02.11.2013 Aufrufe

Ziegler VR Kapitel 5

Ziegler VR Kapitel 5

Ziegler VR Kapitel 5

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

5. <strong>Kapitel</strong>: Völkerrecht und Landesrecht<br />

Literatur: Schweiz: Müller, Jörg Paul/Wildhaber, Luzius, Praxis des Völkerrechts,<br />

3. Aufl., Bern 2001, 153–208; Perrin, Georges, Droit international public – Sources,<br />

sujets caractéristiques, Zürich 1999, 809–842; Deutschland/Österreich: Doehring,<br />

Karl, Völkerrecht – Ein Lehrbuch, 2. Aufl., Heidelberg 2004, 302–326; Fischer,<br />

Peter/Köck, Heribert Franz, Völkerrecht – Das Recht der universellen Staatengemeinschaft,<br />

6. Aufl., Wien, 2004, 41–48; Herdegen, Matthias, Völkerrecht, 4. Aufl.,<br />

München 2005, 154–170; Hobe, Stephan/Kimminich, Otto, Einführung in das Völkerrecht,<br />

8. Aufl., Tübingen 2004, 223–234; Seidl-Hohenveldern, Ignaz/Stein, Torsten,<br />

Völkerrecht, 10. Aufl., Köln 2000, 118–128; Vitzthum, Wolfgang Graf (Hrsg.),<br />

Völkerrecht, 2. Aufl., Berlin 2001, 104–168; Frankreich: Carreau, Dominique, Droit<br />

international, 7 e éd., Paris 2001, 43–68; Daillier, Patrick/Pellet, Alain, Droit international<br />

public, 7 e éd., Paris 2002, 92–97; Decaux, Emmanuel, Droit international<br />

public, 3 e éd., Paris 2002, 65–71; Dupuy, Pierre-Marie, Droit international public,<br />

7 e éd., Paris 2004, 403–454; Ruzié, David, Droit international public, 17 e éd., Paris<br />

2004, 10–15; Englisch: Brownlie, Ian, Principles of Public International Law, 6 th ed.,<br />

Oxford 2003, 31–53; Cassese, Antonio, International Law, 2 nd ed., Oxford 2005,<br />

211–240; Shaw, Malcolm N., International Law, 5 th ed., Cambridge 2003, 120–174.<br />

5.1. Ausgangslage<br />

Aufgrund der Ausweitung des Regelungsgegenstandes und insbesondere<br />

der Anerkennung des Individuums als partielles Völkerrechtssubjekt sind<br />

(entgegen der allgemeinen Wahrnehmung) die meisten Anwendungsfälle<br />

des internationalen Rechts heutzutage im Rahmen der innerstaatlichen<br />

Rechtsordnung angesiedelt. Dies hängt insbesondere zusammen mit der<br />

relativen Seltenheit internationaler Gerichte bzw. deren beschränkter<br />

Kompetenz (vgl. <strong>Kapitel</strong> 7.1.7.2) und mit der noch selteneren Möglichkeit<br />

für Individuen, vor internationale Institutionen zu gelangen (vgl.<br />

<strong>Kapitel</strong> 8.3.2.1 und 10.2.2).<br />

Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts führte die Zunahme internationaler<br />

Verträge zur vermehrten Auseinandersetzung mit der Frage, ob und<br />

wie das internationale Recht überhaupt innerhalb der innerstaatlichen<br />

Rechtsordnung Wirkungen entfalten könne. Dabei waren es v.a. die völkerrechtlichen<br />

Verträge, welche zu dieser Frage Anlass gaben, da das<br />

damalige Völkergewohnheitsrecht ohnehin selten mit anderen Fragen als<br />

den diplomatischen Beziehungen zwischen Staaten befasst war. Zwei<br />

grosse Strömungen stehen sich seit damals gegenüber, welche verschiedene<br />

innerstaatliche Rechtsordnungen unterschiedlich geprägt haben,<br />

ohne dass die Mehrheit der Staaten die Umsetzung einer davon in reiner<br />

Form vorgenommen hätte.<br />

263<br />

264<br />

265


266<br />

267<br />

Für den Monismus (monisme / teoria monista / Monism), d.h. die<br />

Vertreter der monistischen Denkrichtung wie Hans Kelsen (Österreich,<br />

1881–1973) oder Georg Scelle (Frankreich, 1878–1961), existiert logischerweise<br />

nur eine Rechtsordnung, in der im Konfliktfall internationales<br />

Recht und innerstaatliches Recht (Landesrecht) durch Kollisionsregeln<br />

koordiniert werden müssen. Entsprechend der Vorrangsregeln spricht<br />

man vom Monismus mit Vorrang des innerstaatlichen Rechts (Primat des<br />

Landesrechts) oder vom Monismus mit Vorrang des internationalen<br />

Rechts (Primat des Völkerrechts).<br />

Die diametral entgegengesetzte Denkrichtung wird Dualismus (dualisme<br />

/ teoria dualista / Dualism) genannt, weil Juristen wie Heinrich<br />

Triepel (1868–1946) oder Dionisio Anzilotti (1867–1950) davon ausgingen,<br />

dass aufgrund der Rechtssubjekte, der Regelungsgegenstände und<br />

der Rechtsquellen die beiden Rechtsordnungen, das internationale Recht<br />

und das innerstaatliche Recht, nebeneinander stehen. Diese Konzeption<br />

führt dazu, dass das Völkerrecht immer eines formalen Aktes des innerstaatlichen<br />

Gesetzgebers bedarf, um innerstaatliche Geltung zu erlangen.<br />

Diese beiden theoretischen Konzeptionen haben in mehr oder weniger<br />

ausgeprägter Form verschiedene Staaten bei ihrer verfassungsmässigen<br />

Ausgestaltung hinsichtlich der Geltung und Anwendung des Völkerrechts<br />

beeinflusst. Dabei gilt es festzuhalten, dass auf internationaler<br />

Ebene die Berufung auf das innerstaatliche Recht zur Begründung der<br />

Verletzung völkerrechtlicher Normen, sei es des ungeschriebene Rechts<br />

oder des Vertragsrechts (pacta sunt servanda, vgl. auch Art. 27 WVÜ),<br />

ohnehin nicht zulässig ist. Eine allfällige Verletzung wird im internationalen<br />

Recht bis heute normalerweise nur als allfälliges Problem der<br />

Rechtsfolgen einer solchen Verletzung des Völkerrechts (vgl. insbesondere<br />

<strong>Kapitel</strong> 6.3.1 und <strong>Kapitel</strong> 6.4) behandelt und führt nicht automatisch<br />

zur Ungültigkeit des innerstaatlichen (völkerrechtswidrigen) Rechts.<br />

268<br />

5.2. Geltung<br />

5.2.1 Ungeschriebenes Recht<br />

Bezüglich der Geltung (validité / validità / Validity) des Völkergewohnheitsrechts<br />

(und soweit relevant der allgemeinen Rechtsgrundsätze und<br />

damit des gesamten allgemeinen Völkerrechts) hat traditionell stets die<br />

monistische Tendenz überwogen, selbst wenn aufgrund der Regelungsbereiche<br />

wenige Anwendungsfälle verzeichnet werden konnten. Die<br />

Tatsache, dass der genaue Umfang und Entstehungszeitpunkt gewohnheitsrechtlicher<br />

internationaler Normen schwer fassbar ist, hat stets die


unmittelbare Geltung ohne Transformationsakt und damit durch blosse<br />

automatische Inkorporation oder Adoption begünstigt. Der bekannte<br />

und immer wieder zitierte Grundsatz «The Law of Nations is part of the<br />

law of the land» des englischen Juristen Sir William Blackstone (1723–<br />

1780) für das Common Law gibt dies besonders markant wieder. Dennoch<br />

gibt es bis in die heutige Zeit Staaten, die dem Völkergewohnheitsrecht<br />

dogmatisch jede innerstaatliche Geltung (und damit insbesondere<br />

die Möglichkeit der Berufung durch Individuen auf Völkergewohnheitsrecht)<br />

absprechen.<br />

Beispiele:<br />

– In Deutschland sprechen eher dualistisch orientierte Autoren auch<br />

von Generaltransformation, die aber automatisch gilt (Art. 25 Grundgesetz<br />

der Bundesrepublik Deutschland), womit faktisch eine automatische<br />

Inkorporation resultiert.<br />

– In Australien vertritt die herrschende Meinung bis heute die These,<br />

dass Gewohnheitsrecht nie ohne Transformationsakt in der innerstaatlichen<br />

Rechtsordnung Wirkung entfalten kann (vgl. Chow Hung<br />

Ching v. R [1948] 77 CLR 449 at 462, 471, 477; Re Jane [1988] 85<br />

ALR 409 und Nulyarimma v. Thompson [1999] 165 ALR 621).<br />

5.2.2 Internationale Verträge<br />

Bezüglich des Völkervertragsrechts hingegen, kommen die dogmatischen<br />

Unterschiede bis heute stärker zum Tragen. Monistisch beeinflusste<br />

Staaten nehmen hier eine direkte Geltung von Verträgen (allenfalls<br />

unter Beachtung der innerstaatlichen Publikationserfordernisse) mit Inkrafttreten<br />

der Verträge an. Man spricht auch hier teilweise von Adoption<br />

oder automatischer Inkorporation. Diese direkte Geltung kann<br />

aber dennoch die Umsetzung durch ein Gesetz notwendig machen, wenn<br />

der Vertragsinhalt für eine direkte Anwendung zu wenig genau bestimmt<br />

ist (vgl. unten).<br />

Dualistisch geprägte Staaten hingegen verlangen auf jeden Fall eine<br />

Transformation oder die auf den Einzelfall bezogene Inkorporation<br />

durch einen Transformationsakt (acte de transformation / atto di trasformazione<br />

/ Act of Transformation), wobei dieser in einem Gesetz oder<br />

einem andersartigen Rechtsakt bestehen kann. Die Durchführung geschieht<br />

in Form einer kompletten oder teilweisen Überführung des Vertragstextes<br />

in Gesetzesform (Transformationsgesetz) oder durch blosse<br />

Feststellung der Anwendbarkeit des Vertrages (Anwendungsbefehl,<br />

269<br />

270


271<br />

ordre d’exécution / ordine di esecuzione / Act of Transformation or Execution).<br />

Auch hier können oft Konkretisierungen sehr abstrakter internationaler<br />

Normen einfliessen, wodurch ein Transformationsgesetz eines<br />

dualistisch geprägten Staates mit dem allenfalls zur Konkretisierung<br />

notwendigen Umsetzungsgesetz eines monistisch geprägten Staates praktisch<br />

identisch wird. Zudem besteht heute in beiden Fällen eine Tendenz,<br />

das internationale Recht und die innerstaatlichen Rechtsakte durch Auslegung<br />

in Einklang zu bringen (vgl. <strong>Kapitel</strong> 5.4.1).<br />

Es ist in jüngster Zeit eine wohl eher monistische Tendenz zu beobachten.<br />

Dies gilt zumindest in vielen westlichen Industriestaaten, welche<br />

eine unmittelbare Geltung von Verträgen annehmen (vgl. etwa Belgien,<br />

Niederlande, Spanien, Vereinigte Staaten). Neben den traditionell<br />

dualistisch beeinflussten Staaten (Italien, Deutschland, skandinavische<br />

Staaten etc.) verlangen v.a. jene in jedem Fall einen Umsetzungsakt zum<br />

Schutz der Gesetzgebungskompetenzen des Parlaments, die durch den<br />

britischen Parlamentarismus geprägt sind (Grossbritannien, Kanada,<br />

Australien etc.).<br />

Beispiele:<br />

– Grossbritannien: European Communities Act von 1972 (EG), oder in<br />

jüngerer Vergangenheit Human Rights Act von 1998 (EMRK).<br />

– Dänisches Recht über den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte<br />

von 1992 (EMRK).<br />

– Art. 25 und 59 GG: Spezialtransformation für Verträge notwendig;<br />

hingegen Generaltransformation des allgemeinen Völkerrechts.<br />

– Art. 10 der italienischen Verfassung: Generaltransformation für allgemeines<br />

Völkerrecht; spezielle Umsetzung für Verträge.<br />

272<br />

Zu beachten ist hierbei, dass alle Mitgliedstaaten der Europäischen<br />

Union (d.h. auch Grossbritannien, Schweden, Finnland, Deutschland,<br />

Italien etc.) für das europäische Gemeinschaftsrecht auf jeden Fall<br />

keinen grundsätzlichen Vorbehalt eines Umsetzungsaktes vorsehen dürfen.<br />

273<br />

5.2.3 Regelung in der Schweiz<br />

In der Schweiz, wie in vielen Staaten, fehlt es an einer Regel im Rahmen<br />

des geschriebenen Rechts, die festlegt, wie das Völkerrecht in der internen<br />

Rechtsordnung zur Geltung kommen soll. Zwar besagt Art. 5 Abs. 4<br />

BV, dass Bund und Kantone das Völkerrecht beachten. Ausserdem


hält Art. 191 BV fest, dass das Bundesgericht neben Bundesgesetzen an<br />

völkerrechtliche Verträge gebunden ist. Diese Normen sind jedoch zu<br />

allgemein gefasst, als dass nach herrschender Lehre daraus ohne weiteres<br />

auf die konkrete Anwendbarkeit völkerrechtlicher Vorgaben in der innerstaatlichen<br />

Rechtsordnung geschlossen werden könnte. Man geht aber<br />

traditionell von einer monistisch motivierten Adoption aus, die dazu<br />

führt, dass alle die Schweiz auf völkerrechtlicher Ebene bindenden Normen<br />

auch automatisch im innerstaatlichen Recht zur Geltung kommen.<br />

Diese Haltung vertritt heute auch regelmässig das Bundesgericht.<br />

Beispiele:<br />

– BGE 49 I 188 166 (Lepeschkin): In diesem Fall vertrat das Bundesgericht<br />

noch die Vollzugsbefehlstheorie.<br />

– Gemeinsame Stellungnahme des Bundesamtes für Justiz und der<br />

Direktion für Völkerrecht vom 26. April 1989, in: VPB 53 (1989) IV<br />

Nr. 54.<br />

– BGE 122 II 234, 237, E. 4. a: «Ein von der Bundesversammlung genehmigter<br />

Staatsvertrag wird mit dem Austausch der Ratifikationsurkunden<br />

für die Vertragsstaaten völkerrechtlich verbindlich; er erlangt<br />

zusammen mit der völkerrechtlichen auch landesrechtliche Wirkung.»<br />

5.2.4 Formelle Mängel und innerstaatliche Geltung<br />

In vielen Rechtssystemen wird bezüglich des Völkerrechts und dessen<br />

Anwendung durch innerstaatliche Gerichte immer wieder auf die Frage<br />

der Kontrolle der auswärtigen Gewalt durch Gerichte und andere Instanzen<br />

hingewiesen. Vor allem in Staaten mit einer breit ausgebauten<br />

Verfassungsgerichtsbarkeit ist die Kontrolle der auswärtigen Gewalt<br />

bzw. die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Aussen- und Sicherheitspolitik<br />

heute ein wichtiges Thema.<br />

In den wenigen Fällen, in denen eine Verletzung innerstaatlicher<br />

Kompetenzregeln festgestellt wurde, kam es in der Schweiz zudem<br />

aufgrund der Abstützung auf den Grundsatz der «völkerrechtlichen Vertragstreue»<br />

zu keinen Konsequenzen. In Verletzung der innerstaatlichen<br />

Zuständigkeitsregeln des Bundesrechts abgeschlossene Staatsverträge<br />

sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts grundsätzlich dennoch<br />

in der Schweiz gültig. Daher gilt auch, dass die Verletzung einer innerstaatlichen<br />

materiellen Norm nicht die Ungültigkeit eines völkerrechtlichen<br />

Vertrages in der Schweiz zur Folge hat, wobei auf innerstaatlicher<br />

274<br />

275


Ebene durch die Kollision von Sachnormen zur gleichen Materie die<br />

Möglichkeit zum Eingriff durch den Richter besteht. Einzig bei offenkundigen<br />

Verstössen oder Verletzung einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift<br />

von grundlegender Bedeutung (importance fondamentale / importanza<br />

fondamentale / Fundamental Importance) wird die Ungültigkeit<br />

des völkerrechtlichen Vertrages zugelassen (vgl. Art. 46 WVÜ, siehe<br />

dazu <strong>Kapitel</strong> 4.5).<br />

Beispiele:<br />

– BGE 120 Ib 360: Dabei stand zur Debatte, ob ein im vereinfachten<br />

Verfahren abgeschlossener Niederlassungsvertrag vom Bundesgericht<br />

anzuwenden war, falls der Bundesrat bei dessen Abschluss unzulässigerweise<br />

auf die Zustimmung des Parlaments verzichtet hatte. Nach<br />

ausführlicher Analyse der Kompetenzsituation, in der das Bundesgericht<br />

zumindest erhebliche Zweifel am kompetenzgemässen Vorgehen<br />

des Bundesrats hegte, kam das Bundesgericht allerdings zum<br />

Schluss, dass die Einhaltung des innerstaatlichen Verfahrens für die<br />

Frage der Beachtung eines Völkervertrages durch das Bundesgericht<br />

unerheblich sei. Aufgrund der völkerrechtlichen Gültigkeit und des<br />

Prinzips der unmittelbaren Geltung des Vertrages im Landesrecht sei<br />

der Vertrag «von allen Staatsorganen einzuhalten und anzuwenden<br />

…. Auch der Richter kann daher einem Staatsvertrag, der völkerrechtlich<br />

verbindlich ist, die Anwendung nicht versagen unter Berufung<br />

darauf, dass die innerstaatliche Kompetenzordnung beim Vertragsabschluss<br />

nicht eingehalten worden sei.» Diese Rechtsprechung<br />

wurde auch später durch das Bundesgericht bestätigt.<br />

– BGE 124 II 293, 307–308: «Staatsverträge sind selbst dann für den<br />

Richter verbindlich, wenn sie unter Verletzung der innerstaatlichen<br />

Zuständigkeitsregeln zustande gekommen sind, sofern die Verletzung<br />

nicht offenkundig ist und eine innerstaatliche Rechtsnorm von grundlegender<br />

Bedeutung betrifft (vgl. Art. 46 der Wiener Konvention vom<br />

23. Mai 1969 über das Recht der Verträge, in Kraft getreten für die<br />

Schweiz am 6. Juni 1990 [SR 0.111]; BGE 120 Ib 360 ff.).»


5.3. Direkte Anwendbarkeit<br />

5.3.1 Problemumschreibung<br />

Man könnte meinen, dass die Geltung einer völkerrechtlichen Norm<br />

aufgrund der automatischen Adoption oder der Transformation ohne<br />

weiteres zu ihrer Anwendbarkeit in der Rechtsanwendung (Gerichte,<br />

Behörden) führen würde. Wie auch in anderen Rechtsgebieten ist dem<br />

jedoch in vielen Rechtsordnungen nicht so.<br />

So existieren völkerrechtliche Normen, die von den innerstaatlichen<br />

Rechtsanwendungsorganen vieler Staaten als zu wenig präzise und verbindlich<br />

angesehen werden, als dass darauf direkte Rechtsfolgen gestützt<br />

werden könnten. Selten sehen etwa völkerrechtliche Verträge ihre direkte<br />

oder unmittelbare Anwendbarkeit (applicabilité directe / applicazione<br />

diretta / Self-executing Character of a Norm) selbst vor. Traditionell<br />

wurde hier den innerstaatlichen Organen ein grosser Spielraum eingeräumt,<br />

wie sie ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen innerstaatlich<br />

nachkommen wollen. Erst in neuerer Zeit besteht aufgrund eines veränderten<br />

Verständnisses der Rolle des Individuums eine grössere Tendenz,<br />

die direkte Anwendung oder die entsprechende Umsetzung durch innerstaatliche<br />

Konkretisierungsakte zu erwarten. Oft wird in diesem Zusammenhang<br />

auch die angelsächsische Terminologie verwendet, so dass man<br />

sich fragt, ob eine Norm «self-executing» sei oder eben «non selfexecuting».<br />

276<br />

Beispiel:<br />

– StIGH, Jurisdiction of the Courts of Danzig (Pecuniary Claims of<br />

Danzig Railway Officials who have Passed into the Polish Service,<br />

against the Polish Railways Administration), Advisory Opinion<br />

No. 15 of 3 March 1928, PCIJ, Ser. B., No. 15, 1928. Rechtssache zur<br />

Klärung der Frage der Verantwortlichkeit der Gerichte von Danzig:<br />

Ein Abkommen zwischen Polen und der freien Stadt Danzig regelte<br />

die Stellung der Danziger Eisenbahnangestellten. Der Gerichtshof<br />

lehnte die Schaffung direkter Rechte durch den Vertrag zur damaligen<br />

Zeit ab, aber entnahm ihm eine Verpflichtung zur Schaffung entsprechender<br />

innerstaatlicher Rechtspositionen.


5.3.2 Völkerrecht vor innerstaatlichen Gerichten<br />

277<br />

In Rechtssystemen, welche eine Transformation insbesondere von Verträgen<br />

durch innerstaatliche Gesetze vorsehen, ist es stets nur das entsprechende<br />

Gesetz (bzw. der Transformationsakt), welches direkt angewendet<br />

werden kann. In monistisch beeinflussten Staaten, welche die<br />

unmittelbare Geltung von Verträgen zulassen, stellt sich hingegen oft die<br />

Frage, ob eine Vertragsbestimmung der direkten Anwendbarkeit zugänglich<br />

ist oder ob aufgrund der grossen Abstraktheit ein innerstaatliches<br />

Gesetz zur Konkretisierung notwendig ist. Insbesondere stellt sich hier<br />

regelmässig die Frage, ob der Einzelne sich vor innerstaatlichen Gerichten<br />

und Behörden auf die Norm berufen (invoquer / invocare / Invoke)<br />

kann. Dabei zeigt sich, dass die Frage der direkten Anwendbarkeit in<br />

vielen Staaten auch zur Sicherung gewisser innerstaatlicher Erlassprärogativen<br />

von Exekutive oder Parlament benutzt wird, um die als andernfalls<br />

zu gross empfundene Bindungswirkung internationaler Verträge auf<br />

der innerstaatlichen Ebene einzuschränken. Dies führt natürlich oft zu<br />

der Frage der richtigen Qualifizierung einer völkervertragsrechtlichen<br />

Bestimmung durch die innerstaatlichen Rechtsanwender.<br />

278<br />

5.3.3 Regelung in der Schweiz<br />

In der Schweiz wird die Frage der direkten Anwendbarkeit völkerrechtlicher<br />

Normen regelmässig durch die Gerichte und Behörden geprüft.<br />

Dabei haben sich in der Rechtsprechung – ähnlich wie in vielen anderen<br />

Staaten – folgende Kriterien für die Frage, ob eine Norm direkt anwendbar,<br />

d.h. self-executing ist, herausgebildet (vgl. BGE 118 Ia 112, 116<br />

oder BGE 124 III 90, 91; dazu unten).<br />

Die Bestimmung selbst<br />

– ist inhaltlich hinreichend bestimmt und klar (suffisamment claires<br />

et précises / sufficientemente chiare e preciso / sufficiently clear and<br />

precise) und kann im Einzelfall Grundlage eines Entscheides bilden;<br />

ist also somit justiziabel (justiciable / giustiziabile / Justiciable<br />

Question);<br />

– hat Rechte und Pflichten des Einzelnen zum Inhalt;<br />

– richtet sich an die innerstaatlichen rechtsanwendenden Behörden.


Beispiele:<br />

– BGE 100 Ib 226: Eine Bestimmung, welche den Behörden erlaubt,<br />

aus zwingenden Gründen des staatlichen Interesses eine Aufenthaltsbewilligung<br />

nicht zu verlängern, wurde als nicht justiziabel betrachtet.<br />

– BGE 120 Ia 1: Das Recht auf Bildung (Art. 13 Abs. 2 Bst. c UN-Pakt<br />

I) sei zu wenig bestimmt zur direkten Anwendung. Zudem richte sich<br />

diese Bestimmung bloss an den Gesetzgeber.<br />

Die erforderliche Bestimmtheit geht aufgrund der Rechtsprechung<br />

des Bundesgerichts vor allem blossen Programmartikeln ab. Sie fehlt<br />

auch Bestimmungen, die eine Materie nur in Umrissen regeln, dem Vertragsstaat<br />

einen beträchtlichen Ermessens- oder Entscheidungsspielraum<br />

lassen oder blosse Leitgedanken enthalten, sich also nicht an die Verwaltungs-<br />

oder Justizbehörden, sondern an den Gesetzgeber richten.<br />

Daneben kann die entsprechende Charakterisierung einer Bestimmung in<br />

der Praxis u.U. vom gesamten Charakter eines Vertrages abhängen, insbesondere<br />

bei politisch heiklen Fragen, so speziell in der Aussenwirtschaftspolitik<br />

(insbesondere GATT, WTO, FHA Schweiz-EG) oder bei<br />

wirtschaftlichen Ansprüchen des Einzelnen gegen den Staat (z.B. UN-<br />

Pakt I von 1966). Diese Interpretation wird immer wieder kritisiert. Hingegen<br />

wird in der Schweiz im Bereich der bürgerlichen und politischen<br />

Rechte (insbesondere EMRK, UN-Pakt I von 1966 etc.) sowie in Verträgen,<br />

die zur Jurisdiktionsabgrenzung dienen (Zivilverfahrensrecht,<br />

Rechtshilfeabkommen oder Doppelbesteuerungsabkommen etc.) regelmässig<br />

die direkte Anwendbarkeit der in Betracht kommenden Bestimmungen<br />

internationaler Verträge angenommen.<br />

279<br />

Beispiele:<br />

– BGE 98 Ib 385, Banque de Crédit internationale / Kanton Genf:<br />

EFTA-Konvention kann teilweise direkt anwendbar sein.<br />

– BGE 104 IV 175 (Stanley Adams): Art. 23 FHA Schweiz–EG ist<br />

nicht direkt anwendbar.<br />

– BGE 105 II 49 (OMO-Fall): Art. 13 und 20 FHA Schweiz–EG sind<br />

nicht direkt anwendbar; Charakter des Vertrages als Handelsabkommen<br />

ist entscheidend (oft kritisiert).<br />

– BGE 112 Ib 183, Maison G. Sprl / Oberzolldirektion: Behandlung<br />

von Art. 13 FHA Schweiz–EG, ohne auf Frage der direkten Anwendbarkeit<br />

einzugehen (was in casu auch nicht notwendig war).


– BGE 121 V 246: Konstante Praxis bestätigt, dass Bestimmungen des<br />

UN-Pakt I nicht direkt anwendbar seien.<br />

5.4. Rang<br />

5.4.1 Konfliktvermeidung<br />

280<br />

Selbst wenn eine völkerrechtliche Norm die Hürden von Geltung und<br />

direkter Anwendbarkeit nimmt, kann es zur Unvereinbarkeit mit dem<br />

innerstaatlichen Recht kommen.<br />

Normalerweise wird der Rechtsanwender versuchen, durch Auslegung<br />

eine Kollision von vornherein zu verhindern, sei es durch eine<br />

völkerrechtsfreundliche Auslegung des innerstaatlichen Rechts, sei es<br />

durch eine restriktive Auslegung der Reichweite des Völkerrechts, wobei<br />

hierbei grundsätzlich die völkerrechtlichen Regeln zur Auslegung von<br />

Verträgen (vgl. <strong>Kapitel</strong> 4.10) zu beachten sind.<br />

281<br />

5.4.2 Völkerrechtliche Regel<br />

Erst wenn keine Kollision vermeidbar erscheint, stellt sich die Frage<br />

nach dem Rang des Völkerrechts (hiérarchie / rango / Hierarchy or<br />

Priority) in der nationalen Rechtsordnung. Wie wir gesehen haben, geht<br />

auf internationaler Ebene ohnehin das Völkerrecht vor (vgl. oben, und so<br />

auch Art. 27 WVÜ), aber dies bindet den innerstaatlichen Richter oder<br />

Rechtsanwender nicht automatisch (zum Problem der Koordinierung<br />

verschiedener sich widersprechender völkerrechtlicher Normen, insbesondere<br />

Verträge, vgl. <strong>Kapitel</strong> 3.9.3 und 4.11).<br />

Beispiele:<br />

– Alabama-Fall (Vereinigtes Königreich von Grossbritannien v. Vereinigte<br />

Staaten von Amerika, Vertrag von Washington vom 8. Mai<br />

1871, in: La Pradelle et Politis, Band II, 777–781), Schiedsspruch<br />

vom 14. September 1872.<br />

– StIGH, Interpretation of the Convention Between Greece and Bulgaria<br />

Respecting Reciprocal Emigration, Signed at Neuilly-Sur-Seine<br />

on November 27th, 1919 (Question of the «Communities»). Short<br />

Title: The Greco-Bulgarian «Communities», Advisory Opinion No.<br />

17 of 31 July 1930, PCIJ, Ser. B., No. 17, 1930, p. 32: «It is a gener-


ally accepted principle of international law that in the relations between<br />

Powers who are contracting Parties to a treaty, the provisions<br />

of municipal law cannot prevail over those of the treaty.»<br />

– IGH, Elettronica Sicula S.p.A. (ELSI) (1987–1989), Judgment of<br />

20 July 1989, ICJ Reports 1989, p. 15 ff., 51: «Compliance with<br />

municipal law and compliance with the provisions of a treaty are<br />

different questions. What is a breach of treaty may be lawful in the<br />

municipal law and what is unlawful in the municipal law may be<br />

wholy innocent of violation of a treaty provision».<br />

– IGH, Applicability of the Obligation to Arbitrate under Section 21 of<br />

the United Nations Headquarters Agreement of 26 June 1947 (1988).<br />

Advisory Opinion of 26 April 1988, ICJ Reports 1988, p. 12, 26, pan.<br />

57: «…to recall the fundamental principle of international law that<br />

international law prevailed over domestic law…».<br />

5.4.3 Innerstaatliche Lösung<br />

In jenen Staaten, in denen das Völkerrecht aufgrund eines innerstaatlichen<br />

Transformationsaktes gilt, kommen zumeist die normalen Kollisionsregeln<br />

des innerstaatlichen Rechts zur Anwendung. Verfassungsrecht<br />

bricht dann etwa das Transformationsgesetz, und spätere Gesetze<br />

gehen früheren (Transformations-) Gesetzen vor (lex posterior). In gewissen<br />

Fällen kann das völkerrechtlich frühere Gesetz aber dennoch als<br />

lex specialis betrachtet werden (so z.B. häufig in Italien).<br />

Auch in monistischen Staaten wird oft dem später ergangenen Gesetz<br />

der Vorrang vor früher in Kraft getretenen Verträgen eingeräumt (USA:<br />

«later in time rule»).<br />

Nur wenige Staaten räumen dem Völkerrecht (soweit es als gültig<br />

und direkt anwendbar erachtet wird) in allen Fällen innerstaatlich den<br />

Vorrang ein (so z.B. Art. 91 der Verfassung der Niederlande).<br />

282<br />

283<br />

284<br />

5.4.4 Schweiz<br />

In der Schweiz betont das Bundesgericht die Pflicht zur Vermeidung von<br />

Konflikten zwischen Landesrecht und Völkerrecht durch eine entsprechende<br />

Auslegung. In seiner jüngsten Rechtsprechung hat das Bundesgericht<br />

verschiedentlich erklärt, dass sich die Eidgenossenschaft nicht<br />

unter Berufung auf inländisches Recht ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen<br />

entziehen könne. Das Landesrecht müsse daher in erster Linie<br />

völkerrechtskonform (interprétation du droit national conforme au<br />

285


droit international / interpretazione conforme al diritto internazionale /<br />

Interpretation in Conformity with the International Obligations) ausgelegt<br />

werden. Dabei ist bemerkenswert, dass die Schweizer Behörden und<br />

Gerichte auch Bestimmungen, deren direkte Anwendbarkeit sie offen<br />

lassen, zur völkerrechtskonformen Auslegung des innerstaatlichen<br />

Rechts heranziehen.<br />

286<br />

287<br />

288<br />

Beispiele:<br />

– BGE 125 II 417 E. 4c.<br />

– BGE 117 Ib 367 E. 2f.<br />

– BGE 131 II 271 E. 10.4.2: Staatsvertragskonforme Auslegung des<br />

Art. 32e Abs. 2 des Umweltschutzgesetzes (USG).<br />

– Entscheid der Eidgenössischen Zollrekurskommission vom 29. August<br />

2001 i.S. S. [ZRK 2000-020]: völkerrechtskonforme Auslegung<br />

im Licht des Freihandelsabkommens Schweiz-EG.<br />

– Entscheid der Eidgenössischen Rekurskommission für Infrastruktur<br />

und Umwelt (REKO/INUM) vom 20. Oktober 2005 betreffend die<br />

völkerrechtskonforme Auslegung im Licht von GATT/WTO und<br />

FHA Schweiz–EG.<br />

Daneben besteht seit Jahren eine dogmatische Kontroverse über den<br />

genauen Rang des Völkerrechts. Diese Frage kann aber in der Praxis oft<br />

durch eine entsprechende Auslegung vermieden werden. Grundsätzlich<br />

geht das Bundesgericht heute davon aus, dass das innerstaatliche Recht<br />

nach Möglichkeit völkerrechtskonform auszulegen sei. Im Konfliktfall<br />

hat sich grundsätzlich der Vorrang des Völkerrechts auch in der Rechtsprechung<br />

des Bundesgerichts durchgesetzt.<br />

Dennoch bestehen Unsicherheiten, ob nicht in gewissen Fällen einem<br />

späteren Bundesgesetz aufgrund des Wortlauts von Art. 191 BV der<br />

Vorrang einzuräumen sei. Zumindest soll dies dann der Fall sein, wenn<br />

sich der Gesetzgeber des Konflikts offensichtlich bewusst gewesen sei<br />

(sog. Schubertpraxis, aufgrund von BGE 99 Ib 39 Schubert, vgl. unten).<br />

In den letzten Jahren wurde vermehrt dem Völkerrecht ein absoluter<br />

Vorrang eingeräumt, dabei ging es jedoch zumeist um die EMRK. Es<br />

entsteht zumindest im Bereich der Menschenrechte der Eindruck, dass<br />

in der Schweiz heute der absolute Vorrang des Völkerrechts anerkannt<br />

sei. Dennoch hat das Bundesgericht die Schubertpraxis nie offiziell widerrufen.<br />

Zudem ging man bei der Neugestaltung des Verfassungsreferendums<br />

davon aus, dass zumindest der Verfassungsgeber nur vom<br />

zwingenden Völkerrecht nicht abweichen darf (vgl. oben); im Februar<br />

2004 kam es beispielsweise zur Annahme einer nach herrschender An-


sicht offensichtlich EMRK-widrigen Verfassungsinitiative (sog. Verwahrungsinitiative,<br />

vgl. <strong>Kapitel</strong> 5.5).<br />

Beispiele:<br />

– BGE 59 II 331 (Steenworden): Noch Vertretung des Standpunktes<br />

«lex posterior derogat legi priori», auch für späteres Landesrecht.<br />

– BGE 94 I 669 (Frigerio): Völkerrechtskonforme Auslegung (E. 4).<br />

– BGE 97 I 372 (Grosby): Bestätigung des Vorrangs des Völkerrechts.<br />

– BGE 99 Ib 39 (Schubert): Völkerrechtsfreundliche Auslegung, aber<br />

wenn der Souverän oder das Parlament bewusst von völkerrechtlichen<br />

Pflichten abweichen, so ist dieser Entscheid vom BG nicht<br />

überprüfbar.<br />

– BGE 100 Ia 407 E. 1b, S. 410: Im Konfliktfall geht das Völkerrecht<br />

dem Landesrecht prinzipiell vor.<br />

– BGE 109 Ib 165 E. 7b, S. 173: Im Konfliktfall geht das Völkerrecht<br />

dem Landesrecht prinzipiell vor.<br />

– BGE 111 V 201: Übereinkommen Nr. 128 der internationalen Arbeiterorganisation<br />

und Europäische Ordnung der sozialen Sicherheit,<br />

SR 0.831.104; Bestätigung der Schubertpraxis.<br />

– BGE 117 Ia 373 E. 2.d: Appellurteil bezüglich EMRK möglich.<br />

– BGE 118 Ia 341: Obiter dictum, Appellurteil bezüglich EMRK möglich.<br />

– Vgl. auch die gemeinsame Stellungnahme des Bundesamtes für Justiz<br />

und der Direktion für Völkerrecht vom 26. April 1989, VPB 53<br />

(1989) IV Nr. 54, Ziff. 15.<br />

– BGE 122 II 234 E. 4e, S. 239: «…das Völkerrecht hat grundsätzlich<br />

Vorrang…».<br />

– BGE 122 II 485 E. 3a, S. 487: Im Konfliktfall geht das Völkerrecht<br />

dem Landesrecht prinzipiell vor, EMRK («…hiérarchiquement supérieure<br />

à toute règle interne…»).<br />

– BGE 125 II 417 E. 4 ff., S. 420: Bundesgericht setzt sich aufgrund<br />

von Art. 6 EMRK über das Überprüfungsverbot für Bundesratsentscheide<br />

in Art. 98 Abs. 1 lit. a OG Bundesrechtspflegegesetz hinweg<br />

und überprüft einen Entscheid des Bundesrates auf seine Rechtmässigkeit.<br />

– BGE 125 III 209 E. 6e in fine: Im Konfliktfall geht das Völkerrecht<br />

dem Landesrecht prinzipiell vor; dies hat zur Folge, dass eine völkerrechtswidrige<br />

Norm des Landesrechts im Einzelfall nicht angewendet<br />

werden kann. Diese Konfliktregelung drängt sich umso mehr auf,<br />

wenn sich der Vorrang aus einer völkerrechtlichen Norm ableitet, die<br />

dem Schutz der Menschenrechte dient.


– Annahme der Volksinitiative zur lebenslangen Verwahrung am<br />

8. Februar 2004 (nach herrschender Meinung Widerspruch zu Art. 5<br />

EMRK); dazu Botschaft zur Volksinitiative «Lebenslange Verwahrung<br />

für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter»,<br />

BBl 2001 3433 ff.; Botschaft zur Umsetzung der Verwahrungsinitiative<br />

vom 23. November 2005, BBl 2006 889 ff.<br />

5.5. Präventive Kontrolle<br />

289<br />

290<br />

291<br />

Viele Staaten wenden zur Verhinderung des Konflikts von vertragsvölkerrechtlichen<br />

Verpflichtungen mit dem innerstaatlichen Recht bereits<br />

bei der Ratifizierung solcher Vereinbarungen Kontrollmassnahmen an.<br />

Dabei bietet sich eine präventive Überprüfung des innerstaatlichen<br />

Rechts auf seine Vereinbarkeit mit dem abzuschliessenden Vertrag durch<br />

eine Behörde oder ein Gericht an.<br />

Bei ungeschriebenem Recht ist dies aufgrund der Natur der Sache<br />

nicht möglich, aber auch weniger problematisch.<br />

In gewissen Staaten besteht entsprechend die Möglichkeit, dass die<br />

Exekutive bei einem bestimmten Spezialorgan (z.B. bei dem obersten<br />

Gericht) ein Gutachten zur Vereinbarkeit eines zur Ratifizierung vorgesehenen<br />

Vertrages einholt.<br />

292<br />

293<br />

Beispiele:<br />

– Frankreich: Gutachten des Conseil constitutionnel.<br />

– Europäische Gemeinschaft: Gutachten des EuGH nach Art. 300 § 6<br />

EGV.<br />

Sollte die Unvereinbarkeit festgestellt werden, kann entweder das innerstaatliche<br />

Recht (allenfalls sogar die Verfassung) geändert werden,<br />

oder es wird versucht, mit den betroffenen Staaten einen mit dem innerstaatlichen<br />

Recht kompatiblen Vertragstext auszuhandeln, was je nach<br />

Einfluss und Umfang der Vertragsparteien unterschiedlich schwierig ist.<br />

In multilateralen Verträgen kann eventuell (falls rechtlich bzw. politisch<br />

möglich) ein Vorbehalt angebracht werden.<br />

In der Schweiz ist grundsätzlich der Bundesrat selbst für eine präventive<br />

Überprüfung der Vereinbarkeit zuständig. In den Botschaften des<br />

Bundesrates zu neuen Staatsverträgen finden sich regelmässig entsprechende<br />

Ausführungen, insbesondere auch zur Vereinbarkeit mit dem<br />

Recht der Europäischen Union (Europakompatibilität). Der Bundesrat<br />

kann gegebenenfalls die entsprechenden Gesetzes- oder Verfassungsän-


derungen direkt mit dem betroffenen Vertrag dem Referendum unterstellen<br />

(Art. 141a BV; vgl. dazu <strong>Kapitel</strong> 4.4.4).<br />

Allerdings kann sich die Frage der Vereinbarkeit von innerstaatlichem<br />

Recht nicht nur beim Eingang neuer Vertragsverpflichtungen stellen,<br />

sondern auch bei der Revision des innerstaatlichen Rechts. Insbesondere<br />

die Botschaften des Bundesrates zu neuen Bundesgesetzen bzw.<br />

deren Änderung enthalten entsprechend regelmässig ein <strong>Kapitel</strong> über das<br />

Verhältnis zum internationalen Recht. Normalerweise werden hier Konflikte<br />

von vornherein vermieden.<br />

Besonders geregelt ist hingegen die Änderung der Bundesverfassung<br />

aufgrund einer Verfassungsinitiative. Hier ist dem Bundesrat die Möglichkeit<br />

genommen, deren Vereinbarkeit mit dem internationalen Recht<br />

präventiv durch richtige Formulierung des Textes zu verhindern. Mit<br />

Inkrafttreten der Verfassung von 1999 wurde eine wenige Jahre zuvor<br />

eingeführte Praxis verankert, die es dem Bundesrat ermöglicht, zumindest<br />

Verfassungsinitiativen, die dem zwingenden Völkerrecht (vgl.<br />

<strong>Kapitel</strong> 3.9.4) widersprechen, der Bundesversammlung zur Ungültigerklärung<br />

zu empfehlen. Das Parlament kann so eine Volksabstimmung<br />

verhindern (Art. 139 Abs. 2 BV). Diese Möglichkeit besteht allerdings<br />

nur für den Widerspruch zum zwingenden Völkerrecht, womit die Möglichkeit<br />

der Annahme einer mit dem übrigen Völkerrecht unvereinbaren<br />

Volksinitiative grundsätzlich bestehen bleibt. Für gewisse völkerrechtliche<br />

Verträge mag dies theoretisch zur Notwendigkeit der Kündigung<br />

des entsprechenden Vertrages führen; Probleme entstehen insbesondere<br />

dann, wenn eine solche rechtlich oder faktisch unmöglich ist. Die Annahme<br />

der Verwahrungsinitiative vom 8. Februar 2004 hat theoretisch<br />

eine solche Situation bezüglich der EMRK geschaffen.<br />

294<br />

295<br />

Beispiele:<br />

– Vorgehen des Parlaments in der Volksinitiative für eine vernünftige<br />

Asylpolitik und gegen die illegale Einwanderung (vgl. BBl 1994 III<br />

1486 ff.): 1996 wird die Initiative der Schweizer Demokraten zur Beschränkung<br />

der Einwanderung von der Bundesversammlung wegen<br />

Verletzung des Grundsatzes des Non-refoulement, d.h. der Gefahr einer<br />

asylrelevanten Verfolgung oder Folter als Teil des jus cogens für<br />

ungültig erklärt.<br />

– Annahme der Verwahrungsinitiative vom 8. Februar 2004 (nach herrschender<br />

Meinung offener Widerspruch zu Art. 5 EMRK; vgl. oben).


296<br />

297<br />

298<br />

5.6. Beachtung des Völkerrechts durch Gliedstaaten<br />

Neben der Frage der Beachtung des Völkerrechts durch die Gerichte und<br />

Behörden stellt sich in Bundesstaaten (Etats fédéraux / Stati federali /<br />

Federal States) zusätzlich die Frage der Beachtung durch die Gliedstaaten.<br />

Zur Wahrung seiner aussenpolitischen Akzeptanz muss der Zentralstaat<br />

(Bund) hier die Möglichkeit haben, gegenüber den Gliedstaaten die<br />

Einhaltung des Völkerrechts durchzusetzen.<br />

Am häufigsten geschieht dies über die Einräumung der entsprechenden<br />

Kompetenz an den Zentralstaat (Bundeskompetenz), indem er z.B.<br />

aufgrund seiner Befugnis zur Durchsetzung des Bundesrechts auch befugt<br />

ist, das Völkerrecht gegenüber den Gliedstaaten durchzusetzen.<br />

Gleiche Kompetenzen hat die EG gegenüber ihren Mitgliedstaaten;<br />

gleichwohl handelt es sich bei ihr gerade nicht um einen Bundesstaat.<br />

In der Schweiz gilt dieser Grundsatz aufgrund des Vorrangs des Bundesrechts<br />

vor dem kantonalen Recht und erfasst damit auch das Völkerrecht.<br />

Dies ist umso wichtiger, als für die Umsetzung des Völkerrechts<br />

nach herrschender Lehre die Kantone im Bereich ihrer Kompetenzen<br />

(z.B. Bildung, Gesundheitswesen) zuständig bleiben, soweit dies notwendig<br />

ist. Unsicherheit besteht lediglich bezüglich der Qualifizierung<br />

der kantonalen Verträge (vgl. <strong>Kapitel</strong> 4.4.4) mit dem Ausland. Es<br />

kommt in diesem Bereich aber selten zu Friktionen, welche durch zumeist<br />

unpublizierte Empfehlungen der Bundesbehörden an die Kantone<br />

gelöst werden können.<br />

Beispiele:<br />

– 2003 Tibet-Fall: Intervention des Bundes gegenüber dem Kanton<br />

Zürich, nachdem die kantonalen Strafbehörden ein Verfahren gegen<br />

gewohnheitsrechtliche Immunität geniessende Vertreter Chinas eingeleitet<br />

hatten.<br />

– Vereinigte Staaten von Amerika: Gesetz des Bundesstaates Massachusetts<br />

über Wirtschaftssanktionen gegen Myanmar (Burma): Entscheidung<br />

des US-Supreme Court betreffend dessen Verfassungswidrigkeit<br />

vom 19. Juni 2000.<br />

– IGH, LaGrand (1999–2001), Judgment of 27 June 2001, ICJ Reports<br />

2001 (forthcoming): Kompetenzen des Staates im Bereich des Strafrechts<br />

sowie des Strafverfahrensrechts – Weigerung des Supreme<br />

Court, eine völkerrechtswidrige Entscheidung bundesstaatlicher Behörden<br />

von sich aus aufzuheben; Memorandum der US-Regierung<br />

vom 28. Februar 2005, um Beachtung der Rechtsprechung des IGH in<br />

diesen Fällen durch US-Gerichte dennoch zu garantieren.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!