Nervenzelle und Tiefenpsychologie
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ohne zu weinen. Nach einer halben St<strong>und</strong>e Fahrzeit folgt ein Spaziergang, auf<br />
dem er sich rasch beruhigt. Auf der Rückfahrt wiederholt sich der Vorgang,<br />
doch tritt nach dem Ende der Fahrt rasch Beruhigung ein. ... Drei St<strong>und</strong>en<br />
später wird er ach dem Baden <strong>und</strong> Essen zu Bett gelegt. Plötzlich kommen aus<br />
dem Zimmer hohe Vokale, die einem Pfeifton ähnlich sind <strong>und</strong> von Lauten wie<br />
„chr, chr, pf, pf, unterbrochen werden. Dies geht in spielerischer Form bei leicht<br />
ängstlicher Affektlage vor sich <strong>und</strong> wird nicht aufgegeben, als die Eltern das<br />
Zimmer betreten. Nach einiger Zeit schläft der Bub beruhigt ein.“ (SCHINDLER<br />
1973/74, p.77)<br />
Wir wollen nicht das bekannte FREUDsche Beispiel für das Auftreten der<br />
Wiederholung im Kinderspiel (FREUD 1940 a, p. 12ff) zitieren, es gibt auch genug<br />
solcher Beispiele. Allerdings scheint das Problem der Erklärung meist von hinten<br />
aufgezäumt. Schreibt FREUD etwa (1.c. p. 14): „Dieses Bestreben könnte man<br />
einem Bemächtigungstrieb zurechnen, der sich davon unabhängig macht, ob die<br />
Stimmung an sich lustvoll war oder nicht.“<br />
Nach FREUD könnte auch gleichzeitig das Spiel „die Befriedigung eines im Leben<br />
unterdrückten Rachbedürfnisses gegen die Mutter sein“ (1.c. p. 14). Hier zeigt sich<br />
aufs deutlichste die paradoxe Arbeitsweise der klassischen Phänomenologen: als<br />
Ursache verstehen sie die Dinge, die wir als Erwachsenen nachvollziehen können, d.<br />
h. die Dinge, die sich durch unsere Lerngeschichte aus dem beschriebenen<br />
Phänomen entwickelt haben, <strong>und</strong> diese bewirken dann die an sich viel einfacher<br />
ablaufenden primäre Erscheinungen, die physiologische Prozesse darstellen. 16<br />
Weist SCHINDLER (1973/74) wohl regelmäßig hin auf die Gefahr der Interpretation<br />
des Kindes vom Erwachsenen her, so scheint doch jemand kaum registriert zu<br />
haben, dass die Erklärung genau den entgegengesetzten Weg gehen muss, den die<br />
Phänomenologen eingeschlagen haben: Hätte man bei FREUDs theoretischen<br />
Arbeiten gr<strong>und</strong>sätzlich die Begriffe von Ursache <strong>und</strong> Wirkung vertauscht, so würde<br />
man heute wohl in der Psychologie auf einem ganz anderen Verständnisniveau<br />
stehen. Selbst die Physiologen pflegen denselben Fehler in ihren Arbeiten, logen<br />
pflegen denselben Fehler in ihren Arbeiten, wenn sie versuchen, das Nervensystem<br />
unter den von uns hineingedachten Kategorien von Belohnung <strong>und</strong> Bestrafung (die –<br />
das ist inzwischen offensichtlich – durchaus keine Gegensätze darstellen),<br />
Entscheidungsmechanismus oder ähnlichem zu betrachten. Nun, bei FREUD ist es<br />
noch deutlicher: Das „Rachebedürfnis“ bewirkt die Wiederholung. natürlich, es könnte<br />
auch ein „Bemächtigungstrieb“ sein, oder doch letztlich das Lustprinzip. Tatsächlich<br />
ist es natürlich genau umgekehrt: Es gibt physiologische Prozesse, in denen, wie<br />
schon reichlich abgehandelt, die Wiederholung eine bestimmende rolle spielt: Die<br />
hier stattfindenden Wiederholungen bzw. Notwendigkeiten der Wiederholung können<br />
sich, je nach sonstigem Zusammenhang <strong>und</strong> sprachlicher Bekennung, zu<br />
verschiedenen „Motiven“ entwickeln: zu einem Lustprinzip, zu einem<br />
Bemächtigungstrieb, zu einem Rachebedürfnis oder zu einem Wiederholungszwang.<br />
16<br />
Freud selbst weist im Anhang zu dem Aufsatz „Das Unbewußte“: „Der psychophysische<br />
Parallelismus“ auf die Unmöglichkeit hin, unsere „psychischen“ Kategorien physiologisch<br />
aufzusuchen: „Ist es gerechtfertigt, eine Nervenfaser, die über die ganze Strecke ihres Verlaufs bloß<br />
ein physiologisches Gebilde ist <strong>und</strong> physiologischen Modifikationen unterworfen war, mit ihrem Ende<br />
in Psychische einzutauchen <strong>und</strong> diese Ende mit einer Vorstellung oder einem Erinnerungsbild<br />
auszustatten? Wenn der „Wille“, die “Intelligenz“ u. dg. als psychologische Kunstworte erkannt sind,<br />
denen in der physiologischen Welt sehr komplizierte Verhältnisse entsprechen, weiß man von der<br />
„einfachen Sinnesvorstellung“ denn mit größerer Bestimmtheit, dass sie etwa anders als ein solches<br />
Kunstwort ist?“ (FREUD 1975, p. 165f) Schade, dass er selbst sich so wenig daran hält!<br />
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