Gottesdienstlehre - Mohr Siebeck Verlag

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01.11.2013 Aufrufe

§ 35 Liturgische Kunst als gebildete Routine 2. Der Sonntagsgottesdienst als Modell liturgischer Kunst Am Anfang stehen einige pastoraltheologische Überlegungen zum liturgischen Handeln, in denen der Sonntagsgottesdienst als besonders geeigneter Gegenstand und das Künstlerische als wichtiges Charakteristikum pastoralen Handelns deutlich werden wird. Wer sich auf das Pfarramt vorbereitet, wird am Sonntagsgottesdienst das Zusammenspiel von Wort und rituellem Handeln, das jeweils Besondere verschiedener liturgischer Handlungsformen und deren inneren Zusammenhang lernen. Und wer nicht in einer großen Stadtgemeinde (mit vielen Taufen bzw. Beerdigungen), sondern in einer Landgemeinde mit mehreren „Predigtstellen“ tätig ist, wird vor allem immer wieder neu den Sonntagsgottesdienst zu gestalten haben. Der Sonntagsgottesdienst stellt in mehrfacher Hinsicht den „Normalfall“ (Fechtner/Friedrichs) und darüber hinaus auch den Modellfall des Gottesdienstes dar. Auch die besonderen Formen von Gottesdienst, die sich in den letzten Jahren herausgebildet haben, lassen sich von der offenen, viele Variationen ermöglichenden „Grundform II“ (Predigtgottesdienst) her erschließen. Gerade für die Gestaltung offener Gottesdienstformen ist es wichtig, den Weg zum Beten und Hören und zurück in den Alltag sorgfältig im Blick zu behalten, so dass Gottesdienst und Diskussionsveranstaltung unterschieden bleiben. Von daher hilft das genaue Bedenken der Normalform als Modell auch bei der Gestaltung neuer Formen. Die alternativen Gottesdienste sind meistens besondere Formen des Predigtgottesdienstes. Ein Beispiel dafür ist der monatlich (jeweils sonntags von 11–12.15 Uhr im „Kinopolis“ in Sulzbach) stattfindende Gottesdienst „GoSpecial“, der sich durch andere Beteiligungsformen auszeichnet. „GoSpecial“ enthält in der Eröffnung ein Theaterstück, dann eine Predigt vom Bistrotisch und ein anschließendes „Kreuzverhör“ des Predigers durch die Anwesenden sowie ein Interview zum Thema mit dem Erfahrungsbericht eines vom jeweiligen Thema betroffenen Menschen („Interview“), bevor Fürbitten und Vaterunser sowie Schlussmoderation und Musik diesen als „niederschwellig“ bezeichneten Gottesdienst beenden. Er wird von jeweils 500–700 Teilnehmern besucht und von ihnen geben 40% an, sonst selten oder nie einen Gottesdienst zu besuchen. 1 „Normalfall“ Sonntagsgottesdienst Öffentlichkeitscharakter 2.1 Außerdem wurde schon darauf hingewiesen, dass der Sonntagsgottesdienst mit etwa 1 Million Besuchern an jedem Sonntag nicht nur die meistbesuchte kirchliche Veranstaltung, sondern auch eine der am besten besuchten Versammlungen im Rahmen der Kultur darstellt. Der regelmäßig stattfindende Sonntagsgottesdienst steht auch für die Öffentlichkeit, Verlässlichkeit und Erkennbarkeit des kirchlichen Handelns und richtet sich an die 1 Einen knappen Überblick zu neuen Gottesdienstformen wie „Thomasmesse“ und „GoSpecial“ bietet Lutz Friedrichs (Hg.): Alternative Gottesdienste, Hannover 2007. 390 Leseprobe aus Meyer-Black: Gottesdienstlehre (c) 2011 Mohr Siebeck www.mohr.de

2. Der Sonntagsgottesdienst als Modell liturgischer Kunst lokale Öffentlichkeit (→ § 21). Der Besuch des Sonntagsgottesdienstes ist auch ein Indikator für die sonstigen Aktivitäten und die Lebendigkeit im Sinne des Erfolges einer Gemeinde, soweit Erfolg in Zahlen gemessen werden kann. In gemeindepädagogisch und missionarisch aktiven und nach außen wirkenden Gemeinden erhöht sich auch der Besuch des Sonntagsgottesdienstes. 2 Das gilt trotz der vielfach beschriebenen soziokulturell bedingten Veränderung des Wochenendes und der Sonntagsgestaltung (Herrmann-Stojanow 125–130). Seit der Reformation ist der Öffentlichkeitscharakter des Gottesdienstes besonders betont worden. Die Gemeinde versammelt sich, um das Evangelium in der eigenen Umgebung und damit in der gesamten Welt, der „Ökumene“ laut werden zu lassen. Das öffentliche Lehren, das „publice docere“ (→ § 17.4), steht damit zugleich für die ökumenische Orientierung des Gottesdienstes. Es handelt sich beim Gottesdienst nicht um eine Vereinsversammlung von Kirchenmitgliedern oder von Menschen mit bestimmten Ansichten, sondern um das „gute Geschrei“ von Christus, der allen Menschen Hilfe anbietet (→ § 3.4). Darum ist nach dem deutschen religionsverfassungsrechtlichen (staatskirchenrechtlichen) Verständnis auch das Läuterecht am Sonntag Bestandteil der positiven Religionsfreiheit, wie sie in Art. 4,2 des Grundgesetzes geregelt ist. 3 Auch die Kasualien sind öffentliche Gottesdienste, zu denen mit Glockengeläut geladen wird. 2.2 Wichtig ist der Sonntagsgottesdienst schließlich auch für die Entwicklung der liturgischen Professionalität in der Ausbildung: Die dort gemachte Erfahrung eröffnet den liturgisch Tätigen Sicherheit bei der Gestaltung auch anderer liturgischer Aufgaben. Denn für das liturgische Handeln ist eine Form von situativ wacher Routine notwendig. Diese unterscheidet sich sowohl von Unsicherheit als auch von spannungsloser und unaufmerksamer Gewohnheit. Bei der angemessenen Routine gibt die Form die notwendige Sicherheit, um situativ genau wahrnehmen und reagieren zu können. Je formbewusster und routinierter, desto flexibler und zugewandter kann man auf die Situation eingehen, während das starre Festhalten an Formen meistens das Ergebnis mangelnder Routine oder unzureichender eigener Durchdringung der jeweiligen Handlungsform ist. Weil mangelnde liturgische Bildung zu einem lediglich imitierenden statt zu einem eigenständig vollzogenen Handeln führt, lässt sich die handlungsorientierte Perspektive des Gottesdienstes nicht isoliert beschreiben. Sie bedarf des liturgischen Wissens und Verstehens, die bisher in diesem Buch ent- „publice docere“ Modellcharakter Professionalität und Routine 2 Wilfried Härle u.a. (Hg.): Wachsen gegen den Trend: Analysen von Gemeinden, mit denen es aufwärts geht, Leipzig 2008. 3 Dazu vgl. Hartwig A. Niemann: Glocken, in: TRE 13, 446–452: 451. Leseprobe aus Meyer-Black: Gottesdienstlehre (c) 2011 Mohr Siebeck www.mohr.de 391

§ 35 Liturgische Kunst als gebildete Routine<br />

2. Der Sonntagsgottesdienst als Modell liturgischer Kunst<br />

Am Anfang stehen einige pastoraltheologische Überlegungen zum liturgischen<br />

Handeln, in denen der Sonntagsgottesdienst als besonders geeigneter<br />

Gegenstand und das Künstlerische als wichtiges Charakteristikum pastoralen<br />

Handelns deutlich werden wird. Wer sich auf das Pfarramt vorbereitet, wird<br />

am Sonntagsgottesdienst das Zusammenspiel von Wort und rituellem Handeln,<br />

das jeweils Besondere verschiedener liturgischer Handlungsformen und<br />

deren inneren Zusammenhang lernen. Und wer nicht in einer großen Stadtgemeinde<br />

(mit vielen Taufen bzw. Beerdigungen), sondern in einer Landgemeinde<br />

mit mehreren „Predigtstellen“ tätig ist, wird vor allem immer wieder<br />

neu den Sonntagsgottesdienst zu gestalten haben.<br />

Der Sonntagsgottesdienst stellt in mehrfacher Hinsicht den „Normalfall“<br />

(Fechtner/Friedrichs) und darüber hinaus auch den Modellfall des Gottesdienstes<br />

dar. Auch die besonderen Formen von Gottesdienst, die sich in<br />

den letzten Jahren herausgebildet haben, lassen sich von der offenen, viele<br />

Variationen ermöglichenden „Grundform II“ (Predigtgottesdienst) her erschließen.<br />

Gerade für die Gestaltung offener Gottesdienstformen ist es wichtig,<br />

den Weg zum Beten und Hören und zurück in den Alltag sorgfältig im<br />

Blick zu behalten, so dass Gottesdienst und Diskussionsveranstaltung unterschieden<br />

bleiben. Von daher hilft das genaue Bedenken der Normalform als<br />

Modell auch bei der Gestaltung neuer Formen.<br />

Die alternativen Gottesdienste sind meistens besondere Formen des Predigtgottesdienstes.<br />

Ein Beispiel dafür ist der monatlich (jeweils sonntags von 11–12.15 Uhr im<br />

„Kinopolis“ in Sulzbach) stattfindende Gottesdienst „GoSpecial“, der sich durch andere<br />

Beteiligungsformen auszeichnet. „GoSpecial“ enthält in der Eröffnung ein Theaterstück,<br />

dann eine Predigt vom Bistrotisch und ein anschließendes „Kreuzverhör“<br />

des Predigers durch die Anwesenden sowie ein Interview zum Thema mit dem Erfahrungsbericht<br />

eines vom jeweiligen Thema betroffenen Menschen („Interview“), bevor<br />

Fürbitten und Vaterunser sowie Schlussmoderation und Musik diesen als „niederschwellig“<br />

bezeichneten Gottesdienst beenden. Er wird von jeweils 500–700 Teilnehmern<br />

besucht und von ihnen geben 40% an, sonst selten oder nie einen Gottesdienst<br />

zu besuchen. 1<br />

„Normalfall“<br />

Sonntagsgottesdienst<br />

Öffentlichkeitscharakter<br />

2.1 Außerdem wurde schon darauf hingewiesen, dass der Sonntagsgottesdienst<br />

mit etwa 1 Million Besuchern an jedem Sonntag nicht nur die meistbesuchte<br />

kirchliche Veranstaltung, sondern auch eine der am besten besuchten<br />

Versammlungen im Rahmen der Kultur darstellt. Der regelmäßig stattfindende<br />

Sonntagsgottesdienst steht auch für die Öffentlichkeit, Verlässlichkeit<br />

und Erkennbarkeit des kirchlichen Handelns und richtet sich an die<br />

1 Einen knappen Überblick zu neuen Gottesdienstformen wie „Thomasmesse“ und<br />

„GoSpecial“ bietet Lutz Friedrichs (Hg.): Alternative Gottesdienste, Hannover 2007.<br />

390<br />

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(c) 2011 <strong>Mohr</strong> <strong>Siebeck</strong> www.mohr.de

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