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Folter in der BRD - Social History portal

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schränkt werden, sobald nur <strong>der</strong> betreffende Verdacht auftaucht. Se<strong>in</strong><br />

E<strong>in</strong>fallstor ist das <strong>in</strong> § 26 I StPO verankerte Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> "freien richterlichen<br />

überzeugung«, die als die mo<strong>der</strong>ne Version <strong>der</strong> mittelalterlichen <strong>Folter</strong><br />

charakterisiert worden ist4: sie produziert Schuldige.<br />

Die richterliche überzeugung mag frei se<strong>in</strong>, aber ihr Inhalt ist abstrakt.<br />

Das zeigt sich, wenn man nach dem Inhalt des Begriffs <strong>der</strong> »freiheitlich<br />

demokratischen Grundordnung« fragt. Das Bundesverfassungsgericht hat<br />

ihn zu def<strong>in</strong>ieren versucht (BVerfGE 5, S. 85 ff., 140; vgl. auch Preuß,<br />

a.a.O., S. 28). Diese Charta <strong>der</strong> streitbaren Demokratie, auf die jetzt die<br />

Bewerber für den öffentlichen Dienst verpflichtet werden sollen, nennt als<br />

zentrales Pr<strong>in</strong>zip gerade das Recht, das <strong>in</strong> ihrem Namen auch am schnellsten<br />

verweigert wird: das Menschenrecht auf Freiheit und Gleichheit. Es ist<br />

- hier wie im Grundgesetz - e<strong>in</strong> re<strong>in</strong> abstraktes Pr<strong>in</strong>zip, wie überhaupt die<br />

ganze Charta nur die formalen Strukturmerkmale e<strong>in</strong>er klassischen liberalrepräsentativen<br />

Demokratie aufweist, <strong>der</strong>en ökonomische und gesellschaftliche<br />

Basis dagegen ausspart: die kapitalistischen Produktionsverhältnisse,<br />

das entwickelte Marktsystem, die besitz<strong>in</strong>dividualistische Vergesellschaftung.<br />

Diese Basis aber ist geme<strong>in</strong>t, wenn hier von Freiheit und Gleichheit<br />

die Rede ist. Zur Er<strong>in</strong>nerung:<br />

«... <strong>der</strong> Austausch von Tauschwerten ist die produktive, reale Basis aller Gleichheit<br />

und Freiheit. Als re<strong>in</strong>e Ideen s<strong>in</strong>d sie bloß idealisierte Ausdrücke <strong>der</strong>selben; als entwikkelt<br />

<strong>in</strong> juristischen, politischen, sozialen Beziehungen s<strong>in</strong>d sie nur diese Basis <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

an<strong>der</strong>en Potenz ... «<br />

» ••• daß <strong>der</strong> Tauschwert o<strong>der</strong> das Geldsystem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat das System <strong>der</strong> Gleichheit und<br />

Freiheit ist und daß, was ihnen <strong>in</strong> <strong>der</strong> näheren Entwicklung des Systems störend entgegentritt,<br />

ihm immanente Störungen s<strong>in</strong>d, eben die Verwirklichung <strong>der</strong> Gleichheit und<br />

Freiheit, die sich ausweisen als Ungleichheit und-Unfreiheit.« (Marx, Grundrisse, Berl<strong>in</strong><br />

1953, S. 156, 160)<br />

Die »Freiheit und Gleichheit«, welche die militante Grundordnung verteidigt,<br />

ist die des sich selbst regulierenden Marktsystems, das sich aber<br />

nicht mehr selbst reguliert und ohne drastische E<strong>in</strong>griffe des Staates zusammenbrechen<br />

müßte. Das für solche E<strong>in</strong>griffe notwendige Instrumentarium<br />

wurde 1967 und 1969 durch e<strong>in</strong>e Grundgesetzergänzung und das<br />

Stabilitätsgesetz geschaffen. Gemäß Art. 109 Abs. 2 GG haben Bund und<br />

Län<strong>der</strong> bei ihrer Haushaltswirtschaft "den Erfor<strong>der</strong>nissen des gesamtwirtschaftlichen<br />

Gleichgewichts Rechnung zu tragen«. Damit wird <strong>in</strong> die<br />

Verfassung e<strong>in</strong> <strong>in</strong>haltlicher Legitimationsgrund aufgenommen, <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

staatlichen Bürokratie die Möglichkeit gibt, durch ad hoc-Maßnahmen<br />

jeweils den ökonomischen Zustand herzustellen, <strong>der</strong> das überleben des<br />

Systems gewährleistet. Damit wird zugleich zugegeben, daß die marktwirtschaftliche<br />

Ordnung (als verschwiegene Basis <strong>der</strong> »freiheitlich demokratischen<br />

Grundordnung«) nicht mehr <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage ist, kraft ihrer eigenen<br />

Mechanismen die bürgerliche »Freiheit und Gleichheit« zu setzen und die<br />

8 Zu diesem Heft<br />

"<br />

"f········<br />

Gesellschaft im Gleichgewicht zu halten. Der Staat wird zum Regulator<br />

bestellt - und zum Groß<strong>in</strong>quisitor.<br />

Solange sich die Kritik an <strong>der</strong> bestehenden gesellschaftlichen Ordnung <strong>der</strong><br />

<strong>BRD</strong> nur im ideologischen Bereich bewegte, konnte sie gefahrlos geduldet<br />

werden, im Schatten des Grundrechts auf freie Me<strong>in</strong>ungsäußerung. Seit sie<br />

aber, <strong>in</strong>folge immer neuer gesellschaftlicher Dysfunktionalitäten und ökonomischer<br />

Krisen, zur gesellschaftlichen Praxis zu werden beg<strong>in</strong>nt, muß sie<br />

erstickt werden, wo immer sie die staatlichen Bemühungen stört, durch<br />

Reformen o<strong>der</strong> Restriktionen jene Schäden, die zu <strong>in</strong>dividuellem o<strong>der</strong><br />

kollektivem Protest führen, zu beseitigen und e<strong>in</strong> neues Gleichgewicht herzustellen.<br />

Unverzichtbare Bestandteile dieses Gleichgewichts s<strong>in</strong>d das private<br />

Eigentum und die freie Verfügung über Produktionsmittel; doch bei<br />

Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals muß <strong>der</strong> Staat e<strong>in</strong>spr<strong>in</strong>gen, muß<br />

die Geme<strong>in</strong>schaft die Kosten zahlen. Gerade dieser Wi<strong>der</strong>spruch soll systemimmanent<br />

gelöst werden, und dazu muß <strong>der</strong> Staat auf se<strong>in</strong>em Gewalt- und<br />

Reformmonopol bestehen und sich <strong>der</strong> Massenloyalität vergewissern.<br />

Genau hier liegt se<strong>in</strong> Problem. Solange er die Kritiker und Störer und Fe<strong>in</strong>de<br />

noch als Außenseiter und Randgruppen d<strong>in</strong>gfest machen kann, hat er freie<br />

Hand für e<strong>in</strong>e gesamtgesellschaftliche Politik. Sobald aber größere Teile<br />

<strong>der</strong> Bevölkerung unruhig werden, versagt das Instrumentarium <strong>der</strong> militanten<br />

Demokratie: Auch die Repression hat ihre Dialektik. Sie weckt<br />

Wi<strong>der</strong>stand. Sie macht zum<strong>in</strong>dest deutlich, was jeweils unterdrückt werden<br />

muß. Das Gespenst <strong>der</strong> »freiheitlich demokratischen Grundordnung«, das<br />

gegen e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es losgeschickt wurde, könnte sich dabei schnell verflüchtigen.<br />

c) <strong>Folter</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>BRD</strong>. Der Begriff <strong>der</strong> <strong>Folter</strong> ist belastet. Die »klassischen«<br />

Formen <strong>der</strong> <strong>Folter</strong>, wie sie heute u. a. <strong>in</strong> Brasilien, <strong>in</strong> den portugiesischen<br />

Kolonien, <strong>in</strong> Südvietnam angewendet werden, wecken bei uns Assoziationen,<br />

die es verbieten, den Begriff ohne weiteres auf die Haftbed<strong>in</strong>gungen<br />

<strong>der</strong> Politischen Gefangenen (o<strong>der</strong>, wenn schon, nur auf die ihren) zu übertragen.<br />

Wenn man die <strong>Folter</strong>maßnahmen jedoch nicht als Selbstzweck sieht<br />

(was sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat oft s<strong>in</strong>d), son<strong>der</strong>n als Mittel zu e<strong>in</strong>em »höheren« Zweck,<br />

nämlich den Wi<strong>der</strong>stand des Gefangenen zu brechen, ihn exemplarisch<br />

fertigzumachen, dann konvergieren die alten und die neuen Mittel <strong>in</strong> Wirkung<br />

und Ziel. Schon wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Guerilla-Bekämpfung zu <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen,<br />

wissenschaftlich fundierten Technik <strong>der</strong> »sauberen« <strong>Folter</strong> durch Isolation<br />

übergegangen: Sie ist das effektivere Mittel.<br />

Die folgenden Dokumente, Berichte, Analysen s<strong>in</strong>d als Lehrstück gedacht.<br />

Wer ihnen nur die Ohnmacht <strong>der</strong> Gefangenen, ihrer Anwälte, ja <strong>der</strong> ganzen<br />

L<strong>in</strong>ken entnimmt, liest sie falsch. Sie bezeugen nicht nur die Stärke und<br />

Skrupellosigkeit <strong>der</strong> zum Schlag gegen ihren Fe<strong>in</strong>d ausholenden »militan-<br />

9 Zu diesem Heft

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