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Mit dem rollenden Zuhause unterwegs nach Fernost<br />
Text: Martina Saameli<br />
Bilder: Adrian Greiner und Martina Saameli<br />
Martina Saameli und Adrian Greiner träumen von einer Wintersaison als Skilehrer in Japan, doch statt<br />
in ein Flugzeug zu steigen, nehmen sie den Landweg unter die Räder. Mit ihrem rollenden Zuhause<br />
fahren sie durch das von Vorurteilen behaftete Russland, die unbekannten Steppen Kasachstans, den<br />
sagenumwobenen Altai und die menschenleere Weite der Mongolei, bevor sie im Osten Russlands<br />
das Schiff nach Japan besteigen.<br />
24 GLOBETROTTER-MAGAZIN HERBST 2010
überland-abenteuer<br />
Der Weg ist das Ziel.<br />
Unterwegs im Westen der Mongolei.<br />
25
Es giesst in Strömen. Wir haben<br />
uns noch nicht daran gewöhnt,<br />
dass in einem russischen<br />
Kreisel Rechtsvortritt<br />
gilt, und sehen den silbernen<br />
Ford zu spät auf uns zukommen.<br />
Sekunden später kracht<br />
es. Entsetzt steigen wir aus und betrachten den<br />
Schaden. Das darf doch nicht wahr sein. Erst<br />
gestern haben wir die russische Grenze überquert<br />
und heute die Stadt Rostov-na-Donu am<br />
Asowschen Meer erreicht. Und nun ein Unfall.<br />
Fünf Tage haben wir Zeit, das russische Wolgadelta<br />
zu durchqueren – solange ist unser<br />
Transitvisa gültig. Hoffentlich gefährdet der<br />
Zusammenprall im Kreisel nicht unsere weiteren<br />
Reisepläne.<br />
Zur Polizei. Unser Iveco hat bei der Schiebetüre<br />
bloss ein paar Kratzer davongetragen,<br />
beim russischen Fahrzeug ist der Schaden<br />
grösser. Aleksej, der Fahrer des Fords, bittet<br />
uns um 1000 Dollar für die Reparatur seiner<br />
linken Frontseite. Er will keine Polizei. «Die<br />
macht alles nur kompliziert und teuer, und ich<br />
muss die nächsten Tage auf dem Polizeiposten<br />
Formulare ausfüllen.» 1000 Dollar – das ist<br />
viel Geld. Damit würden wir bis in die Mongolei<br />
kommen. Unser Entscheid, auf Reisen<br />
zu gehen und die nächste Zeit in einem fahrenden<br />
Zuhause zu leben, fällten wir spontan,<br />
und dementsprechend bescheiden ist unser<br />
Reisebudget. Vor zwei Wochen haben wir uns<br />
zu Hause für unbestimmte Zeit verabschiedet<br />
und sind aufgebrochen. Wir wollen bis ans<br />
andere Ende des eurasischen Kontinents fahren<br />
und in Japan Arbeit als Skilehrer suchen.<br />
«Was, ihr wollt mit dem eigenen Auto alleine<br />
durch Russland fahren? Seid ihr verrückt? Die<br />
werden euch tausend Mal Schmiergeld zahlen<br />
lassen, ausrauben und das Leben schwer machen!»,<br />
wurden wir von mehreren Seiten gewarnt.<br />
Was nun, wenn sich all diese Schauermärchen<br />
bei diesem Unfall bewahrheiten?<br />
Zum Glück haben wir gestern eine russische<br />
Versicherung abgeschlossen, da die internationale<br />
«Grüne Versicherungskarte» hier<br />
nicht gültig ist. Für uns ist somit klar, dass wir<br />
die Polizei brauchen.<br />
Aleksej und seine Frau verstehen unsere<br />
Situation, und wir verbringen gemeinsam mit<br />
ihnen den Nachmittag auf dem Polizeiposten.<br />
Ein Polizist blättert wichtigtuerisch in unseren<br />
Pässen und meint: «Schlimmer Fehler, Mister<br />
Greiner. Wir müssen Ihnen leider den Führerschein<br />
entziehen. Aber gehen wir doch einmal<br />
hinaus, und zeigen Sie mir den Schaden an Ihrem<br />
Auto.» Adi hat keinenfalls vor, dem Polizisten<br />
draussen ein Bestechungsgeld, ein<br />
Bakschisch, in die Hand zu drücken, folgt<br />
ihm aber trotzdem brav. «Sie können<br />
mir auch 1000 Euro geben, dann drücke<br />
ich wegen des Führerscheins<br />
beide Augen zu. Sie haben ja sonst<br />
ein grosses Problem, in drei Tagen<br />
müssen Sie Russland verlassen haben.»<br />
– «Nein, das ist kein Problem. Sie können<br />
meinen Führerausweis haben, wenn es sein<br />
muss. Meine Freundin hat auch einen, sie fährt<br />
uns raus.» Genervt zieht der Polizist von dannen<br />
und lässt sich nicht mehr blicken. Eine<br />
junge Polizistin, die ein wenig Englisch spricht,<br />
hilft uns, die unzähligen Formulare auszufüllen,<br />
und verlangt schliesslich umgerechnet ganze<br />
vier Dollar Strafgebühr. Glück gehabt. Beim<br />
Verlassen des Polizeipostens laden uns Aleksej<br />
und Irina zu sich nach Hause zum Abendessen<br />
und Übernachten ein. Zum Abschied meinen<br />
sie: «Schön, dass wir zusammengeprallt sind,<br />
sonst hätten wir euch wohl nie kennengelernt!»<br />
Schafskopf zum Mittagessen. Drei Tage<br />
später fahren wir über die russisch-kasachische<br />
Grenze Richtung Atyrau. Die Strasse<br />
führt durch endlose Weiten. Die wenigen<br />
Tankstellen am Strassenrand haben entweder<br />
keinen Diesel, oder das Computersystem ist<br />
abgestürzt. Oder sie sind geschlossen. Das<br />
gelbe Licht in unserem Auto leuchtet bereits<br />
bedenklich lange, und so fragen wir an einer<br />
Tankstelle, die eigentlich noch im Bau ist, für<br />
Diesel. Die Arbeiter pumpen uns aus ihrem<br />
Traktor fünf Liter heraus. Uns wird klar, dass<br />
Der russische<br />
Polizist blättert<br />
wichtigtuerisch in<br />
unseren Pässen und meint:<br />
«Wir müssen Ihnen leider den<br />
Führerschein entziehen.»<br />
Unfall in Russland. Noch nicht daran gewöhnt,<br />
dass hier im Kreisel Rechtsvortritt gilt (oben).<br />
Unendliche Weite. Die Strasse in der kasachischen<br />
Steppe verliert sich am Horizont (rechts).<br />
Festschmaus. Gekochter Schafskopf und<br />
Beschbarmak bei Didars Familie (rechts unten).<br />
wir fortan jede Gelegenheit, den Tank und<br />
auch die Wasserkanister aufzufüllen, nutzen<br />
müssen.<br />
In Atyrau, der Erdölmetropole Kasachstans<br />
am Kaspischen Meer, steigen wir gerade aus<br />
dem geparkten Auto, als uns Didar anspricht.<br />
In Englisch fragt er, wohin wir zu fahren gedenken.<br />
Er ist fasziniert von unseren Plänen<br />
und will mehr erfahren. Nach einer Stadtführung<br />
lädt er uns spontan zu seiner Familie nach<br />
Hause ein. «Wollt ihr eine typische kasachische<br />
Spezialität versuchen, die nur an Festen oder<br />
für ganz spezielle Gäste gekocht wird?» Dankend<br />
nehmen wir das Angebot an, und Almagul,<br />
Didars Frau, holt einen gefrorenen Schafskopf<br />
aus dem Tiefkühlfach. Adi und ich<br />
tauschen einen vielsagenden Blick aus, sind<br />
gespannt, welches kulinarische Abenteuer uns<br />
da erwarten wird. Didar ist in einer Nomadenfamilie<br />
aufgewachsen und brachte das Fleisch<br />
von seinem letzten Besuch zu Hause mit.<br />
Am nächsten Tag sitzen wir mit Didars<br />
Famlie und seiner halben Verwandtschaft auf<br />
dem Wohnzimmerboden um ein Tischtuch herum.<br />
«Hier Martina, das Ohr ist für dich!» Etwas<br />
verdutzt, starre ich auf das unappetitliche<br />
Fleischstück und frage mich, was daran<br />
essbar ist. Didar meint: «Einfach in<br />
den Mund schieben und essen!» Ungläubig<br />
schaue ich ihn an. Mit einem<br />
verschmitzten Lächeln nimmt er mir<br />
das Ohr aus der Hand und ver-<br />
26 GLOBETROTTER-MAGAZIN HERBST 2010
überland-abenteuer<br />
schlingt es selber genüsslich. «Adi, möchtest<br />
du ein Auge?» Adi ist mutiger als ich, schiebt<br />
sich das Angebotene in den Mund und beisst<br />
zu. Ich bin froh, dass das Schaf nur zwei Augen<br />
hat und überlasse Didar gerne das zweite. Zur<br />
Krönung des Festmahls gibt es zermalmtes<br />
Hirn. Eine Schale wird im Kreis weitergereicht,<br />
und alle nehmen einen Löffel voll. Ich freue<br />
mich mehr über das Beschbarmak, ein Teigfladengericht,<br />
das übersetzt Fünffingeressen<br />
heisst. Mit der Hand zu essen, will aber auch<br />
noch geübt sein.<br />
Holperpiste. Didar ruft seinen Freund Aman<br />
im 590 Kilometer entfernten Aktobe an und<br />
fragt, ob ihn seine Schweizer Freunde besuchen<br />
dürfen. Aman ist sofort hell begeistert.<br />
«Übermorgen werden wir bei euch eintreffen»,<br />
sage ich ihm am Telefon. Noch wissen<br />
wir nichts von der wahren Steppe Kasachstans.<br />
Die ersten 100 Strassenkilometer sind<br />
in einem, für kasachische Verhältnisse, guten<br />
Zustand. Im Dorf Makat endet die Strasse<br />
plötzlich. Wir fragen nach der weiteren Route<br />
und werden zu einer eingetrockneten<br />
Schlammpiste geschickt. «Das kann unmöglich<br />
die Strasse nach Aktobe sein. Lass uns<br />
umkehren und erneut fragen», meint Adi, der<br />
weder meinen Navigationskenntnissen noch<br />
der Aussage der Dorfbevölkerung viel Vertrauen<br />
zu schenken scheint. In der Dämmerung<br />
holpern wir schliesslich doch über die<br />
Buckelpiste aus Sand und Schlamm davon.<br />
Wohin unsere Blicke am nächsten Morgen<br />
auch schweifen, wir sehen nichts als die weite,<br />
endlose Steppe. Eisiger Wind fegt über die<br />
Ebene, ein heftiges Gewitter folgt dem nächsten.<br />
Der unendliche Horizont im Blickfeld, das<br />
garstige Wetter und das unaufhörliche Geholper<br />
bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit<br />
von 25 Stundenkilometern zehren an unseren<br />
Nerven. Ich fühle mich so klein und ausgesetzt<br />
in dieser Weite und freue mich über jeden<br />
27
kurzen Schwatz – wenn auch mit Händen und<br />
Füssen – mit einem Menschen, der sich wie<br />
wir in dieser Steppenlandschaft aufhält. Hier<br />
gibt es nichts, das mich ablenken kann. Hier,<br />
wo die Leere zu einer Schwere wird, stellt sich<br />
aber gleichzeitig eine innere Ruhe ein. Ich darf<br />
nur an die nächsten Meter denken und ja nicht<br />
ans Ziel, denn Aktobe scheint immer noch<br />
Tage von uns entfernt zu sein.<br />
Nach fünf Tagen wird die Strasse 150 Kilometer<br />
vor Aktobe unverhofft wieder gut. Endlich<br />
können wir uns mit Aman treffen. Zusammen<br />
mit seiner Frau Nurgul und seinen drei<br />
Kindern wohnt er in einem schönen Haus mit<br />
Garten ausserhalb der Stadt. Er arbeitet für eine<br />
schottische Ölfirma vor der Küste Gabons in<br />
Afrika. Jeweils 28 Tage arbeitet er auf der Ölbohrinsel<br />
und fliegt dann für 28 Tage zu seinen<br />
Lieben nach Hause. Wir bleiben ganze drei<br />
Tage bei dieser herzlichen Familie und erleben<br />
einen tiefen Einblick in die uns noch fremde<br />
islamische Welt.<br />
Junge Hauptstadt. Entlang der russischen<br />
Grenze fahren wir durch ein Gebiet, das «Kasachische<br />
Schweiz» genannt wird, und erreichen<br />
nach einer Woche Astana. Wie eine Fata<br />
Morgana ragt die Skyline der kasachischen<br />
Hauptstadt aus der kargen Steppenlandschaft.<br />
Erst Ende der Neunzigerjahre wurde Astana<br />
28 GLOBETROTTER-MAGAZIN HERBST 2010
überland-abenteuer<br />
Wahrzeichen. Der Baijterek-Turm in Astana<br />
symbolisiert einen Lebensbaum (links oben).<br />
Kritischer Blick. In diese Gegend des Altai hat<br />
sich noch nicht mancher Tourist verirrt (links).<br />
Drei Generationen. Herzlicher Empfang in Bajan<br />
Olgii ganz im Westen der Mongolei (oben).<br />
Es dauert einen Augenblick,<br />
bis ein erstes Lächeln<br />
über die von tiefen<br />
Falten gezeichneten<br />
Gesichter huscht.<br />
aus politischen Gründen zur neuen<br />
Hauptstadt erklärt, und seither entstehen<br />
hier beinahe täglich neue Geschäfte,<br />
Cafés, Restaurants und Hotels.<br />
Die Preise für Lebensmittel und<br />
Kleider entsprechen beinahe den unsrigen.<br />
Uns fehlen jedoch die Mittel, an dieser<br />
Konsum- und Vergnügungsgesellschaft<br />
teilzuhaben.<br />
«Viele Lehrer, Ärzte und andere Beamte<br />
haben seit zwei Monaten keinen Lohn mehr<br />
gekriegt, weil der Staat alles Geld in die Feierlichkeiten<br />
‹10 Jahre Astana› steckt», erzählt uns<br />
eine junge Kasachin. Meine Gedanken reisen<br />
zu allen Menschen, die wir unterwegs in ihren<br />
einfachen Behausungen getroffen haben, und<br />
ich frage mich, wie sie sich wohl fühlen würden,<br />
wenn sie all diesen Prunk hier sähen. Sie<br />
bräuchten doch dringend finanzielle Unterstützung<br />
vom Staat für den Strassenbau, für Wasserleitungen<br />
und Schulen. Doch von vielen Seiten<br />
wird mir versichert, dass jeder Kasache<br />
stolz auf seine Hauptstadt sei. Und in der Tat,<br />
auch wir geniessen es, wieder einmal etwas<br />
Modernes zu sehen, das Sauberkeit, Schönheit<br />
und Eleganz ausstrahlt.<br />
Wir schlafen auf einem Parkplatz mitten in<br />
der Stadt und kämpfen mit dem Kontinentalklima,<br />
das uns Tag und Nacht mit seiner Hitze<br />
quält. Auch wenn man sich sehr gern hat, können<br />
vier Quadratmeter Wohnraum unter diesen<br />
Umständen eng werden. Im Altaigebirge,<br />
zwischen Kasachstan und der Mongolei, liegt<br />
ein kleines Stück Russland, für dessen Durchquerung<br />
wir ein Transitvisum brauchen. Mehrmals<br />
reihen wir uns in die lange Schlange vor<br />
der russischen Botschaft in Astana ein und<br />
schmoren in der Hitze. Zum Glück haben wir<br />
das mongolische Visum bereits zu Hause in der<br />
Schweiz eingeholt. Müssten wir nicht tagelang<br />
auf das russische Visum warten, würde uns<br />
längst nichts mehr in dieser herausgeputzten<br />
und dadurch etwas seelenlosen Stadt halten.<br />
Durchs Altaigebirge. Endlich halten wir das<br />
Papier in den Händen und fahren sofort los<br />
Richtung Altaigebirge. Der Schrecken über<br />
die hohen Visakosten lässt sich dank dem<br />
kühlenden Fahrtwind und der bezaubernden<br />
Natur schnell verdrängen. Keine Region Zentralasiens<br />
ist wohl von so vielen Legenden<br />
umwoben wie der Altai, die Heimat der Schamanen.<br />
Dieses grosse Gebirge im Herzen<br />
Asiens liegt nur zu einem kleinen Teil in<br />
Kasachstan, der grösste Teil gehört zu Russland,<br />
und ein weites Stück erstreckt sich bis in<br />
die Mongolei und nach China.<br />
Wir entscheiden uns, fern der Hauptverbindungsachse,<br />
quer durch die Berge des russischen<br />
Altai zu fahren, und werden für das<br />
Erdulden der vielen Holperpassagen mit<br />
traumhafter Kulisse belohnt. Die Russen warnen<br />
uns vor den Wilden, die in den Bergen<br />
wohnen. «Sie schrecken vor nichts zurück und<br />
essen sogar Menschen!» Entsprechend mulmige<br />
Gefühle haben wir, als wir auf der Suche<br />
nach einem Lagerplatz im Schritttempo durch<br />
einen Wald fahren. Es ist bereits am<br />
Eindunkeln, als plötzlich eine Hütte<br />
hinter einem Hügel auftaucht. Ein<br />
Mann mit einem Gewehr tritt vors<br />
Haus und blickt uns missmutig entgegen.<br />
Kurze Zeit später gesellt sich eine alte<br />
Frau zu ihm. An Umkehr ist nicht mehr zu<br />
denken. Wir steigen aus und gehen langsam<br />
auf sie zu. Es dauert einen Augenblick, bis die<br />
beiden ihre Angst verlieren und ein erstes Lächeln<br />
über die von tiefen Falten gezeichneten<br />
Gesichter huscht. Als sie merken, dass wir zwei<br />
ungefährliche Touristen sind, die in der Nähe<br />
ihrer Hütte übernachten möchten, wünschen<br />
sie uns eine gute Nacht. Am Morgen lädt uns<br />
das Ehepaar zum Frühstück ein.<br />
Die Menschen hier nennen sich Altaianer<br />
und sprechen ihre eigene Altaisprache, die wie<br />
Kasachisch eine Turksprache ist. Das wenige<br />
Russisch, das wir sprechen, hilft uns hier leider<br />
nichts. Beim Betrachten unserer mitgebrachten<br />
Bilder aus der Schweiz staunen sie über die grossen<br />
Euter unserer Milchkühe und hängen die<br />
Postkarte als Erinnerung in ihrer bescheidenen<br />
Hütte auf.<br />
Sonnenfinsternis. Nach dem Überqueren<br />
der russisch-mongolischen Grenze erreichen<br />
wir Bayan Olgii, wo wir von Ainabeks Familie<br />
erwartet werden. Ainabek haben wir vor zwei<br />
Wochen beim Warten vor der russischen Botschaft<br />
in Astana kennengelernt. Wie die meisten<br />
Familien, die im Bezirk Bayan Olgii leben,<br />
gehört auch Ainabeks Familie zu den muslimischen<br />
Kasachen, für die die kasachische<br />
Hauptstadt Astana in jeder Hinsicht näher<br />
liegt als das mongolische Ulan Bator.<br />
Geschlossene Schranken am Wochenende<br />
sowie unzählige Lastwagen hielten uns während<br />
drei Tagen an der Grenze fest. Ainabek<br />
selbst haben wir damit verpasst, er ist heute<br />
Morgen mit dem Flugzeug ins mehrere Tausend<br />
Kilometer entfernte Ulan Bator abgeflogen.<br />
Er ruft jedoch an, als wir bei seiner Familie<br />
am reich gedeckten Tisch sitzen. «Fühlt euch<br />
wie zu Hause», offeriert er uns. Keines seiner<br />
zehn Geschwister spricht Englisch, und trotzdem<br />
verbringen wir drei erhol- und unterhaltsame<br />
Tage mit ihnen. Auf dem Markt decken<br />
wir uns mit reichlich Frischkost und viel<br />
Schaffleisch ein, bevor wir uns auf den Weg in<br />
den mongolischen Altai machen, wo wir die<br />
nächsten zwei Wochen verbringen wollen.<br />
In Schritttempo fahren wir durch ausgetrocknete<br />
Bachbette, durchqueren reissende<br />
Flüsse und geniessen die Einsamkeit in dieser<br />
beeindruckend schönen Landschaft. Wir beobachten<br />
Murmeltiere, wie sie mit ihren gedrungenen<br />
Körpern zu ihren Bauten hopsen,<br />
sehen stolze Schwarzhalskraniche und beobachten<br />
die erhabenen Adler, wie sie sich auf<br />
ihre Beute stürzen. Grosse Herden von Yaks,<br />
Pferden, Schafen, Ziegen und Kamelen besiedeln<br />
die Hochsteppe, und die weissen Jurten<br />
der Nomadenfamilien schmücken die Landschaft<br />
wie leuchtende Blüten.<br />
29
Lebensabend. Eine Nomadin geniesst die<br />
wärmenden Sonnenstrahlen vor ihrer Jurte (oben).<br />
Nomadenleben. Die eine Jurte hat Onor von<br />
seinen Eltern zur Hochzeit erhalten (rechts).<br />
Wo führt der Weg durch? Zum Glück haben wir<br />
ein GPS mit dabei (ganz rechts).<br />
Am Ufer des Khar Nuur haben sich bei den<br />
Nomadenfamilien, die hier den Sommer verbringen,<br />
auch noch andere Touristen eingefunden,<br />
um der bevorstehenden Sonnenfinsternis<br />
beizuwohnen. Keine Wolke steht am Himmel,<br />
kein Wind zieht über die Landschaft. Die Tiere<br />
spüren die Veränderung, noch bevor sich für<br />
uns Menschen am Himmel etwas abzeichnet.<br />
Unruhig rennen Schafe, Ziegen und Pferde herum<br />
und stossen Angstschreie aus. Verzweifelt<br />
suchen sie Schutz, den es hier am baumlosen<br />
Ufer des Sees nirgends zu finden gibt. Als sich<br />
der Mondschatten bereits zur Hälfte vor die<br />
Sonne geschoben hat, wird es kühler. Ah und<br />
oh tönt es andächtig aus aller Munde. Wir fühlen<br />
uns gesegnet beim Anblick dieses Naturschauspiels<br />
und möchten den Atem anhalten,<br />
um die Zeit auszuschalten. Ich spüre, wie ich<br />
ruhig werde, wie das Göttliche, das in der Luft<br />
liegt, meine Seele berührt.<br />
Zu Gast in der Jurte. Nur ein paar Stunden<br />
später erreichen wir den Hurgan Nuur, einen<br />
einsamen See, wo wir die Ruhe dieser vollkommenen<br />
Landschaft geniessen. Mehrere<br />
Pferde gehen am See zur Tränke,<br />
weit und breit ist kein Mensch zu sehen.<br />
Doch die Mongolen sehen uns<br />
immer – wie aus dem Nichts erscheint<br />
auch jetzt ein Reiter. Neugierig<br />
tritt er auf uns zu und äugt<br />
Es überrascht<br />
uns einmal mehr,<br />
wie gut man sich<br />
auch ohne gemeinsame<br />
Sprache verstehen kann.<br />
in unsere Wohnung. Wir bieten ihm einen<br />
Stuhl und einen Teil unseres Frühstücks an.<br />
Den Kaffeegeschmack scheint er ebenso wenig<br />
zu mögen wie ich jenen des harten Käses,<br />
den sie uns hier immer wieder anbieten. Meine<br />
Bemühungen, ihm mit Tee mehr Freude zu<br />
bereiten, scheitern ebenso. «Was trinken die<br />
für langweiligen Tee?», glaube ich aus seinem<br />
Gesichtsausdruck zu lesen, als er an unserer<br />
Kräuterteemischung nippt. Wir zeigen ihm<br />
Bilder aus der Schweiz. Auf der Landkarte<br />
zeigt er uns einen Punkt und zeichnet eine<br />
Jurte und Menschen, was wir als «kommt ihr<br />
mit zu meiner Familie?» interpretieren. In<br />
Schritttempo reitet er voraus, um uns den<br />
Weg zu weisen. Über Stock und Stein, durch<br />
Wälder und klaren Bergbächen entlang führt<br />
er uns hinauf zu seiner Sommerweide.<br />
Beim Näherkommen sehen wir zwei Jurten,<br />
einen Lastwagen, zwei Solarpanels und ein<br />
grosses Gehege mit unzähligen Ziegen. Wir<br />
werden herzlich begrüsst und allen vorgestellt.<br />
Die Männer beginnen mit dem Anbinden der<br />
Ziegen. Als sie fertig sind, werden diese von<br />
den Frauen gemolken. Dann kommt der Grossvater<br />
der Familie mit dem frischgewetzten Küchenmesser<br />
und schlachtet als Zeichen der<br />
Gastfreundschaft eine Ziege für uns. Uns ist<br />
bewusst, welch grosses Geschenk dies in Anbetracht<br />
der finanziellen Lage der Familie ist,<br />
haben aber bereits von Ainabek gelernt,<br />
dass wir die Menschen kränken würden,<br />
wenn wir solche Zeichen der Gastfreundschaft<br />
ablehnen würden. «Die<br />
Nomadenfamilien freuen sich im<br />
Gegenzug über frisches Obst und<br />
Gemüse, über Zucker, Salz, Tee,<br />
30 GLOBETROTTER-MAGAZIN HERBST 2010
überland-abenteuer<br />
Mehl oder Süssigkeiten», gab uns Ainabek als<br />
Rat mit auf den Weg, und entsprechend haben<br />
wir unser Lager aufgefüllt.<br />
Beim gemütlichen Essen, Kartenspielen<br />
und Zusammensitzen im warmen Zelt überrascht<br />
uns einmal mehr, wie gut man sich auch<br />
ohne gemeinsame Sprache verstehen kann und<br />
wie viel wir einander mithilfe von Gegenständen<br />
und Fotos aus unseren Leben erzählen<br />
können. Der Mond steht schon hoch am Himmel,<br />
als uns die Familie eines ihrer beiden Betten<br />
in der Jurte anbietet. Wir deuten auf unser<br />
Auto, wo wir immer schlafen, doch das kommt<br />
für die Familie nicht in Frage. Mit seiner jungen<br />
Frau und seiner zweijährigen Tochter verkriecht<br />
sich Onor, unser Gastgeber, in ein Bett<br />
und zieht den Vorhang zu. Adi und ich legen<br />
uns im zweiten Bett unter die schweren Decken<br />
und können unser Glück kaum fassen, so hautnah<br />
am Nomadenfamilienleben teilnehmen<br />
zu dürfen.<br />
Am Morgen weckt mich ein gleissender<br />
Sonnenstrahl. Soho hat die Abdeckung über<br />
dem Dachkranz in der Zeltmitte fortgeschoben<br />
und macht sich nun in der Mitte des Raumes<br />
an der Feuerstelle zu schaffen. Schon bald<br />
erfüllt eine wohlige Wärme die Jurte, und wir<br />
steigen aus unserem Bett. Nach dem Frühstück<br />
ziehen die Männer auf den Pferden davon, um<br />
nach ihren Herden zu sehen, die Frauen kochen,<br />
weben, produzieren Käse und backen<br />
Brot.<br />
In Eile über Wellblechpisten. Seit mehreren<br />
Jahren arbeiten Adi und ich bei Gelegenheit<br />
als Trekkingreiseleiter in Asien. Für die mir<br />
zugeteilte Reise haben sich leider zu wenig<br />
Teilnehmer angemeldet. Adis Reise hingegen<br />
findet statt. Er wird im September für ein paar<br />
Wochen in Tibet beschäftigt sein. Da wir am<br />
20. August in Ulan Bator das chinesische Visum<br />
für seine Arbeit beantragen müssen, ist<br />
nach der gemütlichen Zeit im mongolischen<br />
Infos zur Reise<br />
Visa: Die Visa für Kasachstan<br />
und die Mongolei können drei<br />
Monate vor Abreise bequem auf<br />
den jeweiligen Botschaften in der<br />
Schweiz angefordert werden. Für<br />
das Russlandvisum lohnt es sich,<br />
frühzeitig mit der Botschaft oder<br />
einem Visaservice in Kontakt zu<br />
treten, um alle Formalitäten für<br />
ein Multiple-Entry-Business-Visa<br />
erledigen zu können. Andernfalls<br />
gibt es für Russland die Möglichkeit,<br />
unterwegs auf den russischen<br />
Botschaften Transitvisa<br />
ausstellen zu lassen (mühsame<br />
Variante).<br />
Versicherungen: Die obligatorische Autohaftpflichtversicherung ist nur bis zu den europäischen<br />
Grenzen gültig. Ab Russland muss in jedem Land entweder direkt an der Grenze oder im<br />
nächstgrösseren Ort eine Versicherung abgeschlossen werden. Das «Carnet de Passage» wurde<br />
in keinem der bereisten Länder verlangt.<br />
Gesundheit/Impfungen: Ausserhalb von Städten ist die medizinische Versorgung nur sehr<br />
beschränkt gewährleistet. Das Mitführen einer eigenen Notfallapotheke wird sehr empfohlen.<br />
Es sind keine besonderen Impfungen erforderlich. Empfohlen werden jedoch Tetanus, Diphterie,<br />
Polio, Hepatitis A und B und Typhus. In Erwägung ziehen sollte man eine<br />
Tollwut- und Zeckenimpfung.<br />
Sprache: Ab der Ukraine findet man meistens nur noch in Städten<br />
Menschen, die Englisch sprechen. Mit mitgebrachten Fotos, einem<br />
Notizblock, einem Stift und Gesten lässt sich auch in diesen Teilen der<br />
Erde wunderbar kommunizieren. Das Entschlüsseln von fremdartigen<br />
Schriftsystemen, um eine Strasse, ein Amt oder ein Restaurant zu finden,<br />
bereitet grossen Spass.<br />
Garagen/Ersatzteile besorgen: In diesen Teilen der Welt eine<br />
Autogarage oder ein Ersatzteilmarkt zu finden, ist oftmals fast einfacher als<br />
Wasser oder frisches Gemüse. Den Strassenverhältnissen entsprechend,<br />
müssen fleissig Schrauben angezogen und Fahrzeugchecks durchgeführt<br />
werden. Notfalls sucht man Rat in einer der vielen Mechanikerwerkstätten.<br />
Die Mechaniker haben oft Ideen, wie ein Schaden behoben werden kann,<br />
auch wenn vielleicht das passende Ersatzteil nicht vorhanden ist. Die<br />
wichtigsten Ersatzteile (z.B. Filter, Birnen, Sicherungen usw.) von zu<br />
Hause mitnehmen. Wenn alle Stricke reissen, gibt es noch internationale<br />
Versandfirmen (DHL, UPS, TNT usw.), die Ersatzteile aus Europa liefern.<br />
Vorteilhaft ist es, in der Schweiz eine Vertrauensgarage zu haben, die<br />
herausfinden kann, welches Teil benötigt wird, und die es eventuell gleich<br />
selber losschickt.<br />
Strassenzustand: Ab Ungarn werden die Strassen zunehmend holpriger<br />
und die Schlaglöcher grösser. In den Steppen und Wüsten sind fast alle<br />
Strecken sandige oder steinige Pisten, die sich gerne im Nirgendwo oder in einem Fluss<br />
verlieren. Nur um die Hauptstadtzentren herum sind die Strassen in einigermassen gutem<br />
Zustand.<br />
Karten: Verschiedene Landkarten aus der Serie «world mapping project» vom Reise Know-How<br />
Verlag. Russische Generalstabskarten fürs GPS. Strassenkarten können auch direkt in allen<br />
bereisten Ländern gekauft werden.<br />
Literatur: Die Autoren haben sich anhand der Reisehandbücher von Lonely Planet orientiert.<br />
Altai plötzlich Eile angesagt. Bis anhin störte<br />
uns das Geholper wenig, da wir meistens gemütlich<br />
auf Nebenrouten unterwegs waren.<br />
Jetzt fühlen wir uns plötzlich gehetzt. Immer<br />
wieder sind wir gezwungen, Einladungen von<br />
Nomadenfamilien auszuschlagen, da wir weiter<br />
müssen. Hunderte von Kilometern fahren<br />
SCHWEIZ<br />
RUSSLAND<br />
Altai-<br />
Rostov Atyran Aktobe Gebirge Ulan Ude<br />
Astana<br />
Olgii<br />
Ulan Bator<br />
KASACH-<br />
STAN MONGOLEI<br />
Wladiwostok<br />
Nozawa Onsen<br />
Fushiki<br />
wir über Wellblechpisten. Der Lärm ist ohrenbetäubend,<br />
und wir bangen um unsere Rücken<br />
und um unsere Holperkiste.<br />
300 Kilometer vor Ulan Bator erreichen wir<br />
eine der zwei viel gepriesenen Asphaltstrassen<br />
in der Mongolei und düsen mit 80 Stundenkilometern<br />
durch die Steppenlandschaft. Nach<br />
Tokyo<br />
JAPAN<br />
31
weniger als zwei Stunden ist aber auch schon<br />
wieder Schluss mit Asphalt. Die Herren der<br />
Regierung kaufen sich scheinbar mit dem Geld,<br />
das für die Strassen vorgesehen wäre, lieber<br />
teure, pistentaugliche Fahrzeuge.<br />
Frischkost. Einkauf auf dem Markt (oben).<br />
Ulan Bator. Grosses Gefälle zwischen Arm und<br />
Reich in der Hauptstadt (unten).<br />
Wladiwostok. Ankunft in der Hafenstadt nach<br />
66 Stunden Zugfahrt (rechts oben).<br />
Kälte. Kurzer Halt im Schnee (rechts unten).<br />
Stadt mit zwei Gesichtern. Nach zwei Wochen<br />
und etlichen Mondscheinfahrten fahren<br />
wir pünktlich in Ulan Bator ein. Nach den vielen<br />
Wochen in der Steppe hat der Begriff<br />
«Stadt» Inhalt bekommen: Eine Stadt ist Knotenpunkt<br />
von Kultur, Bildung, Handel und<br />
Verkehr. Beim Anblick des frischen Gemüses,<br />
der vielen Früchte auf dem Markt und der<br />
Englisch geschriebenen Menükarten in den<br />
Restaurants läuft uns das Wasser im Mund zusammen.<br />
Ulan Bator gefällt und fasziniert<br />
uns. Nach einem freudigen Wiedersehen lädt<br />
uns Ainabek ein, in der Wohnung seiner Cousins<br />
zu übernachten. Wir finden uns in einer<br />
Plattenbausiedlung aus den Sowjetzeiten wieder.<br />
Jetzt, kurz vor dem 1. September, dem<br />
Beginn des neuen Semesters, füllt sich die<br />
Zweizimmerwohnung zunehmend mit Verwandten<br />
aus der Westmongolei. Jeder aus der<br />
riesigen Verwandtschaft, der noch keine Bleibe<br />
gefunden hat, kommt erst einmal hier unter.<br />
Für sie ist es völlig normal, neben das Sofa, auf<br />
welchem die privilegierten Schweizer Gäste<br />
übernachten, eine Decke auf den Boden zu legen<br />
und darauf zu schlafen. In Anbetracht der<br />
vielen jungen Menschen, die dringend Platz<br />
brauchen, beschliessen wir, am nächsten Tag<br />
eine andere Bleibe zu suchen.<br />
In einem Guesthouse im Jurtenviertel von<br />
Ulan Bator werden wir fündig. Wir wägen ab,<br />
wer wohl das bessere Los gezogen hat. Diejenigen,<br />
die in einer Wohnung eines heruntergekommenen<br />
Plattenbaus wohnen, oder jene, die<br />
in einer Jurte am Stadtrand leben. Viele Nomaden<br />
verkaufen ihre Herden und ziehen in der<br />
Hoffnung auf ein besseres Leben in die Stadt.<br />
Ohne ihre Lebensgrundlage, die Tiere, verarmen<br />
viele. Das Leben, von dem sie träumten,<br />
fährt täglich in schicken Autos an ihnen vorbei<br />
oder verbirgt sich hinter den Schaufenstern<br />
westlicher Boutiquen.<br />
Durch das Suchen von Botschaften, Garagen,<br />
Ersatzteillagern, Gasauffüllstationen und<br />
der verführerischsten Restaurants sehen wir<br />
viele Facetten von Ulan Bator. Die Kluft zwischen<br />
Arm und Reich ist unübersehbar.<br />
Holperkiste im Winterschlaf. Als wir uns<br />
nach Adis Arbeitseinsatz in Tibet und meinem<br />
Besuch zu Hause in der Schweiz Mitte Oktober<br />
in Ulan Bator wieder treffen, hat hier<br />
schon fast der Winter Einzug gehalten. Per Internet<br />
konnten wir in der Zwischenzeit<br />
eine Anstellung als Skilehrer in Japan organisieren.<br />
Kurz vor der geplanten Weiterfahrt<br />
Richtung Wladiwostok erreicht<br />
uns die Hiobsbotschaft, dass wir unser<br />
Auto trotz «Carnet de Passage» in Japan<br />
registrieren und prüfen lassen und ein japanisches<br />
Nummernschild kaufen müssen,<br />
was extrem kostspielig und zeitaufwendig<br />
werden könnte. Von mehreren<br />
Seiten werden wir aufgefordert, es nicht<br />
zu versuchen.<br />
Schweren Herzens entscheiden wir<br />
uns, mit dem Zug weiterzufahren und unsere<br />
Holperkiste hier in der Mongolei stehen<br />
zu lassen. Nur – wo finden wir einen<br />
Abstellplatz, der unserem Zuhause halbwegs<br />
gerecht wird? Wo wir auch fragen,<br />
Mut wird uns keiner gemacht. «Wenn euch<br />
in einem halben Jahr nur die Rückspiegel<br />
oder ein paar Räder am Auto fehlen werden,<br />
könnt ihr damit vielleicht noch leben»,<br />
meint etwa die Besitzerin eines Guesthouses,<br />
auf deren bewachtem Parkplatz wir das<br />
Fahrzeug abstellen möchten. «Doch was macht<br />
ihr, wenn gar kein Auto mehr da ist?» Einmal<br />
mehr kommt uns nach verzweifelter Suche<br />
Ainabek zu Hilfe. Während wir in Japan weilen,<br />
wird unser rollendes Zuhause sicher im<br />
Innenhof von Ainabeks neu gegründeter<br />
Sprachschule stehen. Statt das Fahrzeug fernosttauglich<br />
zu machen, müssen wir es jetzt fürs<br />
Überwintern einrichten. Winterdiesel tanken,<br />
Kühlwasser auf –50 Grad Celsius einstellen,<br />
Batterien herausnehmen und alle sonstigen<br />
Flüssigkeiten aus dem Auto entfernen.<br />
Schwer beladen, begeben wir uns zum<br />
Bahnhof, um unsere Reise nach Japan anzutreten.<br />
Wie wir gehört haben, soll in Japan alles,<br />
was nicht mehr ganz dem neusten Trend entspricht,<br />
sehr günstig zu haben sein. Darum haben<br />
wir keine Ski dabei. Mit im Gepäck sind<br />
jedoch die Skischuhe, da es für Adi schwierig<br />
32 GLOBETROTTER-MAGAZIN HERBST 2010
werden könnte, in Japan Schuhgrösse<br />
47 zu finden. Nach 20 Stunden<br />
Bahnfahrt steigen wir in Ulan Ude<br />
um und richten uns für drei Tage in<br />
einem Viererabteil im Zug nach Wladiwostok<br />
ein. Die Zugbegleiter meinen<br />
es sehr gut mit uns. Während es draussen<br />
eisig kalt ist, fühlen wir uns im Zug wie in einer<br />
Sauna. Alle Russen – und für einmal auch<br />
alle Russinnen, die sonst immer perfekt gestylt<br />
auftreten, – schlurfen mit Badeschlappen und<br />
in leichten Trainerhosen durch die Gänge.<br />
Wenn der Zug gelegentlich an einem Bahnhof<br />
hält, nutzen wir die Möglichkeit, uns draussen<br />
etwas abzukühlen. Der Blick aus dem Zugfenster<br />
in die verschneite Taiga lädt zum Träumen<br />
ein. Gelegentlich wandern meine Gedanken zu<br />
unserer Holperkiste, und ich stelle mir vor, wie<br />
Schweren Herzens entscheiden<br />
wir uns, mit dem Zug weiterzufahren<br />
und unsere<br />
Holperkiste in Ulan<br />
Bator stehen<br />
zu lassen.<br />
wir mit ihr durch Sibirien und den Fernen Osten<br />
unterwegs sein könnten. Einerseits ist es<br />
sehr schön, hier an der Wärme zu sein. Andererseits<br />
ist der Blick aus der Frontscheibe unseres<br />
Fahrzeugs schon sehr viel schöner als jener<br />
aus dem arg verschmutzten Zugfenster.<br />
Das Gerücht, jeder Russe in der Transsibirischen<br />
Eisenbahn sei während der ganzen<br />
Fahrtdauer betrunken, ist ein weiteres Märchen<br />
über Russland. Sie teilen ihr Essen mit uns, wir<br />
spielen gemeinsam Karten, und sie helfen mir<br />
dabei, das kyrillische Alphabet zu lernen. Nach<br />
66 Stunden Fahrt erreichen wir das Ende Eurasiens.<br />
Wie ein Kind, dem soeben die faszinierende<br />
Dimension der Buchstaben eröffnet<br />
wurde, versuche ich neugierig, alles kyrillisch<br />
Geschriebene zu entziffern. Was heisst denn<br />
das? W-l-a-d-i-w-o-s-t-o-k.<br />
überland-abenteuer<br />
Konichiwa – Guten Tag. Nach der zweitägigen<br />
Schifffahrt beim Betreten von japanischem<br />
Boden in Fushiki fühlen wir uns<br />
augenblicklich als Analphabeten. Doch Zugfahrkarten<br />
nach Nozawa Onsen<br />
und ein Mittagessen vom Bahnsteigkiosk<br />
lassen sich zum Glück<br />
auch hier mit Körpersprache kaufen.<br />
Mithilfe japanischer Mitreisender steigen<br />
wir sogar an den richtigen Bahnhöfen<br />
um und können entspannt unsere erste<br />
Portion Sushi geniessen.<br />
Noch wirkt der Wintersportort Nozawa<br />
Onsen, unser neues Zuhause, wie ein verschlafenes<br />
kleines Bergdorf. Überall sind die Bauern<br />
damit beschäftigt, ihre Ernten einzubringen.<br />
Bald wird der erste grosse Schnee erwartet. Onsen<br />
bedeutet «heisse Quelle». Dreizehn dieser<br />
heissen Quellen fliessen direkt in öffentliche<br />
Badehäuser, die im ganzen Dorf verstreut liegen<br />
und die man kostenlos mitbenutzen darf.<br />
Ein Hinweisschild erklärt in einem der<br />
Frauenbäder, wie ich mich in einem Onsen zu<br />
verhalten habe. Barfuss tapse ich über den kalten<br />
Rost, während ich verstohlen zu den anderen<br />
badenden Frauen schiele, um ja nichts<br />
falsch zu machen. Mich fröstelt. Zaghaft strecke<br />
ich vorerst meine grosse Zehe ins Becken<br />
und ziehe sie in Sekundenschnelle wieder heraus<br />
– das Wasser ist viel zu heiss. Bei den zierlichen<br />
Japanerinnen ragen nur noch die Köpfe<br />
aus dem gut 40 Grad Celsius heissen Wasser.<br />
Wie haben sie es bloss geschafft, dort reinzukommen?<br />
Sie lachen mir zu und lassen mit<br />
ihren Eimern kaltes Wasser zu mir strömen.<br />
Endlich schaffe auch ich es, ins Wasser zu tauchen.<br />
Jeder Muskel entspannt sich. Vergessen<br />
sind die Strapazen unserer Gepäckschlepperei<br />
von der Mongolei bis nach Japan.<br />
33
Fussgängerstau. Hektik vor der Metrostation<br />
Shibuya in Tokyo (oben).<br />
Im Pulverschneemekka. Ein herrliches Gefühl,<br />
die Spuren in den Neuschnee zu ziehen (rechts).<br />
Japanisch lernen. Die Autoren Martina und Adi<br />
mit Lehrerin Miho und Tochter Soho (rechte Seite).<br />
Etwas weiter oben im Dorf beobachten wir,<br />
wie Frauen und Männer im 90 Grad Celsius heissen<br />
Thermalwasser Gemüse kochen, das dann<br />
zu den im ganzen Land berühmten «Nozawa<br />
Pickles» weiterverarbeitet wird. Die Speisekarte<br />
im lokalen Restaurant sieht aus wie ein Kunstwerk.<br />
Selbst die Preise sind für uns in unverständlichen<br />
Schriftzeichen geschrieben. Kann<br />
ja wohl nicht viel schiefgehen, denken wir, bestellen<br />
tollkühn per Adlersystem drei der aufgeführten<br />
Menüs und fragen mit Händen und<br />
Füssen, wie viel es kostet. Die meisten der vielen<br />
Köstlichkeiten in den unzähligen kleinen<br />
Schalen munden vorzüglich. Einzig mit den<br />
nach Hefe riechenden, schleimige Fäden ziehenden<br />
Böhnchen namens Nato kann ich nicht<br />
Freundschaft schliessen. Ich werde es bis im<br />
Frühling nicht schaffen, diese – wie viele Japaner<br />
es tun – zum Frühstück zu verzehren.<br />
Leben in Nozawa. Bevor die Saison und damit<br />
unsere Arbeit als Skilehrer losgeht, haben<br />
wir noch ein paar Tage in Tokyo und Kyoto<br />
verbracht. Als wir nach Nozawa zurückkehren,<br />
hat sich das Dorf mit Leben gefüllt, und<br />
der erste Schnee ist gefallen. Viele kleine Restaurants<br />
haben nun ihre Rollläden geöffnet<br />
und servieren für wenig Geld hervorragende<br />
Gerichte: Sushi, Tempura, Katsudon, Tepanyaki<br />
– alles schmeckt mindestens so gut,<br />
wie es tönt. Aus den Reisbauern sind<br />
Skiliftbetreiber, Restaurant- oder<br />
Shopbesitzer geworden. Die meisten<br />
Touristen kommen aus Japan und<br />
erholen sich hier für ein, zwei<br />
Nächte vom hektischen japanischen<br />
Alltag in den Metropolen.<br />
Dank der Werbung der Nagano Lodge,<br />
für die wir arbeiten, finden seit ein paar Jahren<br />
immer mehr ausländische Touristen den<br />
Weg nach Nozawa Onsen. Es sind hauptsächlich<br />
Australier, aber auch ein paar Europäer,<br />
die in Tokyo leben und hier ihren Skiurlaub<br />
verbringen. Die Ganjji, wie die Japaner die<br />
Nach der<br />
ersten Abfahrt im<br />
unberührten Pulverschnee<br />
treffen wir an der Talstation<br />
pünktlich unsere Skischüler.<br />
Langnasen, die Ausländer, nennen, sind gern<br />
gesehen in Nozawa Onsen, da sie dem kleinen<br />
Bergdorf zu Arbeitsplätzen und Einkommen<br />
verhelfen. Die Japaner sehen es aber gar nicht<br />
gern, wenn jemand von ihnen die Onsen<br />
falsch benutzt oder sich im Dorf sonderlich<br />
aufführt.<br />
Wir wohnen mit zwei jungen Japanern und<br />
drei weiteren Lodge-Mitarbeitern in einem<br />
grossen Haus. Da die Kerosinöfen nur in Betrieb<br />
genommen werden, wenn wir zu Hause<br />
sind, ist es im Haus manchmal empfindlich<br />
kühl. Die japanischen Häuser sind punkto Isolation<br />
in einem erbärmlichen Zustand. Ein Badezimmer<br />
gibt es nicht. Zur Körperwäsche und<br />
-pflege gibt es ja schliesslich die Onsen.<br />
Obwohl sich die Japaner über den schlechtesten<br />
Winter seit 20 Jahren beklagen, halten<br />
wir uns in einem Pulverschneemekka auf.<br />
Wenn über Nacht wieder frischer Schnee gefallen<br />
ist, zieht es alle Gäste der Lodge gleichzeitig<br />
raus, und vor dem Buffet mit japanischem<br />
und westlichem Frühstück gibts eine<br />
lange Schlange. Die erste Gondel fährt kurz vor<br />
neun Uhr, doch auch wenn wir schon um acht<br />
Uhr unsere Ski zur Gondelstation hinauftragen,<br />
kann es vorkommen, dass bereits andere<br />
Pulverschneesüchtige vor uns in der Reihe stehen.<br />
Geordnet – wie es in Japan überall zu- und<br />
hergeht – legen alle ihre Ski- oder Snowboardausrüstung<br />
in einer Reihe hin, trinken einen<br />
heissen Kaffee aus dem Automaten und warten<br />
geduldig. Glück für uns, wenn die anderen<br />
Schneehungrigen vor uns alle Snowboarder<br />
sind, denn diese brauchen ja bekanntlich<br />
länger, bis sie ihre Bindungen zugeschnallt<br />
haben. Wow, was für ein berauschendes<br />
Gefühl, als erste unsere Spuren in den<br />
jungfräulichen Schnee zu ziehen. Vorbei<br />
an Bäumen, über Wellen und<br />
steile Hänge hinab carven wir jauch-<br />
34 GLOBETROTTER-MAGAZIN HERBST 2010
überland-abenteuer<br />
zend durch die Märchenlandschaft. Mit einem<br />
breiten Lachen und glänzenden Augen treffen<br />
wir unten an der Talstation pünktlich unsere<br />
Skischüler.<br />
Mit Shigeia, unserem japanischen Freund,<br />
ziehen wir abends nach dem obligaten Bad in<br />
einem Onsen oft für ein Schälchen Reiswein<br />
oder ein japanisches Bier durch die kleinen<br />
Gässchen des Dorfes. An den Karaokebars<br />
kommen auch wir nicht vorbei, spätestens nach<br />
ein paar Tässchen Sake singen wir ganz selbstverständlich<br />
zu den Melodien den Text, der an<br />
den Bildschirmen angezeigt wird. Die ansonsten<br />
so korrekten und manchmal etwas steif wirkenden<br />
Japaner vollziehen eine Art Verwandlung,<br />
wenn sie mit ihren Geschäftspartnern<br />
abends in einer Bar bei Speis und Trank zusammensitzen.<br />
Zweimal pro Woche besuchen wir Miho,<br />
unsere Japanischlehrerin. Sie will ihr Englisch<br />
aufbessern. So lernen wir von ihr Japanisch und<br />
unterrichten sie gleichzeitig in Englisch. Das<br />
jüngste ihrer drei Kinder, die zwölfjährige<br />
Tochter Saho, ist beim Unterricht auch immer<br />
mit dabei. Der Kleinen macht es aber auch<br />
Spass, mich beim Lernen der japanischen Kalligrafie<br />
zu unterstützen.<br />
Sayonara. Mit dem Erblühen der Natur neigt<br />
sich unsere Zeit in Japan dem Ende zu. Unser<br />
Traum von einer Wintersaison in Fernost ist<br />
Wirklichkeit geworden. Als krönender Abschluss<br />
kommen wir in den Genuss, zusammen<br />
mit Millionen Japanern, in Tokyo unter<br />
den blühenden Kirschbäumen Hanami, das<br />
berühmte Kirschblütenfest zu feiern. Auch<br />
wenn uns der Abschied von unseren japanischen<br />
Freunden schmerzt, können wir es<br />
kaum erwarten, unser rollendes Zuhause, das<br />
in Ulan Bator hoffentlich unbeschadet auf uns<br />
wartet, aus seinem Winterschlaf zu wecken<br />
und erneut «on the Road» neuen Abenteuern<br />
entgegenzusteuern.<br />
tisa@gmx.ch, www.holperkiste.ch<br />
© <strong>Globetrotter</strong> Club, Bern<br />
EIN NEUER HELD TAUCHT AUF!<br />
www.sammy-3D.ch