Folter in der BRD - Social History portal
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Nunmehr soll offenbar bei dem »prom<strong>in</strong>entesten« RAF-Mitglied <strong>der</strong> Nachweis<br />
<strong>der</strong> Unzurechnungsfähigkeit mit drastischeren Mitteln geführt werden,<br />
um die übrigen Beschuldigten um so leichter als e<strong>in</strong>fache Krim<strong>in</strong>elle<br />
aburteilen zu können. Auf Antrag von Generalbundesanwalt Mart<strong>in</strong> hat<br />
<strong>der</strong> Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof Knoblich mit Beschluß vom<br />
13· 7.1973 (I BJs 6/71 - II BGs 315/73) angeordnet:<br />
»1. Bei <strong>der</strong> Beschuldigten Ulrike Me<strong>in</strong>hof dürfen von e<strong>in</strong>em Arzt nach den Regeln<br />
<strong>der</strong> ärztlichen Kunst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vollzugsanstalt Röntgenaufnahmen des Schädels und<br />
e<strong>in</strong>e Sz<strong>in</strong>tigraphie des Gehirns vorgenommen werden.<br />
2. Diese Maßnahmen dürfen auch gegen den Willen <strong>der</strong> Beschuldigten, erfor<strong>der</strong>lichenfalls<br />
unter Anwendung unmittelbaren Zwanges und unter Narkose durchgeführt<br />
werden.<br />
Gründe:<br />
Der mit <strong>der</strong> Abgabe e<strong>in</strong>er fachpsychiatrisch-psychologischen gutachtlichen Stellungnahme<br />
zur Frage <strong>der</strong> Zurechnungsfähigkeit <strong>der</strong> Beschuldigten beauftragte Sachverständige,<br />
Professor Dr. Witter, benötigt wegen <strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Beschuldigten im<br />
Oktober 1962 vorgenommenen Schädelöffnung zur Klärung des Schädel-Hirnbefundes<br />
Röntgenaufnahmen des Schädels und e<strong>in</strong>e Sz<strong>in</strong>tigraphie des Gehirns. Die Beschuldigte<br />
hat sich, wie <strong>der</strong> Generalbundesanwalt mitgeteilt hat, nicht bereit erklärt,<br />
den Arzt, <strong>der</strong> die Operation durchgeführt hat, von se<strong>in</strong>er Schweigepflicht zu entb<strong>in</strong>den,<br />
und ist mit <strong>der</strong> Beiziehung <strong>der</strong> ärztlichen Unterlagen über diese Operation<br />
nicht e<strong>in</strong>verstanden. Da sie, wie ihr bisheriges Verhalten gezeigt hat, auch nicht<br />
bereit ist, sich den vom Sachverständigen für erfor<strong>der</strong>lich gehaltenen Untersuchungen<br />
zu unterziehen, mußten gemäß § 81 a StPO vorstehende Anordnungen getroffen<br />
werden. Die angeordneten Maßnahmen s<strong>in</strong>d, wie <strong>der</strong> Sachverständige dargetan<br />
hat, auch unter Berücksichtigung <strong>der</strong> im Jahre 1962 durchgeführten Operation mit<br />
ke<strong>in</strong>er gesundheitlichen Gefährdung <strong>der</strong> Beschuldigten verbunden. Sie stehen auch<br />
nicht außer Verhältnis zu <strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Sache.<br />
Zuvor hatte die Generalbundesanwaltschaft mit Schreiben vom 18.4. 1973<br />
(gez. Zeis) den Direktor des Instituts für Gerichtliche Psychologie und<br />
Psychiatrie <strong>der</strong> Universität des Saarlandes, Prof. Dr. Witter, beauftragt, e<strong>in</strong><br />
fachpsychiatrisch-psychologisches Gutachten zu <strong>der</strong> Frage abzugeben, ob<br />
bei Ulrike Me<strong>in</strong>hof für die Zeit vom Juni 1970 bis zu ihrer Festnahme am<br />
15. Juni 1972 die mediz<strong>in</strong>ischen Voraussetzungen e<strong>in</strong>es Ausschlusses o<strong>der</strong><br />
e<strong>in</strong>er erhebl~chen E<strong>in</strong>schränkung ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit<br />
vorgelegen haben, und vorsorglich darauf h<strong>in</strong>gewiesen, daß nach »dem<br />
bisherigen Verhalten von Frau Me<strong>in</strong>hof ihre Mitwirkung an e<strong>in</strong>zelnen<br />
Untersuchungen ... fraglich« ersche<strong>in</strong>e. Weiter heißt es: »Aus Sicherheitsgründen<br />
kann e<strong>in</strong>e Verlegung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Anstalt nicht erfolgen. Ich<br />
bitte deshalb, zur Erstattung des Gutachtens erfor<strong>der</strong>liche Beobachtungen<br />
und Untersuchungen <strong>in</strong> <strong>der</strong>vorgenannten Anstalt [Köln-Ossendorf] durchzuführen.«<br />
Der <strong>der</strong>art programmierte<br />
1°4 <strong>Folter</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>BRD</strong><br />
Sachverständige machte sich zu e<strong>in</strong>em Besuch <strong>in</strong><br />
Köln-Ossendorf auf, besichtigte kurz se<strong>in</strong> Untersuchungsobjekt und folgerte<br />
aus dessen »heftiger Reaktion«, daß die Beschuldigte »jede Mitarbeit<br />
verweigert« und es auch <strong>in</strong> Zukunft so halten werde (Schreiben Prof. Witters<br />
an die Generalbundesanwaltschaft vom 10. 5. 73), weshalb er ungefährliche<br />
diagnostische Methoden wie e<strong>in</strong>e kl<strong>in</strong>isch-neurologische Untersuchung und<br />
e<strong>in</strong>e Elektroenzephalographie, die allerd<strong>in</strong>gs die Verlegung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Kl<strong>in</strong>ik<br />
und die »Mitarbeit« des Patienten erfor<strong>der</strong>n, erst gar nicht <strong>in</strong> Betracht zog,<br />
son<strong>der</strong>n gleich die Durchführung e<strong>in</strong>er Sz<strong>in</strong>tigraphie beantragte, und zwar<br />
unter Narkose, was hier Zwangsnarkose heißt. Se<strong>in</strong>em Auftraggeber besche<strong>in</strong>igte<br />
<strong>der</strong> Sachverständige die Ungefährlichkeit dieser Maßnahmen.<br />
»Die früher durchgemachte Operation <strong>der</strong> Beschuldigten würde bezüglich<br />
<strong>der</strong> Narkose ke<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Gefährdung bedeuten.« Die Frage, ob angesichts<br />
<strong>der</strong> durchgemachten Operation die Narkose für Ulrike Me<strong>in</strong>hof e<strong>in</strong>e<br />
Gefährdung bedeuten könnte, liegt Prof. Witter offensichtlich fern.<br />
Der Neurologe und Psychiater Prof. Dr. Erich Wulff erklärt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em von<br />
<strong>der</strong> Verteidigung angefor<strong>der</strong>ten Gutachten, daß »jede Art <strong>der</strong> Narkose mit<br />
e<strong>in</strong>em Komplikationsrisiko und e<strong>in</strong>er gewissen - wenngleich niedrigen <br />
Mortalitätsrate belastet ist«. Erst recht e<strong>in</strong>e unter Zwang durchgeführte<br />
Narkose (s. o. S. 87). Auch e<strong>in</strong>e Sz<strong>in</strong>tigraphie des Gehirns, bei <strong>der</strong> großmolekulare<br />
radioaktive Stoffe <strong>in</strong> die Halsschlaga<strong>der</strong> gespritzt werden, ist<br />
alles an<strong>der</strong>e als harmlos, was sich schon daraus ergibt, daß nach <strong>der</strong> ersten<br />
Strahlenschutzverordnung für ihre Durchführung das E<strong>in</strong>verständnis des<br />
Betroffenen vorliegen muß.<br />
überdies fragt sich, was mit diesem E<strong>in</strong>griff überhaupt ermittelt werden<br />
soll, da es ke<strong>in</strong>e Anhaltspunkte - wohl aber e<strong>in</strong> gewisses Interesse - dafür<br />
gibt, daß bei Ulrike Me<strong>in</strong>hof 1970-72 e<strong>in</strong> krankhafter Geisteszustand vorlag.<br />
In dem Gutachten von Prof. Wulff heißt es u. a.:<br />
»E<strong>in</strong>e vor zehn Jahren durchgemachte Tumoroperation rechtfertigt e<strong>in</strong>en so erheblichen<br />
Verdacht me<strong>in</strong>es Erachtens alle<strong>in</strong> noch nicht, und noch weniger rechtfertigt<br />
sie alle<strong>in</strong>e die Aufzw<strong>in</strong>gung von Untersuchungsmethoden, die mit Komplikationen<br />
und sogar mit e<strong>in</strong>er- wenn auch noch so m<strong>in</strong>imalen - Mortalität belastet s<strong>in</strong>d. [... ]<br />
So drängt sich <strong>der</strong> Schluß auf, daß es demBundesgerichtshof weniger darum<br />
geht, die Zurechnungsfähigkeit von Ulrike Me<strong>in</strong>hof <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit von 1970-72<br />
zu klären, als vielmehr darum, die Wirkung <strong>der</strong> über e<strong>in</strong>j ährigen Isolationsfolter<br />
zu testen, und zwar mit Methoden, die geeignet s<strong>in</strong>d, die Gefangene<br />
verrückt zu machen, um dann ihre politische Praxis nachträglich als verrückt<br />
abstempeln zu können. Das Zusammenspiel von Justiz und Psychiatrie<br />
wäre damit perfekt.<br />
105 Der E<strong>in</strong>satz von Arzten und Psychiatern