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JAHRBUCH - Glowfish

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Wandlungen und Symbole der Libido. 273<br />

Moralische hat sich ein objektives und billiges Urteil über die Sexualität<br />

eingebildet und der Unmoralische hat ganz vergessen, einmal einzusehen,<br />

wie gemein er sich eigentlich mit seiner Sexualität benimmt<br />

und wie unfähig er einer selbstlosen Liebe ist. Man vergißt ganz, daß<br />

man sich nicht nur von einem Laster in jämmerlicher Weise kann<br />

hinreißen lassen, sondern auch von einer Tugend. Es gibt eine frenetische,<br />

orgiastische Tugendhaftigkeit, die ebenso schändlich ist und ebenso<br />

viele Ungerechtigkeiten und Gewaltsamkeiten nach sich zieht wie<br />

das Laster.<br />

In einer Zeit, wo ein großer Teil der Menschheit anfängt das<br />

Christentum wegzulegen, lohnt es sich wohl, klar einzusehen, wozu<br />

man es eigentlich angenommen hat. Man hat es angenommen, um der<br />

Roheit der Antike endlich zu entkommen. Legen wir es<br />

weg, so steht<br />

schon wieder die Ausgelassenheit da, von der uns ja das Leben in<br />

modernen Großstädten einen eindrucksvollen Vorgeschmack gibt.<br />

Der<br />

Schritt dorthin ist kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt. Es geht<br />

wie beim einzelnen, der eme Übertragimgsform ablegt und keine<br />

neue hat, er wird unfehlbar regressiv den alten Übertragungsweg<br />

wieder besetzen, zu seinem größten Nachteil, denn die Umwelt hat<br />

sich seitdem wesentlich verändert. Wer also von der historischen und<br />

philosophischen Haltlosigkeit der christlichen Dogmatik und der religiösen<br />

Leere eines historischen Jesus, von dessen Person wir nichts<br />

wissen und dessen religiöser Gehalt zum Teil talmudische, zum Teil<br />

hellenistische AVeisheit ist, abgestoßen, das Christentum und damit<br />

die christliche Moral weglegt, der steht allerdings vor dem antiken<br />

Problem der Ausgelassenheit. Heutzutage fülilt sich der Einzelne<br />

noch durch die öffentliche hypolcritische Meinung gehemmt und zieht<br />

es daher vor, ein geheimes Separatleben zu führen, öffentlich aber<br />

Moral darzustellen; anders aber könnte es kommen, wenn man allgemein<br />

die moralische Maske einmal zu dumm fände, und die Menschen<br />

sich bewußt würden, wie gefährlich ihre Bestien aufeinander lauern,<br />

dann könnte wohl ein Rausch der Entsittlichung über die Menschheit<br />

gehen — das ist der Traum, der Wunschtraum des moralisch Beschränkten<br />

von heutzutage: er vergißt die Not, die dem Menschen<br />

den Atem raubt und die<br />

Man darf mir nicht die<br />

mit liarter Hand jeden Taumel unterbräche.<br />

Gedankenlosigkeit zumuten, daß ich durch die<br />

analytische Reduktion die Libido quasi wieder auf primitive, fast<br />

überwundene Stufen zurückversetzen wolle und ganz vergäße, was<br />

dann für eine furchtbare Misere über die Menschen käme — gewiß<br />

Jahrbuch fuv psychoaualyt. u. psychopathol. Forschungen. IV. 18

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