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Hochbegabung – zwischen Segen und Sorgen

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Das sind wir<br />

<strong>Hochbegabung</strong> <strong>–</strong><br />

<strong>zwischen</strong> <strong>Segen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sorgen</strong><br />

Alle Fotos: Sandra Irmler<br />

70 ÖKO-TEST Kinder Kinder 4 I 2013


Etwas toll können, ist eigentlich ein <strong>Segen</strong>. Aber warum haben hochbegabte<br />

Kinder dann oft einen schweren Stand in unserer Gesellschaft? Warum löst<br />

ihre hohe Begabung so zwiespältige Gefühle aus? Zwei Familien berichten<br />

von ihrer Gratwanderung <strong>zwischen</strong> Erfolg <strong>und</strong> Scheitern.<br />

Von Astrid Hopp<br />

Während andere Schulkinder sich<br />

noch im Bett umdrehen, spielt Eva<br />

(10) jeden Morgen bereits um 5.50 Uhr<br />

Klavier. Nach 25 Minuten macht sie Platz<br />

für ihre große Schwester Marika (12) <strong>und</strong><br />

um 6.45 Uhr ist ihre kleine Schwester Sandra<br />

(7) dran. Was nach Stress klingt, ist<br />

für die drei nur eine von vielen Beschäftigungen,<br />

mit denen sich ihr Tag füllt. Alle<br />

drei sind hochbegabt. Getestet mit einem<br />

Intelligenzquotienten (IQ)<br />

von mehr als 130.<br />

Marika, Eva, Sandra:<br />

Drei Hochbegabte auf einen Streich<br />

Wer hochbegabt ist, hat<br />

Damit sich die<br />

<strong>Hochbegabung</strong> gut<br />

entwickelt, muss sie<br />

gefördert werden<br />

eine herausragende Denk<strong>und</strong><br />

Problemlösungsfähigkeit,<br />

kann gut lernen, hat<br />

eine schnelle Auffassungsgabe <strong>und</strong> ein<br />

außerordentliches Gedächtnis. Hochbegabte<br />

Kinder sind in ihrer geistigen Entwicklung<br />

Gleichaltrigen also weit voraus.<br />

Der Knackpunkt: Hochbegabte haben<br />

zwar das Potenzial, Außergewöhnliches<br />

zu leisten, ob sich die <strong>Hochbegabung</strong><br />

aber gut entwickelt, hängt entscheidend<br />

von der jeweiligen Förderung <strong>und</strong> dem<br />

gesamten Umfeld wie Elternhaus, Kindergarten,<br />

Schule, Freizeit etc. ab. „Einfach<br />

zu erkennen ist eine <strong>Hochbegabung</strong><br />

bei Kindern nicht“, weiß Martin Schulte<br />

von der Deutschen Gesellschaft für<br />

das hochbegabte Kind (DGhK), Regionalverein<br />

Köln. „Es gibt Checklisten, die<br />

typische Merkmale benennen. Sie treffen<br />

aber längst nicht auf alle Kinder zu.<br />

Eine Häufung von Merkmalen könnte jedoch<br />

ein Hinweis auf eine mögliche <strong>Hochbegabung</strong><br />

sein.“ Erste Anlaufstelle für Eltern<br />

sind Beratungsangebote wie die von<br />

der DGhK, einem b<strong>und</strong>esweit tätigen gemeinnützigen<br />

Verein, in dem sich betroffene<br />

Eltern, Pädagogen, Psychologen sowie<br />

andere Interessierte ehrenamtlich<br />

für die Förderung hochbegabter Kinder<br />

einsetzen.<br />

Für Nicole <strong>und</strong> Thomas Spiertz, die<br />

Eltern von Marika, Eva <strong>und</strong> Sandra, waren<br />

die Fähigkeiten ihrer Erstgeborenen<br />

Marika zunächst normal. Als Fünfjährige<br />

spielte Marika mit ihrer Mutter eben am<br />

liebsten Monopoly. Dass<br />

sie die Mieten zusammenrechnen<br />

konnte, fand die<br />

Mutter nicht besonders<br />

außergewöhnlich. Erst als<br />

die Oma meinte: „Du musst<br />

mit der Kleinen mal zum Psychologen,<br />

die hat gar keine Lust auf altersgerechte<br />

Kinderspiele“, kam sie ins Grübeln. Marikas<br />

extreme Langeweile im Kindergarten<br />

<strong>und</strong> der Tipp einer Mutter, die sich mit<br />

<strong>Hochbegabung</strong> auskannte, gaben den Anstoß,<br />

das Kind testen zu lassen.<br />

Eine wissenschaftlich anerkannte Methode<br />

für den Nachweis von<br />

<strong>Hochbegabung</strong> ist der Intelligenztest.<br />

In der Forschung<br />

gilt ein Kind als hochbegabt,<br />

wenn es in entsprechenden<br />

Tests einen Wert von<br />

über 130 Punkten erreicht bzw. einen<br />

Prozent rang von 98. Das bedeutet, dass<br />

etwa zwei Prozent der Kinder eines Jahrgangs<br />

intellektuell hochbegabt sind. Bei<br />

einem Quotienten <strong>zwischen</strong> 115 <strong>und</strong> 130<br />

spricht man von einer überdurchschnittlichen<br />

Begabung. Wer sein Kind testen<br />

lassen möchte, sollte sich einen erfahrenen<br />

Diplom-Psychologen suchen, der in<br />

der Diagnostik routiniert ist <strong>und</strong> regelmäßig<br />

Tests in der gewünschten Altersgruppe<br />

durchführt. Seriöse Beratungsstellen<br />

legen Wert auf eine gute Nachberatung<br />

<strong>und</strong> erstellen eine individuelle Profilanalyse<br />

zu den Stärken <strong>und</strong> Schwächen des<br />

Kindes. Denn: Wer Intelligenztests richtig<br />

interpretieren kann, ist in der Lage eine<br />

echte Erziehungshilfe zu geben <strong>und</strong> ein<br />

Förderkonzept zu erstellen.<br />

Die Aussagefähigkeit von Tests bei<br />

Kleinkindern <strong>und</strong> im Vorschulalter ist<br />

umstritten, da die Intelligenzentwicklung<br />

bei kleinen Kindern noch längst nicht abgeschlossen<br />

ist. Eltern sollten ihr Kind<br />

daher so früh nur dann testen lassen,<br />

wenn akuter Bedarf besteht, z. B. wenn<br />

sie unsicher sind, ob eine vorgezogene<br />

Einschulung sinnvoll wäre.<br />

Marikas Ergebnis veranlasste die Eltern,<br />

zur Gr<strong>und</strong>schule Kontakt aufzunehmen.<br />

„Sie durfte probeweise am Unterricht<br />

teilnehmen“, erzählt ihre Mutter.<br />

Das machte ihr so großen Spaß, dass die<br />

Kindergartenzeit für sie<br />

noch langweiliger wurde.<br />

Schließlich der schnelle<br />

Entschluss: Marika wird<br />

nachträglich mit fünf<br />

Jahren als Kann-Kind<br />

eingeschult <strong>und</strong> steigt zum zweiten Halbjahr<br />

ins erste Schuljahr ein. „Ihre Klassenlehrerin<br />

hatte Erfahrung mit Hochbegabten<br />

<strong>und</strong> hat uns gut beraten. Das<br />

war unser Glück.“ Ihren ersten offiziellen<br />

Schultag feierte Marika wie jeder Schulanfänger.<br />

Mit Schultüte im Arm, in Begleitung<br />

ihrer Eltern, Schwestern <strong>und</strong> Omas<br />

<strong>und</strong> Opas, wurde sie in ihrer neuen Klas-<br />

Marikas<br />

Klassenlehrerin hatte<br />

Erfahrungen mit<br />

Hochbegabten<br />

ÖKO-TEST Kinder Kinder 4 I 2013 71


Das sind wir<br />

se herzlich empfangen. Es gab Kuchen<br />

<strong>und</strong> eine richtige kleine Einschulungsfeier.<br />

Die Klassenlehrerin hatte die Mitschüler<br />

gut darauf vorbereitet. „Manche<br />

Kinder w<strong>und</strong>erten sich zwar, dass Marika<br />

den Unterrichtsstoff besser beherrschte<br />

als sie selbst, obwohl sie doch später<br />

dazugekommen war“, erinnert sich die<br />

Mutter, „aber Hänseleien oder Ablehnung<br />

gab es deswegen nicht.“<br />

Seitdem Marika mit Hausaufgaben nach<br />

Hause kam, wollte ihre kleine Schwester<br />

Eva unbedingt mitlernen. „Da <strong>Hochbegabung</strong><br />

häufig mehrere Geschwisterkinder<br />

betrifft, haben wir Eva ebenfalls im Vorschulalter<br />

testen lassen“, berichten die<br />

Eltern. Bei ihrer zweitgeborenen Tochter<br />

wird ein IQ von über 130 festgestellt.<br />

Kurz nach ihrem fünften Geburtstag startet<br />

sie ebenfalls in die Schulzeit. Allerdings<br />

nicht ganz so schön wie ihre ältere<br />

Schwester. „Als erste Hausaufgabe mussten<br />

wir eine Schultüte ausmalen“, erinnert<br />

sich die Zehnjährige. „Als ich dem<br />

Lehrer sagte, dass auf der Kopiervorlage<br />

bei dem Wort Schultüte ein ,t‘ fehle, reagierte<br />

er leicht säuerlich.“<br />

Nachdem es in den ersten Schulwochen<br />

mehrere Zwischenfälle dieser Art<br />

mit dem Lehrer gab, die<br />

Eva als Besserwisserei<br />

ausgelegt wurden, entschieden<br />

sich die Eltern<br />

schnell für einen Schulwechsel.<br />

„Es war einfach<br />

klar, dass die Chemie <strong>zwischen</strong> Eva <strong>und</strong><br />

ihrem Klassenlehrer nicht stimmt.“ Die<br />

Lehrerin auf der neuen Gr<strong>und</strong>schule kam<br />

mit ihr wesentlich besser zurecht. „Dass<br />

unsere Töchter hochbegabt sind <strong>und</strong><br />

eine besondere Förderung brauchen, haben<br />

wir den Lehrern nie gesagt“, betont<br />

Nicole Spiertz. „Wir haben immer von einem<br />

großen Lernpotenzial gesprochen.“<br />

Für viele Eltern ist die <strong>Hochbegabung</strong> ih-<br />

„Wir haben lieber von<br />

einem großen<br />

Lernpotenzial<br />

gesprochen“<br />

Die zwölfjährige Marika (links), Nesthäkchen Sandra (Mitte) <strong>und</strong> Eva (10 Jahre) sind<br />

hochbegabt. Ihre Eltern haben das frühzeitig erkannt <strong>–</strong> <strong>und</strong> fördern die Mädchen bestmöglich.<br />

res Kindes ein Balanceakt: Sagen sie in<br />

der Schule etwas, landen sie wohlmöglich<br />

in der Schublade „überehrgeizige Eltern“,<br />

die ihr Kind für etwas Besseres halten.<br />

Sagen sie nichts, kann wertvolle Zeit<br />

dabei verloren gehen, dem Kind das richtige<br />

Lernumfeld zu bieten.<br />

Richtig Glück mit ihrer Gr<strong>und</strong>schullehrerin<br />

hat die siebenjährige Sandra, die<br />

jüngste von den drei Mädchen. Regulär<br />

mit sechs Jahren eingeschult, ist sie auf<br />

eine Lehrerin getroffen, die einfach ein<br />

Händchen für sie hat, wie<br />

die Eltern immer wieder<br />

glücklich feststellen. Noch<br />

langweilt sie sich nicht im<br />

Unterricht. Obwohl sie<br />

sich Dinge, für die Klassenkameraden<br />

Wochen brauchen, innerhalb<br />

kürzester Zeit selbst aneignet, wie ihre<br />

Mutter häufig erlebt: „In den vergangenen<br />

Herbstferien ärgerte sie sich, zwar schon<br />

Druckschrift lesen zu können, Schreibschrift<br />

aber nicht. Die hatten sie im Unterricht<br />

noch nicht gelernt. Kurzerhand<br />

hat sie sich mit einer Übersicht zu allen<br />

Schreibschriftbuchstaben auf ihr Zimmer<br />

verkrümelt, jeden Buchstaben zwei<br />

Mal geübt <strong>und</strong> danach konnte sie die sowohl<br />

schreiben als auch lesen.“<br />

Und im Alltag setzt sich der Wissensdrang<br />

fort: „Momentan rechnen sie in<br />

der Klasse mit den Zahlen im H<strong>und</strong>erterbereich.<br />

Als ich mit Sandra letztens<br />

im Auto unterwegs war, sah sie ein Schild<br />

mit der Zahl 1.500 <strong>und</strong> wollte wissen, welche<br />

Zahl das ist. Wenn sie mich fragt, erkläre<br />

ich ihr die Dinge“, sagt die Mutter.<br />

„Aber wir fangen nicht an, neuen Stoff<br />

vorzugeben, den sie in der Schule noch<br />

nicht hatte.“ Seit der Erklärung ihrer Mutter<br />

beschäftigt sie sich mit Zahlen im<br />

Tausenderraum. Ob sie eventuell nach<br />

der dritten Klasse direkt auf das Gymnasium<br />

wechselt, werden die Eltern entscheiden,<br />

wenn es so weit ist.<br />

Marika <strong>und</strong> Eva gehen mittlerweile beide<br />

auf ein örtliches Gymnasium. Marika<br />

besucht die achte Klasse mit naturwissenschaftlichem<br />

Profil. Eva geht in die sechste<br />

Klasse <strong>und</strong> hat sich für den bilingualen<br />

Französischzweig entschieden. Beide<br />

fühlen sich in ihren Klassen wohl, obwohl<br />

der Start für Marika extrem schwer<br />

war. „Ich habe mich richtig aufs Gymnasium<br />

gefreut. Aber als die Lehrer Unmen-<br />

72 ÖKO-TEST Kinder Kinder 4 I 2013


Das hat nicht immer gleich auf Anhieb funktioniert, aber mittlerweile fühlen sich alle drei<br />

Schwestern gut in ihrem schulischen Umfeld aufgehoben <strong>–</strong> <strong>und</strong> zu Hause sowieso.<br />

gen Stoff der vierten Klasse wiederholten,<br />

war’s für mich sehr langweilig. Als ich<br />

dann mit meinen Mitschülern immer häufiger<br />

Streit wegen irgendwelcher Nichtigkeiten<br />

bekam <strong>und</strong> die immer aggressiver<br />

wurden, wollte ich nachher nur noch die<br />

Schule wechseln“, erinnert sich Marika.<br />

Eine gebrochene Hand, eine Fuß- <strong>und</strong> eine<br />

Augenverletzung <strong>–</strong> alles bei Attacken auf<br />

dem Schulhof passiert <strong>–</strong> veranlassten die<br />

Eltern, den Schulleiter um ein Gespräch zu<br />

bitten. Der erwies sich als sehr sensibel:<br />

Sein Gefühl war, dass Marika in der fünften<br />

Klasse unterfordert sei <strong>und</strong> ihr Wissensvorsprung<br />

die Mitschüler verunsichere<br />

<strong>und</strong> aggressiv mache. Er schlug ihr<br />

einen Wechsel in die sechste Klasse vor,<br />

den Marika gerne annahm: „Ich konnte<br />

zum zweiten Halbjahr springen. Den Stoff,<br />

der mir noch fehlte, sollte ich bis zu den<br />

Sommerferien nacharbeiten. “<br />

Wie groß ihr Potenzial ist, zeigte sich in<br />

den folgenden Wochen. Marika erarbeitete<br />

sich den fehlenden Stoff alleine <strong>–</strong> bis<br />

auf Latein, das sie vorher noch nie hatte<br />

<strong>–</strong> <strong>und</strong> war schon vor den Osterferien<br />

fertig. „Zu Hause hatten wir nie den Eindruck,<br />

dass sie diese Stoffmenge stresst<br />

Das Wiederholen von<br />

Aufgaben lässt viele<br />

Hochbegabte einfach<br />

abschalten<br />

oder vor Schwierigkeiten stellt. Der Klassenlehrer<br />

hat sie neben eine gute Schülerin<br />

gesetzt, die ihr ebenfalls einiges erklären<br />

konnte“, freuten sich die Eltern. In<br />

der neuen Klasse fühlt sie sich sichtlich<br />

wohl. Obwohl sie 12 <strong>und</strong> die anderen 14<br />

Jahre alt sind, fällt der Altersunterschied<br />

sowohl körperlich als auch im Sozialverhalten<br />

nicht auf. „Mit den Klassenkameraden<br />

komme ich gut aus. Wir sind sechs<br />

Mädchen <strong>und</strong> 23 Jungen. Da müssen wir<br />

Mädchen einfach alle zusammenhalten.“<br />

Marikas Sprung von einer<br />

Klasse zur anderen ist<br />

eine der Möglichkeiten,<br />

die Lehrer für die Förderung<br />

hochbegabter Kinder<br />

haben. Akzeleration,<br />

Beschleunigung der Schulzeit, heißt<br />

das in der Fachsprache. Bei einer Teilakzeleration<br />

nimmt der Schüler teilweise<br />

am Unterricht der nächsthöheren Klasse<br />

teil. Ein anderer Weg ist das Enrichment:<br />

Das Kind bekommt nicht einfach<br />

mehr Aufgaben der gleichen Art, sondern<br />

Aufgaben, die ein Thema vertiefen.<br />

Denn gerade das Wiederholen von Aufgaben,<br />

was für den größten Teil der Klasse<br />

jedoch wichtig ist, lässt Hochbegabte<br />

abschalten <strong>und</strong> senkt ihre Motivation.<br />

In der 20-köpfigen bilingualen Klasse von<br />

Eva ist das Leistungsniveau sehr hoch.<br />

Auf dem St<strong>und</strong>enplan stehen momentan<br />

sechs St<strong>und</strong>en Französisch pro Woche.<br />

Eva liebt die Sprache. Weil sie in den Osterferien<br />

mit der Klasse in die französischsprachige<br />

Schweiz fahren, möchte<br />

sie gerne mehr Vokabeln können, um sich<br />

gut zu verständigen. „Ich habe meine Eltern<br />

gefragt, ob ich „Vorhilfe“ in Französisch<br />

bekomme“, so nennt sie die zusätzliche<br />

wöchentliche Französischst<strong>und</strong>e<br />

bei einer Privatlehrerin.<br />

Langeweile im Unterricht befürchten<br />

die Eltern nicht, da der bilinguale Zweig<br />

sehr anspruchsvoll ist. „Bei der Auswahl<br />

der Hobbys schauen wir ansonsten<br />

schon gemeinsam, was Ihnen gefällt, sie<br />

fordert <strong>und</strong> einen Ausgleich zur Schule<br />

darstellt“, erklären die Eltern. Und Hobbys<br />

haben die drei reichlich. Neben Klavier<br />

lernt Marika zwei Mal pro Woche<br />

Chinesisch, Steppen <strong>und</strong> geht mit ihren<br />

Klassenkameraden zum Standardtanz.<br />

Am Wochenende ist sie als Messdienerin<br />

aktiv. Massenweise Bücher verschlingt<br />

sie obendrein. Deshalb ist der wöchentliche<br />

Gang in die Bücherei<br />

obligatorisch. „Mein Rekord<br />

war es, nachmittags<br />

mit einem r<strong>und</strong> 600-seitigen<br />

Band der Twilight-Saga<br />

anzufangen <strong>und</strong> nachts<br />

um drei fertig zu sein“, grinst Marika.<br />

Dass sich die drei gegenseitig anspornen,<br />

lässt sich fast gar nicht verhindern.<br />

Auch Sandra ist eine Leseratte; ihre momentane<br />

Lieblingsserie: „Das magische<br />

Baumhaus“. „Bis jetzt habe ich es geschafft,<br />

ein Buch an drei Nachmittagen<br />

zu lesen. Mein Ziel ist es, das an einem<br />

Nachmittag zu schaffen“, verkündet die<br />

Siebenjährige. Auch Chinesisch steht<br />

ÖKO-TEST Kinder Kinder 4 I 2013 73


Das sind wir<br />

Warum, weshalb, wieso? In ihrer Freizeit beschäftigen sich die drei Mädchen mit etwas<br />

anderen Spielsachen als Gleichaltrige <strong>und</strong> erforschen gerne Neues.<br />

seit Neuestem auf ihrer Hobbyliste. Außerdem<br />

spielt sie Blockflöte, ist mit Eva<br />

in einem Flötenorchester, geht zum Ballett,<br />

macht einmal pro Woche Englisch<br />

<strong>und</strong> besucht einmal im Monat mit Eva<br />

ein Englisch-Camp. „Klar schauen sie,<br />

was macht die eine, was lernt die andere,<br />

aber das ist wie bei anderen Geschwistern<br />

auch“, finden die Eltern.<br />

„Wir achten allerdings darauf, dass sie<br />

sich neben all der intellektuellen Förderung<br />

auch musisch <strong>und</strong> sportlich betätigen“,<br />

sagt der Vater. So spielt Eva noch<br />

Badminton, geht zum Ballett, hat sich für<br />

Querflöte als Instrument entschieden<br />

<strong>und</strong> geht auch zu den Messdienern. Dass<br />

<strong>zwischen</strong> diesem strammen Freizeitpensum<br />

noch Hausaufgaben stattfinden müssen,<br />

wäre für die meisten<br />

Kinder ein Albtraum. „Die<br />

drei sind mit ihren Hausaufgaben<br />

meistens viel effektiver,<br />

wenn viel auf dem<br />

Programm steht, als wenn<br />

sie einen Nachmittag vertrödeln können“,<br />

stellt die Mutter fest. Auch treffen sie sich<br />

gerne mit Fre<strong>und</strong>en, aber oft sind es die<br />

Fre<strong>und</strong>e, die dann mit den Hausaufgaben<br />

ausgelastet sind.<br />

Umso schöner sind für die drei die Treffen<br />

mit anderen Hochbegabten. Daher<br />

sind sie alle Mitglieder im Verein IKuh<br />

<strong>und</strong> zusätzlich in Mensa. Das ist ein<br />

weltweiter Verein für hochbegabte Men-<br />

Die Treffen mit<br />

anderen<br />

Hochbegabten sind<br />

sehr wichtig<br />

schen. Ziel ist es, diese hochintelligenten<br />

Menschen über lokale, überregionale<br />

<strong>und</strong> internationale Treffen zu vernetzen.<br />

Hinter dem Wort Mensa <strong>–</strong> aus dem Lateinischen<br />

von Tisch <strong>–</strong> steckt die Idee der<br />

Gründer, Hochbegabte an einen Tisch<br />

zu bringen. Nicole Spiertz: „Für die Kinder<br />

ist es wichtig, ganz unkompliziert mit<br />

Menschen zusammen zu sein, die genau<br />

auf ihrer Wellenlänge sind.“<br />

Da Thomas Spiertz Vollzeit arbeitet, ist<br />

die Organisation des Alltags ihrer Töchter<br />

die Aufgabe von Nicole Spiertz. „Die<br />

viele Fahrerei ist manchmal anstrengend,<br />

vor allem seit ich wieder Teilzeit<br />

arbeite“, findet die Mutter, aber die <strong>Hochbegabung</strong><br />

ihrer Töchter hat sowohl ihren<br />

Kindern als auch ihr selbst schon viele<br />

spannende Erlebnisse beschert.<br />

Als etwa ihre Tante<br />

an Leukämie erkrankte,<br />

wollten die Mädchen<br />

genauer wissen, was dahintersteckt.<br />

Da sie jedes<br />

Jahr im Frühjahr am Programm der Kinderuni<br />

Köln teilnehmen, sprachen sie die<br />

Professoren darauf an. Aus dem anfänglichen<br />

Interesse entwickelte sich ein Buch-<br />

Workshop mit dem Ziel, ein Kinderbuch<br />

über Darmkrebs zu schreiben. Das Thema<br />

Krebs haben sie daraufhin auch in<br />

der TV-Sendung „Quarks & Co“ vorgestellt<br />

<strong>und</strong> mit der Buchidee beim Wettbewerb<br />

„Forschung für unsere Ges<strong>und</strong>heit“<br />

in ihrer Kategorie den ersten Platz<br />

belegt.<br />

Obwohl bei Marika, Eva <strong>und</strong> Sandra alles<br />

ziemlich r<strong>und</strong> läuft, wissen die Eltern,<br />

wie schnell Hochbegabte in der Kritik stehen<br />

<strong>und</strong> dazu neigen, sich zu verstellen.<br />

Sie selbst ziehen es vor, außerhalb der<br />

Hochbegabtenkreise nicht über das Thema<br />

zu sprechen <strong>und</strong> haben das auch ihren<br />

Töchtern vermittelt. Entsprechend<br />

gerne fahren sie mittlerweile mit Familien<br />

anderer hochbegabter Kinder in den<br />

Urlaub. In den Ferien nehmen die Kinder<br />

an Hochbegabtenakademien teil. Da<br />

diese Akademien in der Regel subventioniert<br />

werden, ist das ein angenehmer<br />

Ausgleich für die Eltern. „Bei drei Kindern<br />

mit solchen Hobbys kommt man finanziell<br />

einfach an seine Grenzen. Wenn<br />

dann noch Sprachreisen anstehen, ist<br />

jede Förderung von außerhalb hilfreich.“<br />

Und was ist mit Leerlauf, wenn kein<br />

Programm ansteht? Mittlerweile können<br />

sich die drei sehr gut alleine beschäftigen<br />

<strong>und</strong> fordern. Sie holen sich Blätter<br />

aus dem Wald <strong>und</strong> mikroskopieren sie<br />

oder spielen mit dem Experimentierkasten.<br />

Und irgendwann ist auch mal Feierabend.<br />

Nachdem Marika als Kleinkind extrem<br />

wenig Schlaf benötigte <strong>–</strong> morgens<br />

um fünf hellwach war <strong>und</strong> problemlos<br />

ohne Mittagsschlaf bis abends um elf<br />

durchhielt <strong>–</strong> geht sie momentan zeitig<br />

ins Bett, genau wie ihre Schwestern.<br />

<br />

74 ÖKO-TEST Kinder Kinder 4 I 2013


Das sind wir<br />

Dorian: „Ich habe eine<br />

Komplizierung im Gehirn.“<br />

76 ÖKO-TEST Kinder Kinder 4 I 2013


Herausforderungen gesucht:<br />

In seiner Freizeit nimmt Dorian mit<br />

Begeisterung an Workshops wie<br />

dem eines Hospitals teil, bei dem<br />

er Ein blicke in Chirurgie, Erste Hilfe,<br />

Eingipsen, EKG <strong>und</strong> anderes erhielt.<br />

<strong>Hochbegabung</strong> gibt es nicht, das ist<br />

ein Hirngespinst von ehrgeizigen<br />

Eltern“, konnte sich Joëlle Henselmann<br />

von der Leiterin der Kindertagesstätte<br />

in Düsseldorf anhören, die ihr vierjähriger<br />

Sohn Dorian 2004 besuchte. Ihr Sohn<br />

müsse sich anpassen, war das Fazit eines<br />

Gesprächs <strong>zwischen</strong> Kitaleitung, Gruppenleiterin<br />

<strong>und</strong> der Mutter. „Über Wochen<br />

hatte ich versucht, mit der Gruppenleiterin<br />

ins Gespräch zu kommen“,<br />

erinnert sich Joëlle Henselmann.<br />

Dass Dorian anders war als die anderen<br />

Kinder, war den Erzieherinnen auch<br />

aufgefallen. Mit zwei Jahren sprach er<br />

flüssig vollständige Sätze, mit drei Jahren<br />

addierte <strong>und</strong> subtrahierte er im 20er-<br />

Bereich, mit vier Jahren brachte er sich<br />

selbst das Lesen bei. Kontakt zu den anderen<br />

Kindern seiner Gruppe hatte er<br />

kaum <strong>und</strong> seine Mutter hatte fast das<br />

Gefühl, dass er bewusst isoliert wurde.<br />

„Wenn Ausflüge in den Wald anstanden,<br />

was er liebte, wurde er nicht mitgenommen.“<br />

Aus Sicht von Joëlle Henselmann<br />

waren die Erzieherinnen mit seiner anderen<br />

Art einfach überfordert. „Sie legten<br />

mir im Beisein anderer Eltern nahe,<br />

mit Dorian zum Psychiater zu gehen, da<br />

er nicht normal sei.“<br />

Als Dorian schließlich von sich selbst<br />

sagte, „ich habe eine Komplizierung im<br />

Gehirn“, war für die Mutter der Zeitpunkt<br />

erreicht, seine Intelligenz testen zu lassen.<br />

Dorian war viereinhalb. „Eigentlich<br />

zu früh für einen Intelligenztest. Je nach<br />

Umwelteinflüssen <strong>und</strong> Förderangeboten<br />

kann Intelligenz noch stark, in etwa bis<br />

zum Ende der Gr<strong>und</strong>schulzeit, schwanken“,<br />

wusste Joëlle Henselmann. Der Test<br />

bestätigte ihr Gefühl: Dorian ist hochbegabt,<br />

sein IQ lag weit über 130. „Ich habe<br />

versucht, für meinen Sohn einen anderen<br />

Kindergartenplatz zu finden, weil die<br />

Kommunikation mit den Erzieherinnen<br />

überhaupt nicht klappte. Sie empfahlen<br />

sogar eine Rückstellung <strong>und</strong> Einschulung<br />

erst mit sieben Jahren. Aber in ganz Düsseldorf<br />

fand sich kein Platz. Zum Ende<br />

seiner Kitazeit bekam ich eine Entwicklungsmappe,<br />

die einen einzigen Handabdruck<br />

von Dorian enthielt <strong>und</strong> mir noch<br />

einmal deutlich dokumentierte, welche<br />

Barriere <strong>zwischen</strong> den Erzieherinnen<br />

<strong>und</strong> meinem Sohn stand.“<br />

Nach dem Testergebnis meldete Joëlle<br />

Henselmann ihren Sohn bei MinD Mensa<br />

in Deutschland e. V. an, damit er wenigstens<br />

außerhalb der Kindergartengruppe<br />

mit Kindern zusammentraf, bei denen er<br />

sich nicht andersartig fühlte <strong>und</strong> geistige<br />

Anregung bekam. „Ich habe mich bei<br />

Mensa selbst früh engagiert“, erzählt sie,<br />

„da ich gemerkt habe, wie gut Dorian diese<br />

Treffen getan haben.“ Mittlerweile ist<br />

sie Beisitzerin für den Bereich<br />

Kids & Junior bei<br />

MinD Mensa in Deutschland,<br />

kümmert sich um<br />

b<strong>und</strong>esweite Elternanfragen<br />

<strong>und</strong> bietet Familientreffen<br />

im Düsseldorfer Raum <strong>und</strong> im<br />

Bergischen Land an. Auf internationaler<br />

Mensa-Ebene ist sie ebenfalls vernetzt.<br />

Als Dorian in die Schule kommt, hofft<br />

sie auf einen Neuanfang. Bei der Anmeldung<br />

sagte sie bewusst nichts von einer<br />

<strong>Hochbegabung</strong>. Obwohl Dorian schon<br />

deutlich vor Schulbeginn lesen konnte,<br />

fällt es seiner Lehrerin im Schulalltag<br />

Minderleister heißen<br />

jene Hochbegabte,<br />

die unter ihren<br />

Fähigkeiten bleiben<br />

nicht auf, so sehr verheimlicht er sein<br />

Können. „Für ihn kam die Einschulung<br />

zu spät, mit all dem, was er schon wusste“,<br />

merkte seine Mutter. Hinzu kam, dass<br />

er sich dem für ihn zu langsamen Klassenrhythmus<br />

anpassen musste <strong>und</strong> keine<br />

Herausforderungen kennenlernte. Unendlich<br />

oft Buchstaben schreiben, alles<br />

quälend oft wiederholen, das langweilte<br />

ihn zu Tode. Er schaltete ab <strong>und</strong> zeigte<br />

nicht, was er eigentlich konnte. Underachiever<br />

oder Minderleister werden solche<br />

Hochbegabte genannt, die weit unter<br />

ihren Fähigkeiten bleiben. Sie haben<br />

nicht rechtzeitig gelernt, Leistung zu<br />

bringen, an ihre Grenzen zu gehen, Konkurrenz<br />

zu ertragen <strong>und</strong> mit Misserfolgen<br />

umzugehen.<br />

„Bereits in den Herbstferien hatte ich<br />

einen Schulverweigerer zu Hause“, stellte<br />

Joëlle Henselmann fest. Dorian hat<br />

keine Lust mehr auf Schule <strong>und</strong> boykottierte<br />

alles. Die fehlende Anerkennung in<br />

der Schule vermittelte ihm: „Das interessiert<br />

die sowieso nicht.“ Nach etlichen<br />

Anläufen, mit der Lehrerin<br />

<strong>und</strong> der Schulleitung<br />

ins Gespräch zu kommen,<br />

springt Dorian endlich<br />

zum Halbjahreswechsel<br />

in die zweite Klasse. „Die<br />

Lehrer <strong>und</strong> die Schulleitung haben das<br />

allerdings in keiner Weise positiv begleitet“,<br />

musste die Mutter enttäuscht feststellen.<br />

Entsprechend galt er unter den<br />

alten Klassenkameraden als Verräter <strong>und</strong><br />

die Neuen wollten ihn als Baby auch nicht<br />

haben. Eine schwierige Situation.<br />

Seine Akzeptanz sank immer mehr.<br />

Mobbingattacken nahmen zu. Schuhe,<br />

<br />

ÖKO-TEST Kinder Kinder 4 I 2013 77


Das sind wir<br />

Joëlle Henselmann berät in ihrem eigenen Institut Familien mit hochbegabten Kindern. Ihr<br />

Tipp an die Eltern: den Kindern außerhalb der Schule viele Erfolgserlebnisse ermöglichen.<br />

die in der Schultoilette versenkt wurden,<br />

gehörten noch nicht einmal zu dem<br />

Übelsten, was er über sich ergehen lassen<br />

musste. Die Tatsache, dass er Schule<br />

als etwas verinnerlicht hatte, wo man<br />

keine Leistung zeigt, rächte<br />

sich. „Dorian hatte überhaupt<br />

nicht gelernt zu lernen.<br />

Obwohl ich wusste,<br />

dass er ein ganz anderes<br />

Potenzial hat, sackte er in<br />

den Noten immer mehr ab.“ Als die Klassenlehrerin<br />

ihm eine Realschulempfehlung<br />

ausspricht, konnte die Mutter diese<br />

Einschätzung nicht nachvollziehen. Sie<br />

setzte sich mit dem Schulamt in Verbindung.<br />

Deren Aussage, dass Hochbegabte<br />

eine Gymnasialempfehlung bekommen,<br />

führte dazu, dass die Gr<strong>und</strong>schule in Dorians<br />

Schulakte vermerkt, seine Mutter<br />

habe die Gymnasialempfehlung erzwungen.<br />

Dorian ist mittlerweile acht Jahre alt.<br />

In vielen B<strong>und</strong>esländern lässt sich das<br />

gesetzlich zugesicherte Recht von hochbegabten<br />

Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern auf<br />

eine besondere, individuelle Förderung<br />

Trotz seines großen<br />

Potenzials sackte<br />

Dorian in der Schule<br />

immer weiter ab<br />

direkt aus dem Schulgesetz ableiten. In<br />

der Realität sieht es allerdings oft noch<br />

anders aus. Die Studie des Instituts für<br />

Demoskopie Allensbach „Schul- <strong>und</strong> Bildungspolitik<br />

in Deutschland 2011“ fragte<br />

Lehrer nach den gezielten<br />

Fördermöglichkeiten von<br />

begabten Kindern. 58 Prozent<br />

der Lehrer gaben an,<br />

dass solche Fördermöglichkeiten<br />

an einer guten<br />

Schule unbedingt gegeben sein müssen.<br />

Aber nur 17 Prozent der Lehrer kreuzten<br />

bei dieser Frage an: „Trifft auf meine<br />

Schule zu.“<br />

Dorians negative Erfahrungen setzen<br />

sich auf dem Gymnasium fort. Seine Mutter<br />

lässt ihn am Ende der fünften Klasse<br />

noch einmal testen. Das Ergebnis ist ein<br />

IQ mit Werten bis 155 (Prozentrang über<br />

99,9). Er steckt in einem Kreislauf von keine-Leistung-zeigen<br />

<strong>und</strong> stören fest. Seine<br />

Klassenlehrerin stuft ihn als hyperaktiv<br />

<strong>und</strong> ADHS-Kandidaten ein. Die Konfrontationen<br />

<strong>zwischen</strong> Mutter <strong>und</strong> Lehrerin<br />

nehmen zu, ihr wird massiv geraten, mit<br />

ihrem Sohn zum Psychologen zu gehen.<br />

Das Ergebnis ist, das Dorian Ritalin verschrieben<br />

bekommt.<br />

„Nachdem der Junge ein Schatten seiner<br />

selbst <strong>und</strong> zunehmend depressiv<br />

wurde, sich nur noch auf seinem Zimmer<br />

einschloss <strong>und</strong> Hausaufgaben ein<br />

nachmittäglicher Albtraum waren, haben<br />

wir es wieder abgesetzt, in der Schule<br />

ist es niemandem aufgefallen. Das waren<br />

schlimme Jahre. Ich wusste nicht mehr,<br />

was ich machen sollte <strong>und</strong> kam an meinen<br />

Sohn kaum noch heran“, erinnert<br />

sich Joëlle Henselmann. Dorian spricht<br />

nicht gerne über diese Zeit. Der dauernde<br />

Vorwurf, er hätte keine soziale Kompetenz,<br />

machte ihn sehr traurig. „Es stimmt<br />

doch gar nicht, dass ich mich nicht einfüge.<br />

Ich werde doch ausgegrenzt, nur<br />

weil ich anders bin“, sagte er seiner Mutter<br />

seinerzeit.<br />

2010 steht Dorian vor dem Ende der<br />

sechsten Klasse. In NRW endet die Erprobungszeit<br />

auf dem Gymnasium. Die<br />

Lehrer bescheinigen ihm, dass er nicht in<br />

die siebte Klasse versetzt wird. Die Mut-<br />

78 ÖKO-TEST Kinder Kinder 4 I 2013


Erlebte harte Zeiten: Seine Mitschüler mobbten ihn, seine Lehrerin stufte ihn als hyperaktiv<br />

ein. Nach einem Schulwechsel hat Dorian endlich auch wieder Lust auf Hobbys.<br />

ter wendet sich an andere Gymnasien,<br />

die zunächst signalisieren, dass sie für<br />

Dorian einen Platz hätten. Einige Tage<br />

später bekommt sie von allen Schulen<br />

Absagen. „Mein Rechtsanwalt, den ich<br />

nach einem extremen Mobbingfall eingeschaltet<br />

hatte, riet mir, mit Dorian vom<br />

staatlichen ins private Schulwesen zu<br />

wechseln.“ Nach den Sommerferien 2010<br />

fängt Dorian auf einer Privatschule neu<br />

an, er darf die siebte Klasse besuchen<br />

<strong>und</strong> scheint endlich das für ihn richtige<br />

Umfeld gef<strong>und</strong>en zu haben. „Die Lehrer<br />

<strong>und</strong> der Schulleiter sind cool <strong>und</strong> fair“,<br />

findet er. In seiner kleinen Klasse mit 13<br />

Schülern wird er entsprechend gefordert.<br />

Seine Lieblingsfächer sind Physik, Kunst<br />

<strong>und</strong> Englisch.<br />

Das Wichtigste für die Mutter: Das soziale<br />

Klima an der Schule ist ein ganz anderes.<br />

Ihr Sohn ist mittlerweile wie ausgewechselt.<br />

„Er steht morgens freiwillig auf,<br />

geht mit Spaß zur Schule <strong>und</strong> hat wieder<br />

Lust auf Hobbys.“ Beim Sommerfest der<br />

Schule im vergangenen Jahr stellte sie erstaunt<br />

<strong>und</strong> zugleich glücklich fest, dass<br />

Dorian, der sonst immer an ihr klebte,<br />

überall herumschwirrte <strong>und</strong> sich sichtlich<br />

wohlfühlte. Das Schönste für Dorian:<br />

Er hat immer mehr Erfolgserlebnisse,<br />

gute Noten <strong>und</strong> freut sich auf seine Freizeit.<br />

„Seit einigen Wochen lerne ich endlich<br />

Klavier spielen.“ Außerdem besucht<br />

er einen Computerkurs, geht schwimmen<br />

<strong>und</strong> begeistert sich für Wing Tsun. Was er<br />

selbst im Rückblick über die ersten Schuljahre<br />

sagt: „Ich bin aus dem finstersten<br />

Schwarz endlich wieder ins helle Licht<br />

zurückgekehrt.“<br />

Als Mensa-Beauftragte <strong>und</strong> auch in ihrem<br />

eigenen Institut zur Beratung von<br />

Familien mit hochbegabten<br />

Kindern wird Joëlle<br />

Henselmann immer wieder<br />

mit Fällen wie dem ihrigen<br />

konfrontiert. Sie rät<br />

den Eltern, Ruhe zu bewahren<br />

<strong>und</strong> dem Kind außerhalb der Schule<br />

viele Erfolgserlebnisse zu ermöglichen.<br />

Einen Kampf mit der Schule anzufangen,<br />

hält sie für wenig hilfreich. Und die Alternative<br />

könne nicht immer Privatschule<br />

Ich bin aus dem<br />

finstersten Schwarz<br />

endlich wieder ins<br />

Licht zurückgekehrt<br />

heißen. Das wäre auch das falsche Signal.<br />

Hochbegabte seien ein wichtiger Teil<br />

der Gesellschaft, die es zu fördern gelte<br />

<strong>und</strong> das sei auch Aufgabe der staatlichen<br />

Schulen.<br />

Um die Schwierigkeiten in der Realität<br />

weiß allerdings auch das B<strong>und</strong>esministerium<br />

für Bildung <strong>und</strong> Forschung. In<br />

einem Ratgeber von 2010 für Eltern, Erzieher<br />

<strong>und</strong> Lehrer heißt es, „dass Lehrerinnen<br />

<strong>und</strong> Lehrer in ihrer Ausbildung<br />

bisher in aller Regel nicht auf die Unterrichtung<br />

<strong>und</strong> Erziehung hochbegabter<br />

Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler vorbereitet<br />

werden. (...) Auch fehle es noch an<br />

geeigneten Materialien für<br />

die individualisierte Förderung<br />

dieser Schülerinnen<br />

<strong>und</strong> Schüler ...“<br />

Für Hochbegabte ist es<br />

aber enorm wichtig, dass<br />

ihr Anderssein als etwas Selbstverständliches<br />

akzeptiert <strong>und</strong> gefördert wird <strong>–</strong> damit<br />

sie auf ihre hohe Begabung stolz sein<br />

können <strong>und</strong> sie nicht als Komplizierung<br />

im Gehirn empfinden.<br />

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ÖKO-TEST Kinder Kinder 4 I 2013 79

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