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Assonanz und Antithese – über den Manierismus Ein Grund, dass ...

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<strong>Assonanz</strong> <strong>und</strong> <strong>Antithese</strong> <strong>–</strong> <strong>über</strong> <strong>den</strong> <strong>Manierismus</strong><br />

<strong>Ein</strong> Gr<strong>und</strong>, <strong>dass</strong> ich heute Abend die Ehre <strong>und</strong> das Vergnügen<br />

habe, einige einleitende Worte zu Beginn dieser Ausstellung mit<br />

neuen Arbeiten Stefan Zöllners an sie zu richten, liegt gewiss in<br />

unserer nunmehr knapp 20jährigen Fre<strong>und</strong>schaft begründet, eine<br />

Zeit in der ich nicht nur Gelegenheit hatte, zahlreiche Facetten<br />

seines vielgestaltigen <strong>und</strong> <strong>über</strong> die Zeit konsequent fortgeführten<br />

Werks kennenzulernen, sondern auch etliche zum Teil<br />

ausgezeichnete Reflexionen <strong>über</strong> sein Werk studieren konnte.<br />

Auffällig war für mich dabei, <strong>dass</strong> oftmals der visionäre,<br />

zukunftsgerichtete Aspekt seiner Arbeiten betont wird. Und es<br />

verhält sich ja tatsächlich so, <strong>dass</strong> Stefan Zöllner ein ‚moderner’,<br />

zeitgenössischer, gleichermaßen unsere Gegenwart reflektierender<br />

wie heraufdämmernde Ten<strong>den</strong>zen erfassender Künstler ist, was<br />

schon ein Blick auf die Vielgestaltigkeit seines Werkes zeigt, das<br />

gleichermaßen Malerei <strong>und</strong> Zeichnung klassischen Zuschnitts wie<br />

auch Skulptur, Computerkunst, Installation (das Mixed-Media-<br />

Spektrum) beinhaltet sowie auch nicht zuletzt ein umfangreicher<br />

<strong>und</strong> immer noch wachsender Katalog elektronischer Musik, mit<br />

bemerkenswerten Seitenprojekten, die in <strong>den</strong> Bereich der<br />

improvisierten Musik <strong>und</strong> des Free Jazz gehen <strong>–</strong> es sei in diesem<br />

Zusammenhang bereits auf die Finissage verwiesen, während der<br />

Sie Gelegenheit haben wer<strong>den</strong>, auch diese Facette seines<br />

Schaffens kennen zu lernen.<br />

Werktitel wie ‚Transhuman’, ‚Omega-Simulator’ ‚Weltformel’ oder<br />

‚Simulacrum’ sprechen bereits lebhaft von Zöllners reflektiertem<br />

Umgang mit Problemstellungen der Geistes- <strong>und</strong> Naturwissenschaften.<br />

Doch Stefan Zöllner wird (hoffentlich!) gewusst haben,<br />

was er tat, als er mich bat, an dieser Stelle zu Ihnen zu sprechen <strong>–</strong><br />

als eher antiquarisch-historisierende Seele möchte ich an dieser<br />

Stelle <strong>den</strong> Zeitpfeil in rückwärtiger Richtung beschreiten; Stefan<br />

Zöllner ist nämlich auch Erbe <strong>und</strong> Sachwalter einer Traditionslinie,<br />

die wir gewohnt sind, unter dem Begriff des <strong>Manierismus</strong> zu<br />

subsummieren. Noch vor wenigen Jahrzehnten hätte dies zunächst<br />

eine umfängliche Ehrenrettung des Begriffs wie des in diesen<br />

Kontext gestellten Künstlers erfordert: Man hätte gewissermaßen<br />

zunächst <strong>den</strong> Stein vom Grab rollen müssen, in das diese<br />

Vortrag Martin Knepper anlässlich der Ausstellung von Stefan Zöllner im<br />

Kunstförderverein Kreis Düren e. V.<br />

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Kunstströmung seit <strong>den</strong> 20er Jahren des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts für<br />

lange Zeit gelegt wor<strong>den</strong> war.<br />

Die Geschichte wird von Siegern geschrieben, <strong>und</strong> im Fall des<br />

<strong>Manierismus</strong> heißt dies, <strong>dass</strong> die Generation von Kunstkritikern<br />

nach Vasari ihr Urteil aus dem Geist des bereits angebrochenen<br />

Barock abfassten <strong>und</strong> so ein negativ gefärbtes Bild schufen,<br />

welches bis in die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg hinein wirkte.<br />

Um <strong>den</strong> <strong>Manierismus</strong> wieder auferstehen zu lassen <strong>und</strong> in sein<br />

verdientes Recht zu setzen, musste erst ein Zeitalter anbrechen, in<br />

dem die klassische Kunstlehre restlos aufgehoben wurde <strong>und</strong> sich<br />

der ästhetische Wertekanon nicht mehr ausschließlich an Kriterien<br />

wie Ordnung, Regelmaß, Harmonie, Ökonomie der Mittel <strong>und</strong><br />

natürlich der Realitätswiedergabe orientierte. Dies war spätestens<br />

nach dem 2. Weltkrieg der Fall, die Arbeiten von Gelehrten wie<br />

Gustav René Hocke, Franz Würtenberger oder Arnold Hauser als<br />

maßgebliche Beiträger der deutschen Kunstgeschichte seien hier<br />

stellvertretend genannt.<br />

Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, <strong>dass</strong> es sich beim<br />

<strong>Manierismus</strong> nicht etwa um eine Treibhausblüte handelt, eine<br />

bizarre Überhöhung der Renaissance, ja nicht einmal um eine<br />

singuläre <strong>und</strong> terminierte Epoche der Kunstgeschichte, vielmehr<br />

um eine zutiefst moderne, niemals in Gänze verschüttete<br />

Geisteshaltung, die sich unverstellter als andere künstlerische<br />

Bewegungen auf der Höhe ihrer Zeit befindet: <strong>Ein</strong><br />

Experimentierlabor, in dem auf der Höhe der künstlerischen <strong>und</strong><br />

technologischen Mittel der Zeit die Konstanten unserer<br />

Wahrnehmung erprobt, <strong>über</strong>höht, zum Teil sogar mit großem Wurf<br />

hinter sich gelassen wer<strong>den</strong>.<br />

Um einen Anfang zu setzen, gehen wir in der Zeit zurück bis in die<br />

Zeit vor unserer Zeit. Unserer Zeitrechnung, um genau zu sein,<br />

einge<strong>den</strong>k des Wortes von Lewis Mumford: „The clock, not the<br />

steamengine is the key-machine of the modern industrial age“.<br />

Das Mittelalter kannte bis ins 14. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein unser heutiges<br />

System der Zeitmessung nicht. Das bis dahin gültige Zeitmaß war<br />

das Temporalst<strong>und</strong>ensystem, das <strong>den</strong> Tag in helle <strong>und</strong> dunkle<br />

Phasen aufteilte, beide in 12 St<strong>und</strong>en aufgeteilt, welche jedoch ihre<br />

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Dauer abhängig von der Jahreszeit <strong>und</strong> der Sonnenscheindauer<br />

bemaß. Die Sonnen- <strong>und</strong> Wasseruhren, die für diese Aufgaben<br />

herangezogen wur<strong>den</strong>, erledigten diese Aufgabe durchaus<br />

brauchbar, jedoch zuweilen in einer Ungenauigkeit, die modernen<br />

Präzisionsfanatikern die Haare zu Berge stehen lassen würde <strong>–</strong><br />

Minuten waren meist bestenfalls hypothetische <strong>Ein</strong>heiten, der<br />

Begriff der Sek<strong>und</strong>e war unbekannt.<br />

Zumeist konzentriert sich der Gebrauch der Uhrzeit auf die<br />

umschlossene Welt des Klosters, wo sie das religiöse Leben<br />

strukturiert. Auch die auf uns gekommene Kunst bleibt in dieser<br />

Sphäre, ist funktionsgeb<strong>und</strong>en, dient der Repräsentanz der<br />

weltlichen wie der göttlichen Herrschaft, ihre Schöpfer, wo sie nicht<br />

in Gänze anonym bleiben, sind uns heute zwar als ‚Meister’ (von<br />

Flemalle etc.) bekannt, man muss diesen Begriff jedoch durchaus<br />

im handwerklichsten Sinne des Wortes begreifen, mit aller letztlich<br />

profanen Ehrfurcht, die darin beschlossen liegt. Bücher <strong>und</strong> Bilder<br />

sind Unikate, die, einmal geschaffen, hinter <strong>den</strong> Mauern von Klerus<br />

<strong>und</strong> Adel sowie der sich grün<strong>den</strong><strong>den</strong> Patrizierhäuser verbleiben. Es<br />

ist ein Zeitalter der Protowissenschaftlichkeit <strong>–</strong> an eine auf<br />

Messung, Empirie gegründete Naturwissenschaft ist noch kaum zu<br />

<strong>den</strong>ken, das komplexeste Wissenschaftsmodell der Zeit ist die<br />

protochemische Alchemie, in deren Zentrum transformatorische<br />

Prozesse stehen, die eine Wandlung vom Unreinen zum Edelsten<br />

erstreben - dies ist gleichermaßen praktisch wie philosophisch zu<br />

sehen, trägt dieses Denksystem doch unter anderem stark<br />

psychohygienische Züge.<br />

Auflösung, Kalzination, Destillation <strong>–</strong> der Ausgangsstoff, die<br />

materia prima, wird Transmutationen jeglicher Art unterzogen, ein<br />

gigantischer Chemiebaukasten der Zeit, mit Elementen des<br />

Psychodramas <strong>und</strong> der Astrologie durchmengt. Der Strom der Zeit,<br />

er fließt langsam in diesen Tagen. Dann eine erste Beschleunigung:<br />

Um 1320 wer<strong>den</strong> mechanische Räderuhren entwickelt. Die<br />

Zeit kommt in die Städte, zunächst in <strong>den</strong> großen Kathedralen<br />

Englands oder etwa dem Straßburger Münster. Diese Uhren sind<br />

zumeist auch Planetenuhren, verziert mit allegorischen<br />

Darstellungen des Tierkreises, selbst kleine Mysterienspiele in<br />

Form mechanischer Figurinen wer<strong>den</strong> eingebaut <strong>und</strong> verweisen<br />

auf die noch enge Verzahnung von Technik <strong>und</strong> mystischmagischem<br />

Denken. Und zugleich hält eine zweite Erfindung<br />

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<strong>Ein</strong>zug, die die Wahrnehmung des Abendländers bis auf <strong>den</strong><br />

heutigen Tag von Gr<strong>und</strong> auf prägen wird: Die Zentralperspektive.<br />

Die Beherrschung des Raums wird zu einem der großen<br />

künstlerischen Vorwürfe der Zeit, die Achsen wer<strong>den</strong> zurechtgezurrt,<br />

die Wahrnehmung fokussiert, die dargestellten Figuren<br />

sind nun nicht mehr allein Gott, sondern auch dem Koordinatensystem<br />

des Malers untertan. <strong>Ein</strong>e Methode, die, obwohl sie uns<br />

heute fast wie die alleinige natürliche Sichtweise erscheint,<br />

keinesfalls in allen Kulturen <strong>und</strong> Zeiten selbst-verständlich war, wie<br />

man aus einem Kommentar des chinesischen Malers <strong>und</strong><br />

Kunsttheoretiker Tsou I-Kuei herauslesen kann, der im 17.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert diese ihm neue perspektivische Sichtweise so<br />

kommentiert:<br />

„Die Europäer verstehen sich auf die Geometrie. Darum weichen<br />

ihre Gemälde, was Licht <strong>und</strong> Schatten, Fern <strong>und</strong> Nah betrifft, nicht<br />

um ein Quentchen [von der Wirklichkeit] ab.<br />

Die Figuren, Häuser <strong>und</strong> Bäume, die sie malen, haben sämtlich<br />

einen Schlagschatten. Die Farben <strong>und</strong> Pinsel, die sie benutzen,<br />

sind von <strong>den</strong>en Chinas völlig verschie<strong>den</strong>. Die Darstellung geht<br />

vom Breiten ins Enge; man vermißt sie mit Hilfe eines Dreiecks.<br />

Malt man [auf diese Weise] Paläste an eine Wand, so hat es die<br />

Wirkung, daß die Leute fast <strong>den</strong> Wunsch haben, hineinzugehen.<br />

Lernende, die sich <strong>den</strong> einen oder anderen [Punkt davon] zunutze<br />

machen können, schaffen sich immerhin eine Methode, mit der sie<br />

Aufmerksamkeit erregen; allein, mit [wahrer] Pinsel<strong>–</strong>Methode (pi<strong>–</strong><br />

fa) hat das ganz <strong>und</strong> gar nichts zu tun: [Solche Bilder] mögen zwar<br />

gekonnt sein, bleiben aber im Handwerklichen stecken. In der<br />

Malerei von Rang ist darum kein Platz für sie.“<br />

Wir gelangen in die Zeit, von der hier eigentlich die Rede sein<br />

sollte: Wir sind im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert angekommen. Ohnehin beginnt<br />

sich die Entwicklung zu beschleunigen <strong>–</strong> Buchdruck <strong>und</strong> Schusswaffen<br />

seien hier stellvertretend genannt, das Zeitalter der<br />

Skriptorien <strong>und</strong> Ritterspiele kommt an ein Ende, <strong>und</strong> es ist ein<br />

kleines mechanisches Utensil, das die Technifizierung der Zeit<br />

vorläufig abschließt: Die Triebfeder wird erf<strong>und</strong>en. Mit dieser<br />

Vorrichtung wird es möglich, Uhren so klein <strong>und</strong> präzise zu bauen,<br />

<strong>dass</strong> sie, zunächst als Tisch- <strong>und</strong> Standuhren, aber kurz darauf<br />

auch als portable Taschenuhren jedem Bürger in seinem Haus <strong>den</strong><br />

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Zugriff auf die Zeit ermöglicht. Beziehungsweise der Zeit <strong>den</strong><br />

Zugriff auf <strong>den</strong> Bürger ermöglicht.<br />

Denn mit der Messbarkeit wachsen Kontrolle <strong>und</strong> Reglementierung,<br />

wird das Interesse in der Physik von Aspekten der Qualität zu<br />

solchen der Quantität gelenkt, der Mensch <strong>und</strong> seine Arbeit wer<strong>den</strong><br />

demselben Quantum, nämlich der Arbeitszeit unterworfen, Heer<br />

<strong>und</strong> Verwaltung beginnen mit der Gliederung der Individuen in<br />

bürokratische messbare <strong>Ein</strong>heiten, es beginnt das Zeitalter der<br />

Ökonomie <strong>und</strong> ihrer Kontrollmetho<strong>den</strong>. Zugleich jedoch <strong>–</strong> wir<br />

befin<strong>den</strong> uns in <strong>den</strong> Jahren um 1520 <strong>–</strong> florieren die Künste <strong>und</strong> die<br />

Philosophie, Antike <strong>und</strong> Humanismus amalgamisieren sich in<br />

Verbindung mit dem neuen Geist der Städte zur Renaissance, als<br />

deren <strong>über</strong>ragender Repräsentant Michelangelo gilt. Ziel der Kunst<br />

soll es sein, die Natur abzubil<strong>den</strong> <strong>und</strong> zugleich zu <strong>über</strong>höhen, die<br />

Suche nach dem Idealmaß der Proportionen, ja nach dem Wesen<br />

der Schönheit an sich wird das Äquivalent zur alchemistischen<br />

Beschäftigung mit der synthetischen Erzeugung von Gold oder der<br />

(primär symbolisch-psychodramatisch zu begreifen<strong>den</strong>) Suche<br />

nach dem Stein der Weisen.<br />

Und dann eine große welthistorische Erschütterung:<br />

Am 6. Mai 1527 <strong>über</strong>fällt ein aus der Kontrolle geratener<br />

Heereshaufen von 24.000 Mann aus deutschen, italienischen <strong>und</strong><br />

französischen Söldnern in einem ersten ‚modernen’ Kriegszug<br />

(betrachtet man die zum <strong>Ein</strong>satz kommen<strong>den</strong> Waffen) die Stadt<br />

Rom, brandschatzt <strong>und</strong> plündert in einem ungeheuerlichen Exzess,<br />

setzt <strong>den</strong> Papst auf der Engelsburg fest <strong>und</strong> bleibt bis fast zum<br />

Jahresende in der Stadt.<br />

Es kommt auch zu bestialischen Mor<strong>den</strong> an der Geistlichkeit,<br />

wobei sich deutsche <strong>und</strong> französische Protestanten in <strong>den</strong><br />

Söldnerreihen besonders unrühmlich hervortun. Gregorovius<br />

schreibt: „ Die Deutschen behielten als An<strong>den</strong>ken manche<br />

Reliquien, <strong>und</strong> die lächerlichste Beute war wohl der dicke <strong>und</strong> zwölf<br />

Fuß lange Strick, mit dem sich Judas erhenkt hatte.“ Als der<br />

Heereshaufen, nominell unter der Herrschaft des spanischen<br />

Königs, der jedoch jegliche Kontrolle <strong>über</strong> ihn verloren hat,<br />

schließlich abzieht, ist Rom ähnlich geschändet wie nach <strong>den</strong><br />

länger zurückliegen<strong>den</strong> ‚Besuchen’ der Goten <strong>und</strong> Wandalen. Man<br />

schätzt <strong>den</strong> Wert des Raubgutes auf <strong>über</strong> eine Milliarde Euro<br />

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heutigen Werts, die Kirchen <strong>und</strong> Paläste sind buchstäblich leer<br />

geplündert, zusätzlich ausbrechende Seuchen vermindern die<br />

Anzahl der <strong>Ein</strong>wohner Roms auf ungefähr die Hälfte des alten<br />

Werts. Die Position der Kirche ist auf Jahrzehnte geschwächt, es<br />

ist eine Stimmung des apokalyptischen Tabula Rasa.<br />

Und jetzt tritt der <strong>Manierismus</strong> ans Licht, eine Malerei a la maniera<br />

dell’Michelangelo, des Übervaters, an der ein Künstler seines<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts so wenig vorbeikonnte wie heutzutage an Marcel<br />

Duchamp, Picasso oder Warhol. Innerhalb der kommen<strong>den</strong> Jahre<br />

wer<strong>den</strong> die römischen Kirchen <strong>und</strong> Häuser wieder gefüllt sein, in<br />

neuer Pracht erstrahlen <strong>–</strong> aber in <strong>den</strong> Stil der Renaissance hat sich<br />

ein neuer Ton gemischt, eine Kühnheit <strong>und</strong> Überhöhung, die eine<br />

erste Klimax <strong>und</strong> zugleich ein epocheprägendes Vorbild in<br />

Michelangelos Darstellung des Jüngsten Gerichts in der<br />

Sixtinischen Kapelle findet. <strong>Ein</strong> explosionsartiger Wirbel hat die<br />

abgebildeten Gestalten erfasst, die bis dahin lange Zeit alles<br />

dominierende Zentralperspektive, ja, der gesamte Raum löst sich<br />

auf, tritt in der Darstellung zurück zugunsten des ‚disegno’, der<br />

Linie <strong>und</strong> ihrer künstlerischen Transformation <strong>und</strong> Überhöhung, die<br />

auch nicht vor der bewussten Zerschlagung des bis dahin<br />

gewonnenen Maßes an Wirklichkeitstreue zurückschreckt.<br />

Exemplarisch lässt sich das daran aufzeigen, wie sich im Verlauf<br />

des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts die Proportionsmaße in der Wiedergabe<br />

menschlicher Körper verändern: Hatten noch Dürer <strong>und</strong> seine<br />

Zeitgenossen bereits das bekannte Verhältnis von Kopf- zur<br />

Gesamtlänge des menschlichen Körpers mit 1:7,5 definiert, so<br />

steigert, ja <strong>über</strong>steigert sich diese Proportionalität im <strong>Manierismus</strong><br />

immer weiter, im Extremen bei El Greco, dessen Personal zuweilen<br />

schlangenartig auf bis auf ein Verhältnis von 1:10 ausgedehnt wird.<br />

Formale Fragestellungen <strong>und</strong> ihre ästhetische Umsetzung<br />

entwickeln eine Eigendynamik, die auch bei der Wahl religiöser<br />

Sujets zu Lösungen findet, die bis geradezu ketzerisch wirken<br />

müssen: Lelio Orsi etwa interessiert sich für das Motiv ‚Christus<br />

<strong>und</strong> das Kreuz’. Weniger jedoch für die Darstellung des<br />

Gekreuzigten, er macht daraus ein geometrisches Problem: Nicht<br />

eines, sondern Aberdutzende von Kreuzen stehen <strong>und</strong> liegen,<br />

gestapelt <strong>und</strong> verstreut in der steilen Landschaft wie Barrika<strong>den</strong><br />

nach einer Straßenschlacht, so <strong>dass</strong> der dazwischen wandelnde<br />

Christus fast sek<strong>und</strong>är wird.<br />

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Hier deutet sich eine freigeistige Malerei an, die auf der Höhe der<br />

technischen Möglichkeiten ihrer Zeit neue Sehweisen erprobt.<br />

Dazu kommt eine neue Freiheit in der Farbgestaltung: Nicht mehr<br />

Naturtreue, aber auch nicht zwingend liturgisch-allegorische<br />

Gründe entschei<strong>den</strong> <strong>über</strong> die Wahl des Pigments, sie ist vielmehr<br />

in der subjektiven Entscheidung des Künstlers begründet.<br />

So malt Pontormo die Kreuzigung Christi in aller Dramatik des<br />

Vorgangs, der Leichnam des Gekreuzigten jedoch ist von geradezu<br />

froschgrüner Farbe, was einem heutigen Betrachter Martin<br />

Kippenbergers spöttische Arbeit ‚Zuerst die Füße’ ins Gedächtnis<br />

bringt. Die innere Logik des Schöpfungsprozesses, nicht die<br />

Konvention bestimmt das Resultat.<br />

Die geistige Klammer, in der sich diese neue, spannungsvolle<br />

Malerei, wie auch die Literatur bewegt, heißt ‚Concordia discors’,<br />

die <strong>Ein</strong>tracht der Gegensätze, <strong>und</strong> diese wird bis zum Zerreißen<br />

der ästhetischen <strong>und</strong> formalen Bande ausgereizt. Arnold Hausers<br />

Definition des <strong>Manierismus</strong> hat seine Gültigkeit nicht nur für die<br />

Epoche des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts bewahrt: „ <strong>Ein</strong> manieristisches<br />

Kunstwerk ist ein Kunststück, ein Bravourstück, das<br />

Sichproduzieren eines Zauberers. Es ist ein Feuerwerk, das<br />

Funken <strong>und</strong> Farben sprüht. Entschei<strong>den</strong>d für <strong>den</strong> verfolgten Effekt<br />

ist die Opposition gegen alles bloß Instinktive, der Protest gegen<br />

alles rein Vernünftige <strong>und</strong> naiv Natürliche, das Betonen des<br />

Hintergründigen, Problematischen, Doppelsinnigen, die<br />

Übertreibung des Partikularen, das durch diese Übertreibung auf<br />

sein Gegenteil <strong>–</strong> auf das in der Darstellung Fehlende <strong>–</strong> hinweist...“<br />

Und Emil Maurer definiert: „Wo immer man ‚maniera’-Werken<br />

begegnet: es knistert in ihrem Innern von Widersprüchen <strong>und</strong><br />

Gegensätzen, von Paradoxien <strong>und</strong> Antagonismen, von<br />

Spannungen <strong>und</strong> Brüchen <strong>–</strong> unauflöslich, unversöhnlich.“ Wobei<br />

ich die ‚Unversöhnlichkeit’ in Frage stellen möchte, da mir diese<br />

Definition zu sehr auf eine dialektische Scheidung der Welt nach<br />

modernem Verständnis zielt: Die Concordia discors, die<br />

Versöhnung der Gegensätze, die in sich gleichermaßen Züge der<br />

platonischen Ideenlehre wie der quasimagischen Alchemie trägt,<br />

birgt letztlich in sich die Vorstellung, das alle Erscheinungsformen<br />

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dieser Welt gleichermaßen Abkömmlinge einer Uridee, einer<br />

Kernessenz sind.<br />

Das Medusen- <strong>und</strong> das Gorgonenhaupt sind nicht von ungefähr ein<br />

stets aufs neue durchexerziertes Motiv: Das Schöne im Schrecklichen,<br />

das Schreckliche im Schönen findet seine exemplarische<br />

Darstellung im Motiv der Chimäre, dem Mischwesen <strong>–</strong> die<br />

mythologischen Darstellungen sind beliebt, da sie anders als die<br />

christlichen Motivgruppen Anlass zu einer freien (<strong>und</strong> freizügigen)<br />

Durchmessung des künstlerischen Kosmos bieten. Die lockende<br />

Versuchung einer befreiten Kunst, auch die unausgeloteten<br />

Bereiche des Schreckens <strong>und</strong> der Bizarrerie mit der ästhetischen<br />

Praxis zu versöhnen.<br />

Atomisierung der Welt bei gleichzeitiger Synthese zu einem<br />

ungeheuren neuen: Die Porträts Arcimboldos, der Köche aus<br />

Kochgeschirr oder Gärtner aus Gemüse zusammensetzt, sind bis<br />

heute eines der bekanntesten Beispiele der Epoche. Weniger<br />

bekannt ist übrigens, <strong>dass</strong> Arcimboldo auch an einem Projekt<br />

arbeitete, Töne durch Farben wiederzugeben <strong>und</strong> sich am Prager<br />

Hofe unter <strong>den</strong> Kaisern Ferdinand, Maximilian <strong>und</strong> Rudolf auch als<br />

Ingenieur <strong>und</strong> Architekt betätigte. Unter anderem arbeitete er an<br />

Plänen zum Bau eines Museums <strong>–</strong> ebenfalls eine Erfindung des<br />

Zeitalters, der erste Museumskatalog der Geschichte erschien<br />

1546.<br />

Zugleich wird die Welt mobiler: Die Erfindung, man muss sagen,<br />

die Wiedererfindung der Kutsche (die es bereits in der römischen<br />

Antike gegeben hatte, deren Kenntnis jedoch im Mittelalter<br />

verlorengegangen war) schafft neue, komfortablere Reise- <strong>und</strong><br />

Handelswege, auf <strong>den</strong>en auch die Kunst zu reisen beginnt: Denn<br />

die zeitgleiche Entwicklung von Radierung <strong>und</strong> Kupferstich<br />

ermöglicht erstmals die Reproduktion von Werken <strong>–</strong> die Kunst<br />

internationalisiert sich, <strong>den</strong>n nun können Kunstwerke unabhängig<br />

vom Ort ihrer Entstehung <strong>und</strong> Hängung betrachtet wer<strong>den</strong>, <strong>und</strong> so,<br />

im Austausch begriffen, wird der <strong>Manierismus</strong> zum Ursprung einer<br />

ersten gesamteuropäischen Bewegung, die in <strong>den</strong> Jahrzehnten bis<br />

1600 in immer delikateren Verfeinerungen an einer Ästhetik der<br />

Vielheit arbeiten wird.<br />

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Kunst hat Sender <strong>und</strong> Empfänger, <strong>und</strong> auch auf der Empfängerseite<br />

sind die Bedingungen günstig. Zum einen erwächst in <strong>den</strong><br />

Städten ein neues, humanistisch geschultes Bürgertum <strong>–</strong> der Markt<br />

erweitert sich <strong>–</strong> zum anderen greift das absolutistische<br />

Repräsentanzbedürfnis begierig die neuen Techniken auf: Für<br />

einen Hochzeits- oder Triumphzug wer<strong>den</strong> auch schon einmal bis<br />

zu 12 Quadratmeter große Kupferstiche bestellt, die dann die<br />

Häuserfassa<strong>den</strong> am Rande des Zuges schmücken.<br />

Es entstehen Gesamtkunstwerke wie die Villa d’Este, mit ihren<br />

Brunnen <strong>und</strong> Wasserorgeln, mythologischen Vexierspielen <strong>und</strong><br />

Gärten, welche immer wieder die Form des Labyrinths <strong>und</strong> der<br />

Spirale aufgreifen, die zu <strong>den</strong> sprechendsten Symbolen des<br />

Cinquecento zählen. Und zugleich entsteht allmählich die heutige<br />

Kultur des Sammelns, Bewahrens <strong>und</strong> Präsentierens von<br />

Kunstwerken, zunächst in Gestalt der sogenannten Bilder- <strong>und</strong><br />

W<strong>und</strong>erkammern, adelige Privatkollektionen, dem engsten Zirkel<br />

vorbehalten. Rudolf II., der Habsburger Kaiser, versammelte in<br />

seiner Prager Burg die größte Sammlung: Der auch brennend an<br />

Alchemie interessierte Kaiser hortet in seiner Kunst- <strong>und</strong><br />

W<strong>und</strong>erkammer, die zum Vorbild zahlreicher vergleichbarer<br />

Kollektionen wer<strong>den</strong> sollte, nicht nur Gemälde der bedeutendsten<br />

Maler seiner Zeit (die er, wie Arcimboldo, zum Teil in eigenen<br />

Diensten hatte), die Pracht <strong>und</strong> das Staunen galt auch<br />

gleichermaßen der Natur wie der modernsten Technologie seiner<br />

Zeit. In quasi unschuldiger, vorwissenschaftlicher Gleichrangigkeit<br />

fin<strong>den</strong> sich Meisterwerke neben Kuriositäten, die künstlerische<br />

Avantgarde ihrer Zeit neben Naturalien <strong>–</strong> alles, was das Staunen<br />

<strong>über</strong> <strong>den</strong> rasant expandieren<strong>den</strong> Kosmos ausdrückt, wird hier<br />

versammelt. Juwelenverzierte Magensteine, sogenannte Bezoare,<br />

versteinerte Ablagerungen aus <strong>den</strong> Körpern von Tieren, galten als<br />

probates Prüfmittel gegen Vergiftungen <strong>und</strong> fin<strong>den</strong> sich bis heute in<br />

Naturalienkabinetten in ganz Europa.<br />

Silberummantelte Meteore, goldgefasste Kokosnüsse,<br />

Alraunenwurzeln in Bleikristallstürzen... Naturalia, Scientifica,<br />

Mirabilia <strong>und</strong> natürlich Monstera - zweiköpfige Föten, siamesische<br />

Schafe, die Vermessung des sich rasant erweitern<strong>den</strong> Kosmos in<br />

der Zeit der kopernikanischen Wende geschieht hier von <strong>den</strong><br />

Rändern, <strong>den</strong> Extremen her.<br />

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Auch die Geburt eines Begriffs ist an dieser Stelle zu mel<strong>den</strong>: Das<br />

Kunststück tritt in die Welt. Kunststücke bezeichnen im 16.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert Kunsthandwerk in seinem hochedelsten Sinne, nicht<br />

wie heute oftmals ein unentschie<strong>den</strong>es Drittes zwischen Kunst <strong>und</strong><br />

Handwerk: Vielmehr handelt es sich um Objekte <strong>und</strong> Kleinplastiken,<br />

welche die Lust der Zeit am Exzentrischen mit artifizieller<br />

Meisterschaft verbin<strong>den</strong>. Tischaufsätze in der Gestalt silberner<br />

Gebirge, Elephantenuhren, geometrische Schnitzobjekte aus<br />

Elfenbein (die berühmten Kugeln in <strong>den</strong> Kugeln in <strong>den</strong> Kugeln<br />

etwa) <strong>–</strong> das moderne Design liefert der <strong>Manierismus</strong>: Wie eine<br />

Orgel, die dem Gemeindegesang stets um einen Ton voraus ist,<br />

befriedigen die Künstler das traditionelle feudalistische<br />

Repräsentanzbedürfnis in einem Stil, der vom neuen<br />

Individualismus getragen wird.<br />

Repräsentierte der Fürst zuvor die gesamte irdische Sphäre, neben<br />

der nur das göttliche <strong>und</strong> seine Darstellung bestand, hatte so wird<br />

nun ihm nun der sich im Zeitalter der Entdeckungen immer weiter<br />

ausdehnende Kosmos in all seinen Facetten als Drittes<br />

beigegeben. Das Staunen <strong>über</strong> die Welt <strong>und</strong> die künstlerischhandwerkliche<br />

Möglichkeit ihrer Abbildung hält prachtvollen <strong>Ein</strong>zug.<br />

Massalio Ficino, ein Philosoph der Renaissance, hatte eine<br />

Generation zuvor die Frage gestellt: Was ist das letzte Rätsel? Und<br />

die Antwort gegeben: Die Verwandlung eines Dinges in ein<br />

anderes.<br />

Lautreamonts berühmtes Wort von dem ‚zufälligen<br />

Zusammentreffen einer Nähmaschine <strong>und</strong> eines Regenschirms auf<br />

einem Seziertisch’, welche das Wesen der Schönheit definieren<br />

sollte, sie könnte, auf ein zeitgemäßeres Instrumentarium<br />

<strong>über</strong>tragen, unmittelbar aus der Epoche des <strong>Manierismus</strong><br />

stammen.<br />

Nicht von ungefähr ist die Metamorphose, ihr Resultat <strong>und</strong> der Weg<br />

dorthin eines der zentralen Sujets der Malerei <strong>–</strong> Leda <strong>und</strong> der<br />

Schwan, Io, Daphne, Europa, keine Gelegenheit bleibt ungenutzt,<br />

die Durchmischung der Sphären zu feiern <strong>–</strong> <strong>Assonanz</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Antithese</strong> in permanenter Durchmischung. Noch einen Schritt<br />

weiter geht die Anamorphose: Manche Bilder entschlüsseln ihren<br />

Gehalt nur, wenn sie mit Hilfe spezieller Prismen oder in<br />

Vortrag Martin Knepper anlässlich der Ausstellung von Stefan Zöllner im<br />

Kunstförderverein Kreis Düren e. V.<br />

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bestimmten Winkeln betrachtet wer<strong>den</strong>: Die Erfindungen des<br />

Mikroskops <strong>und</strong> des Fernglas stehen am Ende der Epoche, die<br />

Welt wird größer, die Welt wird kleiner.<br />

<strong>Ein</strong>e Zwischenstellung zwischen bil<strong>den</strong>der Kunst <strong>und</strong> Sprache<br />

nimmt die Emblematik ein, illustrierte Sinnsprüche, die sich in der<br />

humanistisch gebildeten Schicht des 16. <strong>und</strong> 17. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

nachgerade zu einem Sport entwickelten. Diese heutzutage ohne<br />

entsprechende Erläuterungen oftmals unverständlich, geradezu<br />

surreal wirken<strong>den</strong> meist kleinformatigen Zeichnungen waren eine<br />

größtmögliche Verdichtung der Metapher: Sie bestehen aus<br />

Lemma, Icon <strong>und</strong> Epigramm, einem <strong>den</strong> Inhalt beschreiben<strong>den</strong><br />

Überschrift, einem oftmals gereimten Sinnspruch <strong>und</strong> einer<br />

Abbildung, die das behandelnde Thema symbolisch illustrierten.<br />

Nimmt man jedoch <strong>den</strong> Text hinfort, bleiben Bilder <strong>und</strong><br />

Objektpaarungen zurück, die befremdlich wirken müssen <strong>–</strong><br />

‚Blutegel peinigen die Lachse’: ein Symbol der Gewissensqual; ein<br />

Herz im Beutel: Habgier;<br />

ein Schwein in Rosen: <strong>Ein</strong> törichter Herr braucht edle Diener;<br />

eine Schießscheibe im Wasser: Das Ende der Welt.<br />

Die auch sprachlich oft verdichteten beigegebenen Texte führen<br />

mich zum letzten zu erwähnen<strong>den</strong> Kunstprinzip, das gewissermaßen<br />

das sprachliche Gegenstück zur alles beherrschen<strong>den</strong><br />

Metapher ist: Dem Concetto. Dieses mit ‚<strong>Ein</strong>fall, Laune, Geistesblitz’<br />

zu <strong>über</strong>setzende Wort prägt <strong>den</strong> Geist manieristischer<br />

Literatur <strong>–</strong> <strong>über</strong>bor<strong>den</strong>de Metaphernfülle <strong>und</strong> formale Experimente,<br />

die die Sprache bis an <strong>den</strong> Rand der Verständlichkeit treiben, was<br />

für die Malerei gilt, gilt auch hier: Die Lust am Sprachspiel, dem<br />

Rätsel <strong>und</strong> etwa auch dem Anagramm, der alchemistischen<br />

Zerlegung der Sprache in ihre <strong>Ein</strong>zelteile <strong>und</strong> ihre Neusynthese,<br />

erschaffen <strong>über</strong>helle oder verdunkelte Bilder, in deren<br />

gemeinsamer Entschlüsselung sich die geistige Elite derzeit<br />

definiert <strong>und</strong> verständigt, ein exklusives soziales Medium seiner<br />

Zeit. Selbst neue Sprachen wer<strong>den</strong> entwickelt: Der englische<br />

Philosoph <strong>und</strong> Magier John Dee etwa entdeckt mithilfe eines<br />

Mediums <strong>und</strong> magischer Karten das Henochische, die Sprache der<br />

Engel. Sie können es bis auf <strong>den</strong> heutigen Tag wie das<br />

Klingonische lernen.<br />

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Lassen Sie mich an dieser Stelle einen großen Sprung machen <strong>–</strong><br />

zum einen <strong>über</strong> 300 Jahre, nachdem zu Beginn des 17.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts diese machtvolle Bewegung der intellektuellen<br />

Exzentrik an ihr Ende kommt <strong>–</strong> die feudalen Verhältnis haben sich<br />

neu konsolidiert, Gegenreformation <strong>und</strong> die Bedrohung des<br />

30jährigen Kriegs drängen die Kunst zurück in die formellen<br />

Bahnen, die Konventionen der Repräsentanz erobern das Feld<br />

zurück; was folgt, sind sattsam bekannte Epochen, Barock,<br />

Rokoko, Klassik, bis hin zum Impressionismus <strong>–</strong> doch das<br />

Interesse an <strong>den</strong> im <strong>Manierismus</strong> bis zum Zerreißen gespannten<br />

Formen erlischt nie ganz, Künstler wie Piranesi, Grandville oder<br />

Goya tauchen als erratische Blöcke auf <strong>und</strong> wer<strong>den</strong> wieder<br />

<strong>über</strong>spült von der alles einebnen<strong>den</strong> Macht der Konvention.<br />

Erst zu Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts wird dann das geboren, was<br />

Kunsthistoriker wie Hocke als ‚2. <strong>Manierismus</strong>’ bezeichnet haben:<br />

Mit Stilen wie Futurismus <strong>und</strong> Surrealismus, begleitet von ihrem<br />

kleinen Bruder, dem scharfzüngigen Hofnarr Dadaismus, tritt,<br />

untermalt von einem erneuten lauten Knall, dem ersten Weltkrieg,<br />

eine neue Bewegung an, die die spannungsgela<strong>den</strong>en Facetten<br />

der Welt auf der Höhe ihrer Zeit abzubil<strong>den</strong> bestrebt ist, erneut<br />

angetrieben durch eine technologische Beschleunigung, die auch<br />

die Künste dauerhaft beeinflussen soll <strong>–</strong> Film, Foto- <strong>und</strong> Fonografie<br />

seien stellvertretend genannt. Ich muss zu einem Ende kommen,<br />

daher möchte ich Sie anregen, die angeführten Charakteristika<br />

selbst zu <strong>über</strong>tragen auf die Werke der Zeit ab 1913 (dem Jahr der<br />

Uraufführung des Sacre du printemps, der großen New Yorker<br />

Armory-Show, die <strong>den</strong> Durchbruch für Duchamp, Picasso, Matisse<br />

<strong>und</strong> andere bedeuten sollte, sowie dem Erscheinen des ersten<br />

Bands von Proust Recherche du temps perdu, vielleicht dem<br />

ersten <strong>und</strong> größten manieristischen Meisterwerk der daran so<br />

reichen Literatur des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts). Meret Oppenheims<br />

Pelztasse, Max Ernsts zoomorph-geisterhafte Wälder, Dalis<br />

Anamorphosen, die plastischen ‚Kollektivcollagen’ Andre Bretons,<br />

das bis heute nicht in Gänze entschlüsselte ‚Große Glas’ Marcel<br />

Duchamps, die untermeerischen Traumlandschaften Yves<br />

Tanguys, Paul Klee, geradezu ein role model des reflektierten,<br />

intellektuellen Künstlers, oder das eigentümliche Künstlerpaar<br />

Hans Bellmer <strong>und</strong> Unica Zürn, seine schreckerregend<br />

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geschändeten Puppenleiber <strong>und</strong> ihre feingesponnenen Anagramm-<br />

Welten, das alles sind Manifeste einer seither nie wieder<br />

verschw<strong>und</strong>enen Seh- <strong>und</strong> Darstellungsweise, in deren Ahnen<strong>und</strong><br />

Enkelreihe auch das Werk eines Stefan Zöllner steht.<br />

Und der mit seiner neuesten anagrammatisch inspirierten Arbeit<br />

‚Sprachlabor’ <strong>den</strong> <strong>Manierismus</strong> auf eine potenzierte Ebene hebt:<br />

Die alchemistische Transformation <strong>über</strong>führt die Dinge in Sprache,<br />

die dann, atomisiert <strong>und</strong> neu zusammengefügt, neue Dinge gebiert.<br />

Hier treffen sich platonische Ideenwelt <strong>und</strong> magischprotochemische<br />

Entdeckerfreude <strong>und</strong> kreieren jenes numinose<br />

Dritte, das als Kunst von der Sphäre des Empirischen, der<br />

wissenschaftlichen Faktizität geschie<strong>den</strong> zu sein scheint. Die<br />

Manieristen aller Zeiten wussten es besser: Jede Welt ist ein<br />

Kunstwerk.<br />

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