JAHRBUCH - Glowfish

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482 S. Spielreia. Wie die Liebe für Nietzsche darin besteht, daß er, gleich der Soime,das tiefe Meer in sich hineinsaugt, so auch die Erkenntnis. Demnach ist für Nietzsche die Erkenntnis nichts anderes als eine Begierde nach Liebe, nach Schöpfung. Die glühende Sonne saugt am Meere wie ein Liebender, imd das wild bewegte Meer hebt sich mit tausend Brüsten der Sonne entgegen, nach Küssen lechzend, wie ein liebeberauschtes Weib. Die Phantasie des Brustsaugens deutet darauf hin, d&ß die Sonne sich zugleich als Kind dem Meere gegenüber verhält. Icli erinnere daran, wie auch Silberer in seinem zweiten Beispiele des hypnagogischen Phänomens das Land der Mütter als ein Meer darstellt. Wie die Sonne das Meer in sich hineinsaugt, so saugt der erkennende Zarathustra die Tiefe in sich hinein (das tiefe Meer). Die Sehnsucht nach der Erkenntnis ist demnach für den Dichter nichts anderes als die Sehnsucht; nach der in seiner Tiefe lebenden Mutter. Werm die Mutter seine eigene Tiefe ist, so ist die Vereinigung mit der Mutter zugleich autoerotisch aufzufassen, also eine Vereinigung mit sich selber. An anderer Stelle spottet Nietzsche über die Prediger der sogenannten ,,reinen Liebe", der unbefleckten Erkenntnis ohne jegliche Begierde, welche sich selbst durch Verkleidung der Schlange in die Larve eines Gottes betrügen (vgl. Jung: Gottheit — eigene Libido — Schlange). ,,WahrUch, nicht als Schaffende, Zeugende, Werdende liebt ihr die Erde!" ruft er daselbst. „Wo ist Unschuld? — Wo der Wille zur Zeugung ist und wer über sich hinaus schaffen will, der hat nur den reinsten Willen. Wo ist Schönheit? Wo ich mit allem Willen wollen muß; wo ich lieben und untergehen will, daß ein Bild nicht nur Bild bleibe." (Vgl. die frühere Erörterung: mit der Aktivierung wird ein psychischer Inhalt — ,,Bild" vernichtet oder durch Vernichtung wird er aktiviert.) ,,Lieben und Untergehen, das reimt sich seit Ewigkeiten. Wille zur Liebe : das ist willig auch sein zum Tode!" Durch die LiebesVereinigung mit der Mutter wird Nietzsche selbst zur zeugenden, schaffenden, werdenden Mutter. Dieses Muttersein drückt sich noch deutlicher in folgender Rede aus: ,,Ihr Schaffenden, ihr höheren Menschen! Wer gebären muß — ist krank; wer aber geboren hat, ist unrein. Fragt die Weiber: man gebiert nicht, weil es Verenüs;en macht: der Schmerz macht Hühner und Dichter gackern. Ihr Schaffenden, an euch ist viel Unreines ! Das macht, ihr müßtet Mütter sein." Damit haben wir, wie es scheint. Vieles an Nietzsche verstehen gelernt, und ich glaube, daß dieser Vorgang einiges Licht darauf

Die Destruktion als Ursache des Werdens, 483 zu werfen vermag, warum wir bei den in autoerotischer Isolierung lebenden Dementia- praecox-Kranken so oft, wenn nicht beständig, die homosexuelle Komponente antreffen^). Nietzsche wird zur Frau, indem er sich mit der Mutter identifiziert, wobei er letztere in sich hineinsaugt. Dazu trägt bei, daß Nietzsche, infolge der autoerotischen Isolierung, auch im Bewußtsein nicht in der Gegenwart lebt, sondern in seiner eigenen Tiefe, welche noch der Zeit angehört, da das Kind in seinem Geschlechtsleben ungenügend differenziert sich beim Brustsaugen der Mutter gegenüber passiv weiblich verhält. Ist Nietzsche weiblich, so verhält sich seine Mutter ihm gegenüber als Mann, ebenso die später die Stelle der Mutter annehmende Tiefe oder sein „abgründlicher Gedanke" von welchem bald die Rede sein wird, mit welchem er wie mit sich selbst kämpfte. Die Mutter ist für Nietzsche er selbst und er selbst — seine Mutter. Bei jeder Liebe muß man zwei Vorstellungsrichtungen unterscheiden : die eine — wie man liebt, und die andere — wie man geliebt wird. Bei der ersten Richtung ist man selbst Subjekt und liebt das nach außen projizierte Objekt, bei der zweiten ist man in den Geliebten verwandelt und liebt sich, als sein Objekt. Beim Manne, welcher die aktive Aufgabe hat, das Weib zu erobern, herrschen die Subjektvorstellungen vor, bei der Frau hingegen, welche den Mann zu verlocken hat, gewinnen auch normaliter die rückläufigen Vorstellungen die Oberhand. Damit hängt die bekannte weibliche Koketterie zusammen: die Frau denkt, wie sie ,,ihm" gefallen wird, damit hängt auch die stärkere Homosexualität und Autoerotik der Frau zusammen^); in ihren Geliebten verwandelt, muß sich die Frau bis zu einem gewissen Grade männlich fühlen, als Objekt des Mannes kann sie sich selbst oder ein anderes Mädchen lieben, welches ihre ,, Wunsch persönlichkeit" ist, i. e. so ist, wie die Liebende sich selbst sehen möchte, natürlich immer schön. Eiimaal traf ich eine Kollegin in großer Entrüstung über einer Reihe von ihr beschriebener Briefkouverts ; an keinem gelang ihr die schöne Schrift, die sie am ersten Kuvert vollbrachte. Die Schrift war mir bekannt. Auf meine Frage, was die gewünschte Schrift ihr sage, fiel ihr plötzlich ganz riclitig ein, ihr Geliebter schreibe so. Das Bedürfnis nach Identifikation mit dem Geliebten war demnach so groß, ^) Vgl. Otto Rank: Beiträge zum Narzissismus. Jahrbuch III, I. Hälfte. -) Man denke nur an die leidenschaftlichen Küsse und Umarmungen bei jungen Mädchen. Diese für die Frau nicht auffallende Art der Freundschaft \Wirde beim Manne sehr sonderbar anmuttm. 31*

482 S. Spielreia.<br />

Wie die Liebe für Nietzsche darin besteht, daß er, gleich der<br />

Soime,das tiefe Meer in sich hineinsaugt, so auch die Erkenntnis. Demnach<br />

ist für Nietzsche die Erkenntnis nichts anderes als eine Begierde<br />

nach Liebe, nach Schöpfung. Die glühende Sonne saugt am Meere<br />

wie ein Liebender, imd das wild bewegte Meer hebt sich<br />

mit tausend<br />

Brüsten der Sonne entgegen, nach Küssen lechzend, wie ein liebeberauschtes<br />

Weib. Die Phantasie des Brustsaugens deutet darauf hin,<br />

d&ß die Sonne sich zugleich als Kind dem Meere gegenüber verhält.<br />

Icli erinnere daran, wie auch Silberer in seinem zweiten Beispiele<br />

des hypnagogischen Phänomens das Land der Mütter als ein Meer<br />

darstellt. Wie die Sonne das Meer in sich hineinsaugt, so saugt der<br />

erkennende Zarathustra die Tiefe in sich hinein (das tiefe Meer).<br />

Die Sehnsucht nach der Erkenntnis ist demnach für den Dichter nichts<br />

anderes als die Sehnsucht; nach der in seiner Tiefe lebenden Mutter.<br />

Werm die Mutter seine eigene Tiefe ist, so ist die Vereinigung mit der<br />

Mutter zugleich autoerotisch aufzufassen, also eine Vereinigung mit<br />

sich selber. An anderer Stelle spottet Nietzsche über die Prediger der<br />

sogenannten ,,reinen Liebe", der unbefleckten Erkenntnis ohne jegliche<br />

Begierde, welche sich selbst durch Verkleidung der Schlange in die<br />

Larve eines Gottes betrügen (vgl. Jung: Gottheit — eigene Libido —<br />

Schlange).<br />

,,WahrUch, nicht als Schaffende, Zeugende, Werdende liebt ihr die<br />

Erde!" ruft er daselbst. „Wo ist Unschuld? — Wo der Wille zur Zeugung<br />

ist und wer über sich hinaus schaffen will, der hat nur den reinsten Willen.<br />

Wo ist Schönheit? Wo ich mit allem Willen wollen muß; wo ich lieben und<br />

untergehen will, daß ein Bild nicht nur Bild bleibe." (Vgl. die frühere<br />

Erörterung: mit der Aktivierung wird ein psychischer Inhalt — ,,Bild"<br />

vernichtet oder durch Vernichtung wird er aktiviert.) ,,Lieben und Untergehen,<br />

das reimt sich seit Ewigkeiten. Wille zur Liebe : das ist willig auch<br />

sein zum Tode!"<br />

Durch die LiebesVereinigung mit der Mutter wird Nietzsche<br />

selbst zur zeugenden, schaffenden, werdenden Mutter. Dieses Muttersein<br />

drückt sich noch deutlicher in folgender Rede aus:<br />

,,Ihr<br />

Schaffenden, ihr höheren Menschen! Wer gebären muß — ist<br />

krank; wer aber geboren hat, ist unrein. Fragt die Weiber: man gebiert<br />

nicht, weil es Verenüs;en macht: der Schmerz macht Hühner und Dichter<br />

gackern. Ihr Schaffenden, an euch ist viel Unreines ! Das macht, ihr müßtet<br />

Mütter sein."<br />

Damit haben wir, wie es scheint. Vieles an Nietzsche verstehen<br />

gelernt, und ich glaube, daß dieser Vorgang einiges Licht darauf

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