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Folter in der BRD - Social History portal

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2. E<strong>in</strong>e gegen den Willen e<strong>in</strong>es Menschen, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> hochgradigem Erregungszustand<br />

bef<strong>in</strong>det, durchgeführte Allgeme<strong>in</strong>betäubung wi<strong>der</strong>spricht den Regeln <strong>der</strong><br />

ärztlichen Kunst.<br />

'<br />

(Dr. med. Bräutigam)<br />

sich freiwillig F<strong>in</strong>gerabdrücke abnehmen zu lassen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Justizvollzugsanstalt<br />

Aichach durch den Anstaltsarzt Dr. Weilacher unter Verwendung von Chloräthyl­<br />

Äther <strong>in</strong> Narkose versetzt. Während <strong>der</strong> Dauer <strong>der</strong> Narkose wurden wie vorgesehen<br />

von Beamten des Bayer. Landeskrim<strong>in</strong>alamtes die erfor<strong>der</strong>lichen 10 F<strong>in</strong>gerabdrükke,<br />

E<strong>in</strong>zelf<strong>in</strong>gerabdrücke und Handflächenabdrücke, gefertigt.<br />

I<br />

I<br />

Staatsanwaltschaft<br />

bei dem Landgericht<br />

Betreff: Ermittlungsverfahren gegen den Anstaltsarzt <strong>der</strong> Justizvollzugsanstalt<br />

Aichach Dr. J. S. Weilacher, Bedienstete <strong>der</strong> Justizvollzugsanstalt Aichach und<br />

Beamte des Bayer. Landeskrim<strong>in</strong>alamtes München<br />

wegen Körperverletzung im Amt u. a.<br />

Bescheid<br />

Das Ermittlungsverfahren<br />

I.<br />

Augsburg<br />

wird gemäß § 170 Abs. 2 StPO e<strong>in</strong>gestellt.<br />

Augsburg, den 21. 8. 1972<br />

Bei <strong>der</strong> Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Augsburg haben die Student<strong>in</strong><br />

Carmen Roll, vertreten durch Rechtsanwälte Dr. Klaus Croissant und Jörg Lang <strong>in</strong><br />

Stuttgart, das »Berl<strong>in</strong>er Patientenkollektiv« (BPK) und die Aktionsgeme<strong>in</strong>schaft <strong>der</strong><br />

deutschen Rechtsanwälte e. V. (ADRA) Strafanzeige erstattet. Die Anzeigeerstatter<br />

s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung, die Beschuldigten hätten sich des versuchten Mordes, <strong>der</strong> Körperverletzung<br />

im Amt, <strong>der</strong> Freiheitsberaubung im Amt und <strong>der</strong> Giftbeibr<strong>in</strong>gung dadurch<br />

schuldig gemacht, daß sie von Carmen Roll am 16. März 1972 geme<strong>in</strong>sam <strong>in</strong> Ausführung<br />

e<strong>in</strong>es Beschlusses des Amtsgerichts Aichach vom 15. März 1972 <strong>in</strong> <strong>der</strong> Justizvollzugsanstalt<br />

Aichach unter zwangsweiser Betäubung F<strong>in</strong>gerabdrücke nahmen.<br />

Nach dem Ergebnis <strong>der</strong> durchgeführten Ermittlungen ist <strong>der</strong> gegen die Beschuldigten<br />

erhobene Vorwurf strafbarer Handlungen <strong>in</strong> vollem Umfange unbegründet. Im<br />

e<strong>in</strong>zelnen haben die Ermittlungen folgenden Sachverhalt ergeben:<br />

Die Anzeigeerstatter<strong>in</strong> Carmen Roll wurde im Zuge <strong>der</strong> Fahndung nach Mitglie<strong>der</strong>n<br />

anarchistischer Terroristengruppen am 2. März 1972 <strong>in</strong> Augsburg festgenommen und<br />

<strong>in</strong> die Justizvollzugsanstalt Aichach verbracht. Gegen sie bestand unter an<strong>der</strong>em e<strong>in</strong><br />

Haftbefehl des Amtsgerichts Heidelberg vom 22. November 1971 (10 Gs 356/71) für<br />

das Ermittlungsverfahren <strong>der</strong> Staatsanwaltschaft Karlsruhe Az.: 37 Js 1923/71<br />

wegen Zugehörigkeit zum sog. »Sozialistischen Patientenkollektiv Heidelberg« als<br />

e<strong>in</strong>er krim<strong>in</strong>ellen Vere<strong>in</strong>igung (§ 129 StGB), wegen versuchter Brandstiftung, versuchter<br />

Herbeiführung e<strong>in</strong>er Explosion durch Sprengstoffe und Vorbereitung von<br />

Explosionen durch Herstellung von Sprengstoff (§§ 308,311,43,311 a StGB).<br />

In diesem Verfahren waren <strong>in</strong> zwei Fällen F<strong>in</strong>gerspuren gesichert worden, als <strong>der</strong>en<br />

Verursacher<strong>in</strong> Carmen Roll <strong>in</strong> Betracht kam, und zu <strong>der</strong>en Auswertung es erfor<strong>der</strong>lich<br />

war, F<strong>in</strong>gerabdrücke <strong>der</strong> dortigen Beschuldigten zu fertigen. Da die Anzeigeerstatter<strong>in</strong><br />

trotz wie<strong>der</strong>holter Vorstellungen <strong>der</strong> Polizeibeamten und des Anstaltsarztes<br />

es verweigerte, sich freiwillig F<strong>in</strong>gerabdrücke nehmen zu lassen, erließ das Amtsgericht<br />

Aichach auf staatsanwaltschaftlichen Antrag am 15. März 1972 e<strong>in</strong>en Beschluß<br />

dah<strong>in</strong>, daß bei <strong>der</strong> Beschuldigten Carmen Roll die Abnahme von F<strong>in</strong>gerabdrücken,<br />

bei Weigerung unter Anwendung unmittelbaren Zwanges, angeordnet wurde.<br />

In Vollzug dieses Beschlusses wurde die Anzeigeerstatter<strong>in</strong> am Vormittag des 16.<br />

März 1972, nachdem ihr nochmals vergeblich Gelegenheit gegeben worden war,<br />

11.<br />

Dieses Verfahren war rechtmäßig. Es erfüllt unter ke<strong>in</strong>em rechtlichen Gesichtspunkt<br />

den Tatbestand e<strong>in</strong>er strafbaren Handlung.<br />

Die Abnahme von F<strong>in</strong>gerabdrücken unter Anwendung unmittelbaren Zwanges f<strong>in</strong>det<br />

ihre Rechtsgrundlage <strong>in</strong> den Bestimmungen <strong>der</strong> §§ 81a, 81b StPO. Danach dürfen<br />

nach Maßgabe richterlicher Anordnung zur Feststellung von Tatsachen, die für das<br />

Verfahren von Bedeutung s<strong>in</strong>d, auch ohne E<strong>in</strong>willigung des Beschuldigten körperliche<br />

E<strong>in</strong>griffe von e<strong>in</strong>em Arzt nach den Regeln <strong>der</strong> ärztlichen Kunst zu Untersuchungszwecken<br />

vorgenommen werden, wenn ke<strong>in</strong> Nachteil für die Gesundheit des<br />

Beschuldigten zu befürchten ist. (§ 81aStPO). Für F<strong>in</strong>gerabdrücke bestimmt das<br />

Gesetz (§ 81b StPO) ausdrücklich, daß diese auch ohne richterliche Anordnung<br />

gegen den Willen des Beschuldigten abgenommen werden dürfen, soweit dies für<br />

die Zwecke <strong>der</strong> Durchführung des Strafverfahrens notwendig ist. Beide Bestimmungen<br />

haben geme<strong>in</strong>sam, daß zur Durchsetzung <strong>der</strong> danach zulässigen<br />

Maßnahmen <strong>in</strong> den Grenzen des Grundsatzes <strong>der</strong> Verhältnismäßigkeit die Anwendung<br />

unmittelbaren Zwanges gerechtfertigt ist (Kle<strong>in</strong>knecht StPO, 30. Auf!., § 81a,<br />

Anm. 8, § 81b, Anm. 4). In Anwendung dieser Rechtsgrundsätze s<strong>in</strong>d die den<br />

Beschuldigten zum Vorwurf gemachten Maßnahmen nicht zu beanstanden.<br />

1. Die Abnahme von F<strong>in</strong>gerabdrücken diente wie bereits ausgeführt zur Durchführung<br />

des bei <strong>der</strong> Staatsanwaltschaft Karlsruhe gegen Carmen Roll anhängigen<br />

Ermittlungsverfahrens. Die Beschaffung von F<strong>in</strong>gerabdrücken <strong>der</strong> Anzeigeerstatter<strong>in</strong><br />

als Vergleichsmaterial war <strong>in</strong> diesem Verfahren dr<strong>in</strong>gend erfor<strong>der</strong>lich, um<br />

die Ermittlungen erfolgsversprechend weiterbetreiben zu können. E<strong>in</strong> Nachteil für<br />

die Gesundheit <strong>der</strong> Beschuldigten stand von <strong>der</strong> Anwendung e<strong>in</strong>er Inhalations­<br />

Äther-Narkose nicht zu erwarten. Dies ergibt sich überzeugend aus e<strong>in</strong>em im<br />

Ermittlungsverfahren e<strong>in</strong>geholten Gutachten des Instituts für Rechtsmediz<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Universität München vom 14. Juni 1972. Danach handelt es sich bei dieser Narkoseart<br />

um eun auch heute noch durchaus übliches Verfahren, das e<strong>in</strong> nur außerordentlich<br />

ger<strong>in</strong>ges Risiko h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Gefährdung <strong>der</strong> Gesundheit selbst bei<br />

kranken Personen <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit sonstigen konstitutionsschwächenden ärztlichen<br />

E<strong>in</strong>griffen darstellt.<br />

2. Die an <strong>der</strong> Beschuldigten Carmen Roll vorgenommene Chloräthyl-Äthernarkose<br />

trug dem Grundsatz <strong>der</strong> Verhältnismäßigkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> gebotenen Weise Rechnung.<br />

Sie war, wie vom Anstaltsarzt Dr. Weilacher überzeugend dargetan und durch das<br />

zitierte Gutachten bestätigt wird, erfor<strong>der</strong>lich, um auch gegen den Willen <strong>der</strong><br />

Beschuldigten brauchbare F<strong>in</strong>gerabdrücke anfertigen zu können. Geeignet war<br />

die Narkose als Mittel zur Ruhigstellung <strong>der</strong> Betroffenen, weil sie sowohl willkürliche<br />

als auch unwillkürliche Bewegungen <strong>der</strong> Gliedmaßen ausschaltet. An<strong>der</strong>e<br />

das Wohlbef<strong>in</strong>den und die Gesundheit weniger berührende Mittel <strong>der</strong> Anwendung<br />

unmittelbaren Zwanges standen nach den e<strong>in</strong>gehenden Ausführungen des<br />

gerichtsmediz<strong>in</strong>ischen Sachverständigengutachtens vom 14. Juni 1972 nicht zur<br />

Verfügung. Das gilt <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e von <strong>der</strong> Möglichkeit e<strong>in</strong>er Ruhigstellung durch<br />

lediglich mechanische Fixierung. Abgesehen davon, daß dieses Verfahren bereits<br />

zuvor ohne Erfolg versucht worden war, ist zu berücksichtigen, daß für die Anferti-<br />

88 <strong>Folter</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>BRD</strong> 89 Beson<strong>der</strong>e Ermittlungsmethoden

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