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Fulbert Steffensky - Evangelischer Kirchenbezirk Geislingen

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<strong>Fulbert</strong> <strong>Steffensky</strong><br />

Über den Umgang mit Schuld –<br />

oder über die Fähigkeit mit sich selbst zu brechen:<br />

ein spiritueller Abend in der Stadtkirche.<br />

Dienstag, 19. Oktober 2010, um 19.30 Uhr<br />

in der Stadtkirche <strong>Geislingen</strong><br />

Mit <strong>Fulbert</strong> <strong>Steffensky</strong> (Wort),<br />

Phillip Langshaw (Bass.),<br />

Gerhard Klumpp (Orgel).


Vorwort<br />

Als eine Bischöfin öffentlich schuldhaftes Verhalten eingestand und freiwillig<br />

zurücktrat, da staunte eine breite Öffentlichkeit.<br />

Offenbar war es ein ungewöhnlicher Akt. Die Öffentlichkeit scheint es mehr<br />

gewohnt zu sein, dass Prominente nach einem Fehlverhalten zunächst alles<br />

abstreiten oder beschönigen, und dann zum Rückzug gedrängt werden müssen.<br />

Oder dass sie „Verantwortung übernehmen“ und fröhlich im Amt bleiben.<br />

Oder dass sie ein Amt der erstaunten Öffentlichkeit vor die Füße legen, weil sie<br />

keine Lust mehr haben.<br />

Was heißt Schuld, was Verantwortung? Wie kann Vergebung aussehen?<br />

Fragen, über die selbst in der Kirche nicht mehr viel geredet wurde, weil sie<br />

unzeitgemäß erschienen, sind plötzlich aktuell. Und wer auf das Thema einmal<br />

aufmerksam wurde entdeckt, dass unsere öffentlichen Diskussionen und<br />

Debatten voll sind von gegenseitigen Schuldzuweisungen.<br />

Es ist Zeit, nachzusehen, was unsere Väter und Mütter, was die biblische<br />

Tradition zum Thema Schuld und Vergebung zu sagen hat.<br />

Wer könnte es besser als der bekannte Hamburger Theologe <strong>Fulbert</strong><br />

<strong>Steffensky</strong>. Die Stadtkirche hat sich gefreut, ihn erneut in <strong>Geislingen</strong> begrüßen<br />

zu dürfen.<br />

Professor Dr. <strong>Fulbert</strong> <strong>Steffensky</strong> ist Theologe. Er absolvierte zunächst ein Studium der katholischen<br />

und evangelischen Theologie und lebte 13 Jahre lang als Benediktinermönch in der Abtei Maria<br />

Laach. 1969 konvertierte <strong>Steffensky</strong> zum lutherischen Bekenntnis und wurde im selben Jahr<br />

wissenschaftlicher Assistent an der Pädagogischen Hochschule Ruhr. Er promovierte 1972 an der<br />

Ruhr-Universität in Bochum.<br />

Seine erste Professur für Erziehungswissenschaft hatte er von 1972 bis 1975 an der<br />

Fachhochschule Köln, bevor er 1975 als Professor für Religionspädagogik am Fachbereich<br />

Erziehungswissenschaft an die Universität Hamburg wechselte, wo er bis 1998 tätig war.<br />

1969 heiratete <strong>Steffensky</strong> die Theologin Dorothee Sölle. Er lebt heute in Hamburg.<br />

2


<strong>Fulbert</strong> <strong>Steffensky</strong><br />

Schuld und Identität Die Fähigkeit. mit sich selber zu brechen<br />

Ich möchte zwei Arten von Schuld unterscheiden:<br />

die eine ist, gegen sein Gewissen zu handeln: die andere: kein Gewissen zu haben.<br />

Im normalen Sprachgebrauch meinen wir die erste, wenn wir von Schuld reden. Wir<br />

setzen ein freies Subjekt voraus, das fähig ist, Recht und Unrecht zu erkennen und<br />

nach der eigenen Erkenntnis oder gegen sie zu handeln.<br />

Diese Souveränität des Gewissen haben wir vorausgesetzt, als meine Generation die<br />

Väter und Mütter gefragt hat Wo wart ihr während der Nazizeit? Warum seid ihr<br />

mitgelaufen und warum habt ihr keinen Widerstand geleistet.<br />

Im selben Begriff von Schuld haben sie geantwortet: Wir haben nichts gewusst. In<br />

einem gewissen Sinn hatten sie Recht.<br />

Aber warum haben sie nichts gewusst und nichts gesehen? Wie kam es, dass ihnen<br />

das Wissen und das Gewissen abhanden kamen? Wie funktioniert eine<br />

Selbstblendung? Es war doch alles ersichtlich. Der Aufruf zum Boykott jüdischer<br />

Geschäfte stand in allen Zeitungen. Alle haben die Schilder vor jüdischen<br />

Geschäften gelesen: „Deutsche, kauft nicht bei Juden!“<br />

Viele haben die christlichen Predigten gehört, in denen das jüdische Volk als<br />

verworfen bezeichnet wurde.<br />

Viele haben die Karfreitagsbitte gehört: Oremus pro impiis Judaeis! Lass uns für das<br />

ungläubige Judenvolk beten, In kaum verbesserter Form kann man sie heute wieder<br />

hören und beten.<br />

Menschen haben die Aufrufe in den Zeitungen gelesen: Juden dürfen keine<br />

Fahrräder mehr haben, keine Musikinstrumente. Sie dürfen nicht auf öffentlichen<br />

Parkbänken sitzen und nicht in der Straßenbahn.<br />

Unter ihren Augen wurde ein ganzes Volk unsichtbar gemacht. bis schließlich<br />

niemand mehr da war.<br />

Gerade darum wussten sie nichts davon, weil das Verbrechen so allgegenwärtig war,<br />

so geläufig und so selbstverständlich. „Unsichtbar macht sich die Dummheit, indem<br />

sie große Ausmaße annahm.“, sagt Brecht.<br />

Die Gewöhnung machte das Unrecht geläufig. Was immer so war, was täglich<br />

geschieht, was alle tun und glauben, das legitimiert sich dadurch, dass alle es tun<br />

und dass es immer so war.<br />

Die Gewöhnung raubt Wissen und Gewissen. Die biblischen Traditionen nennen dies<br />

Verblendung: Das Unrecht tun und nicht wissen. dass es Unrecht ist: in der<br />

Korruption gefangen sein und sie für natürlich halten.<br />

3


Ich erinnere an ein gegenwärtiges Beispiel eines zur Natur gewordenen<br />

Verbrechens, den Waffenhandel. Warum waren wir vor einigen Jahren entsetzt, als<br />

wir erfuhren, dass deutsche Unternehmen die Giftgasanlagen für den Irak gebaut<br />

haben, dass deutsche Techniker die Zielgenauigkeiten der Raketen und ihre<br />

Reichweite verbessert haben, so dass sie Israel erreichen konnten?<br />

Wir wissen es doch, welches Geschäft der Waffenhandel in unserem Land ist. Man<br />

kennt die Skrupellosigkeit des Marktes, man hat Aktien. Und man hat den Mythos der<br />

Ohnmacht des Einzelnen wie damals. Auch hier verhindern die Geläufigkeit des<br />

Unrechts und die Interessen das Wissen oder schwächen es so, dass es einem<br />

Nichtwissen gleichkommt.<br />

So entsteht die merkwürdige Situation des Verbrechens, das fast keine Subjekte hat:<br />

der Schuld, ohne dass sich jemand schuldig fühlt, und der Tat ohne Täter.<br />

Ich sage das nicht, um die Damaligen und uns heule zu entschuldigen.<br />

Ich beschwöre nicht ein allgemeines Fatum, das uns blind geschlagen hat, wie die<br />

Götter Ödipus, sodass er seinen Vater erschlug und seine Mutter heiratete.<br />

Ich beschwöre also keine Tragik, sondern frage nach der Schuld. die darin besteht,<br />

kein Gewissen zu haben. Denn man ist nicht nur vor seinem Gewissen<br />

verantwortlich, man ist auch für sein Gewissen verantwortlich.<br />

Die Gewissenlosigkeit braucht eine eigene Sprache, und sie wird durch sie<br />

produziert:<br />

Raul Hilberg, einer der führenden Erforscher jener Menschenvernichtung, berichtet,<br />

dass er bei der Durchsicht zehntausender Nazi-Dokumente nicht ein einziges Mal auf<br />

das Wort „töten“ gestoßen ist. Schließlich hat er den Ausdruck doch noch entdeckt:<br />

In einer Verordnung über den Umgang mit Wachhunden.<br />

Für die Sprache. die den Mord und seine Vorbereitung unsichtbar macht, zitiere ich<br />

ein Dokument aus dem Film „Shoa“ von Claude Lanzmann.<br />

Es ist ein Gutachten über die Speziallastwagen, mit denen zunächst die Vergasung<br />

der jüdischen Bevölkerung ausprobiert wurde.<br />

Darin heißt es:<br />

„Die Beschickung der Wagen beträgt normaler Weise 9-10 Quadratmeter. Bei den<br />

großräumigen Saurer-Spezialwagen ist eine Ausnutzung in dieser Form nicht möglich, weil<br />

dadurch zwar keine Überbelastung eintritt, jedoch die Geländegängigkeit sehr herabgemindert<br />

wird. Eine Verkleinerung der Ladefläche scheint notwendig ... Vorstehende Schwierigkeit ist<br />

nicht, wie bisher, dadurch abzustellen, dass man die Stückzahl bei der Bestückung vermindert.<br />

Bei einer Verminderung der Stückzahl wird nämlich eine längere Betriebsdauer notwendig, weil<br />

die freien Räume auch mit CO2 angefüllt werden müssen. Dagegen reicht bei einer<br />

verkleinerten Ladefläche und vollständig angefülltem Laderaum eine erheblich kürzere<br />

Betriebsdauer aus, weil freie Räume fehlen. Bei einer Besprechung mit der Herstellerfirma<br />

wurde von dieser Seite darauf hingewiesen, dass eine Verkürzung des Kastenaufbaus eine<br />

ungünstige Gewichtsverlagerung nach sich zieht. ... Tatsächlich findet aber ungewollt ein<br />

Ausgleich in der Gewichtsverteilung dadurch statt, dass das Ladegut beim Betrieb in dem<br />

Streben nach der hinteren Tür immer vorwiegend dort liegt.“<br />

Das „Ladegut“ sind Kinder, Frauen und Männer in Todesangst. Die .‚Beschickung“,<br />

das heißt, dass diese Menschen mit Hundepeitschen in die Wagen getrieben<br />

werden. Die „Stückzahl“, das sind die Menschen, die wissen, dass sie umgebracht<br />

werden. Die „Betriebsdauer“ ist die Zeit, in der die Juden Todesschreie ausstoßen<br />

4


und am Gas ersticken, Das „Streben nach der hinteren Tür“ ist der verzweifelte<br />

Versuch der Opfer, ins Freie zu kommen und dem Tod zu entgehen.<br />

Die vollkommene Herrschaft der instrumentellen und den Opfern gegenüber<br />

gleichgültigen Vernunft wird dadurch möglich, dass die Sprache tränenfrei gemacht<br />

wird, sie wird amoralisiert. Die tränenfreie Sprache verbirgt die Gesichter der Opfer.<br />

Ich fahre fort mit einem Beispiel eines Glaubens ohne Vernunft, ebenso aus dem<br />

Shoa-Film von Lanzmann.<br />

Die Dorfbewohner von Chelmno, ein Ort in der Nähe von Auschwitz, erzählen in einer Szene,<br />

wie die Juden von den Nazis in die Kirche getrieben und von dort zur Vergasung abgetrieben<br />

wurden.<br />

Schließlich fragt sie Claude Lanzmann: „Wie konnte Ihrer Meinung nach Juden diese<br />

Geschichte passieren?“<br />

Die Leute aus dem Dorf sind sich einig: „Es war der Wille Gottes, das ist alles!“<br />

Eine Frau fügte hinzu: „Als Pontius Pilatus sich die Hände gewaschen hat, sagt er: ‚Dieser<br />

Mann ist unschuldig. Ich will mit dieser Geschichte nichts zu tun haben‘. und er hat Barrabas<br />

geschickt. Aber die Juden haben gerufen: ‚Sein Blut komme über uns!‘ Das ist das Ende, jetzt<br />

wissen Sie alles.“<br />

Diese Menschen hören die Schreie der zusammengetriebenen Juden. Sie<br />

unterschieben diesem Geschehen eine verrückt gewordene Logik und deuten mit ihr<br />

die Vorgänge. Sie sind fromm. Als Lanzmann sie befragt, kommen sie gerade aus<br />

einer Messe. Ihr Glaube und ihre Lesart der Geschichte macht sie zu Zuschauern<br />

eines grandiosen Dramas der Weltgeschichte, dem man sich nicht in den Weg<br />

stellen durfte.<br />

Die Gesichter der zur Vernichtung bestimmten Menschen verschwammen vor dieser<br />

bösartigen Weltlogik, in der auch das Absurdeste wieder Sinn bekam, eine kalte und<br />

unerbittliche Welterklärung. „So musste es kommen“, dachten sie, und damit war der<br />

Schmerz der Menschen entwichtigt. Er wurde zur Opfergabe an den Sinn des<br />

Ganzen.<br />

Es gibt einen Glauben eine Welterklärung und einen gefährlichen Sinnhunger, die die<br />

Vernichtung erklärlich machen, zulassen oder betreiben. Der Glaube, der die<br />

Vernunft und die Skepsis nicht zulässt, wird gefährlich und geht im Notfall über<br />

Leichen. Religion kann ebenso gnadenlos sein wie die instrumentelle Vernunft.<br />

So leben Menschen in geschminkten Realitäten. Nicht nur sie sind amoralisch, ihre<br />

Lebenslandschaft ist amoralisch. Ihr Gewissen haben sie nicht mehr in sich selber.<br />

Es hängt in der gesellschaftlichen Inszenierung, die betrieben wurde, durch die<br />

verrückte Sprache, die verrückte Logik und in der Routine dessen, was ständig und<br />

überall geschah.<br />

+++<br />

Es kam der 8. Mai, die Katastrophe. die unsere Befreiung wurde. Oft lernt man nur<br />

durch die Katastrophen. Wir konnten anfangen, das Unrecht zu erkennen. Wir<br />

konnten anfangen zu bereuen. Zum Gewissen gehört die Reuefähigkeit des<br />

Menschen; die Kraft, sich von den eigenen Handlungen zu distanzieren und mit sich<br />

selbst zu brechen.<br />

5


Stuttgarter Schuldbekenntnis<br />

Ich spreche heute nicht allgemein und abstrakt über Schuld und Identität. Wir haben<br />

ein Datum: Am 19. Oktober 1945 – also heute vor 65 Jahren –haben in Stuttgart<br />

führende Vertreter der Evangelischen Kirche die Verwicklung jener Kirche in die<br />

Nazi-Ideologie bekannt. Sie haben das Stuttgarter Schuldbekenntnis gesprochen und<br />

darin bekannt:<br />

„Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht<br />

worden. …. Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi<br />

gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen<br />

Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir<br />

klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht<br />

fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“<br />

Nein, ein sehr radikales Bekenntnis ist es nicht. Es ist eine halbe Entschuldigung und<br />

ein halbes Bekenntnis. Wir haben nicht genug getan, beklagt das Bekenntnis. Es<br />

hätte besser lauten sollen: Wir haben nichts getan. Kein einziger evangelischer<br />

Bischof hat nach der Pogromnacht von 1938 seine Stimme erhoben. Doch! Einer hat<br />

es getan. Der damalige Landesbischof von Thüringen hat die Nacht vom 8. auf den<br />

9. November, in der geplündert, geraubt, geschändet und getötet wurde, als ein<br />

schönes Geschenk zu Luthers Geburtstag am 10. November gefeiert.<br />

Aber auch dieses sanfte Bekenntnis von 1945 war äusserst umstritten. Man hielt es<br />

gar für eine Fälschung, weil man der Kirche diese „Nestbeschmutzung“ nicht<br />

zutraute. Es hat sich bald ein Argumentationsmuster eingeschliffen, das der<br />

Selbstentschuldigung diente. Es hiess so:<br />

Die Kirche hat gegen das Unrecht der Nazis protestiert, ist aber vom Staat immer<br />

zum Schweigen gebracht worden.<br />

Die Massnahmen gegen die Kirche wurden mit den Judenmorden in einer Reihe<br />

aufgezählt.<br />

Diese Art, sich rein zu waschen, finde ich schon in einer Rede des<br />

württembergischen Landesbischofs Wurm, die er unmittelbar nach dem Ende des<br />

Krieges auf einer Grosskundgebung in Stuttgart gehalten hat.<br />

„Das Herz des deutschen Volkes schlug für den Frieden, der Krieg war ein<br />

Parteikrieg. Eben deshalb sollte man nicht das ganze deutsche Volk als<br />

verantwortlich für die Gewalt- und Schreckensmethoden eines Systems<br />

ansehen, das von einer weit überwiegenden Mehrheit innerlich abgelehnt<br />

worden ist.“<br />

Dies hat der selbe Bischof gesagt, der mit anderen lutherischen Landesbischöfen im<br />

Hitlerstaat die „von Gott gesetzte Ordnung“ erblickt und die Christen im Mai 1939<br />

angewiesen hatte, „sich in das völkische Aufbauwerk des Führers mit voller Hingabe<br />

einzufügen.“<br />

Das also ist der „Sitz im Leben“, der Horizont, vor dem ich über Schuld und Identität<br />

rede.<br />

+++<br />

Schuld ist ein Begriff der Menschenwürde und der Freiheit. Je größer Menschen von<br />

sich selber zu denken gelernt haben; je mehr sie sich selber Subjektsein, Würde und<br />

Freiheit zusprechen, desto weniger erschöpfen sie sich in der Leugnung oder der<br />

Verharmlosung der eigenen Taten. Sie geben sich „das Recht ein anderer zu<br />

werden“, wie Dorothee Sölle es genannt hat.<br />

6


Zur Würde gehört der Bruch mit den alten Identitäten. Erst dem „zerbrochenen<br />

Herzen“, wie es der 51. Psalm nennt, ist der Weg zur Freiheit offen. Freiheit und<br />

Bruch, Freiheit und Verabschiedung von sich selbst, Freiheit und Diskontinuität muss<br />

man zusammendenken. Selbstsucht verblödet wie alle Sucht. Die Sucht man selber<br />

zu bleiben, die Sucht nach Kontinuität ist nicht mehr als die Gefangenschaft in sich<br />

selbst.<br />

Noch einmal der 51. Psalm:<br />

„Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein zerbrochener Geist und ein zerschlagenes<br />

Herz“.<br />

Es ist wohl die schwerste Arbeit, sich von sich selbst zu trennen, sich zu bekehren.<br />

Was heißt das für uns Heutige?<br />

Wir alle waren keine Täter im unmittelbaren Sinn. Wie gehen wir mit diesem Erbe<br />

um?<br />

Ich führe Sie dazu an einen Ort, an den Ort der alten Hauptsynagoge in Hamburg.<br />

Sie wurde in der Pogromnacht 1938 geschändet und in Brand gesetzt, die Ruine<br />

wurde 1939 abgerissen, und zwar auf Kosten der jüdischen Gemeinde.<br />

Lange war dort ein Parkplatz, und mein Auto stand dort oft. Ich wusste nicht, dass<br />

dort Menschen in den Jahren des Terrors gezittert und gebetet hatten. Ich wusste<br />

nicht, dass sie vor dem Abtransport dort zusammengetrieben wurden. Und so hatte<br />

der Ort mir nichts zu sagen.<br />

1988 wurde der Grundriss der Synagoge als Mosaik in den Boden eingelassen. Es<br />

wurde ein bezeichneter Ort. An dieser Stelle werden bei besonderen Anlässen die<br />

Namen der Toten verlesen, die an den Orten des Terrors ermordet wurden. Um den<br />

Platz der alten Synagoge stehen Bäume und darunter Bänke. Ich saß oft da, als ich<br />

noch in meinem Beruf arbeitete. In der Nähe ging eine laute Straße vorbei, trotzdem<br />

war es ein leiser Ort.<br />

Ich erinnere mich dort an Menschen, die ich nie gekannt habe. Vielleicht war dabei<br />

ein Mann, so alt wie ich jetzt bin, den man nicht in Ruhe hat sterben lassen. Vielleicht<br />

zitterte hier ein Kind, das man von der Hand seiner Mutter gerissen hat.<br />

Diese Menschen sind nicht meine Toten. Ich habe sie nicht geliebt, und ich kenne ihr<br />

Leben nicht. Aber ich kenne ihr Leiden und ihren Tod.<br />

Wenn ich an dieser Stelle sitze und an sie denke, werden sie zu meinen Toten. Ich<br />

lerne von ihnen, was Menschen nie angetan werden soll. Kein Kind soll sterben, ehe<br />

es gelebt hat. Kein alter Mann soll eines gewaltsamen Todes sterben.<br />

Die Erinnerungen, die mich dort überfallen, sind Bilder des Schreckens. Aber sie<br />

verstören mein Leben nicht. Sie beheimaten mich an jener Stelle und in meiner<br />

Stadt. Heimat ist da, wo die Toten ihren Platz haben; wo man ihren Namen kennt und<br />

wo man weiß, was ihnen im Leben geglückt ist und was sie gelitten haben.<br />

Ich kenne eine alte Jüdin, die den Schrecken der Pogromnacht 1938 und die<br />

Zerstörung der Synagoge miterlebt hat. Sie sagte: „In jener Nacht ist mir die Heimat<br />

zum Feindesland geworden.“ Und nun umgekehrt: die Erinnerung macht mir dieses<br />

Land zum Heimatland. Sie entsühnt das Land, und es wird wieder zu „einem<br />

bewohnbaren Land mit einer bewohnbaren Sprache“, wie Heinrich Böll dies nennt.<br />

Die Erinnerung an die Opfer macht das Land gerade nicht zu einem furchtbaren<br />

Land. Im Gegenteil: Man kann nicht atmen an den Orten, an denen das Gedächtnis<br />

und die Erinnerung an die Opfer verboten ist.<br />

7


Es ist ein alter und humaner Brauch, die Toten heimzuholen und sie nicht in fremder<br />

kalter Erde verscharrt zu lassen. Dies gilt nicht nur im wörtlichen Sinn. Sich der Toten<br />

zu erinnern; ihr Schicksal dem Vergessen zu entreißen, heißt, sie heimzuholen.<br />

Die Erinnerung ist ein Akt des Erbarmens. Wir wärmen die Toten, wenn wir ihrer<br />

Leiden gedenken. Das Vergessen der Toten planiert unsere Lebenslandschaft und<br />

macht sie unwirtlich.<br />

Die Heimat ist der Ort der gehäuften Erinnerung. Man lernt, wer man ist, wenn man<br />

weiß, woher man kommt, und Zukunft kann nur der haben, der eine Herkunft hat:,<br />

der weiß, wer seine Väter und seine Mütter waren: was ihr Schicksal und ihre<br />

Lebenswünsche waren Dies gilt nicht nur für unsere leiblichen Vorfahren. Es gilt für<br />

alle, die in der eigenen Region gelebt und gelitten haben.<br />

Die Bank, auf der ich sitze, ist ein Ort der Kommemoration. Commemoratio ist ein<br />

schwer zu übersetzenden Wort. Es ist die Erwähnung der Toten, die diese<br />

gegenwärtig macht; die ihren Tod zu einem Erbe und einer Pflicht macht.<br />

In lateinamerikanischen Basisgruppen erzählen sich die Männer und Frauen die<br />

Geschichte der von den Großgrundbesitzern Ermordeten. Die Gruppe antwortet auf<br />

diese Erzählung mit dem Ruf: Presente! Sie sind hier. Das ist kommemorative Rede.<br />

Nein, die Erinnerung an jene Toten bannt mich nicht. Die Wahrheit macht frei, auch<br />

die Wahrheit unserer Schuld und der verspielten Vergangenheit.<br />

Eine Wahrheit, die bannt und den Atem nimmt, ist nur die Fratze der Wahrheit. Von<br />

ihr haben die Toten und die Lebenden nichts, weder die Opfer noch die Täter.<br />

„Unsere Schuld“ sage ich. Aber wieso ist es meine Schuld? Ich habe jenen<br />

Menschen nichts getan, ich war am Ende des Krieges 11 Jahre alt. Wieso lese ich<br />

mich, wenn ich dort sitze, in die Schuld jener Zeit hinein? Nein, ich bin persönlich<br />

nicht schuldig und schon gar nicht meine Kinder und Enkel.<br />

Was haben sie und was habe ich mit jener Geschichte zu tun? Ja, ich bin verwickelt,<br />

nicht im Sinn einer persönlichen Schuld. Aber es waren meine Väter und Mütter,<br />

meine Lehrer und Pfarrer, meine Dichter und Philosophen, meine Musiker und Maler,<br />

die geschwiegen haben in jener Zeit, die benutzt wurden und die sich haben<br />

benutzen lassen.<br />

Die mir das Leben ermöglicht haben, haben es anderen verweigert. So gehöre ich<br />

hinein in die Geschichte der Verstrickung. Man darf sich seine Herkunft nicht rauben<br />

lassen, auch nicht die Herkunft aus Korruption und Verbrechen.<br />

Und so ist die Bank auf der ich sitze, auch meine Anklagebank, besser: meine<br />

Einklagebank.<br />

Die Erinnerung an die Toten klagt eine andere Zukunft ein. Niemand soll mehr hier<br />

oder an anderen Stellen gepeinigt und gefoltert werden.<br />

Einmal habe ich mit einem Enkelkind auf dieser Bank am Synagogenplatz gesessen<br />

und ihm die Geschichte dieses Ortes erzählt. Auch dieses Kind wird nicht mehr<br />

gleichgültig dort vorbeigehen. Es wird hinschauen, der Ort wird zu seiner Erinnerung,<br />

er baut an seinem Gedächtnis, wie er meine Erinnerung erbaut hat. Allerdings wird<br />

dieses Enkelkind sehr viel weniger betroffen sein von der Erinnerung an den Terror,<br />

als ich es bin. Es ist eine Geschichte, die sich über 50 Jahre vor seiner Geburt<br />

abgespielt hat. Und was vor der Geburt eines Menschen liegt, gehört nicht mehr zu<br />

seiner Lebenszeit. Es ist Vorzeit.<br />

Zu meiner eigenen biographischen Zeit gehört, was damals geschehen ist. Für meine<br />

Enkel ist es erzählte und nicht erlebte Geschichte.<br />

8


Es klingt zu schwer, wie ich jene Stelle und die Bank beschrieben habe. Als ich mit<br />

meiner Enkelin dort war, haben wir uns dort auch unbekümmert lustige Geschichten<br />

erzählt und wir haben Verstecken gespielt. Und auf den Nachbarbänken saßen alte<br />

Männer und tranken ihr Bier. Die Erinnerung an die Toten erstickt die Heiterkeit des<br />

Lebens nicht, oder es wäre eine falsche Erinnerung. Die Toten haben das Recht.<br />

dass ihr Name genannt wird und dass sie unvergessen bleiben. Aber sie haben kein<br />

Recht, den Lebenden die Sonne zu nehmen. Sie wird scheinen und wärmen und<br />

neues Leben und neue Heiterkeit wachsen lassen.<br />

Man ehrt jene Toten nicht mit der eisernen Größe der Trauer und des Gefühls der<br />

Schuld. Zur Erinnerung gehört das Vergessen, so bitter dies klingt. Unvergessen<br />

sollen der Name und das Schicksal jener Toten sein.<br />

Aber sich selbst als Schuldigen muss man auch vergessen können. Man muss es<br />

lernen zu essen, zu trinken, zu lieben und das Leben in seiner Schönheit zu sehen.<br />

Vielleicht haben die Menschen meiner Generation als Lehrer und Lehrerinnen den<br />

Kindern und Jugendlichen zu viel zugemutet, indem wir ihnen unsere Betroffenheit<br />

zudiktierten und indem wir sie aus der Trauer und aus der Reue nicht entlassen<br />

wollten. Die Reue ist kein Gefängnis mit undurchdringlichen Mauern. Sie ist der neue<br />

Weg des neuen Menschen. Reue und Heiterkeit sind Geschwister, keine Feindinnen.<br />

9


Vergebung ist Gift für die Feindschaft<br />

Johannes 8, 1-11<br />

Eine der zartesten, anmutigsten und frechsten Geschichten finde ich im 8. Kapitel<br />

des Johannesevangeliums, die Geschichte von der Ehebrecherin, die niemand<br />

verurteilt.<br />

Offensichtlich ein Streitfall im Tempel: Männer schleppen eine Frau herbei, die beim<br />

Ehebruch ertappt worden ist. Nach dem Gesetz muss sie gesteinigt werden. „Was<br />

sagst Du?“, fragen sie Jesus.<br />

Er antwortet nicht, wie im Spiel schreibt er in den Sand. Und dann sein Vorschlag an<br />

die Männer: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie!“ Die<br />

Männer schleichen sich davon, einer nach dem anderen.<br />

Auch Jesus hat kein Verdammungsurteil. Die Frau ist frei. Sie wird nicht mehr<br />

sündigen.<br />

Was ist geschehen? Der Kreislauf der Selbstverständlichkeiten ist durchbrochen<br />

worden. Verständlich ist, dass es ein Gesetz gibt, das die Welt und den Gang der<br />

Dinge behütet. Das Gesetz verlangt die Treue in der Ehe (zumindest von den<br />

Frauen!). Das Gesetz ist nicht falsch oder dumm, denn es gibt kein Zusammenleben<br />

in Frieden ohne Regelung der Sexualität.<br />

Mit dem Verstoß gegen das Gesetz ist der Kosmos, das geordnete Leben in Gefahr.<br />

Mit der Vergebung sagt Jesus also nicht: es ist alles nicht so schlimm, darum wollen<br />

wir darüber hinwegsehen! Es ist schlimm, und Vergebung ist erst dort wichtig und<br />

notwendig, wo die Störung des Lebens groß ist.<br />

„Die Vergebung verzeiht nur das Unverzeihbare.“ (J. Derrida)<br />

Die die Frau bringen, sind also nicht ein Haufen rachsüchtiger Kerle, sie wollen das<br />

Leben von allen schützen. Und die sichtbare Strafe, das vergossene Blut der<br />

gesteinigten Frau soll den Kosmos des Lebens wiederherstellen. Das Leben verlangt<br />

Opfer, der geschändete Kosmos soll durch das Blut der gesteinigten Frau gereinigt<br />

werden. Es ist nicht die pure Rachsucht der Gesellschaft, es ist die Sorge um das<br />

Ganze, die die Gesetze hart und unerbittlich macht. Man muss das Verstehen, um zu<br />

verstehen, wie unerhört die Vergebung Christi ist.<br />

Die Männer:<br />

Christus sagt nicht. dass sie Unrecht haben oder dass die Gesetze falsch sind. Er<br />

sagt. Werft eure Steine. Aber anfangen soll der, der ohne Sünde ist! Und die Männer<br />

gingen weg, „einer nach dem anderen, angefangen von den Ältesten“. Johannes<br />

sagt dies von den Männern etwas höhnisch. Aber zunächst ist es auch deren Form<br />

der Vergebung: Sie gehen weg, sie bestehen nicht auf der Reinigung der Welt durch<br />

die Steinigung. Sie haben etwas gelernt, sogar die Ältesten, die es am wenigsten<br />

gewohnt sind umzulernen. Sie vergeben, und sie leben mit dem Bruch des Kosmos.<br />

Christus hat sie einen Satz gelehrt, der Grundsatz aller Vergebung ist: Steinigen<br />

kann nur der, der ohne Sünde ist! Mit diesem Satz hat er ihnen die Steine aus der<br />

Hand genommen.<br />

Denn wer ist ohne Sünde? Was hieße das unter uns, wenn jener Grundsatz<br />

Gültigkeit hätte: Steinigen kann nur der, der ohne Sünde ist? Was hieße das für den<br />

Umgang der Paare miteinander? Der Eltern mit ihren Kindern, und der Kinder mit<br />

ihren Eltern?<br />

Steinigen kann nur, wer ohne Sünde ist. Was hieße das für den Umgang mit unseren<br />

Feinden? Mit dem Umgang mit den Verbrechern?<br />

10


Wir haben kein Recht, sofort zu sagen: so kann eine Gesellschaft nicht leben und<br />

handeln, wie Christus gehandelt hat. Wenn wir die Vision Christi nicht wenigstens<br />

denken, nicht wenigstens in Betracht ziehen, uns nicht wenigstens durch sie irritieren<br />

lassen, selbst wenn wir nicht danach leben, ist das Christentum unerheblich<br />

geworden.<br />

In diesen Wochen haben wir des 20. Todestags von Heinrich Böll gedacht. Er hat, als<br />

Ulrike Meinhof auf der Flucht war einen Artikel mit der Überschrift geschrieben:<br />

„Gnade für Ulrike!“ Und er selbst wurde fast gesteinigt von den „Alten“ unserer<br />

Gesellschaft. Er war nicht auf der Seite der Baader-Meinhof-Gruppe, er hat ihre<br />

Verbrechen nicht gut geheißen. Er hat gedacht, was Jesus praktiziert hat: Gnade für<br />

jene Frau! Die Gesellschaft wird nicht gerettet durch ihr Blut, hat er gedacht. Blut<br />

rettet nichts. Rache rettet nichts. Kein Friede wird durch sie hergestellt, und der<br />

Kreislauf der Gewalt wird durch sie nicht unterbrochen. Die Sünderin des<br />

Evangeliums kann nur geläutert werden, wenn keiner Steine wirft; wenn die „Alten“<br />

so klug sind, schweigend das Feld zu räumen, weil sie wissen, dass sie nicht ohne<br />

Sünde sind.<br />

Die Frau:<br />

Wir wissen wenig über sie. Sie steht da in ihrer Angst vor den Männern, die das<br />

Gesetz so gut kennen. Sie hört ihre Auseinandersetzung mit Christus. Sie hört den<br />

Freispruch Christi: Auch ich verurteile Dich nicht!<br />

Ich möchte wissen, ob sie diesen Freispruch hat annehmen können. Es ist nicht<br />

leicht, sich vergeben zu lassen, ich glaube, vor allem für Männer nicht. Man muss<br />

sich selber aus der Hand geben, und man ist nicht mehr Meister seiner selbst, man<br />

ist ein angewiesener Mensch.<br />

„Der Starke ist am mächtigsten allein!“, heißt es in Schillers Tell. Es ist einer der<br />

männlichsten und der verkehrtesten Sätze.<br />

Es gibt Dinge, die man sich nicht selber verschaffen kann, nicht die Liebe, nicht die<br />

Freundschaft, nicht die Vergebung. Je geistiger ein Wesen ist, umso angewiesener<br />

ist es, angewiesen auf Zuneigung, auf Freundschaft, auf Gnade und Vergebung.<br />

Dies schändet den Menschen nicht. Nur wer unter dem Zwang steht, ständig<br />

Souverän seiner selbst zu sein, kann Abhängigkeit nicht ertragen.<br />

Es gehört zur Bitte um Vergebung die Fähigkeit, der eigenen Schuld ins Auge zu<br />

sehen und es aufzugeben, sich zu rechtfertigen. Die Selbstverteidigung aufzugeben<br />

und wehrlos zu werden, ist eine der schwersten Künste. Man muss wohl wirklich an<br />

Gott glauben, um es auszuhalten mit den eigenen Lebensbrüchen und mit den<br />

Zerstörungen, die man angerichtet hat.<br />

Ich denke an unsere jüngste Vergangenheit: wie schwer ist es uns nach der Nazi-Zeit<br />

gewesen, der eigenen Schuld ins Auge zu sehen. Lieber hat man sich selber die<br />

Würde abgesprochen und von sich behauptet, man sei ja nur ein Rädchen im<br />

Ganzen gewesen. Es gehört ein hohes Selbstbewusstsein dazu, sich selbst als<br />

schuldig zu benennen und zu bekennen.<br />

Mit ungläubigem Erstaunen stellt die Frau im Johannesevangelium fest, dass<br />

niemand sie verurteilt hat, weder die „Ältesten“ noch Jesus. Sie nimmt ihr Urteil, das<br />

ein Freispruch ist, an. Auch dazu gehört Kraft, die Freisprüche anzunehmen und zu<br />

wissen, dass der Bann der Schuld gebrochen ist. Es gibt Menschen, die dies kaum<br />

vermögen. Sie sperren sich selbst ein in den Kerker ihrer Vergangenheit. Sie trauen<br />

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der Größe ihrer Schuld mehr als der Größe Gottes oder der Menschen, die<br />

freisprechen. Sie quälen sich und kommen immer wieder auf ihre Schuld zurück.<br />

Vielleicht ist sogar ein Stück narzisstischer Lust in dieser Qual. Sie betonen ihre<br />

eigene Größe, und wenn es nur die ärmliche Größe ihrer Schuld ist, indem sie nicht<br />

von ihr loskommen und sich selber an sie fesseln, nachdem Gott sie längst<br />

freigesprochen hat.<br />

Dagegen die Größe der Frau des Evangeliums: Keiner hat sie verurteilt, und so wird<br />

sie sich auch selber nicht weiter verurteilen.<br />

Der Christus in dieser Geschichte, der Sohne der Gnade: Er, der ohne Sünde ist und<br />

den ersten Stein werfen könnte, wirft keine Steine. Es ist bei ihm anders als bei jenen<br />

Männern und Alten. Ihnen sind die Hände gebunden. weil sie wissen: Sie sind nicht<br />

sündenlos. Er schreibt die Sünden jener Frau in den Sand, und schnell löscht der<br />

Wind die Spuren jener Schrift. Welche Anmut liegt in jener Geste: Da sind die<br />

ernsthaften Männer mit ihrem ernsthaften Problem, und er schreibt in den Sand. Und<br />

die Güte lässt die Schrift verblassen.<br />

Er nimmt die Frau ernst, er sagt nicht: So schlimm ist alles nicht. Er sagt: Geh‘ hin<br />

und sündige nicht mehr! Er glaubt nicht daran, dass Blut etwas ausrichtet. Nein, es<br />

muss nicht erst Blut vergossen werden, bis die Spur der Schuld getilgt ist. Er kennt<br />

die Wahrheit dieser Frau, die Wahrheit ihrer Schuld und ihrer Leiden. Aber die<br />

Wahrheit wird nicht zu ihrem Todesbann.<br />

Eine Wahrheit, die bannt, ist keine Wahrheit mehr.<br />

Die Wahrheit, die der Menschensohn kennt, wird zur Freiheit jener Frau: Geh‘ hin, ich<br />

verurteile dich nicht. Bleibe in dieser Freiheit und sündige nicht mehr!<br />

Eine Grundvoraussetzung des Friedens unter den Menschen im gesellschaftlichen<br />

und im privaten Bereich ist die Fähigkeit, zu vergeben und sich vergehen zu lassen.<br />

Vergebung ist Gift für jede Feindschaft. Wer vergibt, schlägt nicht mehr. Wer um<br />

Vergebung bittet und Vergebung annehmen kann, hat vorher schon die Waffen aus<br />

den Händen gelegt. Wer vergibt und Vergebung annehmen kann, ist erwachsen<br />

geworden. Diese Menschen wissen, dass das Leben nicht gewonnen werden kann<br />

mit den kindischen Spielchen der Vergeltung und des Versteckens vor der eigenen<br />

Schuld.<br />

Vielleicht hat das Leben viele gekränkt, und sie sind zu dieser Erwachsenheit noch<br />

nicht fähig. Aber wir haben in unserem Erzählschatz schon diese charmante<br />

Geschichte, und gelegentlich stört sie uns bei unseren finsteren Gedanken der<br />

Vergeltung.<br />

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