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Folter in der BRD - Social History portal

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<strong>der</strong> Politischen Gefangenen o<strong>der</strong> solcher Häftl<strong>in</strong>ge, die ihre Auflehnung<br />

gegen unmenschliche Haftbed<strong>in</strong>gungen politisch verstehen und akzentuieren,<br />

so ersche<strong>in</strong>t die Institution justizvollzug schizophren: E<strong>in</strong>mal soll<br />

Wi<strong>der</strong>stand durch humane Sozialtherapie gelöst, das an<strong>der</strong>e Mal durch<br />

Isolationsfolter, Zwangspsychiatrisierung etc. gebrochen werden. Dieses<br />

Muster - Integration/Unterdrückung - kehrt abgemil<strong>der</strong>t <strong>in</strong> manchen<br />

an<strong>der</strong>en Bereichen wie<strong>der</strong>, wo Bürger um ihre Rechte kämpfen, ihre Bedürfnisse<br />

artikulieren, gesellschaftliche Praxis zu machen beg<strong>in</strong>nen. Sieht<br />

man die e<strong>in</strong>zelnen wi<strong>der</strong>sprüchlichen Reaktionen <strong>der</strong> staatlichen Gewalt<br />

nur auf <strong>der</strong> jeweiligen Ebene (Gefängnis, Schule, Betrieb, Kommune etc.),<br />

so zeigt sich e<strong>in</strong>e ständige Verletzung sowohl des Gleichheitsgebotes als<br />

auch positiver Gesetze und Normen: Der Rechtsstaat untergräbt sich selbst.<br />

Da dies kaum se<strong>in</strong>e eigene Absicht se<strong>in</strong> kann, muß e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e dah<strong>in</strong>terstecken,<br />

die den Staatsapparat veranlaßt, se<strong>in</strong> Rechts- und Gewaltmonopol<br />

sche<strong>in</strong>bar willkürlich zu gebrauchen. Die Willkür hat System: hier kommt<br />

e<strong>in</strong> neues Opportunitätspr<strong>in</strong>zip zum Zuge, das se<strong>in</strong>e eigene Rationalität<br />

entwickelt. E<strong>in</strong> Beispiel: In Westberl<strong>in</strong> werden Ladendiebstähle bis zum<br />

Wert von 100 Mark neuerd<strong>in</strong>gs nicht mehr verfolgt: <strong>der</strong> Polizei- und<br />

justizapparat ist e<strong>in</strong>fach überfor<strong>der</strong>t, und das Image <strong>der</strong> Polizei darf bei<br />

den Massen nicht weiter Schaden nehmen; aber den Flugblattverteiler o<strong>der</strong><br />

Demonstranten, <strong>der</strong> se<strong>in</strong> Grundrecht auf freie Me<strong>in</strong>ungsäußerung <strong>in</strong> Anspruch<br />

nimmt, trifft oft die ganze Strenge des (eigens dafür zurechtgebogenen)<br />

Gesetzes, gar nicht zu reden von Gummiknüppeln, Tränengas, erkennungsdienstlicher<br />

Behandlung etc.: dafür stehen die nötigen Kräfte zur<br />

Verfügung, mit demnächst wie<strong>der</strong> aufpoliertem Image.<br />

Wie aber def<strong>in</strong>iert sich die Opportunität? Wie kann, <strong>in</strong> Ermangelung e<strong>in</strong>er<br />

Staatsideologie, wie es sie unterm Faschismus gab, im E<strong>in</strong>zelfall bestimmt<br />

werden, wie weit geduldet, wie weit durchgegriffen wird? Im Fall <strong>der</strong> <strong>in</strong>haftierten<br />

RAF-Genossen, die vorab zum Staatsfe<strong>in</strong>d Nr. I erklärt worden<br />

s<strong>in</strong>d, ist das ke<strong>in</strong> Problem. Problematisch wird dieser Fall- für uns - erst<br />

durch die beson<strong>der</strong>en Schikanen und Torturen, denen die Gefangenen ausgesetzt<br />

s<strong>in</strong>d: hier wird ganz offensichtlich nicht nur <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>status des<br />

Poli tischen Gefangenen e<strong>in</strong>gerich tet, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> Modell für die Behandlung<br />

von »Staatsfe<strong>in</strong>den« geschaffen, das wegweisend se<strong>in</strong> dürfte. Wie<strong>der</strong>um hat<br />

<strong>der</strong> Staatsapparat se<strong>in</strong>e Reakt~on (auf die RAF) so gestaltet, daß sie zur<br />

weitausholenden Antizipation wird. An den <strong>in</strong> diesem Heft veröffentlichten<br />

Dokumenten läßt sich ablesen, was für den heutigen Staat »opportun« ist;<br />

welches die »unsichtbare Hand« ist, die h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> neuen Repressionswelle<br />

steht.<br />

3. Bei <strong>der</strong> ihm zugewachsenen Aufgabe, das gesellschaftliche Gleichgewicht<br />

herzustellen, das die marktwirtschaftliche Ordnung nicht mehr<br />

gewährleisten kann, bedient sich <strong>der</strong> Staat des Instruments <strong>der</strong> »freiheitlich<br />

demokratischen Grundordnung«, um se<strong>in</strong>e jeweiligen politischen Fe<strong>in</strong>de<br />

ihrer Grundrechte zu berauben, und nimmt dabei die Aufhebung se<strong>in</strong>er<br />

eigenen Verfassung <strong>in</strong> Kauf<br />

a) Die» freiheitlich demokratische Grundordnung« als unsichtbare Hand.<br />

In e<strong>in</strong>em Urteil des OVG Lüneburg vom 27. 9.1972, durch das e<strong>in</strong> Berufsverbot<br />

bestätigt wurde, heißt es:<br />

»Die Bundesrepublik Deutschland ist im Gegensatz zur Weimarer Republik e<strong>in</strong>e Demokratie,<br />

die e<strong>in</strong>en Mißbrauch <strong>der</strong> Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitliche Ordnung<br />

des Grundgesetzes nicht h<strong>in</strong>nimmt, vielmehr von ihren Bürgern e<strong>in</strong>e Verteidigung<br />

dieser Ordnung erwartet (BVerfGE 28, 48) und Fe<strong>in</strong>de dieser Grundordnung, auch wenn<br />

sie sich formal im Rahmen <strong>der</strong> Legalität bewegen, nicht toleriert (BVerfGE 3°,119 f.).«l<br />

Der hier hervorgehobene Satz enthält e<strong>in</strong>e merkwürdige Feststellung, die<br />

.freilich an e<strong>in</strong> altes Thema rührt: das Verhältnis von Legalität und Legitimität.<br />

Offenbar decken sie sich nicht mehr: man kann e<strong>in</strong> gesetzestreuer<br />

Bürger und dennoch Fe<strong>in</strong>d <strong>der</strong> Grundordnung se<strong>in</strong>, alle<strong>in</strong> kraft Ges<strong>in</strong>nung,<br />

<strong>der</strong>en Freiheit sie doch ausdrücklich garantiert.<br />

Daß es sich dabei nicht um e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>zelfall o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Entgleisung handelt,<br />

zeigen an<strong>der</strong>e Beispiele. E<strong>in</strong> Beschluß des Kammergerichts Berl<strong>in</strong> vom<br />

14.10.1970 (516 Qs 91/70), <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Haftverschonung aufhebt, sagt über<br />

den Beschuldigten:<br />

»Er gehört zu e<strong>in</strong>er Gruppe junger Menschen, die sich e<strong>in</strong>er anarchistischen Ideologie<br />

verschrieben haben und daher (!) die Gesellschaftsordnung unter E<strong>in</strong>satz von Gewalt<br />

gegen Sachen und Menschen zerstören wollen ...<br />

Bei dieser Mentalität des Beschuldigten kann aus <strong>der</strong> Tatsache, daß er während <strong>der</strong> Haftverschonung<br />

se<strong>in</strong>e Meldeauflagen regelmäßig erfüllt hat, ke<strong>in</strong>eswegs geschlossen werden,<br />

er wolle sich freiwillig für se<strong>in</strong> Tun vor Gericht verantworten ... Se<strong>in</strong> Verhalten ist vielmehr<br />

von taktischen überlegungen bestimmt ... ,,2<br />

Das heißt: ob man Meldeauflagen erfüllt o<strong>der</strong> nicht, ist egal. Wer als Fe<strong>in</strong>d<br />

<strong>der</strong> Gesellschaftsordnung erkannt ist, muß gerade dann, wenn er nicht<br />

flieht, als fluchtverdächtig gelten. Ganz ähnlich argumentiert das Oberlandesgericht<br />

Frankfurt, das mit se<strong>in</strong>em Beschluß vom 14· 5. 1973 die<br />

knapp e<strong>in</strong>en Monat zuvor angeordnete Haftverschonung für Marianne<br />

Herzog wie<strong>der</strong> aufhob: »Ihre E<strong>in</strong>stellung läßt nur den SchluiZzu, daß sie<br />

Auflagen e<strong>in</strong>hält, wenn sie sich davon Vorteile verspricht« (s. u. S. 67).<br />

Wenn für die justiz die E<strong>in</strong>haltung <strong>der</strong> von ihr selbst def<strong>in</strong>ierten Auflagen,<br />

ja sogar e<strong>in</strong> streng legales Verhalten nicht mehr zählt, wo es um e<strong>in</strong> offenbar<br />

höheres Pr<strong>in</strong>zip geht, kann sie ihrerseits im Namen dieses Pr<strong>in</strong>zips die<br />

Legalität mit Füßen treten. Das bestätigen viele <strong>in</strong> <strong>der</strong> folgenden Dokumentation<br />

enthaltenen Beschlüsse und Verfügungen: Immer wie<strong>der</strong> werden<br />

unter Berufung auf jenes Pr<strong>in</strong>zip, nämlich die »verfassungsmäßige Ord-<br />

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