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Buch 6

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ARMAVIRUMQUECANOTROIAEQUIP<br />

RIMUSABORISITALIAMFATOPROFUG<br />

USLAVINAEQUEVENITLITORAMULT<br />

UMILLEETTERRISIACTATUSETALTO<br />

AENEIS BUCH 6<br />

VISPERUMSAEVAEMEMOREMIUNON<br />

PUBLIUS VERGILIUS MARO<br />

ISOBIRAMMULTAQUOQUEETBELLO<br />

Deutsche, kostenlose Übersetzung<br />

Frederic Laudenklos<br />

PASSUSDUMCONDERETURBEMINFE<br />

RRETQUEDEOSLATIOGENUSUNDEL<br />

ATINUMALBANIQUEPATRESATQUEL<br />

ATAEMOENIAROMAEMUSAMIHICAU<br />

SASMEMORAQUONNUMINELAESOQ<br />

UIDVEDOLENSREGINADEUMTOTVO<br />

LVERECASUSINIGNEMPIETATEVIRU<br />

MTOTADIRELABORESIMPULERITTA<br />

NTANTAENEANIMISCAELESTIBUSIR<br />

ASEURBSANTIQUAFUITTYRIITENUE<br />

RECOLONIKARTHAGOITALIAMCONT<br />

RATIBERINAQUELONGEOSTIADIVES<br />

OPUMSTUDIISQUEASPERRIMABELLI<br />

QUAMIUNOFERTURTERRISMAGISON


Aeneis <strong>Buch</strong> 6<br />

So sprach er unter Tränen, ließ die Zügel für die Flotte schießen und endlich landeten sie an der<br />

euböischen Küste von Cumae. Die Schiffe wandten ihren Bug dem Meer zu. Dann befestigte der<br />

Anker mit seinem festhaltenden Haken nach und nach die Schiffe und die rundlichen Schiffshecks<br />

säumten die Küste. Die Schar der jungen Männer springt begehrend an die Küste Hesperiens. Ein Teil<br />

suchte nach in den Adern der Feuersteine verborgenen Feuerfunken, ein anderer Teil stürzte sich in<br />

die dichten Behausungen der wilden Tiere, die Wälder, und zeigt den anderen aufgefundene Flüsse.<br />

Aber der pflichtbewusste Aeneas eilte zu den Berggipfeln, welchen der erhabene Apollo (10) vorsteht<br />

und fern in die Abgeschiedenheit, zur gewaltigen Höhle der Furcht erregenden Sibylle, welcher der<br />

Orakelgott Delius einen großen Verstand und großen Geist einhaucht und die Zukunft eröffnet.<br />

Schon näherten sie sich den Hainen der Trivia sowie den goldenen Dächern. Daedalus, so geht die<br />

Sage, der vor dem minoischen Königreich floh, wagte es sich mit geflügelten Schwingen dem Himmel<br />

anzuvertrauen, flog auf ungewohnter Route zu den eisigen Bären und kam schließlich sanft auf der<br />

chalkidischen Berghöhe zum Stehen. In diesen Ländereien gelandet weihte er zuerst dir, Phoebus,<br />

sein geflügeltes Ruderwerk und errichtete dir eine gewaltige Tempelanlange. (20) Auf den Türen ist<br />

der Tod, der Androgeus ereilte, zu sehen. Dann waren die Cecropiden zu sehen, (die Armen!) denen<br />

befohlen wurde als Strafe jedes Jahr sieben Kindesleiber zu opfern. Dort stand die Urne, nachdem<br />

die Lose gezogen waren. Auf der anderen Seite lag entsprechend die Insel Kreta, die sich aus dem<br />

Meer erhob. Hier war die grausame Liebe zum Stier dargestellt, sowie die heimlich untergeschobene<br />

Pasiphae, der Zwittersprössling, der zweigestaltige Nachkomme Minotaurus, als Denkmäler der<br />

unsäglichen Liebeslust, hier jenes Haus und die dazugehörige Strapaze sowie der unentrinnbare<br />

Irrgarten. Doch Daedalus selbst erbarmte sich der großen Liebe der Königstochter und löste die List<br />

und die Irrwege des Hauses auf, indem er seine orientierungslosen Schritte mit einem Faden lenkte.<br />

(30) Auch du, Ikarus, hättest in dem so großen Werk einen Platz, wenn es der Schmerz zugelassen<br />

hätte. Zweimal versuchte er, dein Unglück in Gold zu prägen, zweimal fielen dem Vater die Hände<br />

herab. Ja, sie hätten mit ihren Augen unverzüglich alle Darstellungen durchstreift, wenn nicht bereits<br />

der vorausgeschickte Achates gemeinsam mit der Priesterin des Phoebus und der Trivia, Deiphobe,<br />

Tochter des Glaucus zur Stelle gewesen wäre. Die Priesterin sagte dem König folgendes: „Es ist nicht<br />

die Zeit, die Darstellungen zu betrachten. Jetzt wäre es vordringlich aus einer unversehrten Herde<br />

sieben junge Stiere zu schlachten und ebenso viele gemäß dem Brauch ausgewählte Schafe.“ (40)<br />

Nachdem sie mit solchen Worten Aeneas angesprochen hatte (und die Männer säumten nicht, die<br />

befohlenen Opfer zu leisten) rief die Priesterin die Teucrer in die erhabene Tempelanlage.<br />

Eine Seite des euböischen Felsens war zu einer gewaltigen Höhle herausgehauen, wo hundert breite<br />

Eingänge hineinführten, hundert Mündungen, woraus ebenso viele Stimmen drangen, Antworten der


Sibylle. Man hatte die Schwelle erreicht, als die Jungfrau sprach: „Es ist Zeit, die Göttersprüche zu<br />

forden. Der Gott – siehe! Der Gott!“ Der vor den Toren solches sprechenden Seherin verblieb keine<br />

Mimik mehr, keine einzige Gesichtsfarbe, kein Haar verblieb mehr, wie es gekämmt wurde. Sondern<br />

die keuchende Brust und das vor Raserei wilde Herz waren geschwollen. Sie schien größer und klang<br />

(50) nicht mehr sterblich, als sie von der schon näheren Macht des Gottes angeweht wurde. Sie<br />

sagte: „Zögerst du mit Gelübden und Gebeten, Trojaner Aeneas? Zögerst du? Denn vorher tun sich<br />

die großen Schlünde der betäubten Wohnstätte nicht auf.“ Und nachdem sie solches gesagt hatte,<br />

verstummte sie. Den Teucrern lief eisiges Grausen durch ihre harten Gebeine. Der König brachte aus<br />

tiefster Brust diese Gebete hervor: „Phoebus, der du dich immer den beschwerlichen Strapazen der<br />

Trojaner erbarmt hast, der du die dardanischen Waffen des Paris und seine Hand gegen den Körper<br />

des Aeciden gelenkt hast: Ich habe so viele Meere, die große Länder umspülen, unter deiner Führung<br />

befahren, gänzlich die verborgenen Stämme der (60) Massyler bereist und bei den Syrten die<br />

vorgelagerten Fluren. Hoffentlich ist Trojas Schicksal nur bis hier her gefolgt. Es ist ein göttliches<br />

Recht, dass auch ihr das Volk Pergamons verschont, ihr alle Götter und Göttinnen, denen Ilium und<br />

der gewaltige Ruhm der Dardaner im Wege stand. Auch du, oh allerheiligste Seherin, die du über die<br />

kommenden Dinge bescheid weißt, gewähre, dass sich die Teucrer, sowie ihre herumirrenden Götter,<br />

die getriebenen Wirkmächte Trojas in Latium niederlassen können (ich fordere kein Königreich, das<br />

ich gemäß meines Schicksals nicht verdient hätte). Dann will ich dem Phoebus und der Trivia aus<br />

massivem Marmor einen Tempel (70) errichten, sowie Festtage, nach Phoebus benannt, abhalten.<br />

Auch für dich wartet ein großes Heiligtum in meinem Königreich. Hier werde ich deine<br />

Schicksalsverheißungen sowie deine geheimnisvollen Weissagungen, die du meinem Stamm gemacht<br />

hast, ablegen. Und ich werde hierfür auserwählte Männer weihen, du Gütige. Vertraue die<br />

Weissagungen nur nicht den Blättern an, damit sie nicht als ein für die reißenden Winde<br />

durcheinander gebrachtes Spielzeug umherfliegen, sondern prophezeihe sie bitte selbst!“ Damit<br />

endete er. Doch die Seherin schwärmte, die den gewaltigen Phoebus noch nicht ertragen konnte, in<br />

der Höhle umher, um womöglich den großen Gott aus ihrer Brust herauszustoßen. Umso mehr setzte<br />

jener ihrem (80) rasenden Mund hart zu, bezähmte ihr wildes Herz und bändigte sie durch Druck.<br />

Und schon standen einhundert gewaltige Öffnungen der Höhle aus eigenem Antrieb offen und tragen<br />

die Antworten der Seherin zu den Ohren der Männer: Oh Aeneas, der du endlich den großen<br />

Gefahren des Meeres ein Ende gemacht hast (doch auf der Erde warten schlimmere auf dich!) – die<br />

Dardaner werden zu den Königreichen Laviniums kommen (entlasse diese Sorge aus deiner Brust),<br />

doch sie werden wollen, nie dort angekommen zu sein. Ich erkenne Kriege, schreckliche Kriege, und<br />

den Fluss Thybris, der vor lauter Blut schäumt. Dir werden weder der Simoisstrom, noch der Xanthus<br />

noch das dorische Lager fehlen. Und schon ist der zweite Achilles in Latium geboren, (90) auch er ist<br />

ein Sprössling einer Göttin. Auch wird die den Teucrern hinzugegebene Iuno nirgendwo fehlen,


wenn du demütig und in der Not alle möglichen Stämme und Städte der Italer um Beistand bittest!<br />

Erneut wird eine Gattin der Grund für das so große Übel für die Teucrer sein, erneut ein Gast und<br />

eine fremde Hochzeit. Weiche nicht den Übeln aus, sondern gehe ihnen recht kühn entgegen, so, wie<br />

es dein Glück zulässt. Der erste Weg zur Hoffnung (was du am wenigstens vermutest) öffnet sich dir<br />

von einer griechischen Stadt aus.“<br />

Mit solchen Worten prophezeite die Sibylle von Cumae schreckliche Unklarheiten, (100) während sie<br />

Wahres mit Verborgenem vermischte: und hallte in der Höhle wieder. Apollon schüttelte der<br />

Rasenden die Zügel und wandte ihr den Stachel unter die Brust. Sobald die Raserei wich und sich die<br />

rasenden Gesichtszüge beruhigten, begann der Held Aeneas zu sprechen: „Nicht eine einzige, neue<br />

oder unvermutete Erscheinung einer Strapaze, oh Jungfrau, erhebt sich mir. Ich habe bereits alle<br />

vorweggenommen und schon zuvor in meinem Geiste für mich zu Ende geführt. Um eines bitte ich<br />

dich: Da ja hier angeblich der Eingang des Königs der Unterwelt sowie der schattenreiche Sumpf ist,<br />

wo sich der Acheron ergießt, möge es möglich sein in das Blickfeld und vor das Antlitz meines lieben<br />

Vaters zu treten. Du mögest mir den Weg zeigen und mir die heiligen Eingänge öffnen. (110) Jenen<br />

habe ich auf diesen Schultern durch die Flammen und durch die eintausend dicht aufeinander<br />

folgenden Pfeilen gerettet und habe ihn mitten aus Feindes Hand befreit. Er ertrug als Begleiter<br />

meine Reise, mit mir alle Meere sowie alle Drohungen des Meeres und des Himmels, schwach und<br />

doch weit über seine Kräfte und dem Los seines Alters hinaus. Ja, derselbe gab mir auch bittend den<br />

Auftrag, dass ich dich demütig bitten und zu deiner Stätte gehen sollte. Ich bitte dich, Gütige,<br />

erbarme dich des Sohnes und des Vaters (du kannst nämlich alles und Hecate hat dich nicht umsonst<br />

dem Avernerhain vorangestellt), wenn es Orpheus vermochte, die Totengeister seiner Gattin zu<br />

forden, indem er auf seine (120) thrakische Zither und auf ihr treues Spiel vertraute, wenn Pollux<br />

seinen Bruder durch seinen eigenen Tod loskaufen konnte und so oft den Weg hin und zurückging.<br />

Wozu soll ich Theseus, wozu den großen Hercules erwähnen? Auch ich stamme vom äußerst<br />

erhabenen Jupiter ab.“<br />

Mit solchen Worten bat er sie und berührte die Altäre, als die Seherin so zu sprechen begann: „Du<br />

Spross vom Blut der Götter, Trojaner, Sohn des Anchises, leicht ist der Abstieg in die Unterwelt: Die<br />

Pforte zum finsteren Dis steht Tag und Nacht offen. Aber den Schritt zurückzuwenden und zu den<br />

Lüften der Oberwelt hinaufzusteigen – dies ist eine Arbeit, dies ist eine Strapaze! Nur wenige<br />

konnten das – nur diejenigen, die der gerechte Jupiter liebte, oder welche, die ihre eifrige Tugend zur<br />

Oberwelt erhob; Göttersöhne! Wälder besetzten die gesamte mittlere Region und der Cocytus<br />

umgibt sie in finsterer Wölbung fließend. Wenn aber das Verlangen des Geistes so groß ist, wenn die<br />

Begierde so groß ist, zweimal den stygischen See zu befahren, zweimal den schwarzen Tartarus zu<br />

sehen und wenn es dir gefällt, dich einer wahnsinnigen Strapaze hinzugeben, vernimm, was zuvor


erledigt werden muss! Es verbirgt sich an einem schattigen Baum ein Zweig, der samt seinem Laub<br />

und dem geschmeidigen Holz golden ist. Man nannte ihn der Iuno, Göttin der Unterwelt, heilig.<br />

Diesen schützt der ganze Hain und ihn umschließen die Schatten in den düsteren Talkesseln. (140)<br />

Doch nicht eher wird es gewährt, ins Innere der Erde hinabzusteigen, bevor nicht jemand den<br />

goldbelaubten Zweig vom Baum gepflückt hat. Die schöne Proserpina hat bestimmt, dass dieses<br />

Geschenk ihr gebracht wird. Nachdem der erste Zweig abgerissen wurde, wird ein zweiter golden<br />

nachwachsen und der Zweig wird aus gleichem Metall blühen. Halte also nach oben hin mit deinen<br />

Augen Ausschau und pflücke ihn, wenn du ihn gefunden hast, wie es der Brauch verlangt mit der<br />

Hand: Denn von sich aus willig wird er leicht deinem Ziehen folgen, sofern dich die Göttersprüche<br />

rufen. Ansonsten könntest du ihn mit keinen Kräften überlisten, auch nicht mit dem harten Schwert<br />

abreißen. Übrigens liegt für dich der leblose Körper eines Freundes darunter (150) (ach, das weißt du<br />

noch gar nicht!) und befleckt die ganze Flotte mit seiner Leiche, während du meine Beschlüsse<br />

erbittest und auf meiner Schwelle stehst. Bringe ihn erst in seine Wohnstätte zurück und birg ihn in<br />

ein Grab. Führe schwarze Schafe herbei. Diese sollen das erste Sühneopfer sein. So wirst du endlich<br />

die stygischen Haine und das für Lebende unbegehbare Königreich erblicken.“ Dies sagte sie und<br />

verstummte, nachdem sie ihre Lippen zusammengepresst hatte.<br />

Aeneas, der die Höhle verließ, schritt mit gesenktem Blick und traurigem Antlitz einher und<br />

beschäftigte sich im Geiste mit dem dunklen Ereignissen. Ihn begleitete der treue Achates und<br />

marschierte mit gleichen Sorgen. (160) Untereinander reihten sie im bunten Gespräch viele<br />

Gedanken aneinander: Welchen toten Kameraden die Seherin nannte, welchen Körper man<br />

beerdigen müsse. Und sobald sie an den trockenen Sandstrand kamen, sahen sie Misenus, der von<br />

einem unwürdigen Tod vernichtet wurde – Misenus, der Aeolide, woran gemessen kein zweiter<br />

hervorragender darin war, mit der Tuba die Männer anzutreiben und mit dem Spiel den Krieg zu<br />

entflammen. Dieser war ein Begleiter des großen Hectors. In Hectors Gefolge ging er den Kämpfen<br />

sowohl durch das Signalhorn als auch durch die Lanze auffallend entgegen. Nachdem der Sieger<br />

Achilles Hector des Lebens beraubt hatte, tat sich der äußerst tapfere Held Misenus dem Dardaner<br />

Aeneas (170) als Bundesgenossen hinzu und folgte damit keinem schlechteren Los. Aber dann,<br />

während er – der Wahnsinnige! – zufällig durch eine hohle Muschel das Meer erklingen ließ, rief er<br />

durch sein Spielen die Götter zu einem Wettstreit auf und der eifersüchtige Triton tauchte den Mann,<br />

den er gefangen genommen hatte, zwischen den Felsen in die schäumenden Wogen, wenn man das<br />

glauben darf. Also lärmten ringsum alle mit großem Geschrei, vor allem der pflichtbewusste Aeneas.<br />

Dann führten alle weinend, eilends und ohne Verzug die Befehle der Sibylle aus. Sie wetteiferten<br />

einen Scheiterhaufen aus Bäumen zusammenzutragen und ihn bis zum Himmel aufzutürmen. Man<br />

geht in den alten Wald, zu den hohen Stallungen der wilden Tiere. (180) Die Kiefer fielen vornüber,


die vom Beil gefällte Steineiche und die Balken von der Esche krachten. Man schnitt das gespaltene<br />

Hartholz. Die Männer rollten gewaltige Steineschen von den Bergen einher.<br />

Und Aeneas feuerte die Kameraden als erster bei den derartigen Arbeiten an und umgürtete sich mit<br />

denselben Werkzeugen. Und während er den gewaltigen Wald betrachtete wälzte er selbst diese<br />

Gedanken in seinem traurigen Herzen hin und her: „Wenn sich uns doch jetzt im so großen Hain<br />

jener goldene Ast am Baum zeigen würde! Weil die Seherin über dich alles – ach! – allzu wahr<br />

gesprochen hat, Misenus.“ (190) Kaum hatte er das gesagt, als zufällig ein Taubenpaar vor dem<br />

Antlitz des Mannes fliegend vom Himmel herbeikam und sich auf den grünen Waldboden setzte.<br />

Dann erkannte der äußerst erhabene Held die mütterlichen Vögel und betete heiter: „Möget ihr<br />

meine Führer sein, oh, falls es einen Weg gibt: Lenkt den Kurs durch die Lüfte in den Hain, wo der<br />

reichbelaubte Ast einen Schatten auf den fruchtbaren Boden wirft. Und du, göttliche Mutter, stehe<br />

mir bei der unsicheren Angelegenheit bei!“ Nachdem er so gesprochen hatte, blieb er stehen,<br />

während er beobachtete, welche Zeichen die Tauben gaben und wohin sie zu ziehen drängten. Jene<br />

drangen fressend nur soweit vor, (200) wie die Folgenden sie mit ihrer Sehschärfe wahrnehmen<br />

konnten. Sobald sie dann zu den übelstinkenden Schluchten des Avernus gekommen waren, erhoben<br />

sich die beiden Vögel in die klare Luft und nachdem sie durch die Lüfte geglitten waren, ließen sie<br />

sich auf ihren gewünschten Ruheplätzen oben am Baum nieder, von wo das Buntfarbige des Goldes<br />

zwischen den Ästen im Tageslicht strahlte. Wie für gewöhnlich in den Wäldern die Mistel bei<br />

winterlicher Kälte mit neuem Laub grünt, die der Baum nicht von sich aus gesät hat, und welche die<br />

runden Baumstämme mit der safrangelben Frucht umgibt. So beschaffen war die Gestalt des<br />

blühenden Goldes an der schattigen Steineiche, so rauschten die dünnen Metallblättchen im sanften<br />

Wind. (210) Sofort riss ihn Aeneas an sich und brach gierig den zähen Ast ab. Er trug ihn in die<br />

Wohnstätte der Seherin Sybille. Um nichts weniger beweinten unterdessen die Teucrer an der Küste<br />

Misenus und erwiesen der undankbaren Asche die letzte Ehre. Zuerst errichtete sie ihm einen<br />

Scheiterhaufen mit reichlich Kienholz und gesägtem Hartholz, bedeckten für ihn seinen Leib mit<br />

dunklem Laub und stellten vorn Trauerzypressen auf. Oben schmückten sie den Scheiterhaufen mit<br />

funkelnden Waffen. Ein Teil machte die warmen Flüssigkeiten und die auf den Flammen siedenden<br />

Bronzetöpfe bereit, sie wuschen den Leichnam des erstarrten Mannes und salbten ihn. (220) Sie<br />

seufzten. Danach legten sie die beweinten Glieder zurück auf das Totenbett und warfen darüber<br />

purpurne Tücher, die üblichen Totenschleier. Der andere Teil schulterte die gewaltige Totenbahre,<br />

ein trauriger Dienst, und abgewandt hielten sie nach väterlichem Brauch die Fackeln an den Haufen.<br />

Zusammengetragen verbrannten Gaben aus Weihrauch sowie Speisen mit Olivenöl, aus Mischkrügen<br />

gegossen. Nachdem die Asche in sich zusammengefallen war und sich das Feuer beruhigt hatte,<br />

wuschen sie die Reste und die sich vollsaugende Asche mit Wein. Nachdem er die Knochen<br />

zusammengelesen hatte, barg sie Corynaeus in einem ehernen Weinkrug. Derselbe verteilte um


seine Kameraden dreimal klares Wasser, (230) indem er sie mit feinem Tau benetzte, sowie mit<br />

einem Zweig eines fruchtbaren Olivenbaums berührte. Er entsühnte die Männer und sprach den<br />

letzten Gruß. Aber der pflichtbewusste Aeneas errichtete dem verstorbenen Mann ein Grabmal von<br />

gewaltiger Masse und legte an den Fuße des in die Lüfte ragenden Hügels, der nun nach jenem<br />

‚Misenus‘ genannt wird, und durch die Jahrhunderte den ewigwährenden Namen behält, seine<br />

Waffen, ein Ruder und eine Tuba.<br />

Nachdem das Begräbnis ausgeführt worden war, verfolgte man rasch die Vorgaben der Sibylle. Es gab<br />

eine tiefe Höhle, gewaltig durch ihren weiten Schlund, schroff, sie war von einem schwarzen See und<br />

durch die Finsternis der Wälder geschützt, über der die Vögel nicht mit einem einzigen Flügelschlag<br />

ihre Bahn (240) ziehen konnten: Eine solche Ausdünstung, welche sie aus ihrer dunklen Schlucht<br />

ausströmte, reichte bis zum Himmelsgewölbe. Deshalb nannten die Griechen den Ort Aornus. Hier<br />

stellte die Priesterin zum ersten Mal vier junge Stiere mit schwarzem Rücken auf und goss Wein auf<br />

deren Stirn. Und als sie ganz oben, mitten zwischen den Hörnern die Borsten ausriss, warf sie sie ins<br />

heilige Feuer als erstes Opfer. Mit ihrer Stimme rief sie Hecate, Bezwingerin der Ober‐ und der<br />

Unterwelt. Andere setzten den Tieren von unten das Opfermesser an die Kehle und nahmen mit den<br />

Opferschalen das warme Blut auf. (250) Aeneas selbst schlachtete ein Schaf mit schwarzer Wolle für<br />

die Mutter der Eumeniden und für die große Schwester, für dich Proserpina, eine ertraglose Kuh.<br />

Dann errichtete er für den stygischen König nächtliche Altäre und warf das unzerteilte Fleisch der<br />

Stiere ins Feuer. Auf die brennenden Eingeweide goss er dickflüssiges Öl. Sieh aber, unter der<br />

Schwelle der ersten Sonne und vor der ersten Morgendämmerung dröhnte unter ihren Füßen der<br />

Boden und die bewaldeten Bergrücken begannen sich zu bewegen. Die Hunde schienen durch die<br />

Schatten zu heulen, als die Göttin ankam. „Fern, bleibt fern, ihr Uneingeweihten“, schrie die Seherin,<br />

„entfernt euch aus dem ganzen Hain.“ (260) Du beschreite den Weg und reiß‘ das Schwert aus der<br />

Scheide: Nun ist Mut von Nöten, Aeneas, nun ein gefestigtes Gemüt.“ Während sie nur dies rasend<br />

gesprochen hatte, stürzte sie sich in die offene Höhle. Aeneas zog mit seiner Führerin sicheren<br />

Schrittes gleich.<br />

Götter, die ihr den Oberbefehl über alle Seelen habt, und ihr ruhigen Schatten, Chaos und<br />

Phlegethon, ihr in der Nacht weit und breit schweigende Ländereien, es sei mir erlaubt, Gehörtes<br />

auszusprechen; es sei euer göttlicher Wille die in der tiefen Erde und in der Finsternis verborgenen<br />

Ereignisse darzulegen.<br />

Sie gehen unter der einsamen Nacht der Finsternis durch die Schatten, durch den leeren Palast der<br />

Unterwelt und durch das leere Königreich: (270) Genauso ist bei schwachem Mondschein im<br />

böswilligen Zwielicht der Weg in den Wäldern, sobald Jupiter den Himmel in einem Schatten


verborgen und die finstere Nacht den Dingen ihre Farbe geraubt hat. Vor dem Vorhof selbst und in<br />

den ersten Schluchten des Orcus hatten die Göttin der Trauer und die Gewissensqualen ihre<br />

Lagerstätten, und es wohnten dort die bleichen Krankheiten sowie das traurige Greisenalter; auch<br />

die Furcht, der übelratenden Hunger und die verderbliche Armut: schrecklich anzusehende<br />

Gestalten, der Tod und der Pein. Dann auch der Blutsverwandte des Todes, der Schlaf, und die<br />

schlechten Freuden des Geistes; an der gegenüberliegenden Schwelle der todbringende Krieg. (280)<br />

Da auch die eisernen Schlafgemächer der Eumeniden und die wahnsinnige Zwietracht, die ihr<br />

Schlangenhaar mit blutigen Binden umflochten hatte. In der Mitte breitete eine schattige Ulme ihre<br />

Zweige und bejahrten Äste aus, gewaltig: Allgemein sagt man, säßen auf ihr die eitlen Träume und sie<br />

hingen unter allen Blättern herab. Darüber hinaus gab es viele Ungeheuer von verschiedener Gestalt:<br />

An den Türflügeln hausten die Zentauren, und die zweigestaltigen Scyllae, der Briareus mit seinen<br />

einhundert Händen, sowie die lernäische Schlange, die ungeheuerlich zischte, die mit Flammen<br />

bewaffnete Chimaera, die Gorgonen, die Harpyien und die Gestalt eines Schattens mit drei Körpern.<br />

(290) Hier ergriff der zitternde Aeneas aufgrund plötzlicher Furcht hastig sein Schwert und hielt die<br />

gezogene Schneide den auf ihn zukommenden Gestalten entgegen, und wenn ihn nicht seine kundige<br />

Führerin ermahnt hätte, dass die schemenhaften Lebewesen nur mit dem hohlen Trugbild einer<br />

Gestalt umherflogen, hätte er sich auf sie gestürzt und vergebens mit dem Schwert die Schatten<br />

zerschlagen.<br />

Von hier verlief der Weg, der zu den Wassern des tartarischen Acheron führte. Hier wogt vom<br />

Schlamm getrübt und mit einem gewaltigen Schlund sein Strudel und stieß den ganzen Sand in den<br />

Cocytusstrom. Als schrecklicher Fährmann behütet Charon, voll von fürchterlichem Schmutz, diese<br />

Gewässer und die Flüsse. Sein reichlich (300) graues Haar lag ihm ungepflegt am Kinn. Seine Augen<br />

standen in Flammen, und sein schmutziger Umhang hing von den Schultern geknotet herab. Er selbst<br />

trieb das Boot mit der Ruderstange flussaufwärts, bediente die Segel und transportierte auf dem<br />

rostfarbenen Kahn die Leichen hinauf. Er war schon älter, doch dem Gott war noch ein rüstiges und<br />

frisches Alter zu eigen. Hierhin eilte die ganze Menge, die zu den Ufern geströmt war: Gestandene<br />

Frauen und Männer, Leichen mutiger Helden nach Vollendung ihres Lebens, aber auch Jungen und<br />

unverheiratete Mädchen sowie junge Männer, die vor dem Antlitz ihrer Eltern auf Scheiterhaufen<br />

gelegt wurden: So zahlreich, wie im Wald beim ersten Frost des Herbstes die Blätter (310) herab<br />

gleiten und fallen oder wie die Vögel im Schwarm vom hohen Meer aufs Land fliegen, sobald sie die<br />

kalte Jahreszeit über das Meer in die Flucht schlägt und sie zu sonnigen Ländern schickt. Sie standen<br />

da, baten darum, als Erste hinüberfahren zu dürfen und streckten die Hände aus Liebe zum<br />

jenseitigen Ufer aus. Der finstere Seemann aber nahm bald diese, bald jene auf, hielt die anderen<br />

jedoch, die er weithin vertrieb, vom Strand fern. Aeneas, der über den Aufruhr bestürzt war,<br />

wunderte sich freilich und sagte: „Sprich, oh Jungfrau, was will der Zusammenlauf am Fluss? Was


erstreben die Seelen? Oder anhand welcher Unterscheidung verlassen (320) diese die Ufer wieder<br />

und jene fegen mit den Rudern die klaren Wassern?“ Die hochbetagte Priesterin antwortete ihm kurz<br />

folgendermaßen: „Sohn des Anchises, ganz gewisser Spross der Götter, du siehst die silbrigen Wasser<br />

des Cocytus und den stygischen See, bei dessen Wirkkraft die Götter fürchten einen Meineid zu<br />

schwören. Diese ganze Menge, die du erkennst, ist mittellos und unbegraben: Jener Fährmann ist<br />

Charon. Und diejenigen, die das Wasser trägt, sind begraben. Es ist nicht gestattet jemanden über<br />

die Ufer und über die dumpf rauschenden Fluten zu fahren, ehe die Gebeine in ihrer Grabstätte<br />

ruhen. Einhundert Jahre irren und schwirren sie um diese Ufer. (330) Dann endlich haben sie die<br />

Erlaubnis und besuchen erneut den ersehnten See.“ Der Sohn des Anchises machte Halt und blieb<br />

stehen, während er vieles bedachte, und hatte in seinem Gemüt Mitleid mit deren ungerechtem<br />

Schicksal. Dort erkannte er die traurigen und die Totenehre missenden Männer Leucraspis und den<br />

Anführer der lycäischen Flotte, Orontes, die, als sie gemeinsam mit ihm von Troja aus über die<br />

stürmische See gefahren waren, der Südwind vernichtete, indem er die Schiffe und die Männer in das<br />

Wasser gewälzt hatte.<br />

Sieh, da kam der Steuermann Palinurus, der jüngst auf lybischer Route, während er die Sterne<br />

beobachtete, vom Heck fiel und mitten in die Fluten stürzte. (340) Sobald er diesen traurigen Mann<br />

kaum in den vielen Schatten erkannt hatte, sprach er ihn zuerst so an: „Welcher der Götter hat dich,<br />

Palinurus, uns entrissen und mitten unter die Meeresoberfläche getaucht? Sage es mir! Denn Apollo,<br />

der mir zuvor nie trügerisch begegnet war, hat bei dieser einen Antwort meinen Geist verspottet, der<br />

prophezeite, dass du über das Meer und zu den ausonischen Gebieten unversehrt kommen würdest.<br />

Siehe, sind diese Versprechen etwa ehrlich?“ Jener aber antwortete: „Weder hat dich das Orakel des<br />

Phoebus getäuscht, du Führer, Sohn des Anchises, noch hat mich ein Gott in das Meer getaucht.<br />

Denn ich hing an dem zufällig mit großer Gewalt losgerissenem Steuerrad, (350) dem ich als Wächter<br />

zugeteilt wurde, lenkte den Kurs und habe es dann stürzend mit mir gezogen. Ich schwöre bei den<br />

stürmischen Meeren, dass mich um meine Person keine so große Furcht ergriffen hatte, als darum,<br />

dass dein Schiff, seines Gerätes beraubt und nachdem es seinen Steuermann abgeschüttelt hatte, so<br />

großen, sich erhebenden Wellen nicht standhalten könnte. Der ungestüme Südwind hat mich im<br />

Wasser drei stürmische Nächte lang über die gewaltige Meeresoberfläche gezogen. Mit Mühe habe<br />

ich am vierten Tag Italien ganz oben von einem Wellenkamm aus erblickt. Nach und nach schwamm<br />

ich an Land. Schon wollte ich mich in Sicherheit bringen, wenn nicht ein blutrünstiges Volk mich, den<br />

durch die nasse Kleidung beschwerten Mann, der mit seinen Nägeln und Händen den rauhen Gipfel<br />

des Berges (360) festhalten wollte, mit dem Schwert bestürmt und unwissend Beute vermutet hätte.<br />

Nun besitzt mich die Meeresflut und die Winde wälzen mich an der Küste. Worum ich dich beim<br />

angenehmen Tageslicht des Himmels, bei den Lüften, bei deinem Vater, bei der Hoffnung des<br />

heranwachsenden Iulus bitte: Entreiße mich diesen Übeln, unbesiegter Held. Oder wirf mir Erde auf


den Leichnam, denn du vermagst es und suche die Häfen von Velia erneut auf. Oder, wenn es<br />

irgendeine Möglichkeit gibt, wenn dir deine göttliche Mutter irgendeinen Weg aufzeigt (denn ich<br />

glaube freilich nicht, dass du es ohne das Wirken der Götter unternimmst so große Flüsse und den<br />

stygischen See zu befahren), (370) reiche mir unglücklichem Mann deine Rechte und nimm mich mit<br />

dir über die Wogen, so dass ich wenigstens im Tod in angenehmen Wohngegenden Ruhe finden<br />

kann.“ Solches hatte er gesprochen, als die Seherin ihm solches antwortete: „Woher, Palinurus,<br />

kommt dir dieses so unheilvolle Verlangen? Du willst unbegraben die stygischen Wasser und den<br />

ernsten Strom der Eumeniden erblicken oder willst unaufgefordert zum Ufer gehen? Höre auf,<br />

darauf zu hoffen, die Göttersprüche durch Beten umstimmen zu können, sondern halte meine Worte<br />

als Trostmittel für den harten Schicksalsschlag im Gedächtnis. Denn deine Gebeine werden<br />

Nachbarvölker sühnen, weit und breit durch die Städte von himmlischen Wunderzeichen getrieben<br />

(380) und sie werden dir einen Grabhügel errichten. Dort werden sie Opfer darbringen und der Ort<br />

wird den ewigen Namen ‚Palinurus‘ erhalten.“ Nach diesen Worten waren die Sorgen verscheucht<br />

und der Schmerz war eine Weile aus dem traurigen Herzen vertrieben. Er freute sich über den<br />

Beinamen des Landes.<br />

Also fuhren sie mit dem begonnenen Marsch fort und näherten sich dem Fluss. Der Seemann, der sie<br />

dann schon vom stygischen Wasser aus gesehen hatte, wie sie durch den ruhigen Wald liefen und<br />

ihren Schritt dem Ufer zuwandten, ging sie zuerst auf diese Weise an und schalt sie überdies: „Wer<br />

auch immer du bist, du ziehst als Bewaffneter zu meinen Flüssen, sag nun: Wozu kommst du her,<br />

bleib schon von dort stehen! (390) Dies ist der Ort der Schatten, des Schlafes und der<br />

schlafbringenden Nacht: Es ist ein heiliges Verbot lebende Körper mit dem stygischen Schiff zu<br />

transportieren. Weder habe ich mich gefreut, den kommenden Alciden auf dem See zu empfangen,<br />

noch Theseus sowie Pirithous, obwohl sie Göttersöhne und im Hinblick auf ihre Kräfte unbesiegbar<br />

waren. Jener hat mit seiner eigenen Hand den Wächter des Tartarus in Fesseln geschlagen und ihn<br />

zitternd vom Thron des Königs selbst weggezogen. Die anderen haben mich mit Bitten bestürmt, dass<br />

sie die Herrin des Dis aus ihrem Schlafgemach entführen dürfen.“ Darauf erwiderte die amphrysische<br />

Seherin knapp: „Hier liegt keine derartige Täuschung vor (rege dich nicht auf), (400) auch bringen die<br />

Waffen keine Gewalt. Mag auch der gewaltige Torhüter in der Höhle ewig den toten Schatten Angst<br />

einjagen, mag auch die keusche Proserpina den Eingang für den Onkel schützen. Der Trojer Aeneas,<br />

ausgezeichnet durch sein Pflichtgefühl und seine Waffenfertigkeit, steigt zu seinem Vater, zu den<br />

tiefsten Schatten des Erebus hinab. Wenn dich kein Abbild eines so großen Pflichtgefühls bewegt (sie<br />

deckte den Zweig auf, den sie mit dem Tuch verdeckt hatte), dann aber erkenne diesen Zweig an.“<br />

Nach der Zorneswallung beruhigte sich Charons Gemüt. Auf diese Worte sagte sie nichts mehr.<br />

Während er das verehrungswürdige Geschenk des schicksalsträchtigen Zweiges bewunderte, das er<br />

nach langer Zeit sah, (410) wendete er das schwärzliche Schiffsheck und näherte sich dem Ufer. Dann


vertrieb er die anderen Seelen, die über dem Bergrücken zerstreut saßen und machte die Sitzreihen<br />

frei. Dann nahm er den außerordentlichen Aeneas an Bord auf. Unter dessen Gewicht ächzte der<br />

zerbrechliche Kahn und voller Risse nahm er viel Sumpfwasser auf. Endlich setzte er die Seherin und<br />

den Mann über dem Fluss unversehrt in unförmigem Schlamm und dunkelgrünem Schilfgras ab.<br />

Der gewaltige Cerberus durchschallte dieses Königreich mit seinem aus drei Rachen kommenden<br />

Bellen, während er gewaltig vorn in der Höhle ruhte. Während die Seherin sah, wie sich ihm am Hals<br />

die Schlangen aufrichteten, warf sie ihm einen (420) betäubenden Bissen mit Honig und vergifteten<br />

Früchten hin. Jener ergriff ihn hastig, indem er in rasendem Hunger seine drei Kehlen ausstreckte,<br />

entspannte seinen riesigen Rücken und auf dem Boden liegend erstreckte er sich gewaltig in der<br />

ganzen Höhle. Aeneas nahm den Zugang ein, nachdem der Wächter betäubt war, und entkam dem<br />

Ufer des Wassers ohne Wiederkehr.<br />

Sogleich vernahm man Stimmen und ein gewaltiges Schreien, sowie weinende Kinderseelen, die an<br />

der vordersten Schwelle ihres süßen Lebens außen vor gelassen und von der Mutterbrust gerafft<br />

wurden und die ein schwarzer Tag geraubt und durch einen bitteren Tod unter die Erde gebracht<br />

hatte. (430) Gleich neben diesen befanden sich die aufgrund einer falschen Anklage zum Tode<br />

Verurteilten. Doch diese Ruhestätten wurden nicht ohne Los und ohne Richter zugeteilt. Minos, der<br />

Vorsitzende des Gerichtshofs bewegt die Urne. Er beruft den Rat der Toten ein und erforscht die<br />

Lebensläufe sowie die Anklagepunkte. Die nächsten Gegenden besaßen die Betrübten, die sich<br />

unschuldig durch eigene Hand den Tod bereiteten, denen das Tageslicht verhasst war und die ihre<br />

Seelen verschmähten. Wie gern würden sie jetzt an der erhabenen Luft sowohl die Armut als auch<br />

die harten Strapazen ertragen! Das göttliche Recht steht ihnen im Wege, der traurige und herzlose<br />

Sumpf des Gewässers band sie an den Ort und der Styx schloss sie in neunfacher Windung ein. (440)<br />

Nicht weit von hier zeigten sich in allen Richtungen weisend die trauernden Felder. So nennt man sie<br />

namentlich. Hier verbargen schmale Pfade diejenigen, welche die beschwerliche Liebe in<br />

grauenhaftem Siechtum aufgefressen hatte und ringsum bedeckte sie ein Wald von Myrten. Die<br />

Sorgen verließen sie noch nicht einmal im Tod. An diesen Orten erkannte er Phaedra, Procris und die<br />

traurige Eriphyle, welche ihre blutigen Wunden zeigte, die ihr der Sohn zugefügt. Er erkannte Euadne<br />

und Pasiphae. Diese begleitete Laedamia sowie der einst junge Mann Caeneus, der jetzt eine Frau<br />

war, vom Schicksal wieder in seine alte Gestalt zurückverwandelt. (450) Unter diesen irrte die<br />

Phönizerin Dido, die erst jüngst an ihrer Wunde gestorben war, im großen Wald umher. Sobald der<br />

trojanische Held neben ihr gestanden und die dunkle Frauengestalt durch die Schatten erkannt hatte,<br />

wie jemand den Mond am Monatsanfang durch den Nebel aufgehen sieht, oder glaubt, ihn gesehen<br />

zu haben, ließ er seinen Tränen freien Lauf und sprach sie in süßer Liebe an: „Unglückliche Dido, war<br />

die Botschaft also wahr, die mir zu Ohren gekommen war, dass du dich durch das Schwert getötet


hast und in den Tod gegangen bist? Oh weh, war ich dir ein Grund des Todes? Ich schwöre bei den<br />

Sternen, bei den Göttern, und wenn es irgendeine Treue unter der tiefen Erde gibt: (460) Gegen<br />

meinen Willen, Königin, bin ich von deiner Küste gewichen! Doch mich trieben die Befehle der Götter<br />

mit ihrer Befehlsgewalt, die mich jetzt zwingen durch diese Schatten, durch die rauen Gegenden im<br />

Schmutz und durch die tiefe Nacht zu ziehen. Ich konnte nicht glauben, dir so großen Schmerz durch<br />

meine Abreise zu bereiten. Bleib stehen und entziehe dich nicht meinem Anblick. Vor wem fliehst<br />

du? Dies ist das letzte Mal, wo ich dich von meinem Schicksal her ansprechen kann.“ Mit derartigen<br />

Worten versuchte Aeneas die zornentbrannte und finster blickende Frau zu besänftigen, ihr Gemüt<br />

und ihre Tränen zu rühren. Jene hielt ihre Augen abgewandt gen Boden gerichtet und nachdem er<br />

mit dem Sprechen angefangen hatte, bewegte sie ihr Gesicht nicht mehr, als wenn sie harter Stein<br />

oder marpesischer Marmor wäre. Endlich riss sie sich zusammen und floh feindlich gesinnt in den<br />

schattenspendenden Hain zurück, wo ihr vorheriger Mann, Sychaeus ähnliche Sorgen hatte und ihre<br />

Liebe erwiderte. Aeneas, der nicht weniger aufgrund des ungerechten Schicksalsschlages erschüttert<br />

war, blickte ihr lange unter Tränen nach und bemitleidete sie.<br />

Dann setzte er den vorgegebenen Weg fort. Schon waren sie bei den letzten Fluren, dem einsamen<br />

Ort, den die Kriegshelden zahlreich bewohnten. Hier kam ihm Tydeus entgegen, hier der im Hinblick<br />

auf seine Waffenkunst ruhmreiche (480) Parthenopaeus, sowie das Abbild des blassen Adrastes. Hier<br />

waren die bei den Menschen oberhalb viel beweinten und durch den Krieg herrenlosen Dardaniden,<br />

über die Aeneas, der sie alle in einer langen Reihe erkannte, seufzte: Glaucus, Medon, Thersilochus,<br />

die drei Söhne des Antenor, sowie der Priester der Ceres, Polyboetes, sogar Idaeus, der noch immer<br />

den Wagen und die Waffen festhielt. Ringsum umgaben ihn die Seelen, zahlreich zur Rechten sowie<br />

zur Linken und es genügte ihnen nicht, ihn nur einmal gesehen zu haben. Sie wollen ganz und gar<br />

verweilen, zu ihm gehen und die Gründe seines Kommens erfahren. Die vornehmen Männer der<br />

Griechen aber und die Phalangen des Agamemnon liefen in gewaltiger Furcht unruhig hin und her,<br />

(490) sobald sie den Mann und die funkelnden Waffen durch die Schatten gesehen hatten. Ein Teil<br />

wandte sich zur Flucht, wie sie einst zu den Schiffen geeilt sind, ein anderer Teil erhob seine dünne<br />

Stimme: Doch das erhobene Geschrei erstarb in ihren aufgesperrten Mündern.<br />

Und hier sah er den Priamussohn Deiphobus, der am ganzen Körper zerfleischt war, auch sein<br />

Gesicht war zerfetzt, sein Gesicht und beide Hände, seine Schläfen waren verwüstet, da man ihm die<br />

Ohren abgeschnitten hatte, und seine Nase war in einer unehrenhaften Wunde verstümmelt. Nur mit<br />

Mühe hatte Aeneas den zitternden und die unheilvollen Wunden zudeckenden Mann erkannt. Er<br />

sprach ihn von sich aus mit seiner vertrauten Stimme an: (500) „Waffenbeherrscher Deiphobus, Sohn<br />

vom erhabenen Blut des Teucer, wer wünschte, dich so grausam zu strafen? Wem war so viel Macht<br />

über dich möglich? Mir kam in der letzten Nacht das Gerücht zu Ohren, dass du aufgrund des wüsten


Mordes der Pelasger erschöpft auf dem Haufen der zusammengeschütteten Leichen niedergesunken<br />

seiest. Dann habe ich selbst einen leeren Grabhügel an der Küste von Rhoeteum errichtet und<br />

dreimal mit lauter Stimme deine Totengeister gerufen. Dein Name und deine Waffen behüten den<br />

Ort. Dich, mein Freund, konnte ich nicht erblicken und, als ich die Heimat verließ, begraben.“ Darauf<br />

antwortete der Priamussohn: „Nichts, ach! bist du mir schuldig geblieben, mein Freund. (510) Du<br />

hast für mich Deiphobus, alles getan, auch für das Totenreich. Doch mich haben mein Schicksal und<br />

das tödliche Verbrechen der Spartanerin in dieses Unglück gestürzt. Denn du weißt, wie wir die letzte<br />

Nacht in falscher Freude verbrachten und es ist allzu notwendig, sich daran zu erinnern! Als das<br />

verhängnisvolle Pferd mit einem Sprung auf das steil aufragende Pergamum kam und in seinem<br />

Bauch gefüllt bewaffnete Fußsoldaten mit sich nach oben brachte, täuschte jene einen Reigen vor<br />

und führte Phrygierinnen in jubelnden Orgien umher. Sie selbst hielt mittendrin ein gewaltiges Feuer<br />

und rief ganz oben von der Burg die Griechen. (520) Dann besaß mich, der ich von den Sorgen<br />

erschöpft und durch den Schlaf beschwert war, das unglückbringende Schlafgemach, die süße und<br />

tiefe Ruhe drückte mich aufs Bett nieder, dem angenehmen Tod sehr ähnlich. Unterdessen entfernte<br />

die ausgezeichnete Gattin alle Waffen aus dem Haus – sie hatte das treue Schwert unter meinem<br />

Kopf weggezogen. Sie rief Menelaus ins Haus und öffnete ihm die Tür. Natürlich hoffte sie, dass dies<br />

ein großes Geschenk an ihren Liebhaber wäre und dass so der alte Ruf über ihre schlechten Taten<br />

ausgelöscht werden konnte. Was zögere ich? Sie brachen ins Schlafgemach ein, als Begleiter kam der<br />

Anstifter der Verbrechen hinzu: Der Enkel des Aeolus, Odysseus. Götter, (530) vergeltet den Griechen<br />

solche Taten, wenn ich die Strafen aus einem pflichtbewussten Mund fordere! Aber los, sage mir<br />

wiederum, welcher Zufall dich als Lebender hierher verschlagen hat? Kommst du von Irrfahrten des<br />

Meeres getrieben oder durch eine Weisung der Götter? Oder welches Schicksal plagt dich, dass du zu<br />

den finsteren Gebäuden ohne Sonne, zu den trüben Gegenden kommst?“<br />

Nach diesem wechselseitigen Gespräch hatte Aurora bereits mit ihrem rosigen Viergespann die Mitte<br />

der Himmelsachse auf ihrer Himmelsbahn überschritten. Und vielleicht hätte sie die ganze Zeit, die<br />

ihnen gewährt wurde, mit derartigen Dingen verstreichen lassen, doch die Begleiterin Sibylle<br />

ermahnte ihn und sprach ihn kurz an: „Die Nacht bricht herein, Aeneas. Wir vergeuden die Stunden<br />

mit Weinen. (540) Hier ist die Stelle, wo sich der Weg in zwei Richtungen spaltet: Die rechte ist es, die<br />

zu den Mauern des großen Dis führt; dort liegt für uns der Weg zum Elysium. Doch die linke Richtung<br />

quält die Schlechten mit Strafen und schickt sie in den gottlosen Tartarus.“ Darauf erwiederte<br />

Deiphobus: „Tobe nicht, große Seherin! Ich will fortgehen, werde die Schar ausfüllen und in die<br />

Schatten zurückkehren. Gehe, gehe fort, unser Stolz! Mache von besseren Göttersprüchen<br />

Gebrauch!“ Nur so viel sprach er, und während er sprach machte er kehrt.


Plötzlich blickte sich Aeneas um und sah unter einer Felswand zu seiner Linken eine breite Burg, die<br />

mit einer dreifachen Schutzmauer umgeben war und (550) die ein reißender Fluss mit heißen<br />

Flammen umgab: Der Unterweltsfluss Phlegethon, der dröhnende Felsen hin und her wendete. Vorn<br />

befand sich eine gewaltiges Tor, sowie Säulen aus massivem Stahl, so dass sie keine einzige<br />

Manneskraft, nicht einmal die Himmelsbewohner selbst im Krieg zerstören konnten. Dort stand ein<br />

eiserner Turm, der bis in den Himmel reichte und während dort Tisiphone mit einem blutigen Mantel<br />

bekleidet nie schlafend saß, beobachtete sie die Vorhalle, sowie die Nächte und die Tage. Von hier<br />

waren die Klagen zu hören und es hallten die wilden Schläge wieder, dann das Zischen eines<br />

Schwertes und herumgezerrte Ketten. Aeneas blieb stehen und vernahm zutiefst erschreckt den<br />

Lärm. (560) „Verbrechen welcher Art sind das, oh Jungfrau? Sprich! Oder mit welchen Strafen<br />

werden hier die Seelen bedrängt? Welch so großes Wehklagen dringt zum Himmel?“ Dann begann<br />

die Seherin so zu sprechen: „Berühmter Anführer der Teucrer, es ist ein göttliches Verbot, dass<br />

jemand reinen Gewissens die verbrecherische Pforte betritt. Doch als mir Hecate die Leitung über<br />

den Avernerhain übertragen hatte, hatte sie mich über die Strafen der Götter belehrt und mich durch<br />

alle geführt. Der cnosische Rhadamanthus besitzt dieses äußerst hartherzige Königreich, züchtigt die<br />

Schuldigen, hört von den listigen Plänen und zwingt Verbrechen zu gestehen, über die sich jemand<br />

bei den Menschen in der Oberwelt aufgrund eines wertlosen Diebstahls gefreut hat, wobei derjenige<br />

das Sühneopfer auf seinen späten Tod verschoben hat. (570) Daraufhin schlägt die mit einer Peitsche<br />

umgürtete Tisiphone die Schuldigen und verspottet sie. Während sie ihnen mit der Linken finstere<br />

Schlangen hinstreckt, ruft sie die wilde Schar ihrer Schwestern. Dann endlich öffneten sich ächzend<br />

die heiligen Torflügel mit ihren schauerlich quietschenden Türangeln. Erkennst du die Wächterin, wie<br />

sie in der Vorhalle sitzt? Erkennst du die Gestalt, welche den Eingang bewacht? Noch wilder hat die<br />

gewaltige Hydra mit fünfzig schwarzen Rachen im Inneren ihren Sitz. Dann breitet sich zweifach der<br />

Tartarus selbst aus: Er erstreckt sich jäh soweit tief in das Schattenreich, wie der Blick zum in den<br />

Himmel ragenden Olymp reicht. (580) Hier wälzt sich das altehrwürdige Geschlecht der Erde, das<br />

Titanenvolk, vom Blitz niedergeworfen im tiefen Grund. Hier habe ich auch die beiden Aloiden –<br />

gewaltige Körper – gesehen, die sich daran gemacht hatten mit ihren bloßen Händen den großen<br />

Himmel einzureißen und Jupiter aus dem oben befindlichen Königreich herabzustoßen. Ich sah auch<br />

Salmoneus, der grausam bestraft wurde, während er die Blitze des Jupiters und das Grollen des<br />

Olymps nachahmte. Dieser fuhr auf einem Viergespann, als er heftig die Fackel durch die Völker der<br />

Griechen und jubelnd durch die Stadt mitten in Elis schwang. Er forderte immer wieder für sich<br />

göttliche Ehren. (590) Ein Tor, wer die Gewitterwolken und den unnachahmlichen Blitz durch Erz und<br />

durch den Hufschlag der hornfüßigen Pferden nachahmen will. Doch der allmächtige Vater<br />

schleuderte zwischen dichten Wolken sein Wurfgeschoss: Er verwendete keine Fackeln oder das<br />

rauchende Licht eines Kienholzbrandes, sondern schleuderte ihn steil in einen gewaltigen Strudel.


Auch Tityos, der Pflegesohn der alles gebärenden Erde, war zu erkennen, der sich mit seinem Körper<br />

über neun Morgen Land erstreckte, sowie der gewaltige Geier mit seinem einwärts gekrümmten<br />

Schnabel, der dessen unsterbliche Leber anpickte, die zur Strafe ergiebigen Eingeweide aufriss und<br />

für sein Mahl in der tiefen (600) Brust des Mannes wohnte. Auch den nachgewachsenen Eingeweiden<br />

wurde keine Ruhe gewährt. Wozu soll ich die Lapithen Ixion und Pirithous erwähnen? Über diesen<br />

hängt drohend ein schwarzer Granit der jeden Moment im Begriff ist auf sie niederzufallen, einem<br />

fallenden Stein ähnlich. Es leuchten die goldenen Gestelle für erhöhte, festliche Polster, Gastmähler<br />

von königlichem Luxus, die vor ihrem Antlitz zubereitet sind. Gleich nebenan liegt die größte der<br />

Furien zu Tisch und hält sie mit ihren Händen davon ab die Gänge zu berühren. Sie richtet eine Fackel<br />

auf während sie sich erhebt und dröhnt mit ihrer Stimme. Hier sind diejenigen, denen zu Lebzeiten<br />

ihre Brüder verhasst waren, oder wer den Vater geschlagen, einen Schutzbefohlenen über den Tisch<br />

gezogen hatte, (610) oder diejenigen, die allein auf ihrem erlangtem Reichtum lagen und ihren<br />

Angehörigen keinen Teil überließen (das ist die größte Menge), und auch die, die wegen Ehebruch<br />

ermordet wurden, und diejenigen, die in gottlose Kriege folgten und die, welche nicht fürchteten,<br />

Treue und Glauben ihres Hausherren zu betrügen. Eingeschlossen erwarten sie ihre Strafe. Bitte<br />

nicht darum, unterrichtet zu werden, welche Strafe, oder welches Los oder welches Schicksal die<br />

Männer ins Verderben stürzte. Andere wälzen einen riesigen Fels. An den Speichen der Räder hängen<br />

wieder andere auseinandergezogen. Der unglückliche Theseus sitzt hier und wird auf ewig hier<br />

sitzen, der äußerst unglückliche Phlegyas ermahnt alle und beschwört sie mit lauter Stimme durch<br />

die Schatten: (620) „Lernt Gerechtigkeit, die ihr ermahnt seid, und lernt, die Götter nicht zu<br />

verachten.“ Für Gold hat dieser Mann sein Vaterland verkauft und einen Gewaltherrscher<br />

eingesetzt. Für einen gewissen Preis hat er Gesetze in Kraft und außer Kraft treten lassen. Der andere<br />

Mann fiel in das Schlafgemach seiner Tochter ein und hatte mit ihr verbotenen Verkehr. Alle wagten<br />

eine riesige Freveltat und rissen das Gewagte voll an sich. Selbst wenn ich einhundert Zungen und<br />

Münder hätte, sowie eine eiserne Stimme, könnte ich nicht die ganzen Arten der Verbrechen<br />

zusammenfassen oder die ganzen Namen der Strafen durchgehen.“<br />

Nachdem die hochbetagte Priesterin des Phoebus diese Worte gesprochen hatte, fügte sie ferner<br />

hinzu: „Aber nun auf: Mach dich auf den Weg und vollbringe die Aufgabe, die du auf dich genommen<br />

hast. (630) Beschleunigen wir unseren Schritt!“, sagte sie, „Ich erblicke die in den Schmelzöfen<br />

geschmiedeten Mauern der Zyklopen und vorne in der Wölbung die Tore, wo uns die Vorschriften<br />

befehlen diese Gaben niederzulegen.“ So hatte sie gesprochen. Im Gleichschritt schritten sie durch<br />

die Schatten der Wege, legten eilig die Strecke dorthin zurück und näherten sich den Torflügeln.<br />

Aeneas nahm den Eingang in Beschlag und benetzte seinen Körper mit frischem Wasser. Den Zweig<br />

befestigte er vorne an der Tür.


Nachdem diese Dinge endlich vollbracht waren, und der Göttin ein Geschenk dargebracht war,<br />

gingen sie hinunter zu den fröhlichen Orten und zu den angenehmen Auen der glücklichen Haine und<br />

zu den seligen Wohnsitzen. (640) Hier schmückte der Himmel die Felder reichlicher und er schmückte<br />

sie mit purpurfarbenem Licht; die Felder kannten ihre eigene Sonne und ihre eigenen Sterne. Ein Teil<br />

der Glückseligen übte die Muskeln auf grasbewachsenen Übungsplätzen, spielerisch kämpften sie<br />

und rangen auf dem rotgelben Sand. Ein anderer Teil stampfte mit den Füßen die Reigentänze und<br />

sprach Gedichte. Und der thrakische Priester begleitete sie im Rhythmus mit den sieben<br />

unterschiedlichen Klängen der Leier, schon schlug er sie mit den Fingern, schon mit einem<br />

elfenbeinernen Plektron. Hier ist das alte Geschlecht des Teucers, seine äußerst schönen<br />

Nachkommen, mutige Helden, geboren in besseren Zeiten: (650) Ilus, Assaracus und Dardanus, der<br />

Gründer Trojas. Aeneas bewunderte die Waffen in der Ferne sowie die nun unnützen Streitwägen<br />

der Männer. In der Erde standen hineingetrieben die Lanzen und weit und breit über den Feldern<br />

weiteten die losgebundenen Pferde. Die Vorliebe für Streitwagen und Waffen, die ihnen zu Lebzeiten<br />

zu Eigen war, die Fürsorge der strahlenden Pferde zu fressen, folgte ihnen auch noch jetzt, wo sie<br />

bestattet waren. Sieh, Aeneas erblickte noch weitere zu seiner Rechten und zu seiner Linken, wie sich<br />

sie über das Gras verteilt nährten, während sie im Reigen einen heiteren Lobgesang sangen, mitten<br />

im Hain, der nach Lorbeer duftete. Von oberhalb wälzte sich der wasserreiche Strom des Eridanus<br />

durch den Wald. Hier befand sich die Schar, derjenigen, die im Kampf um ihre Heimat den Wunden<br />

erlegen waren, derer, die zu Lebzeiten keuschen Priester, die pflichtbewusste Seher waren, deren<br />

Worte dem Phoebus würdig waren. All diejenigen, die das Leben durch ihre Kunstfertigkeit verfeinert<br />

hatten und die durch einen Verdienst andere dazu brachten, an sie zu denken. All diesen Toten<br />

umgab eine schneeweiße Binde die Schläfen. Sibylle sprach diejenigen, die sich um sie scharten und<br />

allen voran Musaeus, folgendermaßen an (denn die zahlreiche Menge hatte Musaeus als Mittelpunkt<br />

und blickte zu ihm aufgrund seiner hohen Schultern auf): „Sagt mir, ihr glückliche Seelen, und du,<br />

bester Seher, (670) in welcher Region, an welchem Ort ist Anchises zu finden? Seinetwillen sind wir<br />

gekommen und haben den großen Strom des Erebus überquert.“ Und wenige Helden antworteten<br />

ihr folgendermaßen: „Niemand hat einen bestimmten Aufenthaltsort. Wir wohnen in schattigen<br />

Hainen, an den Böschungen der Ufer und siedeln auf den frischen Wiesen an den Bächen. Aber ihr,<br />

überwindet diesen Bergrücken, wenn das Verlangen in eurem Herzen so stark ist, und ich will euch<br />

schon auf den leicht gangbaren Seitenweg führen.“ Das sagte er, ging vor ihnen her und zeigte ihnen<br />

von oben die glänzenden Felder. Anschließend verließen sie die höchsten Gipfel.<br />

Aber der Vater Anchises musterte tief in einem grünenden Talkessel (680) eingeschlossene Seelen,<br />

die im Begriff waren, zum Licht der Oberwelt zu gehen, er musterte sie eifrig. Er musterte zufällig die<br />

ganze Schar der Seinen: Die teuren Enkel, die Bestimmungen und das Schicksal der Männer, ihre<br />

Sitten und ihre Tapferkeit. Dieser, sobald er vorne den durchs Gras ziehenden Aeneas sah, streckte


eifrig seine beiden Handflächen aus, und es entwich ihm, nachdem sich Tränen über seine Wangen<br />

ergossen hatten, diese Äußerung aus seinem Mund: „Endlich bist du gekommen! Hat dein vom Vater<br />

erwartetes Pflichtgefühl die beschwerliche Reise überlistet? Wird es gewährt, dein Antlitz zu<br />

erblicken, Sohn, deine bekannte Stimme zu hören und darauf zu antworten? (690) So stellte ich es<br />

mir freilich immer wieder vor, rechnete damit, während ich die Tage zählte, dass es geschehen würde<br />

und meine Sorge hat mich nicht getäuscht. Durch welche Länder und über wie große Meere bist du<br />

gefahren, der ich dich hier empfange! In wie vielen Gefahrensituationen wurdest du hin und her<br />

geworfen, Sohn! Wie sehr hatte ich Angst, dass dir das Königreich in Libyen schaden könnte!“ Aeneas<br />

aber entgegnete: „Deines, Vater, dein ernstes Abbild, das mir des Öfteren erschien, hat mich<br />

veranlasst, zu dieser Schwelle zu ziehen. Die Flotte steht im Tyrrhenischen Meer, lass uns – ja, lass<br />

uns einander die Hand geben, Vater, und entziehe dich nicht meiner Umarmung.“ Als er so sprach<br />

benetzte er gleichzeitig sein Gesicht mit reichlich Tränen. (700) Dreimal versuchte er dort, seine<br />

Arme um den Hals des Vaters zu legen. Dreimal floh das vergeblich umfasste Abbild vor den Händen<br />

zurück, den leichten Winden oder einem geflügeltem Traum sehr ähnlich.<br />

Inzwischen sah Aeneas im entlegenen Tal einen abgesonderten Hain und die rauschenden Sträucher<br />

der Wälder, sowie den Lethestrom, der vor friedlichen Wohnhäusern floss. Um diesen flogen<br />

unzählige Stämme und Völker. Und wie auf den Wiesen die Bienen im heiteren Sommer sich auf die<br />

bunten Blüten setzen und sich rings um die weißen Lilien verstreuen, so lärmte durch Rauschen das<br />

ganze Feld. (710) Bei dem plötzlichen Anblick erschauderte Aeneas und fragte unwissend nach den<br />

Gründen, was das dort für ein Fluss sei und welche Männer in einer so großen Schar die Ufer<br />

erfüllten. Darauf antwortete der Vater Anchises: „Seelen, denen von ihrem Fatum her in der<br />

Oberwelt ein Körper bestimmt ist, trinken bei den Wogen des Lethe‐Flusses von der<br />

sorgenvertreibenden Flüssigkeit und lange Vergessenheit. Ich wünsche freilich schon lange, dir von<br />

diesen zu berichten, sie dir von Angesicht zu Angesicht zu zeigen und dir diese Nachkommenschaft<br />

der Meinen aufzuzählen, damit du dich umso mehr mit mir über das gefundene Italien freust.“<br />

„Oh Vater, muss man etwa glauben, dass von hier irgendwelche (720) erhabene Seelen zum Himmel<br />

schreiten und wieder in träge Körper zurückkehren? Was ist das für eine so unheilvolle Begierde nach<br />

Tageslicht für die unglücklichen Seelen?“<br />

„Ich will es dir freilich sagen, Sohn, und werde dich nicht auf die Folter spannen.“ Anchises begann<br />

zu sprechen und tat ihm der Reihe nach alle Einzelheiten kund: „Im Anfang ernährt ein innerer Hauch<br />

den Himmel sowie die Länder, die Meere, die leuchtende Kugel des Mondes sowie die titanischen<br />

Sterne. Der Geist, wenn er sich in die Glieder erströmt hat, setzt die so große Masse in Bewegung<br />

und vermischt sich mit dem großen Körper. Daher stammt die Gattung der Menschen, des Viehs, die


Leben der Vögel und die Ungeheuer, die das Meer unter seiner marmornen Oberfläche hervorbringt.<br />

(730) Ihnen ist eine feurige Stärke zu Eigen und ein himmlischer Ursprung in ihren Samen, insofern<br />

sie keine schädlichen Körper hemmen und sie die irdenen Gelenke sowie die sterbenden Glieder<br />

entkräften. Daher fühlen sie Furcht und Verlangen, Schmerz und Freude und können eingeschlossen<br />

in der Finsternis und im dunklen Kerker das Tageslicht nicht wahrnehmen. Ja, auch als sie an ihrem<br />

letzten Tag das Leben verlassen hatte, sind aus den unglücklichen Seelen dennoch nicht das ganze<br />

Übel, auch nicht alle körperliche Krankheiten gewichen und es ist notwendig, dass sich viele über<br />

lange Zeit auf wundersamer Weise innerlich zusammengewachsene Dinge einprägen. Also werden<br />

sie mit Strafen gequält und tun (740) Buße für alte Übel. Einige erstrecken sich aufgehängt in die<br />

seelenlosen Winden, den anderen wäscht man unter einem tiefen Strudel das Verbrechen aus, mit<br />

dem sie befleckt sind, oder man brennt es ihnen im Feuer aus: Ein jeder von uns erduldet seine<br />

eigenen Strafen. Darauf werden wir ins weite Elysium geschickt und bewohnen, die wir nur wenige<br />

sind, die glücklichen Fluren, solange bis der lange Tag, nachdem der Kreis der Zeit vollendet wurde,<br />

das in uns verwachsene Unheil entfernt hat, und einen reinen, himmlischen Sinn zurückgelassen hat,<br />

sowie das Feuer der reinen Himmelsluft. All diese ruft der Gott in einer großen Schar, sobald sie das<br />

Rad der Zeit tausend Jahre lang gedreht haben, zum Lethe‐Strom, (750) damit sie natürlich ohne<br />

Erinnerung an die Oberwelt erneut das Himmelsgewölbe besuchen und anfangen in Körper<br />

zurückkehren zu wollen.“<br />

Das hatte Anchises gesprochen und als er mit seinem Sohn und gemeinsam mit Sibylle<br />

zusammengekommen war, zog er sie in die Mitte und in die rauschende Menge. Er selbst besetzte<br />

eine Anhöhe, von wo aus er alle entgegenkommenden Männer in langer Reihe erkennen und das<br />

Gesicht der Kommenden erforschen konnte. Dann sagte er: „Nun, wohlan, ich will dir darlegen,<br />

welcher Ruhm der dardanischen Nachkommenschaft folgt, welche Enkel vom italischen Geschlecht<br />

dich erwarten werden sowie die glänzenden Seelen, die in unserem Namen kommen werden und ich<br />

werde dich über dein Schicksal belehren. (760) Jener junge Mann, du siehst ihn, der sich auf die<br />

saubere Lanze stützt, hat das Los zu einer Gegend, die dem Licht am nächsten ist. Er, wird als erster,<br />

mit italischem Blut vermischt, zu den himmlischen Lüften emporsteigen. Er heißt Silvius, ein<br />

albanischer Name, dein letztgeborener Nachkomme, den dir hochbetagtem Mann spät deine Gattin<br />

Lavinia in den Wäldern als König großzieht, als Vater von Königen. Von ihm ausgehend wird unsere<br />

Gattung in Alba Longa herrschen. Jener Nachbar ist Procas, der Stolz des trojanischen Stammes, und<br />

hier Capys, Numitor und derjenige, der durch seinen Namen an dich erinnert: Silvius Aeneas, der auf<br />

gleicher Weise sowohl durch Pflichtgefühl als auch durch seine Waffenmächtigkeit (770)<br />

herausragend ist, wenn einst das zu regierende Alba annehmen wird. Was für junge Männer! Welch<br />

große Kräfte zeigen sie vor, schau hin, sie tragen ihre Schläfen, die von der Bürgerkrone aus<br />

Eichenlaub beschattet werden! Diese werden dir Nomentum, Gabii und sie Stadt Fidena errichten,


die anderen die collatinische Burg auf den Bergen, sowie Pometii, das Castrum Inui, Bola sowie die<br />

Stadt Cora. Dies werden dann bekannte Namen sein, heute sind das nur Ländereien ohne Namen. Ja,<br />

und dem Großvater als Begleiter wird sich der Sohn des Mars, Romulus, hinzugesellen, den die<br />

Mutter Ilia vom Blut der Assaracus aufziehen wird. Siehst du denn, wie ein doppelter Helmbusch an<br />

seinem Scheitel steht (780) und ihn der Göttervater selbst mit seinem eigenen Ehrenabzeichen<br />

kennzeichnet? Sieh, mein Sohn, unter seinen Auspizien wird jene berühmte Stadt Rom den<br />

Herrschaftsbereich mit der Erde, die Gesinnung mit dem Olymp gleichsetzen. Die Stadt wird sich als<br />

einzige mit sieben Burgen entlang der Stadtmauer umgeben, glücklich durch die Nachkommenschaft<br />

von Helden: Es war, wie wenn die Mutter Berecyntia auf ihrem Wagen mit einer Mauerkrone durch<br />

die phrygischen Städte fährt, glücklich, weil sie einen Gott geboren hatte, während sie ihre<br />

einhundert Enkel umarmte, alle Himmelsbewohner, die alle in den oberen Höhen wohnten. Lenke<br />

deine beiden Augen nun hierhin, erblicke diesen Volksstamm und deine Römer! Hier wird Caesar und<br />

die ganze (790) Nachkommenschaft des Iulus unter die große Himmelsachse treten. Dies ist der<br />

Mann, dies ist er, bei dem du noch öfter hören wirst, dass er dir versprochen wird: Augustus Caesar,<br />

Sohn eines Gottes, der erneut in Latium ein goldenes Zeitalter begründen wird, auf den Fluren, wo<br />

einst Saturnus geherrscht hatte, und er wird über das Volk der Garamanter und Inder das<br />

Herrschaftsgebiet ausdehnen. Dieses Land liegt außerhalb unseres Gestirns, außerhalb der Bahnen<br />

des Jahres und der Sonne, wo der himmelstragende Atlas die angebundene Himmelsachse samt den<br />

brennenden Sternen auf seiner Schulter wendet. Im Hinblick auf dessen Ankunft erschrecken jetzt<br />

bereits die Königreiche am kaspischen Meer durch die Prophezeiungen der Götter, auch das ganze<br />

maeotische Land (800) und die siebenarmigen, rastlose Mündungsläufe des Nils werden von<br />

Entsetzen erfüllt. Fürwahr hat nicht einmal der Alcide so viel Land bereist, mag er auch die Hirschkuh<br />

mit ihren erzbeschlagenen Hufen durchbohrt haben, die Haine des Erymanthus befriedet und Lerna<br />

durch seinen Bogen zum Zittern gebracht haben. Auch nicht Liber, der als Sieger mit Zügeln aus der<br />

Weinranke sein Gespann lenkte, während er die Tiger von dem aufragenden Gipfel des Nysa trieb.<br />

Und zögern wir noch immer unsere Tugend durch Taten auszudehnen, oder hält uns die Furcht<br />

davon ab auf Ausoniens Land Halt zu machen? Wer ist aber jener Mann in der Ferne, auffallend<br />

durch die Zweige des Olivenbaums, und der Opfergaben trägt? Ich erkenne das Haar und das<br />

ergraute Kinn (810) des römischen Königs, der die Stadt zuerst auf der Basis von Gesetzen gründen<br />

wird, der aus dem kleinen Cures und aus einem armen Land in ein großes Reich geschickt wurde.<br />

Diesem wird darauf Tullus folgen, der die friedliche Zeit seiner Heimat bricht und die erstarrten<br />

Männer in den Krieg führen und die Heereszüge, welche die Triumphe schon nicht mehr gewohnt<br />

sein werden, bewegen wird. Diesem folgt gleich nebenan der recht prahlerische Ancus, der sich nun<br />

auch schon allzu sehr über die Volksgunst freut. Willst du auch die tarquinischen Könige und die<br />

stolze Seele des Rächers Brutus sehen, sowie die empfangenen Rutenbündel? Dieser wird als erster


die Befehlsgewalt eines Konsuls, sowie die wilden Beile empfangen, und als Vater wird er seine<br />

Söhne, die neue Kriege anrühren, für seine schöne Heimat zur Strafe rufen – der Unglückliche, wie<br />

die Nachwelt auch immer diese Taten beurteilen wird! Es wird die Liebe zum Vaterland siegen, sowie<br />

die gewaltige Begierde nach Ruhm. Ja, erblicke in der Ferne die Decii, die Drusi, und den wilden<br />

Torquatus mit seinem Beil, sowie Camillus, der die Feldzeichen zurück bringt. Jene allerdings, die du<br />

in den gleichen Rüstungen glänzen siehst, sind nun und solange sie von der Nacht bedrängt werden<br />

einträchtige Seelen: Oh welch große Kriege wird es zwischen ihnen geben, wenn sie das Licht des<br />

Lebens berühren wird, welche Schlachten und welches Blutbad werden sie anrichten! Der<br />

Schwiegervater, (830) der von den alpinen Bergen und von der Burg des Monoecus herabsteigen<br />

wird und der Schwiegersohn, der mit dem feindlichen Osten in Formation stehen wird! Ihr Jungen,<br />

gewöhnt nicht eure Gemüter an so große Kriege und wendet nicht eure kräftigen Stärken gegen das<br />

Herz des Vaterlandes! Du zuerst, du verschone es, der du dein Geschlecht vom Olymp ableitest, wirf<br />

die Waffen aus der Hand, mein Blut! Jener wird, nachdem er über Korinth gesiegt haben wird, als<br />

Sieger seinen Wagen zum hohen Kapitol lenken, ausgezeichnet durch die von ihm geschlagenen<br />

Achiver. Jener wird Argus, sowie das von Agamemmnon regierte Mykene von Grund auf zerstören,<br />

sowie den Aeciden selbst, Nachkomme des waffenmächtigen Achilles, (840) als Rächer der Ahnen<br />

Trojas und des entweihten Tempels der Minerva. Wer sollte dich, großer Cato oder dich Cossus<br />

verschweigen? Wer sollte das Geschlecht des Gracchus oder die beiden Scipionen, zwei Glanzstücke<br />

im Krieg, die Niederlage Libyens, den trotz seines geringen Vermögens mächtigen Fabricius, oder dich<br />

Serranus, der du die Furchen besäest, verschweigen? Wohin reißt ihr mich müden Mann noch,<br />

Fabier? Du bist jener Maximus, der einzige, der uns durch sein Zögern den Staat rettet. Andere<br />

werden auf weicherer Art und Weise atmende Bronzestatuen aus dem Stein hauen (das glaube ich<br />

jedenfalls), sie werden lebende Gesichtszüge aus Marmor bilden, oder sie werden sich vor dem<br />

Gericht besser artikulieren, oder werden die Himmelsbahn mit dem Stab (850) beschreiben, sowie<br />

das aufgehende Gestirn benennen: Du sollst durch deine Befehlsgewalt Völker regieren, Römer, und<br />

daran denken (dies werden deine Kunstfertigkeiten sein), dass du dem Frieden Sitten gibst.<br />

Verschone die Unterwürfigen und bekämpfe die Überheblichen!“<br />

So sprach der Vater Anchises und fügte Folgendes den Staunenden hinzu: „Schau, wie Marcellus sich<br />

durch seine reiche Kriegsbeute auszeichnend einherschreitet, und als Sieger alle Männer überragt.<br />

Dieser wird als Ritter das römische Staatswesen in einer großen verwirrenden Unruhe wieder auf die<br />

Beine stellen, er wird die Phönizer vernichten sowie auch den widerspenstigen Gallier, und die dritte<br />

erbeutete Rüstung wird er dem Vater Quirinus als Weihgeschenk aufhängen.“ Und nun fragte Aeneas<br />

(denn er sah einen ausgezeichneten jungen Mann mit einer einzigartigen Gestalt und glänzenden<br />

Waffen einherlaufen, doch zu wenig seine festlich geschmückte Stirn und Augen, weil er den Kopf<br />

gesenkt hatte): „Vater, wer ist jener Mann, der so den Einherschreitenden begleitet? Ist es sein Sohn


oder ein anderer der Enkel aus der großen Nachkommenschaft? Was für ein Lärm der Begleiter<br />

ringsum! Welch imposante Gestalt! Doch die schwarze Nacht umhüllt sein Haupt mit einem finsteren<br />

Schatten.“ Darauf begann der Vater Anchises, nachdem er in Tränen ausgebrochen war, zu<br />

antworten: „Oh Sohn, frage nicht nach dem gewaltigen Jammer der Deinen. Die Göttersprüche<br />

zeigen ihn nur der Erde, (870) lassen darüber hinaus aber kein Verweilen zu. Die römische<br />

Nachkommenschaft schien euch zu mächtig, ihr Götter, wenn ihr dieses Geschenk zu Eigen gewesen<br />

wäre! Welch großes Seufzen der Helden wird jenes Feld zur großes Stadt des Mars treiben! Und<br />

welche Verluste wirst du sehen, Tiberinus, wenn du an einem frisch errichteten Grabhügel<br />

vorbeigleiten wirst. Kein anderer Junge aus dem trojanischen Stamm wird die latinischen Ahnen so<br />

sehr in der Hoffnung erheben, und niemals wird die römische Erde so sehr durch irgendeinen Sohn<br />

prahlen. Ach, Pflichtgefühl, ach, altehrwürdiges Vertrauen, ach, du im Krieg unbesiegte Rechte!<br />

Niemand wäre jenem bewaffneten Mann ungestraft (880) entgegen geeilt, sei es, dass dieser zu Fuß<br />

gegen den Feind ziehen, sei es, dass er dem schäumenden Pferd mit den Sporen in die Seite stechen<br />

würde. Ach, Junge, du, mit dem man Mitleid haben muss, wenn du nur irgendwie dein raues<br />

Schicksal durchbrichst! Du wirst Marcellus sein. Gebt Lilien mit vollen Händen, ich will purpurfarbene<br />

Blumen verstreuen und die Seele meines Enkels wenigstens mit diesen Gaben überhäufen und dieses<br />

vergebliche Geschenk leisten.“ So schweiften sie weit und breit in den weiten Feldern der Luft umher<br />

und musterten alles. Nachdem Anchises seinen Sohn durch die einzelnen Gegenden geführt, und sein<br />

Gemüt mit der Liebe zu den zukünftigen Ruhmestaten entzündet hatte, (890) erzählte er darauf dem<br />

Held von den Kriegen, die anschließend zu führen waren, belehrte ihn über die laurentischen Völker<br />

sowie über die Stadt des Latinus und auf welche Weise er vor jeder Strapaze fliehen oder sie ertragen<br />

konnte: „Da gab es zwei Pforten des Schlafes, von denen die eine angeblich aus Horn ist, in welcher<br />

den echten Schatten ein leichter Ausgang gewährt wird, die andere ist aus strahlend weißem<br />

Elfenbein gefertigt und glänzend, doch die Manen schicken dort falsche Traumbilder zum Himmel.“<br />

Nachdem diese Worte gesprochen wurden, folgte Anchises sodann dem Sohn gemeinsam mit Sibylle<br />

dorthin und schickte sie aus der elfenbeinernen Pforte.<br />

Aeneas legte eilends den Weg zu den Schiffen zurück und sah seine Kameraden wieder. (900) Dann<br />

fuhr er geradewegs zum Hafen von Caieta. Man warf den Anker vom Bug herab. Die Schiffe lagen an<br />

der Küste.

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