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Folter in der BRD - Social History portal

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T<br />

L<br />

gen, entspricht e<strong>in</strong>e über<strong>in</strong>tensive Beschäftigung mit <strong>der</strong> eigenen Individualität.<br />

Als weitergehende Effekte sensorischer Deprivation können Halluz<strong>in</strong>ationen,<br />

auch und gerade autoskopische Symptome, ebenso auftreten<br />

wie Störungen <strong>der</strong> vegetativen körperlichen Funktionen.<br />

Das alles s<strong>in</strong>d Manifestationen <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> sensorischen Deprivation<br />

e<strong>in</strong>hergehenden fortschreitenden Desorientierung des Individuums <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

künstlichen, total fremdbestimmten Umgebung.<br />

Im Zusammenwirken von progressiver Desorientierung, halluz<strong>in</strong>atorischen<br />

Tendenzen und Störungen vegetativer körperlicher Funktionen<br />

(Verstärkung des Hunger- und Durst-Gefühls, des Schlafbedürfnisses, des<br />

Ur<strong>in</strong>dranges usw.) manifestiert sich die Zerstörung <strong>der</strong> Identität des <strong>der</strong><br />

sensorischen Deprivation ausgesetzten Individuums.<br />

Der menschliche Organismus ist <strong>der</strong> künstlich herbeigeführten senSOrIschen<br />

Deprivation nicht gewachsen.<br />

In <strong>der</strong> Natur ist höchstens die Situation e<strong>in</strong>es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wüste verirrten<br />

Menschen, <strong>der</strong> Fata-Morgana-Ersche<strong>in</strong>ungen halluz<strong>in</strong>iert, mit <strong>der</strong> Situation<br />

des total sensorisch Deprivierten vergleichbar. Aber <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wüste<br />

f<strong>in</strong>den zum<strong>in</strong>dest noch die naturgesetzlich ablaufenden Verän<strong>der</strong>ungen<br />

von Tag und Nacht mit ihren wahrnehmbaren und voraussehbaren Lichtund<br />

Temperaturschwankungen statt, die <strong>der</strong> Verirrte mit se<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>nesorganen<br />

registriert und auf die er sich e<strong>in</strong>stellen kann und muß. Derartige<br />

Orientierungshilfen fehlen dem künstlich und gewaltsam sensorisch<br />

Deprivierten völlig. Vielmehr ist er e<strong>in</strong>em für ihn undurchschaubaren und<br />

aus se<strong>in</strong>er Situation heraus unverän<strong>der</strong>lichen Willkürregime ausgesetzt,<br />

das selbst die Naturgesetze des Wechsels von Tag und Nacht, warm und<br />

kalt, Geräusch und Stille außer Kraft zu setzen sche<strong>in</strong>t. Vor allem e<strong>in</strong>e fast<br />

totale Geräuschisolation, höchstens unterbrochen durch gelegentliche seltene<br />

Schalleruptionen, hat hier wohl e<strong>in</strong>e Schlüsselfunktion: Verän<strong>der</strong>ungen<br />

o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Strukturierung des Geräuschpegels s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Natur<br />

entwe<strong>der</strong> Indizien für den Ablauf von Wettergeschehnissen (W<strong>in</strong>d, Regen,<br />

Donner usw.) o<strong>der</strong> aber für die Anwesenheit an<strong>der</strong>er Lebewesen. Gerade<br />

das Letztere ist für Menschen als soziale Lebewesen <strong>der</strong> erste und letzte<br />

Anker o<strong>der</strong> Strohhalm, <strong>in</strong> dem sich ihre Verb<strong>in</strong>dung, ihr Zusammenhang<br />

mit ihrer sozialen Umwelt manifestiert. Nicht umsonst ist die Sprache ­<br />

und die Musik - als akustisches Kommunikationsmittel die älteste und am<br />

weitesten entwickelte Form des Informationsaustausches <strong>der</strong> Menschen<br />

untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>. Menschliches Zusammenleben, menschliche Zusammenarbeit<br />

und akustische Kommunikation s<strong>in</strong>d we<strong>der</strong> historisch noch technisch<br />

vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu trennen. Das gilt sowohl <strong>in</strong> bezug auf die Menschheitsgeschichte<br />

als auch bezüglich <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen Entwicklung des Menschen<br />

von <strong>der</strong> Geburt an. Das vollständige vitale Funktionieren des Organismus<br />

122 SjefTeuns<br />

I<br />

e<strong>in</strong>es Neugeborenen äußert sich für se<strong>in</strong>e Umwelt zu allererst akustisch:<br />

das Baby schreit. Und Eltern o<strong>der</strong> Arzt o<strong>der</strong> Hebamme nehmen das neue<br />

Leben unmittelbar akustisch wahr. Nicht zu vergessen, daß das Hören ­<br />

auch anatomisch - eng verbunden ist mit dem Gleichgewichtsgefühl, e<strong>in</strong>er<br />

äußerst wichtigen Grundlage <strong>der</strong> Orientierung, und daß e<strong>in</strong>e Bee<strong>in</strong>trächtigung<br />

des Orientierungsvermögens e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> Hauptsymptome sowohl des<br />

epileptischen Anfalls als auch des akuten Elektroschocks ist.<br />

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß sensorische Deprivation<br />

durch das Versetzen E<strong>in</strong>zelner <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e total künstliche, gleichbleibende<br />

Umgebung wohl das zur Zeit geeignetste Mittel zur Zerstörung spezifisch<br />

menschlicher Vitalsubstanz ist. Durch Aushungerung im herkömmlichen<br />

S<strong>in</strong>ne kann man ebenso wie durch Erschießen o<strong>der</strong> Vergasen sowohl<br />

menschliches als auch tierisches Leben vernichten. Sensorische Deprivation<br />

h<strong>in</strong>gegen ist e<strong>in</strong>e speziell auf den menschlichen Organismus zugeschnittene<br />

Methode <strong>der</strong> Zerstörung von Lebenssubstanz - <strong>in</strong> gewissem<br />

S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong> Gegenstück zu den neuzeitlichen Methoden bei <strong>der</strong> Mästung von<br />

Schlachtvieh.<br />

Sensorische Deprivation ist - weil sie nur unter von Menschen arbeitsteilig<br />

produzierten Bed<strong>in</strong>gungen durchgeführt werden kann - zugleich die<br />

menschlichste und unmenschlichste Methode <strong>der</strong> verzögerten Auslöschung<br />

von Leben. über Monate und Jahre angewendet, ist sie <strong>der</strong> sprichwörtliche<br />

»perfekte Mord«, für den ke<strong>in</strong>er - o<strong>der</strong> alle, außer den Opfern - verantwortlich<br />

ist.<br />

Verantwortlich s<strong>in</strong>d wir, die wir hier versammelt s<strong>in</strong>d, ob wir <strong>in</strong> unserer<br />

täglichen Praxis Psychiatrie, Psychologie o<strong>der</strong> Juristerei ausüben, o<strong>der</strong> ob<br />

wir im Dienste <strong>der</strong> Obrigkeit Wissenschaft an Universitäten und <strong>der</strong>gleichen<br />

betreiben, ebenso wie die Staats-Psychiater, Staatsanwälte, Richter,<br />

Polizisten usw., mit dem Unterschied, daß wir <strong>in</strong> <strong>der</strong> Absicht hier zusammenkommen,<br />

unsere Kenntnisse und Fähigkeiten, die wir auf Kosten des<br />

produktiv arbeitenden Teils <strong>der</strong> Bevölkerung erlangt haben, für die<br />

Abschaffung <strong>der</strong> Isolation von Patienten und Politischen Gefangenen e<strong>in</strong>zusetzen.<br />

Diese Verantwortung auf sich nehmen, heißt nicht nur diejenigen anklagen,<br />

zu <strong>der</strong>en täglicher Rout<strong>in</strong>e die Bedienung <strong>der</strong> Schalthebel des Gewaltapparates<br />

gehört, die die sensorische Deprivation <strong>der</strong> isolierten Gefangenen<br />

immer wie<strong>der</strong> aufs Neue produziert, mit jedem Gerichtsbeschluß, mit<br />

je<strong>der</strong> Amtshandlung e<strong>in</strong>es Bewachers o<strong>der</strong> Gefängnisarztes usw. Diese<br />

Verantwortung auf sich nehmen heißt auch enthüllen, welche Forschungen<br />

an wissenschaftlichen Instituten betrieben werden, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Technik<br />

dazu benutzt werden, die Isolierung von Patienten und Gefangenen zu<br />

perfektionieren. Nicht <strong>der</strong> Kapo, <strong>der</strong> die Knöpfe des vorfabrizierten<br />

123 Isolation/Sensorische Deprivation: die programmierte <strong>Folter</strong>

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