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Gottesdienstlehre - Mohr Siebeck Verlag

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§ 35 Liturgische Kunst als gebildete Routine<br />

Handelns muss weder zur Seite geschoben noch durch Entschuldigungsmechanismen<br />

bewältigt werden, denn der Mensch kommt als gerechtfertigter Sünder in den Blick.<br />

Nicht die Veränderung durch das eigene Handeln, sondern die Würde des nicht handelnden<br />

Menschen ist der Gegenstand des gottesdienstlichen Handelns. Liturgisches<br />

Handeln bedeutet die Unterbrechung des Handelns in einer Form von aktivischer<br />

Passivität, so dass die passive Gerechtigkeit des Menschen vor Gott bestimmend wird. 6<br />

Der Mensch überschreitet in der Liturgie die Schwelle vom Tun zum Sein.<br />

Der Zweck der Versammlung am Sonntag ist es, die Wahrnehmungsweise<br />

der eigenen Wirklichkeit zu wechseln, weil man nicht im Namen eines guten<br />

Zweckes zusammenkommt, sondern zur Unterbrechung der Zweckbestimmung,<br />

in liturgischer Sprache: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und<br />

des Heiligen Geistes“.<br />

Der Wechsel der Wahrnehmung wird im Gottesdienst durch den ausgesonderten<br />

Ort und die ausgesonderte Zeit unterstützt. Die Umcodierung der<br />

Wirklichkeit erfolgt räumlich durch das Überschreiten einer Schwelle und<br />

zeitlich durch die Unterbrechung des chronologischen Empfindens. Die Dramaturgie<br />

des Gottesdienstes schließlich dient der Inszenierung von Schwelle<br />

und Unterbrechung, der Ermöglichung und der Verlangsamung des damit<br />

gegebenen Erlebens.<br />

Schwelle<br />

und Ritual<br />

3.1 Die Erfahrung einer Schwelle ist das Grunddatum aller religiösen Rituale.<br />

Dabei wird ethnologisch und kulturwissenschaftlich die vormoderne<br />

reale Übergangserfahrung („Liminalität“) von der modernen und spätmodernen<br />

eher theoretischen und medialen Übergangserfahrung („Liminoidität“)<br />

unterschieden (so bei Victor Turner, → § 4.4). Die neuzeitliche („liminoide“)<br />

Schwellenerfahrung vollzieht sich besonders in ästhetischer Weise.<br />

Die Schwelle des Rituals ermöglicht in diesem Zusammenhang die Befreiung<br />

der Fähigkeiten des Menschen von sonst notwendigen Begrenzungen des<br />

Denkens, Fühlens und Handelns.<br />

Auch die Veränderung des Handelns trifft auf viele Gottesdienste zu: Der Tausch<br />

des Friedensgrußes, das Trinken aus dem Gemeinschaftskelch und das Anfassen der<br />

Nachbarn beim Abendmahl sind Handlungsformen, mit denen wir fremden Menschen<br />

im Berufs- und Geschäftsleben nicht begegnen. Gerade dies macht diese Ritualelemente<br />

auch für viele Besucher des öffentlichen Gottesdienstes befremdlich.<br />

Die gottesdienstliche Schwellenerfahrung ist primär im übertragenen Sinne<br />

zu verstehen und geschieht auf dem Wege der geschilderten Wahrnehmungsveränderung.<br />

Das Ziel der liturgischen Kunst ist der Übergang von der<br />

6 Martin Luther: Vorrede zum 1.Band der lateinischen Schriften vom 5. März 1545: „(…)<br />

die passive Gerechtigkeit, durch die uns der barmherzige Gott gerecht macht durch<br />

den Glauben, wie geschrieben ist: ‚Der Gerechte lebt aus Glauben‘“ (Text nach Aland<br />

2,19f.; WA 54,186, 5–8; BoA 4, 427f.).<br />

394<br />

Leseprobe aus Meyer-Black: <strong>Gottesdienstlehre</strong><br />

(c) 2011 <strong>Mohr</strong> <strong>Siebeck</strong> www.mohr.de

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