01.11.2013 Aufrufe

Nervenzelle und Tiefenpsychologie

Nervenzelle und Tiefenpsychologie

Nervenzelle und Tiefenpsychologie

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Dann holte er einen Bleistift. Das Kind veranlasste dann den Pflegevater, dass<br />

er seine Hand auf einen Bogen Papier auflegte. Dann fuhr das Kind mit dem<br />

Stift um die gespreizten Finger, sodass sich auf dem Papier das Bild einer<br />

Hand ergab. Die Silhouette schnitt das Kind aus, <strong>und</strong> nun geschah das<br />

Überraschendste bei dieser Veranstaltung: Wilhelm schnitt der Papierhand den<br />

Daumen ab.“ (op.cit. p. 86f)<br />

Was ist hier geschehen? Die affektive Intensität des Ablaufs ließ das Kind nicht los.<br />

Fast jede Situation war in der Lage, den Angstprozess auszulösen. So wurden<br />

sämtliche Möglichkeiten durchgespielt <strong>und</strong> jede löste die Angstreaktion aus. Bis sich<br />

zufällig eine Kombination der affektiv besetzten Inhalte ergab, die eindeutig war <strong>und</strong><br />

doch nicht die Angstreaktion auslöste, weil klar war, dass das Kind selbst<br />

ungeschoren hervorgehen würde. Wir verstehen, wie Rollenumkehr zustande kommt.<br />

Ohne Zweifel ist dieser Mechanismus auch verantwortlich für Rachebedürfnisse.<br />

Oder für die Weitergabe neurotischer Strukturen in de Gesellschaft. Bleiben wir bei<br />

unserem Beispiel. Auch BILZ verweist auf die beiden angstreduzierenden Faktoren:<br />

Rollentausch <strong>und</strong> das Ganze „jetzt nur ein Spiel ist“ (op.cit. p. 88).<br />

Der Knabe hatte die auftretende Erregung zu einer appetenten Reaktion umgelenkt,<br />

die sogar Spaß machte. Nun war die Verarbeitung möglich, es gab keinen<br />

angstmachenden Abschluss mehr. Mit dem Daumenabschneidespiel ging es<br />

„wie mit jedem Witz oder Spiel, das Tag für Tag wiederholt wird: Die Höhe der<br />

Spannung sinkt von Mal zu Mal ab, so dass sich eine abfallende Kurve ergibt.<br />

Es wird am Ende langweilig, immer wieder das strafende Schneiderlein spielen<br />

zu wollen. ... Der Wiederholungszwang erlahmte im Laufe von etwa zehn<br />

Tagen. Nun aber, wo das Daumenabschneiden zu einer Farce geworden war,<br />

konnte das Bübchen auch im Einschlafen die Idee einer Bestrafung nicht mehr<br />

bedrängen. ... Mit dem Absinken der Spannung wurde das Kind ges<strong>und</strong>. Es<br />

schlief wieder ohne zu schreien ein.“ (op. cit., p. 94)<br />

Es wäre ein trauriges Attest unserer Theorie, wenn sie nicht auch gleich erklären<br />

könnte, warum nach diesem Vorfall tatsächlich<br />

„nicht nur die Idee einer Bestrafung <strong>und</strong> die Angst vor ihr verschwanden,<br />

sondern auch die Ursache selbst, nämlich das Daumenlutschen.” (op. cit. p. 95)<br />

Es scheint klar, dass durch die ständigen Versuche, dem Knaben das<br />

Daumenlutschen abzugewöhnen – durchwes, wie beschreiben, mit<br />

Ausweichkonditionierungen – dieses in Wirklichkeit verstärkt wurde. Und mit der<br />

Bearbeitung der Ängste wurden natürlich all diese Konditionierungen mitbearbeitet,<br />

auf ein normales Niveau gebracht, so dass die Verstärkung für das Daumenlutschen<br />

auch wegfällt, <strong>und</strong> dieses bald unterbleiben kann.<br />

Wir wissen aus der Lerntheorie, dass Nichtbeachten ein effektives Mittel ist, einem<br />

Kind u gegebener Zeit sinnloses Verhalten abzugewöhnen. BILZ spricht nun bei dem<br />

Daumenlutschen von einer „Entwicklungshemmung“ (op. cit., p. 96), <strong>und</strong> wenn wir<br />

dieses Beispiel verallgemeinern wollen – es passt eben in unser Konzept - , so sehen<br />

wir wie Entwicklung gehemmt werden kann: Ein Verhalten, das offenbar noch<br />

notwendig ist (wenn das Kind plötzlich von seinen Eltern entfernt wird, so braucht es<br />

wohl eine zeitlang ein bisschen Ersatz an Zuwendung), wird mit Angst oder sonst wie<br />

konditioniert, damit wird es fixiert, verstärkt, <strong>und</strong> kann nicht mehr abgebaut werden,<br />

bevor die daran konditionierte Ausweichreaktion wegfällt. S t r a f e f i x i e r t .<br />

Nach REIK ist die Neurose “im wesentlichen auf einem Konflikt zwischen<br />

55

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!