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Folter in der BRD - Social History portal

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,.<br />

I. Der zu Reformen genötigte Staat muß außer se<strong>in</strong>em Gewaltmonopol<br />

auch e<strong>in</strong> Reformmonopol beanspruchen, das die Systemimmanenz <strong>der</strong> notwendigen<br />

gesellschaftlichen Verän<strong>der</strong>ungen garantiert.<br />

a) Aktuelles Beispiel <strong>der</strong> Reformdialektik ist <strong>der</strong> sog. Radikalenerlaß. Es<br />

gab <strong>in</strong> deutschen Schulen noch nie so viele progressive und kritische Lehrer,<br />

die e<strong>in</strong>en so wenig staatsfrommen Unterricht hielten, wie seit <strong>der</strong> Studentenbewegung.<br />

Die Behörden, beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong> sozialdemokratisch regierten Län<strong>der</strong>n,<br />

haben sie weitgehend gewähren lassen, trotz Eltern- und Kollegenprotesten,<br />

und sicher nicht aus Schwäche. Jetzt droht den radikalen Pädagogen<br />

das Berufsverbot. Wer darunterfällt, dekretiert jeweils - im Lichte<br />

von Erkenntnissen des Verfassungsschutzes - die Bürokratie. Daß es unter<br />

Umständen Lehrer trifft, <strong>der</strong>en Unterricht ke<strong>in</strong>eswegs progressiver wäre<br />

als <strong>der</strong> von den hessischen Rahmenrichtl<strong>in</strong>ien vorgesehene, zeigt nur wie<strong>der</strong><br />

die Zielrichtung dieser Maßnahme: Diszipl<strong>in</strong>ierung im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Kanalisierung<br />

von politischem Handeln. Die entsprechenden Erlasse, mit denen<br />

<strong>der</strong> Staat sche<strong>in</strong>bar nur reagierte, s<strong>in</strong>d zugleich Vorgriffe, antizipiertes<br />

Krisenmanagement. Alle progressiven Lehrkräfte von <strong>der</strong> Schule fernzuhalten,<br />

kann sich <strong>der</strong> Staat nicht leisten (das wäre die Krise); aber er kann<br />

und muß es sich leisten, alle mit Ausschluß zu bedrohen und den Vollzug<br />

willkürlich-exemplarisch zu üben: aus <strong>der</strong> Perspektive des möglicherweise<br />

betroffenen Lehrers e<strong>in</strong>e Art Russisches Roulette. Jedoch nur, solange er als<br />

Individuum dem Staatsapparat gegenübersteht. Sobald dieser es mit e<strong>in</strong>er<br />

solidarischen Gruppe <strong>der</strong> L<strong>in</strong>ken zu tun hat, spielt er Russisches Roulette.<br />

b) Die <strong>der</strong>zeit extremste Demonstration staatlicher Intoleranz gegenüber<br />

Abweichungen von <strong>der</strong> herrschenden Norm (<strong>der</strong> Norm <strong>der</strong> Herrschenden)'<br />

ist die Behandlung <strong>der</strong> Politischen Gefangenen, die es nach offizieller Lesart<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>BRD</strong> so wenig gibt wie <strong>in</strong> Südvietnam o<strong>der</strong> <strong>in</strong> den portugiesischen<br />

Kolonien. Es darf sie nicht geben: deshalb werden sie rigoros isoliert, nicht<br />

nur von <strong>der</strong> Außenwelt und von e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, son<strong>der</strong>n gerade auch von den<br />

an<strong>der</strong>en Gefangenen. Aber wie<strong>der</strong>um fällt e<strong>in</strong>e ad hoc praktizierte Repressionsmaßnahme<br />

sich selbst <strong>in</strong> den Rücken: Schon wurde die noch auf den<br />

Rechtsstaat vertrauende öffentlichkeit nervös, kritische Blicke richten sich<br />

auf die Gefängnisse, auf die Lage <strong>der</strong> Politischen Gefangenen wie auch auf<br />

den z. T. unmenschlichen Strafvollzug schlechth<strong>in</strong>; und unter den Gefangenen<br />

selbst beg<strong>in</strong>nt, wenn auch noch vere<strong>in</strong>zelt, e<strong>in</strong>e Politisierung <strong>in</strong> dem<br />

S<strong>in</strong>ne, daß e<strong>in</strong>e Auflehnung gegen die Haftbed<strong>in</strong>gungen nicht mehr nur<br />

als <strong>in</strong>dividueller Akt geübt (und entsprechend geahndet) wird, son<strong>der</strong>n als<br />

virtuell kollektives Handeln, das mit e<strong>in</strong>er Solidarisierung von dr<strong>in</strong>nen und<br />

draußen rechnen kann. Die »Sicherheit und Ordnung~< <strong>der</strong> Anstalt, die <strong>in</strong><br />

den offiziellen Dokumenten dieses Heftes so oft beschworen wird und für<br />

2 Zu diesem Heft<br />

so viele, teils brutale, teils absurde Repressionen als Begründung dient, ist<br />

tatsächlich durch die Isolierung <strong>der</strong> Politischen und sich politisierenden<br />

Gefangenen kaum weniger gefährdet, als sie es durch <strong>der</strong>en Kommunikation<br />

mit den an<strong>der</strong>en Gefangenen wäre. »Die Gefahr für die Sicherheit <strong>der</strong><br />

Anstalt kommt von den Menschen«, wie das Landgericht Karlsruhe hellsichtig<br />

erkannte (s. u. S. 42). Die Konsequenz wäre (solange man noch zurückschreckt<br />

vor <strong>der</strong> Neueröffnung von Konzentrationslagern) die strenge<br />

Isolierung aller Gefangenen.<br />

c) Genau das sche<strong>in</strong>t die Basis des mo<strong>der</strong>nen justizvollzugs zu se<strong>in</strong>, <strong>der</strong><br />

se<strong>in</strong>en Zweck nicht mehr <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergeltung sieht (die immer noch etwas<br />

"Menschliches« an sich hat), vielmehr <strong>in</strong> <strong>der</strong> Resozialisation (die nur noch<br />

auf Effizienz aus ist, auf die Produktion angepaßter Arbeitskräfte). Ste<strong>in</strong>gewordener<br />

Ausdruck dieser Tendenz ist die gerade erst <strong>in</strong> Betrieb genommene<br />

JVA Frankfurt-Preungesheim, <strong>in</strong> <strong>der</strong> es <strong>in</strong> den ersten drei Tagen<br />

schon zwei Selbstmordversuche gab: Sichtblenden vor jedem Fenster, fast<br />

ausschließlich E<strong>in</strong>zelzellen, Käfige als Aufzüge, Betonkästen für den ,)Hofgang«,<br />

Beruhigungszellen, Bunker ... »Die Sicherheitsbed<strong>in</strong>gungen müssen<br />

sich an dem gefährlichsten Gefangenen ausrichten«, erklärt <strong>der</strong> zuständige<br />

Staatssekretär Wemer; deshalb werden zunächst e<strong>in</strong>mal alle Gefangenen<br />

auf den Nullpunkt bürgerlicher Rechte reduziert, um dann durch das bewährte<br />

System von Belohnung und Strafe für die Rückkehr <strong>in</strong> die Gesellschaft<br />

kondi tioniert zu werden. Den guten (bornierten) Willen zur »Verbesserung<br />

des Vollzugs« kann man den Behörden nicht e<strong>in</strong>mal absprechen;<br />

ihre Reformbemühungen reichen bis zu sozialtherapeutischen Experimenten<br />

wie <strong>in</strong> Tegel Haus IV (vgl. Kursbuch 3I, S. 89 ff.), die ihre eigene »Dialektik<br />

<strong>der</strong> Befreiung« entwickeln. Doch dah<strong>in</strong>ter wird <strong>in</strong> Zukunft für<br />

potentiell alle Gefangenen die Drohung <strong>der</strong> systematisierten Isolationshaft<br />

stehen - wenn nicht alle potentiellen Gefangenen diese Drohung rechtzeitig<br />

begreifen. Durch die Son<strong>der</strong>behandlung <strong>der</strong> Politischen Gefangenen wurde<br />

sie uns vor Augen geführt - zur Abschreckung, zur Aufhetzung?<br />

2. So wie die Reformpolitik des Staates auf Basisdruck angewiesen ist, den<br />

sie zu kanalisieren sucht, wendet sich se<strong>in</strong>e Repressionspolitik - relativ<br />

und/o<strong>der</strong> antizipatorisch - gegen den jeweils nicht <strong>in</strong>tegrierbaren Basisdruck,<br />

den sie zu krim<strong>in</strong>alisieren sucht.<br />

Das Paradebeispiel für Reformvollzug, Tegel Haus IV, war die Folge e<strong>in</strong>er<br />

Bambule, <strong>der</strong>en Anführer heute zu rühmen wissen, daß »gerade im Knast<br />

... die Basis e<strong>in</strong>er vernünftigen Zusammenarbeit auf Vertrauen ruht«. Vergleicht<br />

man damit die Reaktionen <strong>der</strong> Justizorgane auf die Protesthaltung<br />

3 Zu diesem Heft

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