> Mittelosteuropa führte für die neuen EU-Län<strong>der</strong><br />

nach e<strong>in</strong>er kurzen Krise zunächst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e unerwartet starken Aufstieg schier grenzenloser Möglichkeiten<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für e<strong>in</strong>e jüngere Generation, die flexibel genug war, auf die Verän<strong>der</strong>ungen<br />

reagieren zu können und nahe genug an den Zentren <strong>der</strong> Transformation stand. Zugleich<br />

schuf diese Entwicklung <strong>in</strong> den durch die Maßnahmen des sozialistischen Systems homogenisierten<br />

Gesellschaften große Spannungen und divergierende Prozesse. Die Umstellung<br />

des Wirtschafts- und des Sozialsystems bedeuteten für Menschen, die auf staatliche Versorgung<br />

angewiesen waren zumeist e<strong>in</strong>en erheblichen sozialen Abstieg. Alle Transformationslän<strong>der</strong><br />

haben „enorme Verschlechterung <strong>der</strong> Wohlfahrts<strong>in</strong>dikatoren erfahren“ und mussten „zunehmende<br />

Armut und Ungleichheit bewältigen“. 3 Die ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>klaffende Schere zwischen<br />

Arm und Reich, aber auch das sich verschärfende Missverhältnis zwischen Stadt und Land führte<br />

zu Migrationsbewegungen <strong>in</strong> die Metropolen verbunden mit e<strong>in</strong>em Traditionsverlust und e<strong>in</strong>er<br />

Konzentration auf e<strong>in</strong> ökonomisches Überleben. Vielfach ist im zweiten Jahrzehnt nach <strong>der</strong><br />

3 L<strong>in</strong>da Cook, Postcommunist Welfare States. Reform politics <strong>in</strong> Russia and Eastern <strong>Europe</strong>, 2007, S. 4ff; zitiert bei<br />

Mart<strong>in</strong> Brand, Sozialpolitik <strong>in</strong> Osteuropa – Plädoyer für e<strong>in</strong>e globale Perspektive, 145, <strong>in</strong>: Arbeitspapiere und<br />

Materialien – Forschungsstelle Osteuropa, Bremen, No. 109: Staat o<strong>der</strong> privat? Akteure und Prozesse zwischen<br />

Staaten und Gesellschaften <strong>in</strong> Osteuropa. Beiträge für die 18. Tagung Junger Osteuropa-Experten<br />

21


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Gesellschaftliche Kontexte im Umbruch<br />

Wende kurz vor dem EU-Beitritt e<strong>in</strong>e gewisse Ernüchterung über das neue politische und vor<br />

allem wirtschaftliche Gefüge zu beobachten, dem man sich nicht entziehen zu können glaubt.<br />

Kritisch werden aber auch die nur oberflächlich vollzogenen Reformen im eigenen Land empfunden.<br />

Fast immer bedeuteten daher Wahlen e<strong>in</strong>en Regierungswechsel <strong>in</strong> diesen Län<strong>der</strong>n. In<br />

<strong>der</strong> Wirtschafts- und F<strong>in</strong>anzkrise seit 2008 erlebten Menschen <strong>in</strong> diesen Län<strong>der</strong>n die Schattenseiten<br />

des globalen marktwirtschaftlichen Systems und sehen sich als Opfer des Systemwechsels.<br />

3.1.3 Russland – e<strong>in</strong>e Weltmacht def<strong>in</strong>iert sich neu<br />

Russland und die Län<strong>der</strong> <strong>der</strong> ehemaligen Sowjetunion hatten gegenüber den neuen EU-<br />

Län<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e ungleich schwerere Wirtschaftskrise zu durchstehen, zu <strong>der</strong> vor allem auch <strong>der</strong><br />

S<strong>in</strong>n- und Werteverlust durch den Zusammenbruch des eigenen Systems kam. Kurzzeitig<br />

schien es als verabschiedete sich die e<strong>in</strong>stige Weltmacht von <strong>der</strong> weltpolitischen Bühne. Während<br />

Russland mit dem wirtschaftlichen Aufschwung Ende <strong>der</strong> 90er Jahre auch wie<strong>der</strong> politisches<br />

Ansehen zurückgewann, haben Län<strong>der</strong> wie die Ukra<strong>in</strong>e bis heute ihre politische Bedeutung<br />

noch nicht wie<strong>der</strong>f<strong>in</strong>den können. In <strong>der</strong> großen Schere von Arm und Reich, von Stadt- und<br />

Landbevölkerung ist die Kirche <strong>of</strong>t e<strong>in</strong>zige H<strong>of</strong>fnung und S<strong>in</strong>ngeber<strong>in</strong> für Benachteiligte.<br />

3.1.4 Westliche Län<strong>der</strong><br />

Von den Transformationen <strong>in</strong> Europa <strong>in</strong> den letzten zwei Jahrzehnten haben die westlichen<br />

Län<strong>der</strong>, <strong>der</strong>en Systeme sich kaum anpassen mussten, <strong>in</strong>sgesamt pr<strong>of</strong>itiert. Aber auch hier haben<br />

sich die Kontexte verän<strong>der</strong>t. Innerhalb Deutschlands kam es zu e<strong>in</strong>er Migrationsbewegung<br />

vom Osten <strong>in</strong> den Westen, und durch die Aufnahme von Spätaussiedlern vor allem aus Russland<br />

und Rumänien zu erheblichen Verän<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zusammensetzung <strong>der</strong> Bevölkerung.<br />

Soziale Spannungen als Ran<strong>der</strong>sche<strong>in</strong>ungen <strong>der</strong> Integration blieben nicht aus.<br />

Gleichzeitig verän<strong>der</strong>t sich die Rolle <strong>der</strong> Kirche <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft. Nach wie vor nimmt Kirche<br />

„Verantwortung wahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt[…]. Für das Leben <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelnen<br />

bedeutet Kirchenmitgliedschaft […] e<strong>in</strong>en erwünschten Lebensrahmen“. Doch diese Funktion<br />

<strong>der</strong> Kirche „im Blick auf den E<strong>in</strong>zelnen wie auf die Gesellschaft hat sich abgeschwächt. 4<br />

Zwischen e<strong>in</strong>em immer schneller getakteten Alltag und e<strong>in</strong>em wachsenden Bedürfnis an Individualisierung<br />

erreichen gottesdienstliche Angebote nur noch begrenzt die Kirchenmitglie<strong>der</strong>.<br />

Traditionsabbruch, e<strong>in</strong>e Vielzahl von Freizeit- und an<strong>der</strong>en spirituellen Angeboten, Individuali-<br />

4 Weltsichten Kirchenb<strong>in</strong>dung Lebensstile. Vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, 2003, S.7.<br />

22


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Gesellschaftliche Kontexte im Umbruch<br />

sierung und wachsende Mobilität stehen e<strong>in</strong>er tieferen Beheimatung <strong>in</strong> den Geme<strong>in</strong>den entgegen.<br />

Entsprechend hat sich das Bemühen um e<strong>in</strong>e Reform des Gottesdienstes <strong>in</strong> diesen drei Makroregionen<br />

unterschiedlich gestaltet. Auf <strong>der</strong> Folie <strong>der</strong> gesellschaftlichen Entwicklungen werden<br />

diese Verän<strong>der</strong>ungen deutlicher: Während <strong>in</strong> Deutschland Kirchen und Geme<strong>in</strong>den durch e<strong>in</strong>e<br />

stärkere Mitglie<strong>der</strong>orientierung nach Möglichkeiten suchten, mo<strong>der</strong>ne Menschen für den Gottesdienst<br />

zu gew<strong>in</strong>nen, waren Gottesdienste im Osten <strong>of</strong>t stabiler Ruhepunkt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krise und<br />

die Kirchen damit beschäftigt, Menschen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krise nahe zu se<strong>in</strong>.<br />

3.2 Kirchen im Umbruch<br />

3.2.1 Die Rolle <strong>der</strong> Kirchen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wende<br />

Auch wenn die kle<strong>in</strong>en protestantischen M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitskirchen <strong>in</strong> den politischen Verän<strong>der</strong>ungen<br />

kaum e<strong>in</strong>e große Rolle spielen konnten, traten sie vielfach für den gewaltfreien Systemwechsel<br />

e<strong>in</strong>. Viele Mitglie<strong>der</strong> engagierten sich <strong>in</strong> den oppositionellen Bürgerbewegungen und nahmen<br />

zum Teil auch <strong>in</strong> den neuen Regierungen Verantwortung für ihre Gesellschaft wahr. Zugleich<br />

boten Kirchen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>Zeit</strong> großer Unsicherheit Stabilität und Kont<strong>in</strong>uität. Von <strong>der</strong> Religionsfreiheit<br />

des neuen Systems erh<strong>of</strong>ften sich die Kirchen, <strong>der</strong>en Arbeit systematisch unterdrückt worden<br />

war, <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>er Weise e<strong>in</strong>e Stärkung ihrer Arbeit. Die H<strong>of</strong>fnung, dass das <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wendezeit<br />

gestiegene Interesse an Kirche langfristig zu stark wachsenden Mitglie<strong>der</strong>zahlen führen<br />

würde, hat sich jedoch meist nicht erfüllt. Dennoch können Kirchen <strong>in</strong> ethischen Diskussionen<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft vielfach ihre Position e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen.<br />

3.2.2 Kirchen <strong>in</strong> den neuen Staaten<br />

Die Situation <strong>der</strong> Kirchen <strong>in</strong> den neuen Transformationslän<strong>der</strong>n ist alles an<strong>der</strong>e als e<strong>in</strong>heitlich. In<br />

manchen Län<strong>der</strong>n spielten aber z.B. <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verfassungsdiskussion auch die protestantischen<br />

M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitskirchen e<strong>in</strong>e wichtige Rolle. Weit mehr als es ihr Bevölkerungsanteil erwarten ließe<br />

waren Kirchen <strong>in</strong> Ethikkommissionen vertreten (z.B. <strong>in</strong> Polen). Grund für dieses öffentliche Interesse<br />

war nicht zuletzt die gute Zusammenarbeit <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitskirchen mit den westlichen Kirchen.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> den Regierungen, die das Kommunistische System abgelöst hatten und<br />

<strong>in</strong> den ersten zehn Jahren nach <strong>der</strong> Wende, solange <strong>der</strong> Beitritt zu EU für die Transformationslän<strong>der</strong><br />

noch nicht festgeschrieben war, herrschte e<strong>in</strong>e große Offenheit gegenüber den Kirchen. 5<br />

5 . Ähnliches war auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e zu beobachten. Als sich die orange Revolution und mit ihr e<strong>in</strong>e starke<br />

Westorientierung kurzzeitig durchgesetzt hatte, bedeutete dies auch e<strong>in</strong> größeres Interesse an den protestantischen<br />

Kirchen, die von ihren Wurzeln her allesamt aus dem Westen stammten. Doch war die <strong>Zeit</strong> zu kurz, dass die Kirchen<br />

23


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Gesellschaftliche Kontexte im Umbruch<br />

3.2.3 Umgang mit <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

In <strong>der</strong> Aufarbeitung <strong>der</strong> Situation <strong>in</strong> den totalitären Systemen wurde deutlich, dass sich auch<br />

Kirchen und ihre Mitarbeitenden e<strong>in</strong>er kritischen Überprüfung stellen mussten. Kirchen wie <strong>in</strong><br />

Tschechien o<strong>der</strong> <strong>in</strong> Ungarn, die selbst die Initiative zur E<strong>in</strong>setzung von Kommissionen ergriffen,<br />

um sich dieser Vergangenheit zu stellen, erlitten dadurch ke<strong>in</strong>en Vertrauensverlust, son<strong>der</strong>n<br />

Anerkennung dafür, dass sie diesem Thema nicht auswichen.<br />

3.3 Auswirkungen <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungen auf das Geme<strong>in</strong>deleben und den<br />

Gottesdienst, <strong>in</strong> Mittelosteuropa<br />

3.3.1 Folgen des Verschw<strong>in</strong>dens national-homogener Strukturen <strong>in</strong> MOE für die Ortsgeme<strong>in</strong>den<br />

Die systematische Vernichtung nationaler Identität <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sowjetunion, Umsiedelungen und Vertreibungen,<br />

neue Grenzziehungen ohne Rücksicht auf Nationalitäten (Ungarn, Rumänien) und<br />

die großen Migrationsbewegungen (Auswan<strong>der</strong>ung z.B. aus Russland und Siebenbürgen und<br />

E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>ung neuer Bevölkerungsgruppen) haben Europa im letzten Jahrhun<strong>der</strong>t stark verän<strong>der</strong>t.<br />

Aus geschlossenen national-homogenen Siedlungen s<strong>in</strong>d multiethnische Regionen geworden.<br />

Auswan<strong>der</strong>ungen haben vielfach die zurückbleibenden Ortsgeme<strong>in</strong>den erheblich geschwächt<br />

und desorganisiert. Evangelische Kirchen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er extremen Diasporasituation. Im<br />

ländlichen Bereich ist es unter diesen Umständen zum Teil sehr schwierig geworden, regelmäßig<br />

Gottesdienste zu feiern. Die Gottesdienste, die gefeiert werden können, haben vor allem die<br />

Funktion, e<strong>in</strong>e Heimat zu bieten für die im Land gebliebenen und ihre nationale und Glaubensidentität<br />

zu stärken.<br />

3.3.2 Folgen für die Ortsgeme<strong>in</strong>den durch Arbeitsmigration und Landflucht<br />

Durch Öffnung des Arbeitsmarkts und <strong>in</strong> Folge <strong>der</strong> – vor allem wirtschaftlichen – Globalisierung<br />

haben vor allem junge Menschen aus den ärmeren Län<strong>der</strong>n <strong>der</strong> EU ihre Familien und Heimatgeme<strong>in</strong>den<br />

für längere <strong>Zeit</strong> verlassen. Auch die besseren Lebensbed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> den Metropolen<br />

führen zu e<strong>in</strong>er Landflucht aus benachteiligten Regionen. Dies beschleunigt den im Gang<br />

bef<strong>in</strong>dlichen Überalterungsprozess und führt zum Verlust an Vitalität <strong>in</strong> den Ortsgeme<strong>in</strong>den. Ihr<br />

kommt <strong>in</strong> dieser Situation die beson<strong>der</strong>e Aufgabe zu, für die zurückgebliebenen <strong>of</strong>t alten Geme<strong>in</strong>deglie<strong>der</strong><br />

durch angemessene liturgische Formen die Geme<strong>in</strong>schaft zu stärken und auf<br />

diese Weise Geborgenheit zu bieten. Gleichzeitig soll <strong>der</strong> Gottesdienst e<strong>in</strong>en größeren Raum<br />

die neue Wertschätzung auch richtig nutzen konnten. Zudem hatten die Kle<strong>in</strong>stkirchen kaum Kapazität, mit großen<br />

Projekten <strong>in</strong> die Gesellschaft h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> zu wirken. Die notwendige Versorgung <strong>der</strong> verstreuten Geme<strong>in</strong>den band zumeist<br />

alle Kräfte<br />

24


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Gesellschaftliche Kontexte im Umbruch<br />

für die Fürbitte schaffen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong>n ihre Sorgen um die Weggezogenen auf<br />

Gott „werfen“ (1Pt 5,7) und ihre familiäre und existentielle Zusammengehörigkeit stärken können.<br />

3.3.3 Herausfor<strong>der</strong>ungen für die Ortsgeme<strong>in</strong>den an <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Benachteiligten und<br />

Verlierer <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungen<br />

In den Län<strong>der</strong>n <strong>in</strong> Mittelosteuropa gab es <strong>in</strong> den letzten zwei Jahrzehnten viele Menschen, die <strong>in</strong><br />

den Umbrüchen und Systemän<strong>der</strong>ungen an sozialem und ökonomischen Status verloren haben.<br />

Weil Kirchen vom Evangelium her beson<strong>der</strong>s an die Seite <strong>der</strong> Benachteiligten und Verlierer gewiesen<br />

s<strong>in</strong>d, verfügen sie über e<strong>in</strong>en sozialen Auftrag. Dieser br<strong>in</strong>gt Kirche mit Menschen <strong>in</strong><br />

Berührung, die nicht primär von den Traditionen <strong>der</strong> Gottesdienste geprägt s<strong>in</strong>d, aber <strong>in</strong> allen<br />

Lebensäußerungen <strong>der</strong> Kirchen – so auch im Gottesdienst, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> <strong>der</strong> Predigt – die<br />

soziale Kompetenz von Kirche erwarten und wie<strong>der</strong>f<strong>in</strong>den wollen.<br />

Gleichzeitig wachsen <strong>in</strong>folge <strong>der</strong> sozialen und ökonomischen Verän<strong>der</strong>ungen die Spannungen<br />

zwischen arm und reich. In dieser Situation nimmt die Bedeutung des Gottesdienstes – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

des Abendmahlgottesdienstes – als Solidargeme<strong>in</strong>schaft zu. Die raschen Verän<strong>der</strong>ungen<br />

rufen bei (vor allem zu <strong>der</strong> älteren und mittleren Generation gehörenden) Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong><br />

wachsen<strong>der</strong> Unsicherheit hervor und lassen jede Än<strong>der</strong>ung als Bedrohung empf<strong>in</strong>den. Diese<br />

Menschen suchen <strong>in</strong> den Kirchen und <strong>in</strong> den Gottesdiensten Sicherheit und Orientierung, die<br />

<strong>der</strong> Gottesdienst vor allem durch die bekannten Formen <strong>der</strong> gottesdienstlichen Tradition sowie<br />

durch die prophetische Predigt bieten kann.<br />

3.3.4 Geme<strong>in</strong>den bieten neue Heimat für Migranten<br />

Die E<strong>in</strong>engung <strong>der</strong> Arbeitsmöglichkeiten sowie die niedrigen Arbeitslöhne im Heimatland nötigen<br />

viele Menschen dazu, <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n nach besserem Fortkommen zu suchen. In den<br />

neuen Lebenswelten erfahren sich Migrant<strong>in</strong>nen und Migranten zunächst als Fremde. Integration<br />

als „Beheimatung“ schafft, wo dieser Prozess gel<strong>in</strong>gt, e<strong>in</strong>em Raum, <strong>in</strong> dem man sich nicht<br />

mehr erklären muss. Dabei br<strong>in</strong>gen Migranten o<strong>der</strong> Fremde an<strong>der</strong>er Nationalität Erfahrungen<br />

mit, die die aufnehmende Gesellschaft und Kirche verän<strong>der</strong>n. Nicht nur die „Fremden“ passen<br />

sich an. Neue Traditionen und Kulturen f<strong>in</strong>den E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> das Zusammenleben. Dies kann zu<br />

Ängsten vor Identitätsverlust und auch zu Konflikten <strong>in</strong> den Ortsgeme<strong>in</strong>den führen.<br />

Die Weggezogenen s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> Gefahr des Wurzel- und Traditionsverlustes ausgesetzt. Die aufnehmenden<br />

Ortsgeme<strong>in</strong>den sollen die Wurzeln und die Tradition <strong>der</strong> neuen Mitglie<strong>der</strong> stärken,<br />

<strong>in</strong>dem sie für Menschen und Gruppen geme<strong>in</strong>samer kirchlichen Herkunft beson<strong>der</strong>e Gottesdienste<br />

anbieten o<strong>der</strong> gottesdienstliche Elemente aus ihrer Heimatgeme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> ihren Gottesdienst<br />

aufnehmen. Gleichzeitig soll die Predigt die Verwurzelung <strong>der</strong> Christen <strong>in</strong> Christus, das<br />

25


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Gesellschaftliche Kontexte im Umbruch<br />

„<strong>Bleibe</strong>n <strong>in</strong> ihm“ (Joh 15,4) stärken und ihnen auf diese Weise das „<strong>Bleibe</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>“ ermöglichen.<br />

3.4 Postmo<strong>der</strong>ne Millieuorientierung<br />

Empirische Studien malen <strong>in</strong> Deutschland e<strong>in</strong> Bild e<strong>in</strong>er <strong>in</strong> verschiedenen Milieus ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>driftenden<br />

Gesellschaft, und glauben nachweisen zu können, dass Kirche nur noch <strong>in</strong> den wenigsten<br />

Milieus e<strong>in</strong>e Rolle spielt. Danach stellt sich die Gesellschaft dar als e<strong>in</strong> Konglomerat von<br />

Gruppen, die <strong>in</strong> sich weitgehend abgeschlossen s<strong>in</strong>d und untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> kaum Beziehungen<br />

haben. Die <strong>in</strong> Deutschland im Auftrag <strong>der</strong> römisch-katholischen Kirche durchgeführte S<strong>in</strong>us-<br />

Studie birgt „vor allem die ernüchternde Erkenntnis, dass sie nur noch <strong>in</strong> drei von zehn idealtypisch<br />

pr<strong>of</strong>ilierten Sozialmilieus wirklich verwurzelt ist: bei den Konservativen, bei den Traditionsverwurzelten<br />

und <strong>in</strong> <strong>der</strong> bürgerlichen Mitte. Den Anschluss an zukünftige gesellschaftliche ‚Leitmilieus’<br />

wie Experimentalisten, Postmaterielle o<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne Performer jedenfalls sche<strong>in</strong>t sie<br />

verloren zu haben.“ 6 Die Mitgliedschaftsstudie <strong>der</strong> EKD hat bereits 2003 Lebensstile und Mitgliedschaftstypen<br />

<strong>in</strong> Relation gebracht. Die Methode, Zielrichtung und Zielgruppe <strong>der</strong> Befragung<br />

unterscheiden sich vom Ansatz <strong>der</strong> S<strong>in</strong>usstudie. Deutlich sichtbar wird jedoch auch bei dieser<br />

Untersuchung unter Kirchenmitglie<strong>der</strong>n, dass Kirchennähe vor allem von älteren Kirchenmitglie<strong>der</strong>n<br />

ausgedrückt wird. Umgekehrt steht „die Kirche […] als sozialer wie kultureller Ort <strong>of</strong>fenbar<br />

<strong>in</strong> maximaler Distanz zum Lebensstil junger Menschen. Dabei dürfte <strong>der</strong> zentrale Aspekt von<br />

Distanz aber nicht alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> den unterschiedlichen ästhetischen Präferenzen liegen, son<strong>der</strong>n tieferliegend<br />

die Ebene <strong>der</strong> sozialen Deutungsmuster betreffen.“ 7<br />

Die Frage ob und wenn ja wie Kirche <strong>in</strong> dieser Gesellschaft Menschen erreichen kann zieht sich<br />

durch viele Geme<strong>in</strong>deaufbaukonzepte. E<strong>in</strong> Blick auf die durchschnittlichen Gottesdienstbesucher<br />

sche<strong>in</strong>t den Milieuuntersuchungen recht zu geben und den Kirchen e<strong>in</strong>e Marg<strong>in</strong>alisierung<br />

<strong>in</strong> den kommenden Jahrzehnten vorherzusagen. Allerd<strong>in</strong>gs wi<strong>der</strong>spricht diesem Ansatz das<br />

wachsende Bedürfnis an kirchlicher Begleitung <strong>in</strong> Schwellensituationen des persönlichen Lebens<br />

und vor allem <strong>in</strong> Krisensituationen und Katastrophen. An diesen Stellen erreichen die Kirchen<br />

auch solche Menschen, die sich nicht als kirchennah bezeichnen. Der Sonntagsgottesdienst<br />

hat den Anspruch, e<strong>in</strong>e Feier für alle Geme<strong>in</strong>deglie<strong>der</strong> zu se<strong>in</strong>, muss sich jedoch fragen,<br />

welche Menschen er erreicht, bzw. ob mit e<strong>in</strong>er Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Form und mit liturgischen Reformen<br />

e<strong>in</strong> größeres Interesse geweckt werden kann. Beispiele <strong>der</strong> Integration von Migranten<br />

6 Christian Bauer, Gott im Milieu? E<strong>in</strong> zweiter Blick auf die S<strong>in</strong>us-Milieu-Studie, <strong>in</strong>: DIAKONIA 39 (2008), 123-129, S.<br />

124.<br />

7 Weltsichten Kirchenb<strong>in</strong>dung Lebensstile. Vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, 2003, S. 68.<br />

26


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Gesellschaftliche Kontexte im Umbruch<br />

sprechen gegen die scharfe Abgrenzung von Milieus und können e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis dafür se<strong>in</strong>, dass<br />

trotz e<strong>in</strong>er ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>driftenden Gesellschaft verb<strong>in</strong>dende Kräfte geweckt werden können.<br />

Kirchen könnten hierbei e<strong>in</strong>e wichtige Rolle spielen, weil sie ihre Verankerung außerhalb des<br />

Milieurahmens und ihren Auftrag an alle Menschen haben.<br />

Für die nationalen M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten <strong>in</strong> Mittelosteuropa müsste aus dem Blickw<strong>in</strong>kel von Milieustudien<br />

und Mitglie<strong>der</strong>befragungen zunächst geklärt werden, ob sie sich selbst als e<strong>in</strong> <strong>in</strong> sich geschlossenes<br />

Milieu sehen und verstehen wollen, o<strong>der</strong> ob die M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten e<strong>in</strong>e Mikrogesellschaft<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft s<strong>in</strong>d, die <strong>in</strong> sich wie<strong>der</strong>um <strong>in</strong> verschiedene Milieus e<strong>in</strong>zuteilen s<strong>in</strong>d.<br />

Die starke Identifizierung mit <strong>der</strong> eigenen (nationalen und konfessionellen) M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit lassen<br />

eher ersteres erwarten.<br />

3.5 Das Selbstverständnis des postmo<strong>der</strong>nen Menschen<br />

Mit den politischen Verän<strong>der</strong>ungen, den Krisen und <strong>der</strong> größeren <strong>in</strong>dividuellen Freiheit haben<br />

sich auch anthropologische Dimensionen verän<strong>der</strong>t, die die Gestaltung des Gottesdienstes bee<strong>in</strong>flussen.<br />

Erwartungshaltungen von Teilnehmenden entwickeln sich <strong>in</strong> sehr unterschiedliche<br />

Richtungen. Kirchen versuchen <strong>in</strong> ihren Gottesdiensten Angebote für die verschiedenen Erwartungen<br />

zu machen. Gleichzeitig müssen die Kirchen das Selbstverständnis und die Ansprüche<br />

<strong>der</strong> Postmo<strong>der</strong>ne aus theologischer Perspektive kritisch und im Blick auf ihr eigenes Handeln<br />

selbstkritisch reflektieren.<br />

3.5.1 Die Tendenz <strong>der</strong> Individualisierung und das Bedürfnis nach Geme<strong>in</strong>schaft<br />

In unseren Gesellschaften ist e<strong>in</strong>e erhöhte Mobilität und steigende Individualisierung zu beobachten.<br />

Durch die erhöhte Mobilität entstehen <strong>in</strong>ternationale Geme<strong>in</strong>den und Kirchen <strong>in</strong> den<br />

Städten/Großstädten, die Geme<strong>in</strong>schaften auf <strong>Zeit</strong> mit hoher Fluktuation und wenig Kont<strong>in</strong>uität<br />

s<strong>in</strong>d. Durch die Individualisierung lockern sich B<strong>in</strong>dungen <strong>in</strong> Gesellschaft und Kirchen. Längst<br />

gehört <strong>der</strong> Sonntagsgottesdienst nicht mehr zu den festen <strong>Zeit</strong>en im Wochenrhythmus, wie<br />

überhaupt <strong>der</strong> Lebensrhythmus <strong>der</strong> unterschiedlichen Generationen und unterschiedlichen Milieus<br />

kaum mehr synchron verläuft. Dafür bieten sich aber im Gegenzug neue Chancen. So f<strong>in</strong>den<br />

Menschen während e<strong>in</strong>es E<strong>in</strong>kaufs o<strong>der</strong> unter <strong>der</strong> Woche <strong>Zeit</strong>, sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Innenstadt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Kirche zu setzen und sich für e<strong>in</strong> paar M<strong>in</strong>uten Ruhe zu gönnen. Angebote von Andachten o<strong>der</strong><br />

auch kurze Gottesdienste werden dabei gerne angenommen, wenn ke<strong>in</strong>e Regelmäßigkeit vorausgesetzt<br />

wird und <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>aufwand überschaubar bleibt.<br />

Zugleich wird <strong>in</strong> den Fallbeispielen deutlich, dass die Suche nach Geme<strong>in</strong>schaft, auch nach<br />

Geme<strong>in</strong>schaft zwischen unterschiedlichen Gruppen e<strong>in</strong> wesentliches Anliegen des Gottesdienstes<br />

und se<strong>in</strong>er Teilnehmenden ist. Das Bedürfnis nach Geme<strong>in</strong>schaft mit Gleichsprachigen o<strong>der</strong><br />

27


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Gesellschaftliche Kontexte im Umbruch<br />

mit Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ähnlichen Situation wiegt <strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationalen Geme<strong>in</strong>den auch konfessionelle<br />

Unterschiede auf. In den Kirchen <strong>der</strong> ethnischen M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten, z.B. <strong>in</strong> Rumänien dient <strong>der</strong><br />

Gottesdienst als Geme<strong>in</strong>schaftserfahrung <strong>der</strong> Vergewisserung <strong>der</strong> eigenen Identität und <strong>in</strong> den<br />

Kle<strong>in</strong>stgeme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e ist er <strong>of</strong>t verbunden mit geme<strong>in</strong>schaftlichem Essen o<strong>der</strong> Feiern<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er fast familiären Atmosphäre.<br />

Individualisierung und Vere<strong>in</strong>zelung setzen starke Bedürfnisse nach Geme<strong>in</strong>schaft frei. Kirchen<br />

versuchen mit ihren Angeboten sowohl <strong>der</strong> Individualität (das s<strong>in</strong>d Bedürfnisse e<strong>in</strong>zelner wie<br />

Interessen von Gruppen) wie <strong>der</strong> Sehnsucht nach Geme<strong>in</strong>schaft gerecht zu werden. Dabei können<br />

sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e gewisse Spannung geraten, die sie ständig theologisch zu reflektieren haben,<br />

um dar<strong>in</strong> das Verb<strong>in</strong>dliche <strong>in</strong> den vielen Aktivitäten benennen und bewahren zu können.<br />

3.5.2 Bedürfnis nach Spiritualität und Feier<br />

Wenn Menschen während des E<strong>in</strong>kaufes <strong>in</strong> den Städten o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mittagspause Kirchen aufsuchen,<br />

ist dies nur e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er, aber signifikanter H<strong>in</strong>weis auf die wachsende Sehnsucht nach<br />

Spiritualität. Kirche ist bei <strong>der</strong> spirituellen Suche zwar nur e<strong>in</strong> möglicher Ort, aber sie kann - den<br />

Standortvorteil <strong>der</strong> Kirchgebäude <strong>in</strong> den Innenstädten nutzend – dieser Sehnsucht öffnen und<br />

spirituelle Erfahrungen ermöglichen: Kerzenecken, Gebetswände, Räume <strong>der</strong> Stille o<strong>der</strong> Musik<br />

bilden <strong>of</strong>t e<strong>in</strong> geeignetes Sett<strong>in</strong>g, den Menschen <strong>in</strong> ihren Pausen zwischen den Alltagsbeschäftigungen<br />

suchen. Über dieses Beispiel h<strong>in</strong>aus ist die Frage, <strong>in</strong>wiefern Kirchen ihre Räume und<br />

ihren spirituellen Reichtum für diese Bedürfnissen zu öffnen vermögen o<strong>der</strong> möchten.<br />

Übere<strong>in</strong>stimmend erfreuen sich die beson<strong>der</strong>en Festgottesdienste <strong>in</strong> vielen Kirchen großer Beliebtheit.<br />

Während die Besucherzahlen im Gottesdienst am Sonntagmorgen zurückgehen, steigen<br />

sie zu den Festen weiter an. Kirche wird wahrgenommen als e<strong>in</strong> positiver Rahmen für Feierlichkeiten<br />

und dies sowohl bei den Festen des Jahreskreises, wie auch im Kreis <strong>der</strong> Familie<br />

bei Taufen, Trauungen und an<strong>der</strong>en Jubiläen. In <strong>der</strong> siebenbürgischen Kirche wird <strong>in</strong> den Festgottesdiensten<br />

von den Besuchern e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>s festlich gestaltete Liturgie nach <strong>der</strong> traditionellen<br />

Ordnung erwartet. In den Kirchen <strong>in</strong> Deutschland müssen die Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong>zwischen<br />

davon ausgehen, dass die Besucher <strong>der</strong> Festgottesdienste an Weihnachten o<strong>der</strong> Ostern <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

liturgischen Ordnung nur noch rudimentär beheimatet s<strong>in</strong>d und vor allem e<strong>in</strong>en <strong>in</strong> sich stimmigen<br />

festlichen Rahmen o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>es gestaltete Feier erwarten.<br />

Das steigende Bedürfnis nach Spiritualität und Feier bietet den Kirchen die Chance von Anknüpfungspunkten<br />

und stellt sie zugleich vor die Herausfor<strong>der</strong>ung, gegenüber den Erwartungshaltungen<br />

ihr eigenes Proprium zu bewahren. Die Festgottesdienste sollen die Kirchen auch als<br />

„rechte <strong>Zeit</strong>“ (2Tim 4,2) für die Evangelisation wahrnehmen.<br />

28


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Theologie und Gottesdienst<br />

4 Theologie und Gottesdienst<br />

4.1 Kommunikative Geme<strong>in</strong>schaft<br />

Der Gottesdienst ist e<strong>in</strong>e Gabe Gottes. Glaubende erfahren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Feier des Gottesdienstes<br />

bergenden Trost, aufrichtende Kraft und Orientierung für ihr Leben. Dankbar wissen sie sich<br />

dar<strong>in</strong> den christlichen Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> aller Welt und durch die <strong>Zeit</strong>en verbunden. Diese reiche<br />

Gabe Gottes möchten die Geme<strong>in</strong>den möglichst vielen Menschen zugänglich machen und <strong>der</strong><br />

nachwachsenden Generation erschließen.<br />

In den aktuellen sozialen Verän<strong>der</strong>ungsprozessen r<strong>in</strong>gen daher viele Geme<strong>in</strong>den um die Gestaltung<br />

des Gottesdienstes. E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>ungsbewegungen, Landflucht und extreme M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitensituation<br />

stellen neben vielen an<strong>der</strong>en Faktoren komplexe Herausfor<strong>der</strong>ungen für die Erhaltung<br />

und Entwicklung des gottesdienstlichen Lebens dar. Manchmal entstehen daraus ernste Konflikte.<br />

Im Austausch bestärken die Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> dar<strong>in</strong>, diese Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />

konstruktiv und im Vertrauen auf das Wirken des Heiligen Geistes zu bewältigen. Die<br />

geme<strong>in</strong>same Grundlage für das gestaltende Handeln f<strong>in</strong>den die Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe im<br />

Bekenntnis zum dreie<strong>in</strong>igen Gott, <strong>der</strong> im Gottesdienst den Menschen heilvoll begegnet.<br />

Die religionssoziologisch beschreibbaren Verän<strong>der</strong>ungen des Gottesdienstbesuches haben<br />

auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> akademischen Theologie e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensivierte Reflexion auf den Gottesdienst motiviert.<br />

Wichtige Ergebnisse können mit den Stichworten „narrative Performativität“ und „kommunikative<br />

Geme<strong>in</strong>schaft“ zusammengefasst werden. Die praktisch-theologische Forschung konzentriert<br />

sich auf die Frage, was für e<strong>in</strong>e Art von Handeln das gottesdienstliche Handeln ist. Dabei spielen<br />

die Begriffe „darstellendes Handeln“ und „kommunikatives Handeln“ e<strong>in</strong>e entscheidende<br />

Rolle. Nachfolgende Überlegungen wollen ke<strong>in</strong>en Beitrag zu diesen wissenschaftlichen Diskussionen<br />

leisten, son<strong>der</strong>n das den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe geme<strong>in</strong>same theologische Grundverständnis<br />

des Gottesdienstes ausdrücken.<br />

4.2 Gottesdienst als Begegnung und Geme<strong>in</strong>schaft<br />

Im Gottesdienst begegnet Gott den Menschen so, dass sie ihm antworten und zur Geme<strong>in</strong>schaft<br />

untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verbunden werden.<br />

4.2.1 Gott begegnet den Menschen <strong>in</strong> Verkündigung, Taufe und Abendmahl.<br />

Gott gibt sich den Menschen zu erkennen als <strong>der</strong> Gott <strong>der</strong> Liebe, <strong>der</strong> <strong>in</strong> Christus die Welt mit<br />

sich versöhnt hat und die Sünden vergibt. Dar<strong>in</strong> zeigt er sich als die H<strong>of</strong>fnung auf e<strong>in</strong> Leben <strong>in</strong><br />

Fülle durch die Gabe des Heiligen Geistes. So beruft Gott den Menschen zu e<strong>in</strong>em Leben als<br />

Licht <strong>der</strong> Welt und Salz <strong>der</strong> Erde.<br />

29


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Theologie und Gottesdienst<br />

Gott will sich den Menschen erfahrbar machen <strong>in</strong> allen menschlichen Dimensionen: geistig,<br />

s<strong>in</strong>nlich, leiblich, sozial. Dies geschieht gottesdienstlich <strong>in</strong> Verkündigung, Taufe und Abendmahl.<br />

Gott begegnet durch se<strong>in</strong> Wort <strong>in</strong> menschlicher Verkündigung. Menschliche Verkündigung hat<br />

dem göttlichen Wort zu dienen, mit dem Gott zu den jeweils konkreten Menschen <strong>in</strong> ihrer Situation<br />

sprechen will. Der Auftrag zur Verkündigung bedeutet daher den Auftrag, möglichst verständlich<br />

und angemessen für die jeweils gottesdienstlich versammelten Menschen zu sprechen.<br />

Der göttliche Zuspruch <strong>der</strong> Sündenvergebung soll den Menschen dabei möglichst umfassend<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er verwandelnden Kraft erfahrbar werden. Daher gehört das Bemühen um die ästhetische<br />

Dimension des Gottesdienstes (Kirchenraum, Kirchenmusik) zum Verkündigungsauftrag<br />

dazu.<br />

Der dreie<strong>in</strong>ige Gott begegnet den Menschen <strong>in</strong> Taufe und Abendmahl. Die Taufe wird im Namen<br />

des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes mit Wasser vollzogen. In ihr nimmt Jesus<br />

Christus den <strong>der</strong> Sünde und dem Sterben verfallenen Menschen unwi<strong>der</strong>ruflich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e<br />

Heilsgeme<strong>in</strong>schaft auf, damit er e<strong>in</strong>e neue Kreatur sei. Er beruft ihn <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kraft des Heiligen<br />

Geistes <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>de und zu e<strong>in</strong>em Leben aus Glauben, zur täglichen Umkehr und Nachfolge.<br />

(Leuenberger Konkordie II.2.a)) Im Abendmahl schenkt sich <strong>der</strong> auferstandene Jesus<br />

Christus <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em für alle dah<strong>in</strong>gegebenen Leib und Blut durch se<strong>in</strong> verheißendes Wort mit<br />

Brot und We<strong>in</strong>. Er gewährt dadurch Vergebung <strong>der</strong> Sünden und befreit zu e<strong>in</strong>em neuen Leben<br />

aus Glauben (Leuenberger Konkordie II.2b). Dieser befreienden Zusage Gottes hat die Gestaltung<br />

von Taufe und Abendmahl <strong>in</strong> all ihren Aspekten zu dienen.<br />

Gott will allen Menschen als <strong>der</strong> liebende Gott begegnen. Daher gehört zum Gottesdienst, dass<br />

er <strong>of</strong>fen, öffentlich und e<strong>in</strong>ladend ist.<br />

4.2.2 Gott begegnet den Menschen, so dass sie dankend, lobend und bekennend antworten.<br />

Im Gottesdienst antworten Menschen auf die Anrede Gottes, <strong>in</strong>dem sie se<strong>in</strong>er Zusage vertrauen<br />

und sich ihm anvertrauen. So bleiben sie nicht Zuschauer, son<strong>der</strong>n werden s<strong>in</strong>gend und sprechend,<br />

schweigend und mit Gesten Teilnehmende des Gottesdienstes. Ihre Antwort gestalten<br />

Menschen als Dank und Lob, als Glaubensbekenntnis und Gebet. Sie fragen und suchen nach<br />

Gott, sie schweigen und klagen zu Gott, sie freuen sich an Gott und gedenken se<strong>in</strong>er großen<br />

Taten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft <strong>der</strong> Glaubenden. Wie Gott zu den konkreten Menschen spricht, so<br />

hört er auch das jeweils <strong>in</strong>dividuelle Antworten <strong>der</strong> Menschen.<br />

Weil Gott Menschen dazu beruft, Licht <strong>der</strong> Welt und Salz <strong>der</strong> Erde zu se<strong>in</strong>, kann die Antwort des<br />

Menschen nicht auf den Gottesdienst beschränkt bleiben, son<strong>der</strong>n bezieht sich auf se<strong>in</strong>e ganze<br />

Existenz. Im Alltag, im familiären und beruflichen Wirken und ihrer kulturellen Lebensgestaltung<br />

30


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Theologie und Gottesdienst<br />

vollziehen Menschen den christlichen Gottesdienst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt. Über ihre je <strong>in</strong>dividuellen Lebenszusammenhänge<br />

h<strong>in</strong>aus wirken Christ<strong>in</strong>nen und Christen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Politik mit allen an<strong>der</strong>en<br />

zusammen, welche sich für e<strong>in</strong>e gerechte, friedliche und ökologisch verantwortete Gesellschaft<br />

engagieren. Sie erheben ihre Stimme für die Armen, Benachteiligten und Notleidenden und<br />

wenden sich ihnen diakonisch zu. Sie setzen Zeichen für die unbed<strong>in</strong>gte Würde jedes Menschen.<br />

All ihr soziales Tun verstehen Christ<strong>in</strong>nen und Christen als dankbare Antwort auf Gottes<br />

verwandelnde Gnade.<br />

4.2.3 Gott begegnet den Menschen, dass sie zur Geme<strong>in</strong>schaft untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verbunden<br />

werden.<br />

Im Gottesdienst begegnet Gott den e<strong>in</strong>zelnen, <strong>in</strong>dem er sie anspricht und befreit, ihnen Vergebung<br />

aller ihrer Sünden schenkt und e<strong>in</strong>e dauerhafte Geme<strong>in</strong>schaft mit sich und untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

erschließt. Diese Geme<strong>in</strong>schaft <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> Gottes f<strong>in</strong>det ihren Ausdruck im geme<strong>in</strong>samen Hören<br />

und Schweigen, S<strong>in</strong>gen und Beten, im Bekennen und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Feier des Abendmahls. Die geschenkte<br />

Geme<strong>in</strong>schaft befähigt zur <strong>of</strong>fenen, aufrechten und behutsamen Begegnung untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>.<br />

Diese gottgewirkte Geme<strong>in</strong>schaft zeigt sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Freiheit <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelnen, ihre beson<strong>der</strong>en<br />

Gaben und Erfahrungen e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen und auf die beson<strong>der</strong>en Gaben und Erfahrungen <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en zu beziehen. So wird Geme<strong>in</strong>schaft als Leib Christi erfahrbar und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />

lebendig.<br />

In <strong>der</strong> gottesdienstlichen Geme<strong>in</strong>schaft beruft <strong>der</strong> dreie<strong>in</strong>ige Gott die Menschen dazu, trennende<br />

kulturelle, sprachliche und soziale Grenzen zu überw<strong>in</strong>den. Diese Grenzen s<strong>in</strong>d dadurch nicht<br />

aufgehoben. Die dar<strong>in</strong> unterschiedlichen Menschen aber s<strong>in</strong>d befähigt, solche Unterschiede von<br />

<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft <strong>in</strong> Christus her neu zu verstehen und sie von daher zu gestalten.<br />

Der lebendige Gott verb<strong>in</strong>det die Glaubenden zu <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en heiligen christlichen und apostolischen<br />

Kirche. Auf diese E<strong>in</strong>heit beziehen sich alle Gottesdienste, weil <strong>in</strong> allen Gottesdiensten<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Gott durch se<strong>in</strong> Wort im Heiligen Geist handelt. Dieser Bezug soll daher <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gestaltung<br />

des Gottesdienstes angemessenen Ausdruck f<strong>in</strong>den. Das kann geschehen durch das Bekenntnis<br />

zur una sancta ecclesia und durch Fürbitte für an<strong>der</strong>e Kirchen.<br />

4.3 Der Gottesdienst als verb<strong>in</strong>dendes Zentrum <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>dearbeit<br />

Übere<strong>in</strong>stimmend halten die Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe Südosteuropa fest daran, dass <strong>der</strong><br />

Gottesdienst <strong>der</strong> Mittelpunkt <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>dearbeit ist, als Kristallisationspunkt von Geme<strong>in</strong>de wie<br />

als Grundform von Kirche. Dabei ist durchaus bewusst, dass zum Gottesdienst am Sonntag nur<br />

e<strong>in</strong> sehr kle<strong>in</strong>er Teil <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de zusammenkommt, dass alternative Gottesdienste bestimmte<br />

Zielgruppen und unterschiedliche Milieus sammeln und dass Gottesdienste im gesellschaftlichen<br />

Kontext auch Menschen über die Grenzen <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de o<strong>der</strong> Konfessionskirche h<strong>in</strong>aus<br />

31


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Die Feier des Gottesdienstes <strong>in</strong> den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

ansprechen. Wenn es aber <strong>in</strong> <strong>der</strong> Feier des Gottesdienstes nicht um e<strong>in</strong>e mehr o<strong>der</strong> weniger<br />

große E<strong>in</strong>zelveranstaltung <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de geht, son<strong>der</strong>n um e<strong>in</strong>en Ort <strong>der</strong> Gottesbegegnung<br />

dessen Bezüge weit über die gottesdienstliche Feier den Alltag und die ethische Dimension unseres<br />

Handelns bestimmen, ist die Son<strong>der</strong>stellung des Gottesdienstes als Mitte <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>dearbeit<br />

und als Zentrum von Kirche evident. Gottesdienstgeme<strong>in</strong>schaft und Kirchene<strong>in</strong>heit s<strong>in</strong>d<br />

hier eng mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu verknüpfen.<br />

Im Wissen darum, dass <strong>der</strong> Glaube des E<strong>in</strong>zelnen die Bekenntnisgeme<strong>in</strong>schaft <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />

braucht, um nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>zelung häretisch zu werden, erhält e<strong>in</strong>e solche Geme<strong>in</strong>schaft für<br />

den Gottesdienst e<strong>in</strong>e eigene theologische Bedeutung.<br />

5 Die Feier des Gottesdienstes <strong>in</strong> den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

Im Zentrum dieses Kapitels steht die gottesdienstliche Feier <strong>in</strong> den Kirchen und Geme<strong>in</strong>den <strong>der</strong><br />

Regionalgruppe. Bemerkenswert ist zunächst, dass die Charakterisierung des Gottesdienstes<br />

als Feier o<strong>der</strong> Fest unstrittig ist. Hier sche<strong>in</strong>t sich e<strong>in</strong>e Art Grundverständnis für gottesdienstliches<br />

Geschehen über die Konfessions-, Sprach- und Landesgrenzen h<strong>in</strong>aus entwickelt zu haben.<br />

Die Ausgestaltung <strong>der</strong> Feier weist viele Unterschiede auf, theologische und konfessionelle<br />

Momente spielen dabei ebenso e<strong>in</strong>e Rolle wie unterschiedliche Kontexte (M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitensituation,<br />

Ost-West-Zugehörigkeit etc.). In allen Kirchen aber gibt es e<strong>in</strong> verstärktes Bemühen um die Gestaltung<br />

<strong>der</strong> Gottesdienstfeier, was sich <strong>in</strong> vielen liturgischen Reformprozessen <strong>der</strong> letzten beiden<br />

Jahrzehnte zeigt.<br />

Im Folgenden ist, wenn es um die Feier des Gottesdienstes geht, <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie <strong>der</strong> Sonntagsgottesdienst<br />

im Blick, <strong>in</strong> dem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vielfalt se<strong>in</strong>er Formen und durch beson<strong>der</strong>e Gewichtung<br />

und Zuordnung <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Elemente die Feier Gestalt gew<strong>in</strong>nt.<br />

5.1 Gottesdienst – Das Fest <strong>der</strong> christlichen Geme<strong>in</strong>de<br />

Der Gottesdienst im Namen des dreie<strong>in</strong>igen Gottes ist e<strong>in</strong> Fest, das die Geme<strong>in</strong>de teilhaben<br />

lässt am Sabbat, dem Ruhetag des Schöpfers, am Ostermorgen, dem Fest <strong>der</strong> Auferstehung<br />

Jesu Christi und dem Fest <strong>der</strong> Geburt <strong>der</strong> Kirche an Pf<strong>in</strong>gsten mit <strong>der</strong> Ausgießung des <strong>in</strong>spirierenden<br />

Geistes Gottes. Im Gottesdienst f<strong>in</strong>det die Geme<strong>in</strong>schaft <strong>der</strong> feiernden Geme<strong>in</strong>de ihren<br />

sichtbaren Ausdruck. Gleichzeitig ist die Feier des Gottesdienstes – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e dort, wo sie<br />

im traditionellen Rahmen bleibt – geprägt vom Ernst <strong>der</strong> Begegnung des sündhaften Menschen<br />

mit dem allmächtigen Gott, <strong>der</strong> Erleichterung über die Vergebung <strong>der</strong> Sünden und <strong>der</strong> Ermahnung<br />

zu e<strong>in</strong>em Leben <strong>in</strong> Verantwortung vor Gott.<br />

32


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Die Feier des Gottesdienstes <strong>in</strong> den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

Den Reformen des Gottesdienstes ist es durchweg e<strong>in</strong> Anliegen, den Charakter des Festes und<br />

<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft zu betonen. In Gottesdienste werden geme<strong>in</strong>schaftsstiftende Symbole aufgenommen<br />

(Friedensgruß weitergeben; Abendmahlsempfang im Kreis um den Altar) und Elemente,<br />

bei denen die Geme<strong>in</strong>de sich aktiv e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen kann, gestärkt (Lie<strong>der</strong>, Responsorien). Alle<br />

sollen sich im Gottesdienst persönlich angesprochen fühlen, am besten <strong>in</strong> ihrer Sprache und<br />

Tradition. In den bayerischen Geme<strong>in</strong>den wurde <strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten gezielt darauf Wert<br />

gelegt, e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>schaftsbewusstse<strong>in</strong> <strong>der</strong> gottesdienstlichen Geme<strong>in</strong>de zu stärken. Vielerorts<br />

gibt es Begrüßungsdienste für die Ankommenden. Der Pfarrer o<strong>der</strong> die Pfarrer<strong>in</strong> verabschiedet<br />

die Gottesdienstbesucher persönlich am Ende des Gottesdienstes und anschließend ist die<br />

Geme<strong>in</strong>de häufig e<strong>in</strong>geladen zum Kirchenkaffee. Allerd<strong>in</strong>gs wird bei letzterem meist nur e<strong>in</strong><br />

kle<strong>in</strong>er Teil <strong>der</strong> Kerngeme<strong>in</strong>de erreicht.<br />

Die kle<strong>in</strong>en Diasporageme<strong>in</strong>den Mittelosteuropas haben <strong>of</strong>t gute Geme<strong>in</strong>schaftsstrukturen. Man<br />

kennt sich und begrüßt sich vor dem Gottesdienst und steht h<strong>in</strong>terher noch zusammen. Nicht<br />

nur für den Gottesdienst selbst, son<strong>der</strong>n auch für die Begegnung im Anschluss ist <strong>in</strong> Mittelosteuropa<br />

mehr <strong>Zeit</strong> als zum Beispiel <strong>in</strong> Deutschland. Hier ist den unregelmäßigen Gottesdienstbesuchern<br />

des Sonntagsgottesdienstes Geme<strong>in</strong>schaft zwar wichtig als e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames<br />

Ausgerichtetse<strong>in</strong>. Auf Interaktion während dem Gottesdienst und auch auf Gespräche und geme<strong>in</strong>sames<br />

Essen und Tr<strong>in</strong>ken nach dem Gottesdienst legen viele ke<strong>in</strong>en beson<strong>der</strong>en Wert. 8<br />

Die Ernsthaftigkeit des Gottesdienstes und <strong>der</strong> Charakter <strong>der</strong> Feier <strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>schaft können<br />

nicht gegene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> ausgespielt werden. Vielmehr suchen die verschiedenen Reformen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

neuen Erschließung <strong>der</strong> Liturgie und geprägter Formen Geme<strong>in</strong>schaft und Festcharakter im<br />

Gottesdienst zu verankern.<br />

5.2 Wort und Sakrament im evangelischen Gottesdienst<br />

Durch die beiden <strong>in</strong> <strong>der</strong> evangelischen Kirche gebräuchlichen Grundformen des Gottesdienstes<br />

als Messe und <strong>in</strong> <strong>der</strong> oberdeutschen Form als Wortgottesdienst stehen Gottesdienste mit und<br />

ohne Abendmahl gleichberechtigt nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>. Noch immer wird <strong>der</strong> Gottesdienst <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Mehrzahl als Wortgottesdienst gefeiert. E<strong>in</strong>e breite Tendenz h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>er häufigeren Feier des<br />

Abendmahls ist jedoch – <strong>in</strong> sehr vielen Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe – zu erkennen. Neben den<br />

erwarteten Unterschieden zwischen reformierten, methodistischen und lutherischen Traditionen<br />

lassen sich dabei auch regionale Unterschiede erheben, die sich jedoch allmählich anzugleichen<br />

sche<strong>in</strong>en.<br />

8 Hanns Kerner, Der Gottesdienst, Wahrnehmungen aus e<strong>in</strong>er neuen empirischen Untersuchung unter evangelisch<br />

Getauften <strong>in</strong> Bayern, hg. Gottesdienst<strong>in</strong>stitut <strong>der</strong> Evang.-Luth. Kirche <strong>in</strong> Bayern, S 18f<br />

33


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Die Feier des Gottesdienstes <strong>in</strong> den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

5.2.1 Das Wort im evangelischen Gottesdienst<br />

5.2.1.1 Die Predigt<br />

Die Beschreibung des Gottesdienstes als e<strong>in</strong> dramaturgisches Geschehen <strong>in</strong> dessen Mitte die<br />

Verkündigung und Aktualisierung des Wortes steht (Evangelisch-reformierte Kirche <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Schweiz) gibt die zentrale Bedeutung <strong>der</strong> Predigt wie<strong>der</strong>. Zugleich wird deutlich, dass Lie<strong>der</strong>,<br />

Lesungen und liturgische Elemente nicht nur e<strong>in</strong>en äußeren Rahmen bilden, son<strong>der</strong>n zum Geschehen<br />

<strong>der</strong> Wortverkündigung selbst zu zählen s<strong>in</strong>d. In <strong>der</strong> Predigt geschieht die Aktualisierung<br />

des Wortes, sei es als Auslegung und Erklärung e<strong>in</strong>es biblischen Textes, o<strong>der</strong> als Zeugnis<br />

von Glaubenserfahrungen. Dort wo e<strong>in</strong>e theologische Ausbildung <strong>in</strong> <strong>der</strong> kommunistischen <strong>Zeit</strong><br />

nicht o<strong>der</strong> nicht ausreichend möglich war, hat die Lesepredigt e<strong>in</strong>e lange Tradition. In den Geme<strong>in</strong>den<br />

<strong>in</strong> Russland werden zum Teil heute noch die Predigten von Pfarrer Carl Blum aus dem<br />

ausgehenden 19. Jahrhun<strong>der</strong>t gelesen. Ansonsten s<strong>in</strong>d Lesepredigten die Ausnahme für den<br />

Fall, dass ke<strong>in</strong> Pfarrer für den Gottesdienst zur Verfügung steht.<br />

In reformierten und methodistischen Gottesdiensten wird <strong>der</strong> Predigt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel mehr <strong>Zeit</strong> e<strong>in</strong>geräumt<br />

als <strong>in</strong> den lutherischen Gottesdiensten, <strong>in</strong> denen die Liturgie, Gesang und Lesungen<br />

e<strong>in</strong>en größeren Raum e<strong>in</strong>nehmen. Wenn <strong>in</strong> Mittelosteuropa beobachtet wird, dass Gottesdienste<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel <strong>in</strong>sgesamt etwas länger s<strong>in</strong>d, ist das vor allem auf e<strong>in</strong>e ausführlichere Predigt<br />

zurückzuführen.<br />

Nahezu ausschließlich wird die Predigt als Monolog des Pfarrers von <strong>der</strong> Kanzel o<strong>der</strong> dem Lesepult<br />

gehalten. Zwar s<strong>in</strong>d – vor allem <strong>in</strong> den größeren Kirchen – auch an<strong>der</strong>e Formen <strong>der</strong> Predigt<br />

bekannt (wie z.B. Dialogpredigt), doch werden sie nur zu beson<strong>der</strong>en Anlässen o<strong>der</strong> <strong>in</strong> alternativen<br />

Gottesdiensten e<strong>in</strong>gesetzt. E<strong>in</strong> großes Anliegen ist es für die Prediger, die Sprache<br />

<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de zu treffen. Die Sprache des Volkes muss gesprochen werden (gegebenenfalls<br />

zweisprachige Verkündigung), sie soll nahe an den sozialen Gegebenheiten se<strong>in</strong> und mit den<br />

angesprochenen Menschen zu tun haben. Theologisches Vokabular (Gnade, Parusie…) muss<br />

immer neu erklärt werden. Die Sprache <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de unterscheidet sich allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> den verschiedenen<br />

Kirchen. Dort wo <strong>der</strong> Gottesdienst e<strong>in</strong>er nationalen M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit <strong>der</strong> Vergewisserung<br />

<strong>der</strong> eigenen Identität dient, orientiert sich die Sprache <strong>der</strong> Predigt stärker an <strong>der</strong> Tradition, als<br />

dort, wo junge Geme<strong>in</strong>deglie<strong>der</strong> angesprochen werden. Das Beispiel <strong>der</strong> Lesepredigten <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

brü<strong>der</strong>geme<strong>in</strong>dlichen Tradition <strong>der</strong> Evangelisch-Lutherischen Kirche <strong>in</strong> Russland zeigt <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>s<br />

deutlicher Weise, wie <strong>der</strong> Predigt e<strong>in</strong>e traditionelle Sprache vorbehalten se<strong>in</strong> kann und diese<br />

als angemessen empfunden wird. Sie entspricht zum Teil noch dem Deutsch, das die alten<br />

Geme<strong>in</strong>deglie<strong>der</strong> bis heute sprechen, erreicht jedoch die mittlere und jüngere Generation kaum<br />

mehr.<br />

34


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Die Feier des Gottesdienstes <strong>in</strong> den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

Inhaltlich ist die Predigt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel die Auslegung e<strong>in</strong>es biblischen Textes. In den lutherischen<br />

Kirchen ist die Textauswahl meist festgelegt. Die Übernahme des vorgeschriebenen Predigttextes<br />

ist <strong>in</strong> Mittelosteuropa noch selbstverständlicher als <strong>in</strong> Deutschland. In reformierten und methodistischen<br />

Geme<strong>in</strong>den gibt es ke<strong>in</strong>e feste Ordnung von bestimmten Predigttexten. Immer<br />

wie<strong>der</strong> werden auch an<strong>der</strong>e Medien als Grundlage <strong>der</strong> Predigt verwendet. Religiöse Bil<strong>der</strong> o<strong>der</strong><br />

Kirchenlie<strong>der</strong> werden bei Andachten o<strong>der</strong> zu beson<strong>der</strong>en Gottesdiensten gerne ausgelegt. Auch<br />

Texte <strong>der</strong> Tradition wie Bekenntnisse s<strong>in</strong>d bisweilen Grundlage für die Textauslegung.<br />

5.2.1.2 Biblische Lesungen und Perikopenordnung<br />

Fast alle Kirchen kennen weitere Lesungen von Evangelientexten, Epistel- o<strong>der</strong> alttestamentlichen<br />

Texten im Gottesdienst. Während <strong>in</strong> reformierten und methodistischen Kirchen e<strong>in</strong>e große<br />

Freiheit bei <strong>der</strong> Textauswahl besteht, orientieren sich lutherische Kirchen meist an <strong>der</strong> altkirchlichen<br />

Perikopenordnung von Evangelium und Epistel für jeden Feiertag des Kirchenjahres. In<br />

Bayern und an<strong>der</strong>en deutschen Landeskirchen ist diese Ordnung erweitert um die Predigttexte<br />

auf sechs Reihen angewachsen. In Ungarn ist e<strong>in</strong>e dreireihige Ordnung e<strong>in</strong>geführt. Häufig ist zu<br />

beobachten, dass auch reformierte Kirchen e<strong>in</strong>e Perikopenordnung als hilfreich empf<strong>in</strong>den und<br />

sich dabei an <strong>der</strong> jeweils <strong>in</strong> <strong>der</strong> Region verwendeten orientieren. Teilweise ist aber auch z.B.<br />

e<strong>in</strong>e auf Zw<strong>in</strong>gli zurückgehende lectio cont<strong>in</strong>ua <strong>in</strong> Gebrauch. Die Konzentration auf geme<strong>in</strong>same<br />

Predigttexte spielt auch ökumenisch, über die Grenzen <strong>der</strong> Bekenntnisse h<strong>in</strong>weg, e<strong>in</strong>e wichtige<br />

Rolle.<br />

Als Bibelübersetzung wird <strong>in</strong> den deutschsprachigen Lutherischen Kirchen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel die Lutherübersetzung<br />

verwendet, aber wie <strong>in</strong> an<strong>der</strong>n evangelischen Kirchen s<strong>in</strong>d auch an<strong>der</strong>e Übersetzungen<br />

<strong>in</strong> Gebrauch. M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitskirchen <strong>in</strong> orthodoxen Län<strong>der</strong>n (z.B. Rumänien) verwenden<br />

für die Gottesdienste <strong>in</strong> <strong>der</strong> Landessprache nicht die traditionelle orthodoxe, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e mo<strong>der</strong>nere<br />

Übersetzung.<br />

5.2.2 Die Feier des Abendmahls<br />

5.2.2.1 Die Häufigkeit <strong>der</strong> Abendmahlsfeier<br />

Viele Mitgliedskirchen haben die Tradition, dass das Abendmahl nur wenige Male im Jahr gefeiert<br />

wird, zum Teil abgelöst vom Hauptgottesdienst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em eigenen Beicht- und Abendmahlsgottesdienst<br />

im kle<strong>in</strong>en Kreise <strong>der</strong>er, die sich dafür vorbereitet haben. Mit den Reformen <strong>der</strong><br />

Liturgie und des Gottesdienstes wird quer durch alle Konfessionen <strong>in</strong> den evangelischen Kirchen<br />

<strong>der</strong> eucharistische Charakter des Gottesdienstes hervorgehoben und den Geme<strong>in</strong>den die<br />

regelmäßige Feier des Abendmahles mit <strong>der</strong> ganzen gottesdienstlichen Geme<strong>in</strong>de empfohlen.<br />

Zwar bleibt weiterh<strong>in</strong> <strong>der</strong> Wortgottesdienst die häufigere Form, doch hat sich <strong>in</strong>zwischen <strong>in</strong> vie-<br />

35


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Die Feier des Gottesdienstes <strong>in</strong> den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

len Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe die Praxis durchgesetzt, das Abendmahl e<strong>in</strong>mal im Monat und<br />

an den beson<strong>der</strong>en Feiertagen zu feiern.<br />

5.2.2.2 Abendmahl und Beichte<br />

In <strong>der</strong> Praxis entsteht gegenwärtig <strong>der</strong> E<strong>in</strong>druck, dass im Ost-West-Vergleich über die Konfessionen<br />

h<strong>in</strong>weg <strong>in</strong> den M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitskirchen <strong>in</strong> Süd- und Mittelosteuropa Abendmahl und Beichte <strong>of</strong>t<br />

enger verbunden s<strong>in</strong>d, als <strong>in</strong> den Kirchen <strong>in</strong> Deutschland, Österreich o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Schweiz.<br />

So wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> evangelischen Kirche AB <strong>in</strong> Siebenbürgen e<strong>in</strong>en Beichtgottesdienst (Versöhnungsfeier)<br />

am Samstagabend vor <strong>der</strong> Abendmahlsfeier im sonntäglichen Hauptgottesdienst<br />

angeboten. In <strong>der</strong> ungarischsprachigen reformierten Kirche gab es früher die Praxis, dass vor<br />

dem Abendmahlsgottesdienst e<strong>in</strong> Bußgottesdienst gefeiert wurde. Heute folgen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Abendmahlsliturgie auf die E<strong>in</strong>setzungsworte e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Beichte mit Absolution, sowie das<br />

Glaubensbekenntnis. Nach <strong>der</strong> Austeilung ermahnt <strong>der</strong> Pfarrer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kurzen Ansprache zu<br />

e<strong>in</strong>er dem Glauben gemäße Lebensführung. Die lutherische Kirche <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e hat im Wesentlichen<br />

die bayerische Gottesdienstordnung übernommen, führt aber <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel bei<br />

Abendmahlsgottesdiensten an <strong>der</strong> Stelle des Confiteor Beichte und Absolution e<strong>in</strong>. Gelegentlich<br />

f<strong>in</strong>det man hier die Praxis <strong>der</strong> persönlichen Vorbereitung auf das Abendmahl durch Fasten bis<br />

zum Gottesdienst, ähnlich wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> orthodoxen Tradition.<br />

5.2.2.3 Abendmahl mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />

In e<strong>in</strong>igen Kirchen können K<strong>in</strong><strong>der</strong> auch am Abendmahl teilnehmen. Am Beispiel <strong>der</strong> methodistischen<br />

Kirche lässt sich e<strong>in</strong> Unterschied zwischen Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Ost und West erkennen. Während<br />

das K<strong>in</strong><strong>der</strong>abendmahl <strong>in</strong> Serbien nicht üblich ist, wird es <strong>in</strong> Deutschland und Österreich<br />

angeboten. Wo das Abendmahl eng verbunden mit Beichte und Bekenntnis gefeiert wird, geschieht<br />

die Zulassung zum Abendmahl <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel mit <strong>der</strong> Konfirmation. Die Praxis <strong>der</strong> Mehrheitskonfessionen<br />

(z.B. unbeschränkte Zulassung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> zum Abendmahl <strong>in</strong> <strong>der</strong> orthodoxen<br />

Kirche) hat ke<strong>in</strong>e spürbaren Auswirkungen auf die evangelischen Kirchen.<br />

Die beson<strong>der</strong>e Bedeutung des Abendmahls <strong>in</strong> bei<strong>der</strong>lei Gestalt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> böhmischen<br />

Brü<strong>der</strong> war <strong>der</strong> Grund für die E<strong>in</strong>führung des K<strong>in</strong><strong>der</strong>abendmahls allerd<strong>in</strong>gs erst nach e<strong>in</strong>er<br />

Unterweisung und Vorbereitung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>. Diese wird <strong>in</strong> Bayern – wenn das K<strong>in</strong><strong>der</strong>abendmahl<br />

vom Geme<strong>in</strong>devorstand beschlossen wurde - von den Eltern erwartet, was <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis<br />

die religiöse Sozialisation <strong>der</strong> Eltern voraussetzt.<br />

5.3 Liturgische Gestaltung des Gottesdienstes<br />

Ob e<strong>in</strong> Gottesdienst als „Heimat“ empfunden wird, hängt wesentlich an <strong>der</strong> liturgischen Gestaltung.<br />

Verän<strong>der</strong>ungen werden von Gottesdienstbesuchern sehr sensibel wahrgenommen. Ge-<br />

36


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Die Feier des Gottesdienstes <strong>in</strong> den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

me<strong>in</strong>same liturgische Traditionen halten Geme<strong>in</strong>den und Kirchen zusammen und umgekehrt<br />

f<strong>in</strong>den Abgrenzungen zu an<strong>der</strong>en Konfessionen gerade auch im Blick auf unterschiedliche liturgische<br />

Gestaltung im Gottesdienst statt. Mit <strong>der</strong> liturgischen Gestaltung ist dabei das gesamte<br />

gottesdienstliche Geschehen aus Gebeten, Lesungen, Verkündigung, Lie<strong>der</strong>n und musikalischer<br />

Gestaltung, <strong>der</strong> gottesdienstliche Raum und liturgische Gewän<strong>der</strong>, aber auch Gestik und<br />

Bewegung <strong>der</strong> Beteiligten geme<strong>in</strong>t.<br />

In Bezug auf liturgische Traditionen und Verän<strong>der</strong>ungen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> verschiedenen Konfessionen<br />

<strong>der</strong> GEKE deutliche Unterschiede festzustellen, nicht zuletzt deshalb, weil die Verb<strong>in</strong>dlichkeit<br />

liturgischer Ordnungen z.B. <strong>in</strong> <strong>der</strong> lutherischen Tradition e<strong>in</strong>en höheren Stellenwert<br />

hat als <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Kirchen. Dennoch lassen sich übergreifende Tendenzen feststellen, die auf<br />

geme<strong>in</strong>same Herausfor<strong>der</strong>ungen für die liturgische Gestaltung und Entwicklung des Gottesdienstes<br />

deuten.<br />

5.3.1 Liturgiereformen im Wandel <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

Im Bereich <strong>der</strong> Regionalgruppe Süd-Ost-Europa haben sehr viele Kirchen <strong>in</strong> den Jahren seit <strong>der</strong><br />

Wende liturgische Reformen durchgeführt. Dabei lassen sich Geme<strong>in</strong>samkeiten f<strong>in</strong>den <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Entwicklung <strong>der</strong> Kirchen <strong>in</strong> den ehemals kommunistischen Län<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>erseits und an<strong>der</strong>erseits<br />

unter den Kirchen im ehemaligen „Westen“.<br />

Die Kirchen <strong>der</strong> VELKD und <strong>der</strong> UEK <strong>in</strong> Deutschland standen und stehen vor <strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung,<br />

die Gottesdienste <strong>of</strong>fen und ansprechend zu gestalten für die Menschen <strong>in</strong> <strong>der</strong> heutigen<br />

<strong>Zeit</strong> 9 , sie bei abnehmenden Gottesdienstbesuch wie<strong>der</strong> zu gew<strong>in</strong>nen, neu für den Gottesdienst<br />

zu motivieren. „Die Versuche, zu lebendigeren Gottesdiensten zu kommen waren <strong>in</strong> den zurückliegenden<br />

Jahrzehnten (vor 1999) vielfältig.“ Sie alle verfolgten das berechtigte Interesse, die<br />

Geme<strong>in</strong>de stärker zu beteiligen und auf sie e<strong>in</strong>zugehen. Mo<strong>der</strong>ne Menschen alle<strong>in</strong> schon durch<br />

mo<strong>der</strong>ne Sprache und Musik zum Gottesdienstbesuch anzuregen, hatte nur bed<strong>in</strong>gt Erfolg. Das<br />

seit 1999 e<strong>in</strong>geführte Evangelische Gottesdienstbuch setzt die E<strong>in</strong>sicht um, dass beides, „das<br />

alltäglich Vertraute und das Archaische“ nötig s<strong>in</strong>d im Gottesdienst und <strong>in</strong> diesem Zusammenspiel<br />

Geme<strong>in</strong>de wie zufällig Here<strong>in</strong>kommende heimisch werden. 10<br />

Das liturgische Leben war <strong>in</strong> den Kirchen h<strong>in</strong>ter dem Eisernen Vorhang während <strong>der</strong> kommunistischen<br />

<strong>Zeit</strong> zwar von den Regimes nicht e<strong>in</strong>geschränkt, stand aber unter Beobachtung. Große<br />

9 Evangelisches Gottesdienstbuch, . Agende für die Evangelische Kirche <strong>der</strong> Union und für die Vere<strong>in</strong>igte<br />

Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands, hg. von <strong>der</strong> Kirchenleitung <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>igten Evangelisch-Lutherische<br />

Kirche Deutschlands, 3. Aufl. Berl<strong>in</strong> 2003, S.6<br />

10 Ebd.<br />

37


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Die Feier des Gottesdienstes <strong>in</strong> den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

Än<strong>der</strong>ungen und Reformen <strong>der</strong> Liturgie blieben aus. An<strong>der</strong>erseits waren die Ortsgeme<strong>in</strong>den <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> liturgischen Gestaltung relativ frei. Neue liturgische Impulse von außen wurden lokal dankbar<br />

aufgenommen und führten so zu unterschiedlichen liturgischen Entwicklungen auch <strong>in</strong>nerhalb<br />

e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Kirche.<br />

Nach <strong>der</strong> gesellschaftlich-politischen Wende standen die Kirchen <strong>in</strong> Mittelosteuropa vor <strong>der</strong> großen<br />

Chance, sich <strong>in</strong> die Gesellschaft zu öffnen, öffentlich zu werben und auf junge Menschen<br />

zuzugehen. Der nachlassende Druck auf die Kirchen setzte jedoch nicht das erh<strong>of</strong>fte große Interesse<br />

an Kirche und den Gottesdiensten frei. So begannen <strong>in</strong> <strong>der</strong> sich schnell wandelnden Gesellschaft<br />

<strong>in</strong> Mittelosteuropa zeitlich versetzt zu den Entwicklungen <strong>in</strong> Deutschland ebenso<br />

Überlegungen zu e<strong>in</strong>em verän<strong>der</strong>ten Gottesdienst, <strong>der</strong> junge Menschen, Familien und Außenstehende<br />

anzusprechen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage ist. E<strong>in</strong>e Liturgiereform sollte die bestehende Agende revidieren<br />

und zeitgemäß ergänzen 11 und auch im Blick haben, dass <strong>in</strong> den neuen Arbeitsfel<strong>der</strong>n<br />

(z.B. <strong>in</strong> evangelischen Schulen) neues liturgisches Material nötig wurde. 12 Die westliche Entwicklung<br />

wurde jedoch nicht e<strong>in</strong>fach wie<strong>der</strong>holt. Reformansätze verstanden sich als e<strong>in</strong> „Teil <strong>der</strong><br />

gottesdienstlichen Erneuerung <strong>in</strong> Europa“ 13 . Partnerschaftliche Beziehungen und Vernetzungen<br />

<strong>in</strong> Europa trugen dazu bei, dass Erfahrungen an<strong>der</strong>er Kirchen e<strong>in</strong>bezogen und positive Impulse<br />

aufgenommen werden konnten. Das <strong>in</strong>sgesamt stärkere Traditionsbewusstse<strong>in</strong> <strong>in</strong> Mittelosteuropa<br />

und die beson<strong>der</strong>e Bedeutung <strong>der</strong> nationalen Sprache <strong>in</strong> nationalen M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitskirchen trug<br />

auch dazu bei, dass die Reformen eher e<strong>in</strong>e Rückbes<strong>in</strong>nung auf liturgische Formen <strong>in</strong> <strong>der</strong> eigenen<br />

Konfession und e<strong>in</strong>e Vere<strong>in</strong>heitlichung <strong>der</strong> gottesdienstlichen Praxis zum Ziel hatten.<br />

5.3.2 Rückbes<strong>in</strong>nung auf alte liturgische Formen<br />

Die liturgischen Bewegungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten Hälfte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts hatten großen E<strong>in</strong>fluss<br />

auf viele lutherische Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe, auch wenn die Bes<strong>in</strong>nung auf sie zum Teil<br />

erst <strong>in</strong> den letzten Jahren <strong>in</strong> die Agenden e<strong>in</strong>geflossen ist. In Siebenbürgen und Ungarn kehrt<br />

man zurück zu <strong>der</strong> durch die Michaelsbru<strong>der</strong>schaft gepflegten Tradition von Stundengebeten<br />

und Gregorianik. Auch <strong>in</strong> Bayern wurden die liturgischen Bauste<strong>in</strong>e unter diesem E<strong>in</strong>fluss überarbeitet.<br />

Selbst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Evangelischen Kirche <strong>der</strong> Böhmischen Brü<strong>der</strong> wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er liturgischen<br />

Initiative diese Tradition aufgegriffen und unter dem Aspekt <strong>der</strong> Ästhetik <strong>in</strong> den Gottesdienst<br />

e<strong>in</strong>gebracht. In <strong>der</strong> Schweiz ist e<strong>in</strong>e zunehmende Offenheit für ästhetische Fragen und liturgische<br />

Formen im Gottesdienst bemerkbar.<br />

11 Karoly Hafenscher, Evangelischer Gottesdienst – Liturgisches Buch, <strong>in</strong>: Texte aus <strong>der</strong> VELKD Nr. 153/2010, S. 33<br />

12 Karoly Hafenscher, Evangelischer Gottesdienst – Liturgisches Buch, <strong>in</strong>: Texte aus <strong>der</strong> VELKD Nr. 153/2010, S. 33.<br />

13 Ebd.<br />

38


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Die Feier des Gottesdienstes <strong>in</strong> den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

Elemente aus <strong>der</strong> altkirchlichen o<strong>der</strong> mittelalterlichen Tradition (z.B. Gregorianik, gesungene<br />

Psalmen und Gebete, Stolen und Gewän<strong>der</strong>), aber auch Kerzen und Symbole f<strong>in</strong>den wie<strong>der</strong><br />

Interesse und dies nicht nur im lutherischen, son<strong>der</strong>n auch im reformierten Bereich. In die<br />

Raumgestaltung werden Elemente verschiedener Epochen und verschiedener Traditionen e<strong>in</strong>bezogen<br />

(orthodoxe Ikonen). Die Aufnahme solcher Elemente muss sich aber auch immer wie<strong>der</strong><br />

gegen den Generalverdacht wehren, zu stark katholisierende Tendenzen <strong>in</strong> den evangelischen<br />

Gottesdienst e<strong>in</strong>zutragen 14 o<strong>der</strong> läuft Gefahr, mit dem Vorwurf, dass <strong>der</strong> Akzent auf <strong>der</strong><br />

Predigt durch e<strong>in</strong>en ästhetisch gestalteten Gottesdienst leiden könnte, abgelehnt zu werden.<br />

Das Ziel <strong>der</strong> Reformen liegt dar<strong>in</strong>, Menschen ganzheitlich mit allen S<strong>in</strong>nen anzusprechen, ohne<br />

die Wortkonzentration aufzugeben.<br />

5.3.3 Vere<strong>in</strong>heitlichung <strong>der</strong> liturgischen Prägung<br />

Schon kurz vor <strong>der</strong> Wende (Evangelische Kirche AB Siebenbürgen 1987), aber vor allem <strong>in</strong> den<br />

letzten zwanzig Jahren wurden <strong>in</strong> vielen Kirchen Reformen <strong>der</strong> Liturgie durchgeführt. E<strong>in</strong> großes<br />

Interesse lag <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>heitlichung <strong>der</strong> eigenen liturgischen Praxis, die <strong>in</strong> den Geme<strong>in</strong>den<br />

zum Teil sehr vielfältig geworden war.<br />

Bei den Liturgiereformen <strong>in</strong> den reformierten Kirchen spielt häufig e<strong>in</strong>e Rolle, dass <strong>der</strong> Gottesdienst<br />

wie<strong>der</strong> als Gesamtwerk betont wird, bei dem Lie<strong>der</strong> und Gebete nicht den Rahmen für die<br />

Verkündigung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Predigt abgeben, son<strong>der</strong>n wesentlicher Teil des Ganzen s<strong>in</strong>d. Sie aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

anzustimmen und aus den e<strong>in</strong>zelnen Teilen e<strong>in</strong> Ganzes werden zu lassen, erfor<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>e<br />

sorgfältige Vorbereitung und Abstimmung. Diese Reformen haben jedoch ke<strong>in</strong>en verb<strong>in</strong>dlichen<br />

Charakter, son<strong>der</strong>n verstehen sich als Anregungen und Materialsammlungen, die Hilfestellungen<br />

geben wollen, den Gottesdienst als E<strong>in</strong>heit zu verstehen und se<strong>in</strong>em Spannungsbogen<br />

Rechnung zu tragen.<br />

Der Gedanke <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>heitlichung <strong>der</strong> Liturgie <strong>in</strong> <strong>der</strong> eigenen Kirche ist auch leitend für die<br />

neuere Entwicklung liturgischer Reformen <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Kirchen, die Impulse aus Partnerkirchen für<br />

ihre Gottesdienstgestaltung aufgenommen haben. Beispiele dafür f<strong>in</strong>den wir <strong>in</strong> verschiedenen<br />

Regionen (Evangelisch-Lutherische Kirche <strong>in</strong> Italien; Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e). Aufgrund fehlen<strong>der</strong> eigener Traditionen und <strong>der</strong> Verbundenheit mit Deutschland<br />

war man <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e dankbar für Anregungen aus Deutschland, die kurz nach <strong>der</strong> Wende <strong>in</strong><br />

den Geme<strong>in</strong>den <strong>der</strong> Deutschstämmigen direkt übernommen werden konnten. Dabei standen<br />

Agenden aus verschiedenen Landeskirchen Deutschlands, aber auch aus Freikirchen gewis-<br />

14 Karoly Hafenscher, Evangelischer Gottesdienst – Liturgisches Buch, <strong>in</strong>: Texte aus <strong>der</strong> VELKD Nr. 153/2010, S. 37<br />

39


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Die Feier des Gottesdienstes <strong>in</strong> den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

sermaßen als Materialsammlung zur Verfügung, die <strong>der</strong> Verantwortliche vor Ort je nach eigener<br />

Prägung e<strong>in</strong>setzte. Das stärkere Zusammenwachsen <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Geme<strong>in</strong>degründungen zu<br />

e<strong>in</strong>er Gesamtkirche und die Notwendigkeit, landessprachliche Gottesdienste anzubieten (s.u.),<br />

führten zu e<strong>in</strong>er liturgischen Kommission, die im Gespräch mit <strong>der</strong> Pastorenkonferenz <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

die Agenden überarbeitete. Dabei entstand e<strong>in</strong>e Agende, die im gleichen Gottesdienst<br />

verschiedene liturgische Traditionen aus Deutschland, aus <strong>der</strong> ELKRAS und Entlehnungen aus<br />

an<strong>der</strong>en Konfessionen (Orthodoxie) nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>in</strong> Gebrauch nimmt. In Italien brachten die<br />

von <strong>der</strong> EKD entsandten Pfarrer<strong>in</strong>nen und Pfarrer die jeweilige Tradition ihrer Landeskirchen mit<br />

und prägten Geme<strong>in</strong>den. Mit E<strong>in</strong>führung des Evangelischen Gottesdienstbuches gelang <strong>in</strong> den<br />

italienischen Geme<strong>in</strong>den <strong>der</strong> ELKI e<strong>in</strong>e Vere<strong>in</strong>heitlichung.<br />

5.3.4 Sprache und Liturgie<br />

Viele <strong>der</strong> evangelischen Kirchen im Osten s<strong>in</strong>d aufgrund von Migrationsbewegungen o<strong>der</strong> durch<br />

die Verschiebungen von Staatsgrenzen als nationale M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitskirchen entstanden und haben<br />

selbstverständlich Liturgie und Agende <strong>in</strong> ihrer Sprache und Tradition weiter geführt. M<strong>in</strong>destens<br />

sieben Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe, sowie e<strong>in</strong>ige ungarischsprachige Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> <strong>der</strong> Slowakei<br />

sprechen e<strong>in</strong>e von <strong>der</strong> Landessprache abweichende Sprache im Gottesdienst. Die Isolation<br />

im fremdsprachigen Umfeld för<strong>der</strong>t dabei Abgrenzungs-, aber auch Bewahrungstendenzen. So<br />

erhalten sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konservierung <strong>der</strong> Sprache auch alte liturgische Traditionen, die im Ursprungsland<br />

schon abgelöst wurden.<br />

Der Übergang auf e<strong>in</strong>en Gottesdienst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Landessprache ist e<strong>in</strong> langer Prozess e<strong>in</strong>geleitet<br />

vor allem aus missionarischen Gesichtspunkten. Er beg<strong>in</strong>nt <strong>of</strong>t bei Kasualien, wo Gottesdienstbesucher<br />

<strong>der</strong> Gottesdienstsprache nicht mehr folgen können (Siebenbürgen). In <strong>der</strong> DELKU<br />

werden <strong>der</strong>zeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Geme<strong>in</strong>den alle Gottesdienste noch zweisprachig angeboten. Überwiegend<br />

f<strong>in</strong>den jedoch <strong>in</strong> Russland und <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e die Gottesdienste <strong>in</strong> <strong>der</strong> Landessprache<br />

statt. Mit e<strong>in</strong>em Generationenwechsel <strong>in</strong> <strong>der</strong> Pfarrerschaft gew<strong>in</strong>nt die Frage <strong>der</strong> Gottesdienstsprache<br />

noch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> eigenes Gewicht und e<strong>in</strong>e eigene Dynamik, da diese immer stärker <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Landessprache verwurzelt s<strong>in</strong>d. Im Karpatenbecken werden die Gottesdienste überwiegend<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten gehalten. Nur dort, wo die M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten zu kle<strong>in</strong> werden, setzt<br />

sich die Landessprache allmählich durch. Die Evangelisch-methodistische Kirche (EMK) <strong>in</strong> Serbien<br />

feiert ihre Gottesdienste <strong>in</strong> drei verschiedenen Sprachen: serbisch, slowakisch und ungarisch.<br />

Sprache und liturgische Formen s<strong>in</strong>d nicht losgelöst von den Inhalten, die sie vermitteln. Auf die<br />

Zusammenhänge zwischen Sprache und Kultur wurde bereits mehrfach h<strong>in</strong>gewiesen. Noch<br />

stärker gilt dies, wenn wie <strong>in</strong> den Waldensergeme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Italien fremdsprachige Migranten aus<br />

40


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Die Feier des Gottesdienstes <strong>in</strong> den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Kulturkreis und e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Frömmigkeitsprägung <strong>in</strong>tegriert werden sollen.<br />

Die Übernahme <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> Migranten und ihrer Liturgie bedeutet zugleich auch e<strong>in</strong>e Öffnung<br />

<strong>in</strong> diesem Fall für pentecostale Elemente, die den Gottesdienst verän<strong>der</strong>n und neue theologische<br />

E<strong>in</strong>sichten zu Grunde legen.<br />

Die neue Taschenagenda <strong>in</strong> den reformierten Kirchen <strong>der</strong> deutschsprachigen Schweiz hat auch<br />

die liturgische Sprache selbst überprüft. Sie verwendet konsequent e<strong>in</strong>e theologisch reflektierte,<br />

verdichtete und zeitgemäße Sprache.<br />

5.4 Gesang und Musik im evangelischen Gottesdienst<br />

5.4.1 Kirchenmusik – Klang des Evangeliums<br />

Ob Genfer Psalter o<strong>der</strong> lutherisches Glaubenslied o<strong>der</strong> methodistisches Liedgut - Kirchenmusik<br />

gehört für evangelische Christen aller Konfessionen zu Gottesdienst und ihrer Kirche dazu. Sie<br />

gehört zu den Kennzeichen des evangelischen Gottesdienstes <strong>in</strong> <strong>der</strong> Form des Geme<strong>in</strong>dechorals<br />

und <strong>der</strong> Orgelmusik und ist wesentlicher Bestandteil <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>dearbeit – rund e<strong>in</strong> Drittel<br />

aller <strong>in</strong> regelmäßigen Geme<strong>in</strong>degruppen Engagierten trifft sich <strong>in</strong> Bayern zum Zweck des S<strong>in</strong>gens<br />

und geme<strong>in</strong>samen Musizierens. 15 In Rumänien gehören Orgel und <strong>der</strong> evangelische Choral<br />

zu den konfessionellen Erkennungszeichen. Viel Wert legen deshalb die Kirchen auf die<br />

Pflege ihrer Kirchenlie<strong>der</strong>. In 14 von 15 Rückmeldungen aus den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

wird im Zusammenhang mit den Entwicklungen des Gottesdienstes auf die E<strong>in</strong>führung von neuen<br />

Lie<strong>der</strong>n und Gesangbuchrevisionen verwiesen. Kirchliche Chöre und Orgelkonzerte erreichen<br />

e<strong>in</strong>en großen Kreis von Interessierten.<br />

5.4.2 Der Geme<strong>in</strong>degesang im Gottesdienst<br />

Das geme<strong>in</strong>same S<strong>in</strong>gen gehört untrennbar zu den reformatorischen Traditionen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kirche<br />

und bleibt bis heute e<strong>in</strong> wichtiges Element <strong>der</strong> Integrierung und Aktivierung <strong>der</strong> Gottesdienstteilnehmer.<br />

Im Gesang <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de werden alle, die sonst am Gottesdienst hörend teilnehmen,<br />

zu e<strong>in</strong>er aktiven Mitgestaltung ermächtigt. S<strong>in</strong>gen ist e<strong>in</strong> Weg, Emotionalität im Gottesdienst zu<br />

<strong>in</strong>tegrieren. Wo das geme<strong>in</strong>same S<strong>in</strong>gen im Gottesdienst gel<strong>in</strong>gt, entsteht e<strong>in</strong>e ganzheitliche<br />

Erfahrung des Gottesdienstes und zugleich e<strong>in</strong>e spürbare und erlebbare Geme<strong>in</strong>schaft unter<br />

den Gottesdienstteilnehmern. E<strong>in</strong>übung, Leitung und Begleitung s<strong>in</strong>d allerd<strong>in</strong>gs zunehmend<br />

nötig, damit <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>degesang gel<strong>in</strong>gen kann. Üblicherweise geschieht dies durch e<strong>in</strong>en<br />

Organisten, <strong>der</strong> den Geme<strong>in</strong>degesang begleitet. Wo diese musikalische Leitung <strong>in</strong> den kle<strong>in</strong>en<br />

15 Michael Mart<strong>in</strong>, Hat <strong>der</strong> Mensch Töne – Die Bedeutung <strong>der</strong> Kirchenmusik für die Kirche, <strong>in</strong> Festschrift zum<br />

100jährigen Jubiläum des Verbandes Evangelischer Kirchenmusiker<strong>in</strong>nen und Kirchenmusiker <strong>in</strong> Bayern e.V., S. (1)<br />

41


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Die Feier des Gottesdienstes <strong>in</strong> den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

Diasporageme<strong>in</strong>den nicht möglich ist, fällt schnell diese Möglichkeit <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>debeteiligung<br />

weg. In den Siebenbürger Kle<strong>in</strong>stgeme<strong>in</strong>den ist die Kirche auf <strong>der</strong> Suche nach geeigneten Formen<br />

<strong>der</strong> Liturgie, weil e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>degesang zum Teil gar nicht möglich ist.<br />

In den Liedtexten formulieren die Geme<strong>in</strong>deglie<strong>der</strong> Lob und Klage, Bekenntnis und Glauben<br />

geme<strong>in</strong>sam und wie selbstverständlich, <strong>in</strong> Worten, die ansonsten nicht so leicht über die Lippen<br />

kommen. Zugleich tradiert sich Glauben <strong>in</strong> den Kirchenlie<strong>der</strong>n, die sich e<strong>in</strong>prägen und e<strong>in</strong>geprägt<br />

auch im Alltag gegenwärtig s<strong>in</strong>d. Er kommt auch außerhalb des Gottesdienstes zur Sprache,<br />

wo sich e<strong>in</strong>e Melodie festsetzt und gesungen werden will. So ist Musik e<strong>in</strong> donum dei, das<br />

Freude verbreitet und den Teufel vertreibt (Luther, Über die Musik, 1530)<br />

5.4.3 Das Liedgut <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>den<br />

In den Kirchen <strong>in</strong> Mittelosteuropa s<strong>in</strong>d viele Lie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Reformatoren präsent und <strong>in</strong> Gebrauch.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs gel<strong>in</strong>gt es nicht immer, dass das klassische Liedgut auch von den Jüngeren als ihre<br />

Lie<strong>der</strong> angeeignet und <strong>in</strong> den Alltag mitgenommen wird. Jüngere Pfarrer sehen – mit e<strong>in</strong>em<br />

großen Respekt vor <strong>der</strong> Tradition dieser kirchlichen Choräle – den Bedarf an neueren Lie<strong>der</strong>n<br />

mit e<strong>in</strong>gängigen Melodien.<br />

Hier setzen die meisten Gesangbuchrevisionen an und versuchen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Mischung aus traditionellen<br />

Chorälen und mo<strong>der</strong>neren christlichen Lie<strong>der</strong>n beiden Bedürfnissen gerecht zu werden.<br />

Taizelie<strong>der</strong>, aber auch Lie<strong>der</strong> pietistischer und charismatischer Prägung f<strong>in</strong>den E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> die<br />

neuen Gesangbücher. In den Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e zum Beispiel wurden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Geme<strong>in</strong>den<br />

durch K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendchöre mo<strong>der</strong>ne Lie<strong>der</strong> mit Gitarrenbegleitung regelmäßig <strong>in</strong><br />

den Hauptgottesdienst e<strong>in</strong>gebracht und haben sich <strong>in</strong>zwischen auch bei den älteren Gottesdienstbesuchern<br />

etabliert. Die Rezeption dieser neuen Lie<strong>der</strong> hängt jedoch stark ab von e<strong>in</strong>er<br />

aktiven H<strong>in</strong>führung und E<strong>in</strong>übung <strong>in</strong> diese Lie<strong>der</strong>.<br />

Beson<strong>der</strong>e Bedeutung kommt <strong>in</strong> mehrsprachigen Geme<strong>in</strong>den o<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>den mit Migranten<br />

Lie<strong>der</strong>n <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Sprachen zu. Im Gottesdienst <strong>der</strong> Waldenser werden sowohl traditionelle<br />

Choräle <strong>in</strong> verschiedenen Sprachen als auch eigene Lie<strong>der</strong> <strong>der</strong> ghanaischen M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit e<strong>in</strong>geübt<br />

und gesungen. Sie bilden e<strong>in</strong> wichtiges Element für die Beheimatung im Gottesdienst, setzen<br />

jedoch auch die Bereitschaft unter den E<strong>in</strong>heimischen voraus, auf e<strong>in</strong>en Teil ihrer Tradition<br />

zu verzichten.<br />

Mit diesen neuen Lie<strong>der</strong>n treten neben die Orgel auch neue Instrumente wie Gitarre o<strong>der</strong><br />

Trommeln. In Bayern gibt es <strong>in</strong> vielen Geme<strong>in</strong>den Posaunenchöre, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel zu Festgottesdiensten<br />

o<strong>der</strong> dort, wo ke<strong>in</strong>e Orgel verfügbar ist (Freiluftgottesdienste) Choräle begleiten.<br />

Nicht nur zu beson<strong>der</strong>en Festen, son<strong>der</strong>n als fester Bestandteil geben afrikanische Perkussion-<br />

42


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Die Feier des Gottesdienstes <strong>in</strong> den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

Instrumente den Integrationsgottesdiensten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Waldensergeme<strong>in</strong>den e<strong>in</strong>e eigene Prägung.<br />

Das Gesangbuch Colors <strong>of</strong> Grace <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft Evangelischer Kirchen <strong>in</strong> Europa wird <strong>in</strong><br />

den Geme<strong>in</strong>den häufiger e<strong>in</strong>gesetzt, die mehrsprachig arbeiten. Geme<strong>in</strong>same mehrsprachige<br />

Gesangbücher s<strong>in</strong>d aber auch z.B. <strong>in</strong> den lutherischen Kirchen <strong>in</strong> Tschechien und Polen sowie<br />

<strong>in</strong> Siebenbürgen entstanden.<br />

5.4.4 Chorarbeit und Konzerte - Kulturevent o<strong>der</strong> missionarische Gelegenheit?<br />

In vielen Kirchen s<strong>in</strong>d Chöre fester Bestandteil des Geme<strong>in</strong>delebens. Dabei hat <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>eren<br />

Geme<strong>in</strong>den <strong>der</strong> Aspekt <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft <strong>of</strong>t Vorrang vor hohen Qualitätsansprüchen an den<br />

Gesang. Viele <strong>der</strong> traditionellen Chöre s<strong>in</strong>d kle<strong>in</strong> geworden, haben e<strong>in</strong>en hohen Altersdurchschnitt<br />

und beschränken ihre Auftritte auf den Gottesdienst. Dagegen haben Projektchöre –<br />

Chöre auf <strong>Zeit</strong> – regen Zulauf von jüngeren Stimmen. Dasselbe gilt für Gospelchöre, welche vor<br />

allem das Alterssegment 35-55 ansprechen. Konzerte solcher Chöre <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kirche haben Anziehungskraft<br />

weit über die Geme<strong>in</strong>de h<strong>in</strong>aus.<br />

Für viele Kirchen Mittelosteuropas s<strong>in</strong>d solche Konzerte missionarische Gelegenheiten. Sie<br />

werden vom Pfarrer e<strong>in</strong>geführt mit e<strong>in</strong>er Begrüßung o<strong>der</strong> Andacht und mit Gebet und Segen<br />

beendet. An<strong>der</strong>e Kirchen wollen Kulturveranstaltung und Geme<strong>in</strong>deveranstaltung strickt trennen,<br />

doch auch durch e<strong>in</strong>e „Kulturveranstaltung“ wirbt <strong>der</strong> Chor <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de für die Geme<strong>in</strong>de.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> den größeren Städten haben die Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong>zwischen die große Chance<br />

<strong>der</strong> Kirchenmusik erkannt. Sie kann dazu dienen, die Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> ihrer Umgebung bekannt zu<br />

machen und verhilft durch Konzerte zu Spenden und E<strong>in</strong>nahmen für die Geme<strong>in</strong>de. Für die Hörer<br />

<strong>der</strong> Konzerte s<strong>in</strong>d diese durch die gesungenen Inhalte Verkündigung, z.B. <strong>in</strong> den großen<br />

Passionen. Nicht wenigen Zuhörern erschließt sich Glauben, <strong>in</strong>dem sie die Passionen hören.<br />

5.4.5 Ausbildung und Qualitätssicherung für die Kirchenmusik<br />

Als nicht unwesentlich stellt sich die Qualitätsfrage bei ehrenamtlichen, nicht ausgebildeten Kirchenmusikern<br />

dar, vor allem wenn Musik als missionarische Chance verstanden wird, wie dies<br />

etwa aus Polen berichtet wird. Musik führt Menschen <strong>in</strong> die Kirchen und Geme<strong>in</strong>den, die sonst<br />

seltener den Weg dorth<strong>in</strong> f<strong>in</strong>den. Die Kirchen <strong>der</strong> Waldenser und Methodisten <strong>in</strong> Italien f<strong>in</strong>anzieren<br />

darum die musikalische Ausbildung <strong>der</strong> Organisten und planen darüber h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>e Schule<br />

für „musical facilitators“, um e<strong>in</strong> höheres Niveau des liturgischen Mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong>s von Kirchenmusikern<br />

und Pfarrern zu erreichen. Noch kle<strong>in</strong>ere Kirchen <strong>in</strong> Serbien o<strong>der</strong> Russland s<strong>in</strong>d auf musikalische<br />

Talente <strong>in</strong> den Geme<strong>in</strong>den angewiesen, die ihre Qualifikation sich selbst angeeignet<br />

haben.<br />

43


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Die Feier des Gottesdienstes <strong>in</strong> den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

Die Sicherung <strong>der</strong> Qualität <strong>der</strong> – vor allem durch nebenamtlichen KirchenmusikerInnen ausgeübten<br />

- kirchenmusikalischen Tätigkeit fällt <strong>in</strong> Ungarn <strong>in</strong> die Zuständigkeit e<strong>in</strong>er von <strong>der</strong> Evangelisch-Lutherischen<br />

Kirche getragenen zentralen Institution. So kann die Ausbildung unmittelbare<br />

Auswirkung auf die kirchenmusikalische Arbeit auf <strong>der</strong> Basis haben.<br />

In e<strong>in</strong>igen Schweizer Landeskirchen wird „populäre“ Musik <strong>in</strong> eigens dafür geschaffenen kirchenmusikalischen<br />

Ausbildungsgängen gezielt geför<strong>der</strong>t.<br />

5.5 Zur Ästhetik des Gottesdienstes: <strong>Zeit</strong> und Raum<br />

Nach evangelischem Verständnis gibt es ke<strong>in</strong>e heiligen Räume und ke<strong>in</strong>e heiligen <strong>Zeit</strong>en. Dennoch<br />

ist die Feier des Gottesdienstes nicht beliebig, auch nicht, wenn es um <strong>Zeit</strong> und Raum des<br />

Gottesdienstes geht. So mögen die <strong>Zeit</strong> des Gottesdienstes und die Dauer sich nach den örtlichen<br />

Voraussetzungen und Möglichkeiten richten. Auch mag <strong>der</strong> Gottesdienst <strong>in</strong> den Diasporakirchen<br />

e<strong>in</strong>en höheren Stellenwert und prozentual mehr Besucher als <strong>in</strong> deutschen Geme<strong>in</strong>den -<br />

er ist häufig auch etwas länger, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e dort, wo mehrsprachig gearbeitet wird. Der Sonntagsgottesdienst<br />

ist als Grundform des Gottesdienstes unbestritten – und damit ist auch die Verteidigung<br />

des Sonntags als arbeitsfreie <strong>Zeit</strong> verbunden und verständlich. Wie die <strong>Zeit</strong>, so ist<br />

auch <strong>der</strong> Raum nicht irrelevant. Dies zeigt sich etwa <strong>in</strong> den großen Anstrengungen, die Kirchen<br />

<strong>in</strong> Bau und Unterhalt „ihrer“ Kirchgebäude aufwänden, o<strong>der</strong> im Bemühen, den Gottesdienstraum<br />

zu gestalten, mehr als funktional, nicht selten festlich. Raum und <strong>Zeit</strong> für Gottesdienst stehen,<br />

so legt es sich nahe, gerade nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> freien Verfügbarkeit. Die Verb<strong>in</strong>dlichkeit erwächst aber<br />

nicht e<strong>in</strong>fach aus <strong>der</strong> Tradition, son<strong>der</strong>n aus dem Gottesdienstgeschehen selber. Dieses<br />

braucht Raum und <strong>Zeit</strong>, braucht e<strong>in</strong>e Gestaltung <strong>in</strong> Raum und <strong>Zeit</strong>, e<strong>in</strong>e ästhetische Gestaltung,<br />

die dem <strong>in</strong>neren Ereignis entspricht. Dabei können wesentliche Elemente aus dem Kulturbereich<br />

(Dramaturgie und Inszenierung, Rhetorik und Rollenverständnis, Präsenz und<br />

Perfomance) als Mittel <strong>der</strong> Gottesdienstgestaltung übernommen werden. Gottesdienst als e<strong>in</strong>e<br />

Feier mit Botschaft ist e<strong>in</strong> kommunikatives Geschehen mit eigener geistlicher Logik und Dynamik,<br />

aber <strong>der</strong> Seitenblick auf die im Kulturbereich geltenden Kriterien kann dazu verhelfen, diese<br />

Logik und Dynamik besser wahrzunehmen und verantwortlich zu gestalten. Es spricht viel dafür,<br />

dass e<strong>in</strong>e Kirche, <strong>in</strong> <strong>der</strong> vom Licht die Rede ist, <strong>in</strong> <strong>der</strong> das Licht leuchten soll, auch auf die Lichtund<br />

Illum<strong>in</strong>ationsverhältnisse achtet. Und es spricht nichts dagegen, dass e<strong>in</strong>e Kirche des Wortes<br />

auch darauf achtet, dass das Wort auch rhetorisch geübt und akustisch verständlich Raum<br />

gew<strong>in</strong>nt und so sich Gehör verschafft.<br />

44


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Die Feier des Gottesdienstes <strong>in</strong> den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

5.6 Leitung und Beteiligung<br />

Viele Kirchen beschreiben den Gottesdienst <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Geme<strong>in</strong>den als „E<strong>in</strong>-Mann<br />

Show“, <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>der</strong> Pfarrer alle<strong>in</strong> agiert und bedauern dies zugleich. Die aktive Beteiligung <strong>der</strong><br />

Geme<strong>in</strong>de gehört zu den Kennzeichen e<strong>in</strong>es evangelischen Gottesdienstes. Sie lässt sich jedoch<br />

nur da praktizieren, wo die Gottesdienstbesucher mit <strong>der</strong> Liturgie vertraut s<strong>in</strong>d.<br />

Verstärkte Geme<strong>in</strong>debeteiligung bedeutet für Gottesdienste auch e<strong>in</strong>e Beteiligung von Laien an<br />

Lesungen, Gebeten und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Leitung des Gottesdienstes. Lektoren und Prädikanten übernehmen<br />

<strong>in</strong> vielen Kirchen im Gottesdienst Leitungsaufgaben haben zum Teil auch die Beauftragung<br />

zur Sakramentsverwaltung. Verwirrend s<strong>in</strong>d dabei die unterschiedlichen Regelungen und<br />

Bezeichnungen. E<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Regelung für die Leitungsaufgaben von Laien im Gottesdienst<br />

könnte Irritationen <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>den und im Blick auf die ökumenischen Partner<br />

vermeiden.<br />

Die Evangelische Kirche A.B. <strong>in</strong> Österreich betont aus ihrer historischen Erfahrung des „Geheimprotestantismus“<br />

heraus die gleichberechtigte Rolle von „Laien“ neben den theologisch<br />

ausgebildeten Pfarrer<strong>in</strong>nen und Pfarrern. Die nach wie vor ausgeprägte Diasporasituation, <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>de <strong>of</strong>t weit verstreute Predigtstationen zu betreuen s<strong>in</strong>d, macht den E<strong>in</strong>satz<br />

von Lektor<strong>in</strong>nen und Lektoren erfor<strong>der</strong>lich. Die Reichweite ihrer Beauftragung ist unterschiedlich.<br />

Teilweise verlesen sie nicht e<strong>in</strong>fach die ihnen zur Verfügung gestellten Predigten, son<strong>der</strong>n<br />

s<strong>in</strong>d autorisiert, selbst Predigten zu verfassen und sogar die Abendmahlsfeier zu leiten.<br />

In Russland waren aufgrund <strong>der</strong> Verfolgung <strong>der</strong> Kirchen und <strong>der</strong> Liquidierung von vielen hauptamtlichen<br />

Geme<strong>in</strong>den lange <strong>Zeit</strong> auf die Leitung durch Laienbrü<strong>der</strong> und -schwestern angewiesen.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs wurde dies immer als Notordnung empfunden, solange die Leitung durch e<strong>in</strong>en<br />

Pfarrer nicht möglich war. Auch heute leiten <strong>in</strong> zahlreichen Geme<strong>in</strong>den Lektoren und Prädikanten<br />

den Gottesdienst. Abendmahl kann jedoch nur gefeiert werden, wenn e<strong>in</strong> ord<strong>in</strong>ierter Pfarrer<br />

anreist.<br />

An <strong>der</strong> Gestaltung beteiligt und zum Gel<strong>in</strong>gen des Gottesdienstes tragen aber auch entscheidend<br />

bei die Kirchenmusiker<strong>in</strong>nen, Mesner<strong>in</strong>nen und Mesner, Abendmahlshelfer<strong>in</strong>nen und<br />

Abendmahlshelfer, Personen, die Abkündigungen verlesen o<strong>der</strong> Gebete sprechen. Gelegentlich<br />

gibt es auch für den Sonntagsgottesdienst e<strong>in</strong> Gottesdienst-Team, das diesen geme<strong>in</strong>sam verantwortet.<br />

5.7 Das Geme<strong>in</strong>same wächst. Zusammenfassung<br />

Die Betrachtung <strong>der</strong> verschiedenen Aspekte des Gottesdienstes zeigt e<strong>in</strong>erseits, dass Unterschiede<br />

<strong>in</strong> den Kontexten die Praxis weit stärker prägen als verschiedene Konfessionen, ande-<br />

45


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Die Feier des Gottesdienstes <strong>in</strong> den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

rerseits wird bei e<strong>in</strong>em Blick auf die Entwicklung und Verän<strong>der</strong>ung deutlich, dass sich Gottesdienste<br />

<strong>in</strong> Mittelosteuropa und Kirchen <strong>in</strong> Deutschland, <strong>der</strong> Schweiz o<strong>der</strong> Österreich e<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

annähern. Ohne die nötigen Differenzierungen zu vernachlässigen stellt die Regionalgruppe<br />

doch fest, dass <strong>in</strong> Liturgiereformen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Leitung des Gottesdienstes und <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Handhabung des Abendmahls, bei den Tendenzen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kirchenmusik und <strong>in</strong> den Ordnungen<br />

<strong>der</strong> biblischen Lesungen eher die Geme<strong>in</strong>samkeiten überwiegen und sich Kirchen <strong>in</strong> Ost und<br />

West aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu bewegen. In den deutschsprachigen Kirchen setzt sich die E<strong>in</strong>sicht durch,<br />

dass nach Jahren <strong>der</strong> Erprobung von freien Hauptgottesdiensten die Teilnehmenden mehr Sicherheit<br />

durch bekannte Abläufe und Worte haben möchten. In den Kirchen <strong>in</strong> Mittelosteuropa<br />

wächst gleichzeitig e<strong>in</strong> Bedürfnis nach Vere<strong>in</strong>heitlichung <strong>der</strong> Gottesdienste <strong>der</strong> eigenen Kirche.<br />

Es wird allerd<strong>in</strong>gs bei dieser Betrachtung auch deutlich, dass die unterschiedlichen Situationen<br />

<strong>der</strong> Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe sich nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Gottesdienstordnung zusammenführen<br />

lassen. Auch die Gottesdienste <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> GEKE leben aus dem Grundsatz <strong>der</strong><br />

versöhnten Verschiedenheit. E<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same GEKE-Liturgie würde <strong>der</strong> Vielfalt <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong><br />

Mitgliedskirchen nicht gerecht. Vielmehr entspricht es dem Wesen <strong>der</strong> GEKE, das Gottesdienste<br />

e<strong>in</strong>e Vielfalt an Gestaltungsmöglichkeiten haben und gleichzeitig von allen Mitgliedskirchen anerkannt<br />

s<strong>in</strong>d und mitgefeiert werden können.<br />

46


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Neue Gottesdienste für e<strong>in</strong>e sich verän<strong>der</strong>nde Gesellschaft<br />

6 Neue Gottesdienste für e<strong>in</strong>e sich verän<strong>der</strong>nde Gesellschaft<br />

Kirchen <strong>in</strong> Deutschland und im deutschsprachigen Raum suchten seit Jahrzehnten verstärkt<br />

Antworten auf die zurückgehenden Besucherzahlen bei den Sonntagsgottesdiensten. Entwickelt<br />

wurden dabei etwa Gottesdienste, die stärker an e<strong>in</strong>e bestimmte Zielgruppe angepasst o<strong>der</strong> zu<br />

an<strong>der</strong>en <strong>Zeit</strong>en angeboten werden. Zudem sollten kle<strong>in</strong>e gottesdienstliche Formen die kle<strong>in</strong>er<br />

werdenden Freiräume im Lebensrhythmus nutzen und den Menschen durch Kasualien Lebensbegleitung<br />

angeboten werden. Wichtiger geworden s<strong>in</strong>d aber auch Gottesdienste zu öffentlichen<br />

o<strong>der</strong> gesellschaftlichen Anlässen, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e bei Katastrophen und Unglücken. Diese for<strong>der</strong>n<br />

heraus, die ganze Gesellschaft e<strong>in</strong>zubeziehen und stellen die Frage nach ökumenischer o<strong>der</strong><br />

multireligiöser Zusammenarbeit.<br />

Solche Gottesdienste waren unter <strong>der</strong> kommunistischen Herrschaft für die Kirchen <strong>in</strong> Mittelosteuropa<br />

nicht möglich. Heute allerd<strong>in</strong>gs haben Kirchen e<strong>in</strong>e neue Rolle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft und<br />

müssen mit Anfragen für Gottesdienste <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft umgehen. Auch Gottesdienste für<br />

bestimmte Zielgruppen werden angeboten, wo die personellen Ressourcen ausreichen. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

bieten sich für neue Gottesdienstformen, die dem gesellschaftlichen Wandel Rechnung<br />

tragen, <strong>in</strong> den kle<strong>in</strong>en M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitskirchen deutlich weniger Möglichkeiten als <strong>in</strong> den westlichen<br />

Kirchen.<br />

6.1 Alternative Gottesdienste<br />

Während die Besucherzahlen bei den sonntäglichen Gottesdiensten für die ganze Geme<strong>in</strong>de<br />

s<strong>in</strong>ken, nehmen alternative Gottesdienstangebote (zweites Gottesdienstprogramm) immer noch<br />

zu. Die Ausprägungen, Formen, <strong>der</strong> Charakter und ihre Verankerung <strong>in</strong> den Geme<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d<br />

sehr unterschiedlich und kaum umfassend darzustellen und zu gewichten. Für Deutschland<br />

lässt sich die Tendenz feststellen, dass sich sowohl Gottesdienstformen, die aus e<strong>in</strong>em politisch-ethischen<br />

Interesse entstanden s<strong>in</strong>d (politisches Nachtgebet), als auch solche, die aus <strong>der</strong><br />

Wie<strong>der</strong>entdeckung des Festlichen (Feierabendmahl) sich entwickelt haben, etabliert s<strong>in</strong>d. Angebote<br />

für bestimmte Zielgruppen (K<strong>in</strong><strong>der</strong>, Jugendliche, Frauen, Berufsgruppen, Motorradfahrer,<br />

etc.) gehören vielfach zum festen Geme<strong>in</strong>deprogramm. Der neue Schwung bei den alternativen<br />

Gottesdiensten speist sich aber heute eher aus Angeboten zu bestimmten Frömmigkeitsstilen<br />

(Lobpreisgottesdienste), Aufbruchbewegungen (Willow Creek, Thomasmesse) o<strong>der</strong> spirituellen<br />

Angeboten, die gerne auch aus an<strong>der</strong>en Konfessionen übernommen werden (Taizéandachten).<br />

Diese Gottesdienste pflegen eigene Musikstile und benötigen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel ke<strong>in</strong>e Orgel. Initiatoren<br />

dieser Gottesdienste kommen <strong>of</strong>t aus e<strong>in</strong>er Gruppe <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de, die neue Formen anregen,<br />

weil sie mit dem Sonntagsvormittagsgottesdienst unzufrieden s<strong>in</strong>d. Oft wird mit diesen<br />

47


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Neue Gottesdienste für e<strong>in</strong>e sich verän<strong>der</strong>nde Gesellschaft<br />

neuen Formen e<strong>in</strong> missionarisches Interesse verbunden; Jugendliche o<strong>der</strong> Kirchenferne sollen<br />

<strong>in</strong> den alternativen Gottesdiensten Angebote f<strong>in</strong>den, die ihnen besser entsprechen als <strong>der</strong> Sonntagvormittagsgottesdienst.<br />

In <strong>der</strong> Mehrzahl unterstützen die Pfarrer<strong>in</strong>nen und Pfarrer diese Initiativen.<br />

Alternative Gottesdienste f<strong>in</strong>den <strong>of</strong>t an e<strong>in</strong>em Abend am Wochenende statt (Freitag o<strong>der</strong><br />

Sonntag), dabei jedoch meist nicht wöchentlich, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>mal im Monat o<strong>der</strong> <strong>in</strong> noch größeren<br />

Abständen.<br />

Kennzeichen <strong>der</strong> alternativen Gottesdienste ist die Leitung durch e<strong>in</strong> Team, das nicht durch den<br />

Pfarrer o<strong>der</strong> die Pfarrer<strong>in</strong> dom<strong>in</strong>iert wird. E<strong>in</strong> großes Interesse, sich selbst aktiv an <strong>der</strong> Gestaltung<br />

<strong>der</strong> Gottesdienste zu beteiligen, prägt diese Engagierten. Sie kommen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mehrzahl aus<br />

<strong>der</strong> Kerngeme<strong>in</strong>de. E<strong>in</strong>e Studie <strong>in</strong> Bayern stellt fest, dass sich für alternative Gottesdienste vor<br />

allem bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de Beheimatete gew<strong>in</strong>nen lassen. 16 Für Kirchenferne ist die Schwelle<br />

hoch, da die alternativen Gottesdienste die Geme<strong>in</strong>de weit stärker beteiligen wollen, beispielsweise<br />

durch das Aufschreiben und Vortragen von Fürbitten. An<strong>der</strong>s als beim traditionellen<br />

Gottesdienst ist für Kirchenferne <strong>of</strong>t nicht deutlich, was von ihnen erwartet wird. So dienen alternative<br />

Gottesdienste eher dazu, den Glauben und Frömmigkeitsstil bestimmter Gruppen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Geme<strong>in</strong>de Raum zu geben. Sie veranschaulichen und verlebendigen damit das Geme<strong>in</strong>deleben,<br />

f<strong>in</strong>den <strong>of</strong>t über die Geme<strong>in</strong>de h<strong>in</strong>aus regionale Beachtung und können so Geme<strong>in</strong>den verb<strong>in</strong>den.<br />

Doch stellen sie <strong>in</strong> ihrer Fokussierung auf e<strong>in</strong> Thema, e<strong>in</strong>en Stil o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Zielgruppe<br />

strukturell ke<strong>in</strong>e Alternative zum Sonntagvormittagsgottesdienst dar, auch wenn sie bisweilen<br />

diesen Anspruch an sich selbst haben.<br />

In den Kirchen im Karpatenbecken und den M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitskirchen <strong>in</strong> Mittelosteuropa werden als<br />

alternative Gottesdienste beson<strong>der</strong>s gestaltete Festgottesdienste an den kirchlichen Hochfesten,<br />

zu Erntedank o<strong>der</strong> zur Konfirmation, und vor allem Zielgruppengottesdienste z.B. für Jugendliche<br />

und Familien angeboten. Der Weltgebetstag <strong>der</strong> Frauen ist weit verbreitet. Vere<strong>in</strong>zelt<br />

werden an<strong>der</strong>e Formen wie Taizeandachten o<strong>der</strong> Thomasmesse gefeiert. Es fällt jedoch auf,<br />

dass verschiedene Frömmigkeitsstile noch kaum eigene alternative Gottesdienste <strong>in</strong>itiiert haben.<br />

Gründe dafür liegen sicher <strong>in</strong> <strong>der</strong> stärkeren Diasporasituation vieler Geme<strong>in</strong>den und ihrer<br />

ger<strong>in</strong>gen Größe. Wo Pfarrer<strong>in</strong>nen und Pfarrer Mühe haben, die regelmäßigen Sonntagsgottesdienste<br />

durchzuführen, gibt es kaum Möglichkeiten für alternative Programme. Zwar könnten<br />

alternative Gottesdienste <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vorbereitung von Teams die Aufgaben auf mehrere Schultern<br />

verteilen, doch <strong>der</strong> Pfarrer o<strong>der</strong> die Pfarrer<strong>in</strong> müssen sie begleiten und s<strong>in</strong>d <strong>of</strong>t auch mit dabei.<br />

In <strong>der</strong> Diaspora – nicht nur <strong>in</strong> Mittelosteuropa – ist für e<strong>in</strong>e solche zusätzliche Aufgabe weniger<br />

16 Hanns Kerner, Der Gottesdienst, Wahrnehmungen aus e<strong>in</strong>er neuen empirischen Untersuchung unter evangelisch<br />

Getauften <strong>in</strong> Bayern, hg. Gottesdienst<strong>in</strong>stitut <strong>der</strong> Evang.-Luth. Kirche <strong>in</strong> Bayern, S 18f<br />

48


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Neue Gottesdienste für e<strong>in</strong>e sich verän<strong>der</strong>nde Gesellschaft<br />

Spielraum. Zum An<strong>der</strong>en haben die Kirchen <strong>in</strong> Mittelosteuropa erst vor gut zwei Jahrzehnten<br />

begonnen, ihre Gottesdienste <strong>in</strong> Freiheit zu halten. Wie beschrieben wurden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mehrzahl <strong>der</strong><br />

Kirchen Liturgiereformen und Gesangbuchreformen durchgeführt. Die Abwan<strong>der</strong>ung aus dem<br />

Hauptgottesdienst ist nicht so stark spürbar wie im Westen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass<br />

gerade unter den nationalen M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten das Leben <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tradition höheren Stellenwert besitzt.<br />

E<strong>in</strong> Kennzeichen evangelischer Frömmigkeit ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitensituation die traditionelle<br />

Feier des Gottesdienstes. Neue Formen können das eigene Selbstbewusstse<strong>in</strong> nicht <strong>in</strong> gleicher<br />

Weise ausdrücken.<br />

Zum Teil bilden sich über die <strong>in</strong>ternationalen Geme<strong>in</strong>den alternative Gottesdienstformen heraus.<br />

In ihnen steht die Geme<strong>in</strong>schaft Gleichges<strong>in</strong>nter im Vor<strong>der</strong>grund. Unterschiedliche Gottesdienstformen<br />

sprechen wie bei <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Geme<strong>in</strong>de <strong>der</strong> Methodisten <strong>in</strong> Wien viele Besucher<br />

an lassen an fremden Traditionen teilhaben.<br />

In den Rückmeldungen aus den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe wird jedoch auch deutlich, dass<br />

Wege gesucht werden, die Dom<strong>in</strong>anz des Pfarrers im Gottesdienst abzubauen und die Geme<strong>in</strong>de<br />

bei <strong>der</strong> Gestaltung aktiver mit e<strong>in</strong>zubeziehen, neue Lie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zuführen und die Geme<strong>in</strong>schaft<br />

zu stärken. Diese Grundanliegen <strong>der</strong> alternativen Gottesdienste lassen sich <strong>in</strong> Mittelosteuropa<br />

<strong>of</strong>fensichtlich auch im Sonntagsgottesdienst umsetzen und nehmen den Druck zur<br />

Gründung alternativer Gottesdienste.<br />

6.2 Kle<strong>in</strong>e gottesdienstliche Formen<br />

In den verän<strong>der</strong>ten Lebensrhythmen gew<strong>in</strong>nen kurze gottesdienstliche Formen an Bedeutung.<br />

Innenstadtgeme<strong>in</strong>den stellen sich darauf e<strong>in</strong>, dass Besucher zufällig und für kurze <strong>Zeit</strong> <strong>in</strong> die<br />

Kirchen kommen. Für sie werden Mittagsgebete und Abendandachten, nicht länger als 15 M<strong>in</strong>uten,<br />

angeboten. Passanten werden durch Plakate o<strong>der</strong> durch das Glockengeläut e<strong>in</strong>geladen. Es<br />

ist ke<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dlichkeit vorausgesetzt. Doch werden <strong>in</strong> diesen kurzen Formen Menschen erreicht,<br />

die nicht zu den regelmäßigen Gottesdienstbesuchern gehören. Solche Andachten und<br />

Gebete reagieren auf das Bedürfnis nach Spiritualität, stellen jedoch nicht nur e<strong>in</strong>en Raum zur<br />

Verfügung, <strong>in</strong> dem Spiritualität erfahren werden kann (<strong>of</strong>fene Kirchen), son<strong>der</strong>n bieten e<strong>in</strong>en<br />

kurzen <strong>in</strong>haltlichen Impuls und lenken so die spirituelle Erfahrung.<br />

In Mittelosteuropa f<strong>in</strong>det man auch <strong>of</strong>fene Kirchen, die zum E<strong>in</strong>treten e<strong>in</strong>laden und <strong>in</strong> denen<br />

viele spirituelle Angebote stattf<strong>in</strong>den. Die Zielgruppen sche<strong>in</strong>en dabei noch stärker mit <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />

verbunden zu se<strong>in</strong> und die Besucher br<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel mehr <strong>Zeit</strong> mit. So begegnet<br />

man eher Formen von Wochengottesdiensten als flüchtigen Passantengeme<strong>in</strong>den.<br />

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<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Neue Gottesdienste für e<strong>in</strong>e sich verän<strong>der</strong>nde Gesellschaft<br />

6.3 Gottesdienste im Lebenslauf<br />

6.3.1 Kasualien als missionarische Gelegenheit<br />

Mit Taufe, Konfirmation, Trauung und Beerdigung ist Kirche präsent <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>en Schwellensituationen<br />

im Lebenslauf. Diese Kasualien werden auch gesucht von den Geme<strong>in</strong>deglie<strong>der</strong>n,<br />

die den Gottesdienst nicht besuchen. Kirchen <strong>in</strong> Mittelosteuropa berichten davon, dass sie <strong>in</strong><br />

ihren Agenden diesen Aufgaben nun beson<strong>der</strong>e Aufmerksamkeit widmen (Polen). Die persönliche<br />

Situation soll im Gottesdienst aufgenommen und angesprochen werden (Rumänien). Insbeson<strong>der</strong>e<br />

bei Kasualgottesdiensten öffnen sich Kirchen nationaler M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten für Mehrsprachigkeit<br />

o<strong>der</strong> Gottesdienste <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mehrheitssprache. Der missionarische Charakter von Kasualien,<br />

zu denen <strong>of</strong>t viele Nichtgeme<strong>in</strong>deglie<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Kirchenferne erreicht werden, wird als wichtige<br />

Chance des Geme<strong>in</strong>deaufbaus gesehen.<br />

6.3.2 E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung von Kasualien <strong>in</strong> die Geme<strong>in</strong>de<br />

Zugleich geschieht e<strong>in</strong>e Rückb<strong>in</strong>dung von Kasualien an den Hauptgottesdienst. Taufen werden<br />

wie<strong>der</strong> stärker <strong>in</strong> den Hauptgottesdienst <strong>in</strong>tegriert, wo die ganze Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> die Feier e<strong>in</strong>bezogen<br />

ist und die Aufnahme <strong>in</strong> die Geme<strong>in</strong>de im Mittelpunkt steht. Trauungen und Beerdigungen<br />

werden über die Fürbitten im Bewusstse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de verankert. In den kle<strong>in</strong>en Geme<strong>in</strong>den<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e stehen bei <strong>der</strong> Trauerarbeit von <strong>der</strong> Aussegnung und <strong>der</strong> Nachtwache<br />

am Sarg bis zur Beerdigung e<strong>in</strong> großer Teil <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de den trauernden Angehörigen zur Seite,<br />

und auch die – wenigen – Hochzeiten werden unter großer Beteiligung <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de gefeiert.<br />

6.3.3 Nachholende Kasualarbeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> ehemaligen Sowjetunion<br />

Hier wie <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en sozialistischen Län<strong>der</strong>n ist immer noch <strong>der</strong> Bedarf nachholen<strong>der</strong><br />

Kasualarbeit zu spüren. Gelegentlich werden Erwachsene, die als K<strong>in</strong><strong>der</strong> nicht getauft waren, <strong>in</strong><br />

die Geme<strong>in</strong>de aufgenommen und unter großer Anteilnahme <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de getauft. Während<br />

aber im russischen Raum unter Deutschstämmigen Taufen selbst <strong>in</strong> den Verfolgungszeiten<br />

meist heimlich von älteren Frauen (Männer als Führungspersönlichkeiten <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>den waren<br />

deportiert) durchgeführt worden waren, bzw. seit Ende <strong>der</strong> 70er Jahre auch von Evangelischen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> orthodoxen Kirche erbeten wurden, gab es die Möglichkeit für Konfirmandenunterricht und<br />

Konfirmationen erst <strong>in</strong> den letzten zwanzig Jahren. In Konfirmandengruppen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e und<br />

Russland f<strong>in</strong>det man bis heute zahlreiche erwachsene Geme<strong>in</strong>deglie<strong>der</strong>. Konfirmationen bilden<br />

<strong>of</strong>t auch beson<strong>der</strong>e Festgottesdienste, an denen evangelisches Pr<strong>of</strong>il <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>den deutlich<br />

wird und an denen die Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>en Maß Anteil nimmt.<br />

50


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Neue Gottesdienste für e<strong>in</strong>e sich verän<strong>der</strong>nde Gesellschaft<br />

Da <strong>in</strong> <strong>der</strong> kommunistischen <strong>Zeit</strong> kirchliche Trauungen kaum möglich waren, bitten Eheleute aus<br />

<strong>der</strong> Kerngeme<strong>in</strong>de – meist im Zusammenhang e<strong>in</strong>es Hochzeitsjubiläums – um e<strong>in</strong>e „nachträgliche“<br />

kirchliche Trauung und Segnung. Auch diese beson<strong>der</strong>en Feste f<strong>in</strong>den weniger im familiären<br />

Kreis als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de statt.<br />

6.3.4 E<strong>in</strong>beziehung des E<strong>in</strong>zelnen<br />

Die Kasualfeier ist e<strong>in</strong>gebettet <strong>in</strong> seelsorgerliche Gespräche, die auf die <strong>in</strong>dividuelle Situation<br />

e<strong>in</strong>gehen und diese für den Gottesdienst erschließen wollen. Sie machen die Kasualbegleitung<br />

anspruchsvoller und zeit<strong>in</strong>tensiver, helfen aber auch, dass Menschen <strong>in</strong> Schwellensituationen<br />

persönlich erreicht werden.<br />

Individualisierung und Eventkultur verän<strong>der</strong>n vor allem <strong>in</strong> den westlichen Kirchen die klassischen<br />

Kasualien – etwa dort, wo Familien immer häufiger mit beson<strong>der</strong>en Gestaltungswünschen<br />

(<strong>in</strong> Bezug auf den Ort <strong>der</strong> Feier wie auch im Blick auf Texte, Lie<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Ritualen, beson<strong>der</strong>s<br />

bei Hochzeiten) an die Geme<strong>in</strong>de herantreten. Im Interesse, den Gottesdienst als Lebensbegleitung<br />

nahe an den Menschen zu gestalten, muss jeweils abgewogen werden, <strong>in</strong>wieweit<br />

solche Wünsche mit dem Anliegen des Gottesdienstes vere<strong>in</strong>bar s<strong>in</strong>d. Dies gilt auch für das<br />

weiter zunehmende Interesse <strong>der</strong> möglichst pr<strong>of</strong>essionellen Dokumentation von<br />

Kasualgottesdiensten, die e<strong>in</strong>e Konzentration auf die Verkündigung und Segnung empf<strong>in</strong>dlich<br />

stören können. In vielen Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Deutschland wird daher gebeten, vom Filmen und Fotografieren<br />

während des Gottesdienstes Abstand zu nehmen.<br />

6.3.5 Beson<strong>der</strong>e Kasualien<br />

Die kirchliche Begleitung bei Ehejubiläen und Familienfesten (Geburtstagen) geschieht <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Regel durch Besuche des Pfarrers o<strong>der</strong> von Mitarbeitenden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de. In Bayern werden<br />

gelegentlich auch Gottesdienste zu solchen Anlässen erbeten. Solche Wünsche, die zunächst<br />

von beson<strong>der</strong>s mit <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de Verbundenen an Pfarrer<strong>in</strong>nen o<strong>der</strong> Pfarrer herangetragen<br />

werden, wecken den Wunsch zu e<strong>in</strong>er gottesdienstlichen Begleitung auch für e<strong>in</strong>en größeren<br />

Kreis und bieten e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Chance <strong>der</strong> gottesdienstlichen Begleitung im Lebenslauf. Diese<br />

Gottesdienste richten sich <strong>in</strong> den westlichen Kirchen überwiegend an den engen Kreis <strong>der</strong><br />

Familie. Dort wo sie <strong>in</strong> den Kirchen Mittelosteuropas gefeiert werden, wird <strong>der</strong> engere Bezug<br />

von Geme<strong>in</strong>de und Familie meist durch e<strong>in</strong>e größere Geme<strong>in</strong>debeteiligung sichtbar. In kle<strong>in</strong>eren<br />

Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Mittelosteuropa wird z.B. zu Geburtstagen den Jubilaren öffentlich im Hauptgottesdienst<br />

gratuliert und <strong>in</strong> den Fürbitten an sie gedacht.<br />

Das Vorbild von Verabschiedungen kirchlicher Mitarbeiten<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gottesdienst stößt <strong>in</strong><br />

Deutschland auch bei an<strong>der</strong>en Geme<strong>in</strong>deglie<strong>der</strong>n am Ende Ihres Berufslebens auf Interesse. In<br />

51


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Neue Gottesdienste für e<strong>in</strong>e sich verän<strong>der</strong>nde Gesellschaft<br />

solchen und ähnlichen Gelegenheiten bieten sich für Kirchen immer wie<strong>der</strong> Möglichkeiten <strong>der</strong><br />

Begleitung an Schwellensituationen im Lebenslauf, <strong>in</strong> denen Menschen im Beson<strong>der</strong>en ansprechbar<br />

s<strong>in</strong>d auf Rituale. Die gottesdienstliche Begleitung <strong>in</strong> solchen Situationen geschieht <strong>in</strong><br />

Mittelosteuropa und Südeuropa stärker als <strong>in</strong> den deutschen Kirchen im Hauptgottesdienst.<br />

6.4 Gottesdienste zu gesellschaftlichen Anlässen<br />

Dass Kirche <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit steht, weil die Weitergabe des Evangeliums e<strong>in</strong> öffentliches<br />

Geschehen ist, gehört zu den reformatorischen Grun<strong>der</strong>kenntnissen. Während sich die evangelischen<br />

Kirchen <strong>in</strong> Deutschland, Österreich und <strong>der</strong> Schweiz seit langem e<strong>in</strong>en festen Platz <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Gesellschaft erworben haben, hatten die Kirchen <strong>in</strong> Osteuropa lange <strong>Zeit</strong> kaum e<strong>in</strong>e Möglichkeit<br />

<strong>der</strong> gesellschaftlichen Partizipation und erfuhren erst nach <strong>der</strong> politischen Wende zunächst<br />

große öffentliche Aufmerksamkeit als nicht regimekonforme Organisationen. So wurde<br />

z.B. die evangelische Kirche <strong>in</strong> Polen von <strong>der</strong> Regierung gleichberechtigt mit <strong>der</strong> katholischen<br />

Kirche an <strong>der</strong> ethischen Diskussion beteiligt. Für die Kirchen ergaben sich durch den Systemwechsel<br />

neue Möglichkeiten, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit zu wirken und umgekehrt hatte die Gesellschaft<br />

Interesse an e<strong>in</strong>er kirchlichen Beteiligung. Evangelische Kirchen <strong>in</strong> Südeuropa pr<strong>of</strong>itieren<br />

von <strong>der</strong> Akzeptanz <strong>der</strong> römisch-katholischen Kirche und werden zu gesellschaftlichen Anlässen<br />

meist e<strong>in</strong>bezogen, wo sie dann ihr Proprium e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen können. Zum Teil gilt dies auch für Län<strong>der</strong><br />

mit orthodoxer Mehrheit. Dort s<strong>in</strong>d allerd<strong>in</strong>gs die evangelischen Kirchen meist sehr kle<strong>in</strong> und<br />

treten zu gesellschaftlichen Anlässen kaum <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung.<br />

6.4.1 Die Mitwirkung von Kirchen <strong>in</strong> staatlichen o<strong>der</strong> öffentlichen Institutionen:<br />

Während Militärseelsorge und die Seelsorge <strong>in</strong> Justizvollzugsanstalten ebenso wie <strong>der</strong> kirchliche<br />

Dienst an staatlichen Schulen, <strong>in</strong> Krankenhäusern und Altenheimen <strong>in</strong> Deutschland zum<br />

festen Bestandteil des kirchlichen Auftrags gehört, hat er sich <strong>in</strong> Mittelosteuropa sehr unterschiedlich<br />

etabliert. In ke<strong>in</strong>em dieser Län<strong>der</strong> wurde e<strong>in</strong> Religionsunterricht <strong>der</strong> evangelischen<br />

Kirchen an staatlichen Schulen allgeme<strong>in</strong> e<strong>in</strong>geführt und auch dort wo er auf Antrag ab e<strong>in</strong>er<br />

bestimmten Anzahl von Evangelischen e<strong>in</strong>gerichtet wird, spielen gottesdienstliche Angebote <strong>in</strong><br />

den staatlichen Schulen kaum e<strong>in</strong>e Rolle. Stattdessen werden bisweilen im Rahmen <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />

zu Schulanfang und Schuljahresende Gottesdienste angeboten.<br />

Evangelische Militärseelsorge wurde <strong>in</strong> Ungarn, Polen, Tschechien und <strong>der</strong> Slowakei e<strong>in</strong>gerichtet,<br />

evangelische Gefängnisseelsorge darüber h<strong>in</strong>aus auch <strong>in</strong> Rumänien. In vielen kle<strong>in</strong>en<br />

evangelischen Kirchen werden e<strong>in</strong>zelne seelsorgerliche Besuche und gelegentlich Gottesdienste<br />

<strong>in</strong> staatlichen Institutionen durchgeführt. In diese vor <strong>der</strong> politischen Wende undenkbaren<br />

kirchlichen Dienste haben sich die Kirchen <strong>in</strong>zwischen gut e<strong>in</strong>gearbeitet und stehen zum Teil <strong>in</strong><br />

enger Vernetzung mit Partnern aus westlichen Kirchen.<br />

52


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Neue Gottesdienste für e<strong>in</strong>e sich verän<strong>der</strong>nde Gesellschaft<br />

6.4.2 Kirchliche Begleitung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zivilgesellschaft<br />

Immer noch recht selten s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Mittelosteuropa Erwartungen nach geistlicher Begleitung und<br />

gottesdienstlichen Feiern zu zivilgesellschaftlichen Anlässen, Eröffnungen von öffentlichen Gebäuden,<br />

etc. Bisweilen sehen sich evangelische Vertreter konfrontiert mit e<strong>in</strong>er Erwartungshaltung,<br />

zusammen mit katholischer o<strong>der</strong> orthodoxer Kirche pr<strong>of</strong>ane Gebäude o<strong>der</strong> E<strong>in</strong>satzfahrzeuge<br />

zu weihen. In den Kirchen <strong>in</strong> Mittelosteuropa besteht eher Zurückhaltung gegenüber gottesdienstlichen<br />

Feiern zu solchen Veranstaltungen.<br />

Dagegen spielen nationale Feiertage <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für Kirchen nationaler M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten e<strong>in</strong>e<br />

große Rolle. Zum Jahrestag <strong>der</strong> Verschleppung <strong>der</strong> Deutschen auf <strong>der</strong> Krim werden <strong>in</strong> Russland<br />

und <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e – und auch für Russlanddeutsche Aussiedler <strong>in</strong> Deutschland – Gottesdienste<br />

angeboten, und auch die lutherischen wie reformierten ungarischen Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Transsilvanien<br />

feiern ihre nationalen Gedenktage. Hier wird die ungarische Nationalfahne bei vielen Festgottesdiensten<br />

im Gottesdienst aufgestellt und die ungarische Nationalhymne gesungen. Diese<br />

Gottesdienste f<strong>in</strong>den <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel <strong>in</strong> <strong>der</strong> eigenen Kirche statt. Nur sehr selten gibt es Angebote<br />

von Gottesdiensten <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Räumen (Festzelten etc.). Diese f<strong>in</strong>den dann gewöhnlich <strong>in</strong><br />

ökumenischem Mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> statt.<br />

Während <strong>in</strong> Deutschland <strong>der</strong> Nationalfeiertag so gut wie ke<strong>in</strong> kirchliches Echo hervorruft, gibt es<br />

beson<strong>der</strong>e Er<strong>in</strong>nerungsdaten, wie z.B. das 20jährige Jubiläum des Mauerfalls und <strong>der</strong> Grenzöffnung,<br />

zu denen vielerorts Dank- und Gedenkgottesdienste abgehalten werden.<br />

6.4.3 Gottesdienste bei Katastrophen<br />

E<strong>in</strong>e wichtige Rolle kommt den Kirchen anlässlich von Katastrophen zu (Naturkatastrophen,<br />

Flugzeugabsturz, Firmenschließungen und Massenentlassungen etc.). Konfrontiert mit s<strong>in</strong>nloser<br />

Zerstörung und dem Tod von vielen Menschen, s<strong>in</strong>d Kirchen aufgefor<strong>der</strong>t, Menschen <strong>in</strong> Trauer<br />

zur Seite zu stehen und mit den Verzweifelten Antworten zu suchen. In Bayern und an<strong>der</strong>en<br />

deutschen Bundeslän<strong>der</strong>n wurde <strong>in</strong> den letzten beiden Jahrzehnten e<strong>in</strong> flächendeckendes Netz<br />

von Notfallseelsorger<strong>in</strong>nen und -seelsorgern aufgebaut, die nicht nur die Angehörigen <strong>der</strong> Opfer,<br />

son<strong>der</strong>n auch die<br />

E<strong>in</strong>satzkräfte bei Katastrophen seelsorgerlich betreuen. Gottesdienstangebote bei größeren<br />

Katastrophen f<strong>in</strong>den <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel mit großer Beteiligung von Politik und Gesellschaft ökumenisch<br />

statt.<br />

Die kle<strong>in</strong>en M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitskirchen <strong>in</strong> Mittelosteuropa gedenken solcher Katastrophen im Rahmen<br />

ihrer Geme<strong>in</strong>degottesdienste o<strong>der</strong> sie schließen sich Gottesdiensten <strong>der</strong> Mehrkeitskonfession<br />

an.<br />

53


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Neue Gottesdienste für e<strong>in</strong>e sich verän<strong>der</strong>nde Gesellschaft<br />

6.4.4 Kirchliche Angebote für die Gesellschaft<br />

Der Bereich von kirchlichen Angeboten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft beg<strong>in</strong>nt bereits dort, wo Innenstadtkirchen<br />

als Kulturdenkmäler wahrgenommen werden und Kirche dar<strong>in</strong> gottesdienstliche Angebote<br />

macht. Noch deutlicher werden diese Angebote jedoch, wenn sie aus dem kirchlichen<br />

Raum heraustreten als Gottesdienste <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit.<br />

Die evangelischen Kirchen <strong>in</strong> Ungarn haben zusammen mit ihren deutschen Partnern am Balaton<br />

e<strong>in</strong>e deutschsprachige Urlauberseelsorge e<strong>in</strong>gerichtet. Diese soll Menschen <strong>in</strong> ihrer Freizeit<br />

auch durch gottesdienstliche Angebote erreichen. Von <strong>der</strong> EKD werden dazu Pfarrer<strong>in</strong>nen und<br />

Pfarrer für die Urlaubszeit für e<strong>in</strong>ige Wochen nach Ungarn entsandt. In Ungarn besteht Interesse,<br />

dass das konfessionelle Proprium dabei sichtbar bleibt. Es überwiegen Angebote, die deutsche<br />

Touristen <strong>in</strong> die Kirchen e<strong>in</strong>laden vor Gottesdiensten auf den Camp<strong>in</strong>gplätzen und Ferienanlagen.<br />

Zu kirchlichen Angeboten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft gehören auch z.B. Kreuzwege <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt mit<br />

gottesdienstlichem Abschluss, Ausstellung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kirche mit Andacht, o<strong>der</strong> Gottesdienste an<br />

öffentlichen Plätzen. Für Kirchen <strong>in</strong> Mittelosteuropa s<strong>in</strong>d solche Veranstaltungen wichtige missionarische<br />

Gelegenheiten und bieten zugleich die Möglichkeit, selbst als Veranstalter <strong>in</strong>s öffentliche<br />

Bewusstse<strong>in</strong> zu treten. Die E<strong>in</strong>weihung <strong>der</strong> als nationales Denkmal bekannten St. Paulskirche<br />

<strong>in</strong> Odessa (Ukra<strong>in</strong>e) brachte an e<strong>in</strong>em Wochenende etwa das Zehnfache <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>deglie<strong>der</strong>zahl<br />

zu den kirchlichen Veranstaltungen <strong>in</strong> und um die Kirche. Die kle<strong>in</strong>e evangelische<br />

Geme<strong>in</strong>de stand dabei e<strong>in</strong>ige Tage lang im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses.<br />

Bei den genannten Formen gottesdienstlicher Feiern <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft nehmen Kirchen ihre<br />

Verantwortung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft ernst. Ihrer Größe entsprechend beteiligen sich die M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitskirchen<br />

<strong>of</strong>t <strong>in</strong> erstaunlichem Umfang an dieser Aufgabe. Dabei ist ihnen wichtig, ihr evangelisches<br />

Proprium zur Geltung zu br<strong>in</strong>gen. Die Gestaltung <strong>der</strong> Gottesdienste <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

muss berücksichtigen, dass mit ihnen zahlreiche Menschen angesprochen werden sollen, die<br />

immer weniger <strong>in</strong> <strong>der</strong> traditionellen Formensprache <strong>der</strong> Kirche beheimatet s<strong>in</strong>d, die jedoch <strong>of</strong>t<br />

auf <strong>der</strong> Suche nach geprägten Formen s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> denen sie sich ausdrücken können.<br />

6.4.5 Ökumenische und multireligiöse Veranstaltungen<br />

Katastrophen betreffen viele Menschen verschiedener Konfessionen und Religionen. Feste feiert<br />

die Gesellschaft als Ganze. Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung <strong>der</strong> Schöpfung s<strong>in</strong>d<br />

Themen, für die verschiedene Religionen geme<strong>in</strong>sam e<strong>in</strong>stehen. Evangelische Kirchen s<strong>in</strong>d<br />

gerufen, als Teil <strong>der</strong> Gesellschaft sich zu solchen Anlässen und solchen Themen e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen.<br />

Dabei gehört es zum Auftrag evangelischer Kirchen, dass sie ke<strong>in</strong>e Signale <strong>der</strong> Spaltung son<strong>der</strong>n<br />

Signale <strong>der</strong> Versöhnung <strong>in</strong> die Gesellschaft senden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Spannung zwischen <strong>der</strong> Bewah-<br />

54


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Neue Gottesdienste für e<strong>in</strong>e sich verän<strong>der</strong>nde Gesellschaft<br />

rung <strong>der</strong> eigenen Identität und <strong>der</strong> notwendigen Zusammenarbeit mit an<strong>der</strong>en Konfessionen<br />

o<strong>der</strong> Religionen als Teil <strong>der</strong> ganzen Gesellschaft. Während die Frage <strong>der</strong> ökumenischen Zusammenarbeit<br />

zwischen den Konfessionen <strong>in</strong> Deutschland wie <strong>in</strong> den an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

kaum Schwierigkeiten bereitet, stößt <strong>der</strong> Gedanke e<strong>in</strong>er multireligiösen Zusammenarbeit<br />

<strong>in</strong> vielen Kirchen <strong>in</strong> Mittelosteuropa auf Vorbehalte. Zum Teil gibt es e<strong>in</strong>e positive<br />

Zusammenarbeit mit den jüdischen Geme<strong>in</strong>den vor Ort. Doch s<strong>in</strong>d die Berührungspunkte kle<strong>in</strong>.<br />

Da es kaum e<strong>in</strong>en kirchlichen Dienst an staatlichen Schulen gibt, treten die Notwendigkeiten<br />

von gemischten Feiern nicht <strong>in</strong> dem Maße auf wie <strong>in</strong> Deutschland und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz. Dort ist<br />

bei e<strong>in</strong>em Auslän<strong>der</strong>anteil von über 20% die Dialogbereitschaft auch gegenüber Muslimen e<strong>in</strong><br />

wichtiges Zeichen <strong>der</strong> Versöhnung. Diese setzt aber auch die Offenheit <strong>der</strong> Gesprächspartner<br />

voraus.<br />

6.5 Pr<strong>of</strong>essionalisierung <strong>der</strong> Gottesdienste<br />

Der Gottesdienst ist ke<strong>in</strong>e Theaterdarbietung und doch gilt es, e<strong>in</strong>en Raum zu schaffen, <strong>in</strong> dem<br />

Gott agiert und <strong>in</strong> dem Menschen sich öffnen können. Zugleich sieht sich <strong>der</strong> Gottesdienst <strong>der</strong><br />

Konkurrenz ausgesetzt, se<strong>in</strong>en Platz gegenüber e<strong>in</strong>er Vielzahl von kulturellen Angeboten und<br />

nicht zuletzt gegenüber perfekt <strong>in</strong>szenierten Mediensendungen behaupten zu müssen. Die<br />

evangelische Kirche <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz hat die Konkurrenzfähigkeit ihrer Gottesdienste von Kulturschaffenden<br />

außerhalb <strong>der</strong> Kirche überprüfen lassen. Der Blick von außen sollte dazu dienen,<br />

die Qualität von Gottesdiensten so zu steigern, dass sie den Qualitätsansprüchen medial geübter<br />

<strong>Zeit</strong>genossen entspricht. Trotz aller Kritik an e<strong>in</strong>zelnen Faktoren wie Raumklang o<strong>der</strong> Licht<br />

o<strong>der</strong> auch <strong>der</strong> Bewegung im Gottesdienstraum kam diese Studie zum Ergebnis: Gottesdienste<br />

müssen nicht ‚zeitgemäßer‘, son<strong>der</strong>n ‚evangelischer‘ werden. Dieses ‚evangelisch‘ ist nicht als<br />

historische Größe zu verstehen, son<strong>der</strong>n als ständige Bes<strong>in</strong>nung auf e<strong>in</strong>en Wesenskern und<br />

se<strong>in</strong>e Umsetzung mit zeitgemäßen Mitteln (semper reformanda).<br />

6.6 Gottesdienste <strong>in</strong> den Medien<br />

Gottesdienste <strong>in</strong> den Medien (Radioandachten, Morgenfeiern, Gottesdienstübertragungen und<br />

Fernsehgottesdienste live und aufgezeichnet) gehören schon seit längerer <strong>Zeit</strong> zu den beson<strong>der</strong>en<br />

Gottesdienstangeboten <strong>der</strong> Kirchen. Verän<strong>der</strong>ungen s<strong>in</strong>d dabei vor allem <strong>in</strong> Mittelosteuropa<br />

spürbar:<br />

Vor <strong>der</strong> Wende wurden christliche Programme vor allem mit Hilfe <strong>der</strong> Auslandsdienste westlicher<br />

Staaten, z.B. BBC, Voice <strong>of</strong> America, Sen<strong>der</strong>n wie Radio Free <strong>Europe</strong> o<strong>der</strong> Radio Liberty<br />

sowie <strong>in</strong>ternationaler Missionsgesellschaften und Rundfunkmissionen aus dem Westen verbreitet.<br />

Nach <strong>der</strong> Wende übernahmen die Kirchen diese Aufgabe weitgehend selbst. Sie erhielten<br />

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<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Neue Gottesdienste für e<strong>in</strong>e sich verän<strong>der</strong>nde Gesellschaft<br />

Zugang zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk und gründeten zum Teil geme<strong>in</strong>sam mit an<strong>der</strong>en<br />

Kirchen eigene christliche Sen<strong>der</strong>. In e<strong>in</strong>igen Län<strong>der</strong>n erhalten die großen Konfessionen <strong>in</strong> den<br />

öffentlich-rechtlichen Kanälen <strong>in</strong>zwischen feste Sendezeiten, je nach Größe <strong>der</strong> Kirche (Ungarn,<br />

Polen, Rumänien). Für die Gestaltung <strong>der</strong> Sendungen s<strong>in</strong>d sie selbst verantwortlich, werden<br />

aber vom Sen<strong>der</strong> technisch unterstützt und beraten. Der Schwerpunkt <strong>der</strong> Sendungen liegt auf<br />

<strong>der</strong> Übertragung von Gottesdiensten.<br />

Gottesdienste im Fernsehen s<strong>in</strong>d mediale Ereignisse, mit viel Aufwand <strong>in</strong>szeniert und aufgenommen,<br />

meist mit vollen Kirchenbänken. Sie bieten Möglichkeiten für Menschen, die am Sonntag<br />

ke<strong>in</strong>en Gottesdienst erreichen können und bilden gleichzeitig e<strong>in</strong> Aushängeschild für die<br />

Kirche. Grenzen liegen für die M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitskirchen im großen Aufwand, den dieses Medium erfor<strong>der</strong>t.<br />

Deutlich zugenommen hat die Nutzung des Internets als kostengünstiges Medium zur Präsentation<br />

<strong>der</strong> Kirchen. Spezielle Internetgottesdienste, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für Jugendliche, s<strong>in</strong>d dort entstanden.<br />

6.7 Gottesdienst und Gesellschaft. Zusammenfassung<br />

Die Verkündigung des Wortes Gottes ist e<strong>in</strong> öffentliches Geschehen, auch je<strong>der</strong> Gottesdienst<br />

hat an dieser öffentlichen Kommunikation des Evangeliums se<strong>in</strong>en Anteil. Dies gilt <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie<br />

für die Sonntagsgottesdienste. Sie stehen <strong>in</strong> gesellschaftlichen Bezügen. Die letzten Jahrzehnte<br />

aber haben gezeigt, dass es neue Gottesdienstformen braucht, um <strong>in</strong> den gesellschaftlichen<br />

Verän<strong>der</strong>ungen, den <strong>in</strong>dividuellen wie kollektiven Prozessen, angemessen das Evangelium weiter<br />

zu geben. Mittlerweile hat sich e<strong>in</strong>e fast unüberschaubare Fülle neuer Gottesdienstformen<br />

entwickelt.<br />

Durch neue Gottesdienstangebote entstanden gute Gelegenheiten für die Geme<strong>in</strong>de, <strong>in</strong> die Gesellschaft<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> zu wirken. Insbeson<strong>der</strong>e Gottesdienste <strong>in</strong> den Medien s<strong>in</strong>d von verschiedenen<br />

Kirchen <strong>in</strong> Mittelosteuropa von beson<strong>der</strong>em Interesse. Hier haben Kirchen viel Kraft <strong>in</strong>vestiert<br />

und sich <strong>in</strong> diesem Feld bewährt. Es war aber auch e<strong>in</strong>e ernüchternde Erfahrung, dass Kirche<br />

zwar <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wende als Ort des Vertrauens und <strong>der</strong> Freiheit e<strong>in</strong>en beson<strong>der</strong>en Stellenwert hatte,<br />

deshalb jedoch nicht mehr Menschen für e<strong>in</strong>e Mitgliedschaft gew<strong>in</strong>nen konnte. Es gel<strong>in</strong>gt <strong>of</strong>fenbar,<br />

dass Kirchen <strong>in</strong>dividuell-biographische und kollektiv-gesellschaftliche Prozesse <strong>in</strong> und mit<br />

ihren Gottesdiensten religiös verdichten, dass sie also Gottesdienst als Dienst an und für die<br />

Gesellschaft feiern können. Dennoch stellt die dauerhafte B<strong>in</strong>dung von Mitglie<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e große<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung dar.<br />

56


<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> – E<strong>in</strong>sichten und Perspektiven<br />

7 <strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> – E<strong>in</strong>sichten und Perspektiven<br />

7.1 Der Gottesdienst zwischen Grundform und Reform<br />

Für die Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe Süd-Ost-Europa bleibt <strong>der</strong> Gottesdienst das Zentrum <strong>der</strong><br />

Geme<strong>in</strong>de und ihres Kirchese<strong>in</strong>s. E<strong>in</strong>e Schlüsselstellung kommt dabei <strong>der</strong> sonntäglichen Gottesdienstfeier<br />

zu. Er bildet das Grundmodell, nach dem sich viele Formen des Gottesdienstes<br />

entwickelt haben. Diese stellen e<strong>in</strong>e Ergänzung zum Sonntagsgottesdienst dar. Aber nicht nur <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Diaspora, wo kirchliche Arbeit sich auf das Wesentlichste konzentrieren muss, bleibt <strong>der</strong><br />

Gottesdienst am Sonntagvormittag das vorrangige Bedürfnis <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de.<br />

Die grundsätzliche Bedeutung des Gottesdienstes für Geme<strong>in</strong>de und Kirche f<strong>in</strong>det ihren Ausdruck<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> unüberschaubaren Vielfalt und Lebendigkeit von Gottesdiensten: von <strong>der</strong> Hausandacht<br />

bis zur Radiopredigt, von Lobpreisgottesdienst e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Gruppe <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de bis<br />

h<strong>in</strong> zu überfüllten Gottesdiensten anlässlich von Festtagen. An den Knotenpunkten des Lebens,<br />

des e<strong>in</strong>zelnen, <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de und <strong>der</strong> Gesellschaft, wird <strong>der</strong> Gottesdienst immer wichtiger. Der<br />

Sonntagsgottesdienst ist dabei e<strong>in</strong> solcher Knotenpunkt, <strong>der</strong> zwischen Alltag und Sonntag Menschen<br />

zusammenbr<strong>in</strong>gt.<br />

Neben <strong>der</strong> grundsätzlichen Bedeutung des Gottesdienstes, die sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vielfalt se<strong>in</strong>er Formen<br />

verwirklicht, ist noch e<strong>in</strong> weiteres Element, das die Gottesdienstpraxis <strong>der</strong> Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

<strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten geprägt hat: das Bemühen um die Reform des Gottesdienstes.<br />

Dabei geht es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ersten Schritt darum, neue Formen zu entwickeln, die <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

entsprechen und Menschen <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> ansprechen. In e<strong>in</strong>em zweiten Schritt geht es darum, <strong>in</strong> den<br />

Formen die Grundform des Gottesdienstes erkennbar werden zu lassen.<br />

7.2 Gottesdienst-Entwicklung <strong>in</strong> den Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe<br />

In e<strong>in</strong>er Region, die <strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten von schnellen und grundlegenden Verän<strong>der</strong>ungen<br />

geprägt war, hat sich auch <strong>der</strong> Gottesdienst <strong>in</strong> den verschiedenen Kirchen gewandelt. E<strong>in</strong>zelne<br />

Kennzeichen dieses Wandels, <strong>der</strong> immer auch <strong>in</strong> Spannungen sich vollzieht, seien hier<br />

ohne systematischen Anspruch benannt.<br />

7.2.1 Evangelischer Reichtum und neue Fragen<br />

Der Austausch <strong>der</strong> Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe über die Entwicklungen des Gottesdienstes und<br />

die geme<strong>in</strong>same Feier von Gottesdiensten zeigte e<strong>in</strong>e ungeheure Vielfalt von Gottesdienstformen.<br />

Es gehörte dabei zu den entscheidenden Erfahrungen, dass verschiedene Gottesdienstformen<br />

nicht konkurrierend nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> stehen, son<strong>der</strong>n Teil des Reichtums <strong>der</strong> evangelischen<br />

Kirchen s<strong>in</strong>d. Solcher Reichtum <strong>der</strong> Formen kann Gottesdienst <strong>der</strong> eigenen Konfession<br />

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<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> – E<strong>in</strong>sichten und Perspektiven<br />

befruchten. Und es ist möglich, Gottesdienste <strong>der</strong> je an<strong>der</strong>en Konfession mitzufeiern – als vollgültige<br />

Feier <strong>der</strong> Gegenwart Gottes. Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppen erleben diese Bereicherung<br />

auch dadurch, dass verschiedene Nationalitäten, Kulturen und Traditionen geme<strong>in</strong>sam Gottesdienst<br />

feiern. Diese geme<strong>in</strong>same Bejahung <strong>der</strong> unterschiedlichen Gottesdienstformen kann als<br />

Ausdruck <strong>der</strong> wachsenden Geme<strong>in</strong>schaft <strong>in</strong> versöhnter Verschiedenheit verstanden werden. In<br />

dieser Verbundenheit wird auch die Suche nach neuen adäquaten Formen des Gottesdienstes<br />

zur geme<strong>in</strong>samen Aufgabe, bei <strong>der</strong> die e<strong>in</strong>zelnen Kirchen ihre Antworten f<strong>in</strong>den können.<br />

7.2.2 Vielfalt und neue Verb<strong>in</strong>dlichkeit – Agendenreformen und alternative Gottesdienste<br />

Nahezu gleichzeitig entstand <strong>in</strong> vielen Kirchen nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vere<strong>in</strong>igung Europas das Bedürfnis,<br />

die überkommenen Traditionen im Gottesdienst zu überprüfen und – <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> jeweiligen<br />

Kirchen – zusammenzuführen und zu vere<strong>in</strong>heitlichen. Agendenreformen zeugen nicht<br />

nur von e<strong>in</strong>er Kirche, die sich dem Wandel <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> stellt. Vielmehr <strong>of</strong>fenbaren sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Analyse<br />

des Bestehenden zum e<strong>in</strong>en die ungeheure Fülle von Gottesdienstentwicklungen, die als solche<br />

Ausdruck von Lebendigkeit <strong>in</strong> den Geme<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d. Reformen zeigen aber auch, dass Kirchen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Vielzahl <strong>der</strong> Möglichkeiten das Verb<strong>in</strong>dende und Verb<strong>in</strong>dliche suchen. Dieses wurde <strong>of</strong>t<br />

gefunden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Rückbes<strong>in</strong>nung auf liturgische Traditionen und geprägte Formen, die e<strong>in</strong>e<br />

stabile Grundform des Gottesdienstes gewährleisten. Zwischen liturgischer Beliebigkeit und<br />

traditioneller Erstarrung kristallisieren sich bewährte Formen des Gottesdienstes heraus, die<br />

<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Kirchen <strong>der</strong> Regionalgruppe bei aller Verschiedenheit beachtliche Konvergenzen<br />

deutlich werden lassen und im Wie<strong>der</strong>entdecken geme<strong>in</strong>samer Wurzeln ökumenische Anknüpfungsmöglichkeiten<br />

freisetzen.<br />

7.2.3 Evangelischer Gottesdienst und ökumenische Verbundenheit<br />

Der evangelische Gottesdienst ist e<strong>in</strong>gebettet <strong>in</strong> die Tradition christlichen Gottesdienstes geme<strong>in</strong>sam<br />

mit dem Gottesdienst an<strong>der</strong>er Kirchen, etwa den römisch-katholischen, orthodoxen<br />

o<strong>der</strong> auch evangelikalen Gottesdiensten. Mobilität <strong>der</strong> Menschen und mo<strong>der</strong>ne Medienwirklichkeit<br />

sowie das das Mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kirchen und Religionen br<strong>in</strong>gen es mit sich, das Gottesdienstvorstellungen<br />

und Gottesdiensttraditionen <strong>in</strong> Beziehung gesetzt werden und <strong>in</strong> Austausch<br />

kommen. Dies bedeutet e<strong>in</strong>e Bereicherung evangelischen Gottesdienstes – etwa <strong>in</strong> liturgischer<br />

und speziell musikalischer H<strong>in</strong>sicht. Gleichzeitig hat <strong>der</strong> evangelische Gottesdienst <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

beiden Formen des Wortgottesdienstes und des Abendmahlgottesdienstes, mit <strong>der</strong> Kirchenmusik<br />

und <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>debeteiligung e<strong>in</strong>e markante Gestalt, die das Wort Gottes <strong>in</strong>s Zentrum hebt.<br />

So kann die evangelische Kirche selbstbewusst ihre Gottesdienstpraxis <strong>in</strong> das ökumenische<br />

Gespräch e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen.<br />

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<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> – E<strong>in</strong>sichten und Perspektiven<br />

7.2.4 Gottesdienst <strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>de und Gesellschaft<br />

Wichtig ist auch die Beobachtung, dass zunehmend auch Gottesdienste im Kontext <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

wahrgenommen werden. Zwar ist je<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>degottesdienst als öffentliches Geschehen<br />

Teil <strong>der</strong> Gesellschaft. Verstärkt aber werden Gottesdienste im Kontext <strong>der</strong> Gesellschaft und<br />

ihrer Entwicklungen und Umbrüche gewünscht und von den Kirchen wahrgenommen. Sie verweisen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft auf das Unverfügbare und auf die Verantwortung des Menschen vor<br />

Gott. Zugleich f<strong>in</strong>den Kirchen <strong>in</strong> Mittelosteuropa zu e<strong>in</strong>er Rolle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft zurück, die<br />

ihnen lange <strong>Zeit</strong> verwehrt war.<br />

7.2.5 Gottesdienst zwischen Ost und West im Vergleich<br />

Interessant zu beobachten war, dass es große Übere<strong>in</strong>stimmungen <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Konfessionsfamilien<br />

<strong>in</strong> Ost und West gibt, dass es aber dazu auch konfessionsübergreifende Übere<strong>in</strong>stimmungen<br />

gibt, die eher die Kirchen im Westen und jene im Osten mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verb<strong>in</strong>den. Damit<br />

kommt mehr und An<strong>der</strong>es <strong>in</strong> den Blick als die Beziehungen <strong>der</strong> jeweiligen Kirchen zu Nation,<br />

Staat und Volk. Es wird deutlich, dass die kommunistische <strong>Zeit</strong> Erfahrungsräume geprägt hat,<br />

etwa im Blick auf die Zivilgesellschaften, die an<strong>der</strong>s s<strong>in</strong>d als die westlich geprägten. Auch f<strong>in</strong>det<br />

man <strong>in</strong> den westlichen Kirchen eher liberale Denkweisen (die <strong>in</strong> großer Offenheit für Formen<br />

und Strukturen das Wie<strong>der</strong>erkennbare und Verb<strong>in</strong>dende nicht verlieren will) und <strong>in</strong> den Kirchen<br />

Ost eher konservative Denkweisen (die mit gesellschaftlichen und politischen Freiheiten neu<br />

herausgefor<strong>der</strong>t s<strong>in</strong>d). Solche Prägungen <strong>in</strong> den Dialog <strong>der</strong> Kirchen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regionalgruppe und<br />

darüber h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> <strong>der</strong> GEKE e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen, för<strong>der</strong>t das Verständnis für und die Geme<strong>in</strong>schaft <strong>der</strong><br />

Kirchen <strong>in</strong> West und Ost.<br />

7.2.6 Gottesdienst des E<strong>in</strong>zelnen und <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft<br />

Der Gottesdienst bietet e<strong>in</strong>em Raum für den E<strong>in</strong>zelnen und e<strong>in</strong>e Fülle von Möglichkeiten, <strong>in</strong> denen<br />

<strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelne sich wie<strong>der</strong>f<strong>in</strong>den kann mit se<strong>in</strong>en Gotteserfahrungen und se<strong>in</strong>em Selbstverständnis<br />

von Tradition, Sprache und Kultur. Wo verschiedene Gruppen aus E<strong>in</strong>heimischen und<br />

Migranten o<strong>der</strong> aus verschiedenen Nationalitäten zusammen kommen, muss es für alle genügend<br />

viele solcher Identifikationsmöglichkeiten geben, um e<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen Gottesdienst zu<br />

ermöglichen. Sprache und Liedgut und liturgische Tradition s<strong>in</strong>d wichtige Anknüpfungspunkte<br />

für e<strong>in</strong>e Identifikation.<br />

7.2.7 Vom Gottesdienst aus Geme<strong>in</strong>de neu leben und Kirche neu denken<br />

Die Feier des Gottesdienstes stellt e<strong>in</strong>e Grunddimension von Kirche dar, die es stärker als bisher<br />

theologisch zu würdigen gilt. Zwar ist <strong>der</strong> Gottesdienst <strong>in</strong> vielfältiger Weise mit theologischen<br />

Überlegungen zu Wort und Sakrament, zu Amt und Geme<strong>in</strong>de, zu Liturgie und Musik, zu Ge-<br />

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<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> – E<strong>in</strong>sichten und Perspektiven<br />

me<strong>in</strong>de und Kirche verknüpft – es steht aber e<strong>in</strong>e theologische Reflexion aus, die diese Erfahrungen<br />

bündelt und deutet. Dabei ist die ekkesiale Dimension des Gottesdienstes stärker <strong>in</strong> den<br />

Blick zu nehmen: Was Kirche ist, erschließt sich durch die Feier des Gottesdienstes. Dies bedeutet<br />

gerade ke<strong>in</strong>e Engführung <strong>der</strong> Kirche auf den Gottesdienst. Denn <strong>der</strong> Gottesdienst ist<br />

e<strong>in</strong>gebunden <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Netzwerk <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>deaktivitäten und weist h<strong>in</strong>aus als vernünftiger Gottesdienst<br />

<strong>in</strong> den Alltag des Lebens. Gottesdienstgestaltung ist auf Geme<strong>in</strong>deentwicklung zu beziehen<br />

– und umgekehrt.<br />

7.3 Kriterien zur Gestaltung von Verän<strong>der</strong>ungsprozessen <strong>der</strong> kirchlichen<br />

Gottesdienstkultur<br />

Die Gottesdienstpraxis <strong>der</strong> Kirchen verän<strong>der</strong>t sich. Um diese Verän<strong>der</strong>ung verantwortlich begleiten<br />

und gestalten zu können, s<strong>in</strong>d neben <strong>der</strong> Wahrnehmung <strong>der</strong> unterschiedlichen E<strong>in</strong>flussfaktoren<br />

vor allem theologische Reflexion und Begründung erfor<strong>der</strong>lich. Dazu können folgende Gesichtspunkte<br />

hilfreich se<strong>in</strong>. Die im Folgenden genannten Kriterien mögen dazu anleiten. Sie s<strong>in</strong>d<br />

ke<strong>in</strong>e Handlungsanleitung für gel<strong>in</strong>genden Gottesdienst, son<strong>der</strong>n sollten unter <strong>der</strong> Voraussetzung<br />

gelesen und angewandt werden, dass Gottesdienst als gute Gabe Gottes <strong>der</strong> Kirche anvertraut<br />

und so verantwortlich zu gestalten ist. In allen Mühen um die Gestaltung des Gottesdienstes<br />

ist dieser Geschenkcharakter und damit die Freiheit Gottes Menschen anzusprechen<br />

zu bewahren – und sie tun dies, <strong>in</strong>dem sie <strong>in</strong> Freiheit Gottesdienste verantwortlich gestalten.<br />

1. Dass Gott <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gabe des Gottesdienstes präsent ist und so <strong>in</strong> jedem Gottesdienst <strong>der</strong><br />

christlichen Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Freiheit handelt, ist tragende und erschließende Grun<strong>der</strong>kenntnis<br />

und Grun<strong>der</strong>fahrung <strong>der</strong> christlichen Geme<strong>in</strong>de. Gott spricht an, versöhnt und<br />

stiftet Geme<strong>in</strong>schaft. Deswegen ist darauf zu achten, dass die befreiende Kraft <strong>der</strong> Zusage<br />

Gottes erfahrbar werden kann, dass Versöhnung geför<strong>der</strong>t wird und dass <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft<br />

zwischen Gott und Mensch und zwischen Menschen Raum gegeben wird.<br />

2. Das Evangelium von Jesus Christus, <strong>in</strong> dem Gottes Wort sich entfaltet, richtet sich an alle<br />

Menschen. Daraus ergibt sich, dass Gottes Wort im Gottesdienst für möglichst viele Menschen<br />

im Gottesdienst zugänglich se<strong>in</strong> muss. Dazu gehört unverzichtbar, dass die versammelten<br />

Menschen unterschiedlicher Nationalität, Sprache und Kultur sich im Gottesdienst<br />

wie<strong>der</strong>f<strong>in</strong>den können.<br />

3. Die Begegnung zwischen Gott und E<strong>in</strong>zelnen <strong>in</strong> <strong>der</strong> gottesdienstlichen Geme<strong>in</strong>de eröffnet<br />

und for<strong>der</strong>t Raum zu <strong>in</strong>dividuellem Ausdruck und zu geme<strong>in</strong>schaftlichen Formen. Deshalb<br />

ist darauf zu achten, dass <strong>in</strong>dividuelle Freiräume und geme<strong>in</strong>schaftliche Elemente im Gottesdienst<br />

präsent s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> denen Gott sich selber erschließt.<br />

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<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> – E<strong>in</strong>sichten und Perspektiven<br />

4. Der Gottesdienst ist dialogisches Geschehen. Es ist dafür Sorge zu tragen, dass die Geme<strong>in</strong>de<br />

auf die Anrede Gottes antworten kann. Auch die Antworten benötigen Raum und<br />

Formen im gottesdienstlichen Geschehen: Stille, Gebet, Lied, Bekenntnis, … In dem Maß,<br />

wie <strong>der</strong> Gottesdienst „ansprechend“ ist, ist auch auf die ästhetische Gestaltung zu achten.<br />

Es sollte auch die dem Gottesdienst eigene Schönheit zum Leuchten kommen.<br />

5. Das Wort Gottes nimmt Menschen <strong>in</strong> ihrer Lebenswirklichkeit ernst. Die Verkündigung hat<br />

die Aufgabe, die Botschaft des Evangeliums <strong>in</strong> die Lebenswirklichkeit <strong>der</strong> Menschen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong><br />

zu sprechen. Darum ist mit hermeneutischer Sensibilität auf angemessene Kommunikationsformen<br />

zu achten, damit Anspruch und Zuspruch des Wortes Gottes Menschen <strong>in</strong><br />

ihren konkreten Lebenssituationen erreichen.<br />

6. Die sonntägliche Gottesdienstfeier weist über sich h<strong>in</strong>aus, ihre Botschaft hat prophetische<br />

Kraft und wirkt <strong>in</strong> den Alltag h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Der Gottesdienst bestärkt die Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> ihrer Treue<br />

zum Evangelium und for<strong>der</strong>t den E<strong>in</strong>zelnen wie die Geme<strong>in</strong>de von <strong>der</strong> Gottesbegegnung<br />

her zur Gestaltung des Alltags und zu neuen Aufbrüchen heraus. Die <strong>in</strong>tegrative Kraft des<br />

Gottesdienstes öffnet den Weg zu e<strong>in</strong>er <strong>of</strong>fenen Geme<strong>in</strong>de, die <strong>in</strong>tegrierend wirkt. Es ist<br />

auch darauf zu achten, dass <strong>der</strong> Gottesdienst Kraftquellen und Perspektiven zur geme<strong>in</strong>schaftlichen<br />

Wahrnehmung und Gestaltung <strong>der</strong> Wirklichkeit eröffnet. In dieser Kraft zum<br />

Alltäglichen kann Gottesdienst auch den Lebensstil <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen wie <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de prägen.<br />

7. In den Gottesdiensten <strong>der</strong> christlichen Geme<strong>in</strong>de spiegelt sich die E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> Kirche. Darum<br />

müssen die e<strong>in</strong>zelnen Feiern auf die E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> Kirche bezogen se<strong>in</strong>, ohne <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

E<strong>in</strong>heitsform aufzugehen.<br />

7.4 Folgerungen und Anstöße für die Weiterarbeit<br />

7.4.1 Gottesdienst im Mittelpunkt von Austausch und Begegnung<br />

Die GEKE lebt von e<strong>in</strong>er liturgischen Vielfalt <strong>der</strong> Mitgliedskirchen. Um diesen Schatz zu erschließen<br />

bedarf es <strong>der</strong> Begegnung und des Austausches, <strong>der</strong> über die Regionalgruppen h<strong>in</strong>aus<br />

an <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> Mitgliedskirchen verankert werden muss. Pfarrer<strong>in</strong>nen und Pfarrer, Kirchenmusiker<br />

und Lektor<strong>in</strong>nen und an<strong>der</strong>e Mitarbeitende sollen im Rahmen <strong>der</strong> bestehenden<br />

Beziehungen zu e<strong>in</strong>er Begegnung mit den vielfältigen Gottesdiensttraditionen ermutigt werden.<br />

In den Beziehungen zwischen den Mitgliedskirchen soll die geme<strong>in</strong>same Feier des Gottesdienstes<br />

zentraler Bestandteil <strong>der</strong> Begegnungen bleiben.<br />

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<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> – E<strong>in</strong>sichten und Perspektiven<br />

7.4.2 Liturgische Vorschläge für e<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen Gottesdienst<br />

Es entspricht <strong>der</strong> GEKE als E<strong>in</strong>heit <strong>in</strong> versöhnter Verschiedenheit nicht, e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heitsliturgie für<br />

ihre Mitgliedskirchen anzustreben. Hilfreich ist es allerd<strong>in</strong>gs, wenn liturgische Vorschläge erarbeitet<br />

werden für Gottesdienste, die GEKE-Mitgliedskirchen geme<strong>in</strong>sam feiern. Diese sollen<br />

berücksichtigen, dass sie genügend Identifizierungsmöglichkeiten für alle beteiligten Konfessionen<br />

und Traditionen bieten.<br />

Die Regionalgruppe Südosteuropa hält den Austausch bezüglich <strong>der</strong> Gottesdienstentwicklung<br />

und die Sammlung dieser Erfahrungen unter den Mitgliedskirchen für weiterführend. Dazu bedarf<br />

es geeigneter Instrumente, um den evangelischen Gottesdienst zwischen Bewahrung und<br />

Verän<strong>der</strong>ung besser erfassen und kommunizieren zu können. E<strong>in</strong>e Möglichkeit könnte die Weiterentwicklung<br />

<strong>der</strong> Internetseite <strong>der</strong> GEKE zu e<strong>in</strong>em Informationsforum se<strong>in</strong>, das vernetzt ist mit<br />

den gottesdienstlichen Kompetenzzentren <strong>der</strong> Mitgliedskirchen. Der evangelische Gottesdienst<br />

<strong>in</strong> Europa gew<strong>in</strong>nt nicht durch e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heitsliturgie, wohl aber durch Bündelung <strong>der</strong> Erfahrungen<br />

<strong>der</strong> Mitgliedskirchen.<br />

7.4.3 Gottesdienst und Bildung<br />

Der Gottesdienst ist ke<strong>in</strong>e Bildungsveranstaltung. Aber es wird immer deutlicher, dass mit dem<br />

Basiswissen, was Christentum ist, auch das Grundverständnis von und für Gottesdienst schw<strong>in</strong>det.<br />

Es wird für die zukünftige Gottesdienstpraxis von großer Bedeutung se<strong>in</strong>, Menschen nicht<br />

nur für neue und alte Formen des Gottesdienstes zu gew<strong>in</strong>nen, damit sie ihre Erfahrungen machen<br />

können. Es wird auch wichtig se<strong>in</strong>, ihnen e<strong>in</strong> Verständnis von Gottesdienst zu vermitteln,<br />

das sie befähigt, ihre Gottesdienst-Erfahrungen reflektieren und diese <strong>in</strong> ihr Leben <strong>in</strong>tegrieren zu<br />

können.<br />

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<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

<strong>Bleibe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> – E<strong>in</strong>sichten und Perspektiven<br />

ANHANG: DIE KIRCHEN DER REGIONALGRUPPE SÜDOSTEUROPA:<br />

Biserica Evanghélica C.A. d<strong>in</strong> Romania<br />

Evangelische Kirche AB <strong>in</strong> Rumänien<br />

Biserica Evanghélica Lutherana d<strong>in</strong> Romania<br />

Evangelisch-lutherische Kirche <strong>in</strong> Rumänien<br />

Ceskobratrská Cirkev Evangelická<br />

Evangelische Kirche <strong>der</strong> Böhmischen Brü<strong>der</strong><br />

Chiesa Evangelica Luterana <strong>in</strong> Italia<br />

Evangelisch-Lutherische Kirche <strong>in</strong> Italien<br />

Chiesa Evangelica Valdese<br />

Evangelische Kirche <strong>der</strong> Waldenser<br />

Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e (Mitglied <strong>der</strong> ELKRAS)<br />

Evangelicanska Cerkev A.V.v Republiki Sloveniji<br />

Evangelisch- Lutherische Kirche AB <strong>in</strong> Slowenien<br />

Evangelische Kirche AB <strong>in</strong> Österreich<br />

Evangelische Kirche <strong>der</strong> Pfalz<br />

Evangelische Kirche HB <strong>in</strong> Österreich<br />

Evangelische Kirche im Fürstentum Liechtenste<strong>in</strong><br />

Evangelische Landeskirche <strong>in</strong> Baden<br />

Evangelische Landeskirche Württemberg<br />

Evangelisch-Lutherische Kirche <strong>in</strong> Bayern<br />

Evangelisch-Lutherische Kirche <strong>in</strong> Russland und an<strong>der</strong>en Staaten (ELKRAS)<br />

Evangelisch-Methodistische Kirche Mittel- und Südeuropa, vertreten durch Österreich<br />

Evangelisch-Reformierte Kirche<br />

Evanjelická Cirkev Augsburského Wyznania na Slovensku<br />

Evangelische Kirche AB <strong>in</strong> <strong>der</strong> Slowakischen Republik<br />

Kárpátaljai Református Egyház<br />

Reformierte Kirche <strong>in</strong> Transkarpatien<br />

Kosciól Ewangelicko-Augsburski w RP<br />

Evangelische Kirche AB <strong>in</strong> Polen<br />

Magyarországi Evangélikus Egyház<br />

Evangelisch-Lutherische Kirche <strong>in</strong> Ungarn<br />

Magyarországi Református Egyház<br />

Reformierte Kirche <strong>in</strong> Ungarn<br />

Reformovaná Krest. Cirkev na Slovensku<br />

Reformierte Christliche Kirche <strong>in</strong> <strong>der</strong> Slowakei<br />

Romániai Református Egyház<br />

Reformierte Kirche <strong>in</strong> Rumänien Siebenbürgen<br />

Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund<br />

Szerbiai Református Keresztyén Egyház<br />

Reformierte Christliche Kirche <strong>in</strong> Serbien<br />

Slezká Cirkev Evangelicka A.V<br />

Schlesische Evangelische Kirche AB <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tschechischen Republik<br />

Slovenská Evanjelika A.V. Cirkev v Srbija<br />

Slowakische Evangelische Kirche AB <strong>in</strong> Serbien<br />

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