gerettet! - Schauspiel Stuttgart
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GEFÄHR-<br />
<strong>gerettet</strong>!<br />
*09<br />
*08 *10 *12 *13<br />
10 13 steinkes gefährliche rettung liebschaften<br />
LICHE<br />
Woyzeck †<br />
Georg Büchner<br />
x<br />
Steinkes Rettung<br />
LIEBvon<br />
Oliver Bukowski<br />
NACH CHODERLOS DE LACLOS<br />
SCHAF-<br />
TEN<br />
s c hausp iel s tuttg a r t<br />
staatstheaterstuttgart<br />
_Nach Johann Wolfgang Goethe<br />
x
GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN<br />
> NACH CHODERLOS DE LACLOS <<br />
aus dem französischen von heinrich mann<br />
spielfassung von stephan rottkamp<br />
und sabine westermaier<br />
Premiere am 01. April 2006 im <strong>Schauspiel</strong>haus.<br />
Spieldauer: ca. 2:30 Stunden mit Pause<br />
Aufführungsrechte bei Suhrkamp Verlag.<br />
s c hausp iel s tuttg a r t<br />
staatstheaterstuttgart<br />
www.staatstheater-stuttgart.de
s chausp iels tuttgart<br />
gefährliche liebschaften<br />
s chausp iels tuttgart<br />
gefährliche liebschaften<br />
Besetzung<br />
marquise de merteuil<br />
präsidentin de tourvel<br />
cécile de volanges<br />
madame de volanges<br />
chevalier danceny<br />
vicomte de valmont<br />
regie<br />
bühne<br />
kostüme<br />
musik<br />
fechtszenen<br />
dramaturgie<br />
regieassistenz<br />
bühnenbildassistenz<br />
kostümassistenz<br />
inspizienz<br />
soufflage<br />
regiehospitanz<br />
bühnenbildhospitanz<br />
kostümhospitanz<br />
dramaturgiehospitanz<br />
studiomusiker<br />
Anna Windmüller<br />
Dorothea Arnold<br />
Mandy Rudski<br />
Katharina Ortmayr<br />
Bernhard Conrad<br />
Felix Goeser<br />
Stephan Rottkamp<br />
Robert Schweer<br />
Nini von Selzam<br />
Cornelius Borgolte<br />
Klaus Figge<br />
Sabine Westermaier<br />
Boris Garni<br />
Matthias Koch<br />
Bianca Spannfellner<br />
Bernd Lindner<br />
Frank Laske<br />
Janagran Mahendran<br />
Elisa Hartono<br />
Anna Schmidt<br />
Marie Senf<br />
Wolf Simon (Schlagzeug, Percussion),<br />
Caroline Siegers (Violine, Viola),<br />
Henning Beckmann (Posaune),<br />
Cornelius Borgolte (Klarinette).<br />
Technische Direktion: Karl-Heinz Mittelstädt // Technische Direktion<br />
<strong>Schauspiel</strong>: Andreas Zechner // Technische Einrichtung: Ralf Bogusch //<br />
Ton: Frank Bürger, Gerd Richard Schaul // Licht: Roland Edrich // Beleuchtung:<br />
Ulfried Kehl // Requisite: Edgar Girolla, Erol Papic // Maschinerie: Hans-<br />
Werner Schmidt // Leitung Dekorationswerkstätten: Bernhard Leykauf //<br />
Technische Produktionsbetreuung: Stefan Döhler // Malsaal: Michael Döring //<br />
Leitung Bildhauerei: Maik Glemser // Bildhauerei: Holger Horn, Eva Strobel,<br />
Stefan Bukovsek, Manije Alami, Tatjana J. Pölsler // Dekorationsabteilung:<br />
Donald Pohl // Schreinerei: Frank Schauss // Schlosserei: Patrick Knopke //<br />
Leitung Maske: Heinz Schary // Maske: Ursula Seidemann, Katrin Sahre,<br />
Renate Broda // Kostümdirektion: Werner Pick // Produktionsleitung Kostüme:<br />
Brigitte Simon // Gewandmeisterinnen: Renate Jeschke (Damen), Elke Betzner,<br />
Ellen Deilke (Herren) // Färberei: Martina Lutz // Rüstmeisterei: Rolf Otto //<br />
Schuhmacherei: Alfred Budenz, Verena Bähr // Modisterei: Ute Thoma //<br />
Kunstgewerbe: Heidemarie Roos-Erdle, Eva Schwarz<br />
Ein besonderer Dank der Bildhauerei geht an Simeon Wieler und Klaus Althoff<br />
aus der Dekorationsabteilung sowie an die Praktikantinnen Romy Müller, Laura<br />
Hansen, Eva Geyer.<br />
Dank an Peter Maaßen und Frank Laske für musikalische Recherche.<br />
s: 4 ˚<br />
s: 5 ˚
s chausp iels tuttgart<br />
gefährliche liebschaften<br />
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gefährliche liebschaften<br />
GEFÄHRLICHE<br />
LIEBSCHAFTEN<br />
ODER ÜBER DIE UNMÖGLICHKEIT DER WAHREN LIEBE<br />
Der Mensch des 18. Jahrhunderts definiert sich zunehmend über den<br />
Blick der anderen. Ein literarisches Beispiel für das schonungslose Diktat<br />
der öffentlichen Meinung ist der Roman gefährliche liebschaften.<br />
Sieben Jahre vor der Französischen Revolution, die jene Gesellschaftsschicht<br />
abzuschaffen versucht, deren Dekadenz und Unmoral er vorstellt,<br />
wird er als ein Bündel vorgefundener Briefe veröffentlicht. Pointiert<br />
beschreibt sein Autor Choderlos de Laclos die Skrupellosigkeit der Schönen<br />
und Reichen seiner Zeit, denen einerseits gesellschaftliches Ansehen<br />
über alle Maßen wichtig ist, und die andererseits ihren einzigen<br />
Zeitvertreib und Lebenszweck in zerstörerischen amourösen Spielen<br />
suchen. Doch ist der Roman weit mehr als ein historisches Dokument.<br />
Er ist sowohl ein zynischer Kommentar zur Aufklärung als auch ein<br />
frühes Manifest zur Befreiung der Frau. Beide Lesarten verdichten sich<br />
in der zentralen Figur des Romans, der Marquise de Merteuil. Obwohl<br />
man sie als Leser wegen ihres amoralischen Verhaltens verachtet,<br />
zollt man ihr in gleichem Maße Bewunderung für ihr glänzendes Spiel.<br />
Zusammen mit Valmont, ihrem besten Freund und liebsten Feind, bildet<br />
sie ein duo infernale. Hier sind zwei die Gott herausfordern, indem sie<br />
sich ihr Universum selbst erschaffen. Valmont ist die Sonne, um ihn<br />
herum kreisen die Frauen. In jeder von ihnen manifestiert sich ein anderer<br />
Entwurf von Frausein.<br />
Da ist die Präsidentin de Tourvel, eine ehrbare Ehefrau, die ein Opfer<br />
ihrer unterdrückten Sinnlichkeit und moralischen Hochmuts wird. Da ist<br />
die junge Cécile de Volanges, gerade der Klostererziehung entkommen,<br />
die dem schädlichen Einfluss der beiden Libertins keinen Widerstand<br />
zu leisten vermag. Da ist Céciles gluckende Mutter, Madame de Volanges,<br />
eifrig darauf bedacht, gesellschaftliche Konventionen so gut wie<br />
möglich zu erfüllen. Und schließlich die Merteuil selbst als Verkörperung<br />
des Bösen schlechthin. Ihr System, das frei nach Descartes auf der<br />
Absolutsetzung des analytischen Verstandes basiert, offenbart sie<br />
Valmont in dem berühmten 81. Brief: Von frühester Jugend an richtet<br />
sie ihren Blick auf die Innenwelt der Psyche und deren Ausdruck in Verhalten,<br />
Physiognomie und Mimik; sie beobachtet die Regeln zwischen<br />
den Geschlechtern, studiert und erforscht diese. Ihr Begehren ist jedoch<br />
nicht deren offensichtliche Ungerechtigkeiten zu bekämpfen, sondern<br />
diese mit perfider Geschicklichkeit für sich auszunutzen. Es wäre also<br />
s: 6 ˚<br />
s: 7 ˚
s chausp iels tuttgart<br />
gefährliche liebschaften<br />
s chausp iels tuttgart<br />
gefährliche liebschaften<br />
falsch bei ihr von einer emanzipierten Frau zu sprechen, trotzdem übt<br />
ihr Selbst- und Weltverständnis eine weit größere Faszination aus als das<br />
der Präsidentin. Die Taktik, auf der die Kunst der Intrige bei Merteuil<br />
und Valmont beruht, heißt Wissen als Macht. Ihr oberstes Gebot ist<br />
die Herrschaft des Verstandes über die Natur, der Ratio über die<br />
Emotion. Ihre Verführungskunst, das einzig auf Sieg ausgerichtete Spiel<br />
mit der Liebe verdanken beide ihrem rhetorischen Talent und psychologischen<br />
Scharfsinn. Die Merteuil ist Valmont jedoch immer eine<br />
Nasenlänge voraus. Weit vor Valmont erkennt sie, dass er die Präsidentin<br />
liebt und, dass sie ihn durch seine Eitelkeit dazu bringen kann,<br />
seine Liaison mit dieser zu beenden. Und wohl wissend, dass eine Frau<br />
in einer materiell orientierten Gesellschaft nach ihrem Marktwert bemessen<br />
wird, besteht ihr erster Schachzug darin, sich als Belohnung für<br />
Valmonts Eroberung der Präsidentin auszusetzen. Ihre Vorstellung von<br />
Liebe ist von gnadenloser Einfachheit: Liebe ist etwas, was man benutzt,<br />
nicht etwas, dem man verfällt. Und man will und darf natürlich<br />
niemals und muss und darf natürlich auf keinen Fall ihr ein klein wenig<br />
zustimmen, alldieweil die Liebe, also die wahre Liebe, sich in allen<br />
Paarkonstellationen als Wunschbild, Fata Morgana, Lüge, Täuschung,<br />
Blendwerk, Wahn, Hirngespinst entpuppt. Bei allen Figuren ist<br />
Sehnsucht nach Liebe mit einer tiefen Angst auf die Erfüllung derselben<br />
gepaart. Immer wieder wird diese hinausgezögert oder vermieden, ganz<br />
als ob sie zugleich ihr Ende bedeutet: Eben deshalb muss der Widerstand,<br />
der Umweg, die Verhinderung geschätzt werden, denn dadurch<br />
allein gewinnt die Liebe Dauer. Als Medium dieser Dauer dient das Wort.<br />
Worte trennen stärker als Körper, sie machen die Differenz zur Information<br />
und zum Anlass der Fortsetzung der Kommunikation (Luhmann).<br />
Bei den jungen Liebenden Danceny und Cécile entlarvt sich der Illusionscharakter<br />
der Liebe schon bald als bloße Schwärmerei. Ihre Empfindungen<br />
füreinander sind flüchtig und zuletzt befriedigen sie ihre durch<br />
die Hindernisse verstärkten Begierden, indem sie den geliebten Menschen<br />
kurzerhand ersetzen. Cécile wechselt Danceny (zunächst gezwungenermaßen,<br />
dann jedoch freiwillig) durch Valmont aus. Danceny<br />
tauscht Cécile durch die Merteuil aus. Die zweite Liebe ist die zwischen<br />
Valmont und der Präsidentin. Vor allem ihre Tugendhaftigkeit ist es,<br />
die in Valmont den Wunsch weckt, sie zu profanieren. Aber erst der nie<br />
gekannte Widerstand, den sie ihm zunächst entgegenbringt und der Pakt<br />
mit der Marquise lassen die so harmlos beginnende Liason zu einem<br />
Wettlauf auf Leben und Tod werden. Auch in dieser Beziehung dominiert<br />
die Verstellung. Valmont schildert ein ums andere Mal wie er der<br />
s: 8 ˚<br />
s: 9 ˚
s chausp iels tuttgart<br />
gefährliche liebschaften<br />
s chausp iels tuttgart<br />
gefährliche liebschaften<br />
Präsidentin einen inneren Zustand der Verwirrung vorspielt, der ihn<br />
dann durch sein überzeugendes <strong>Schauspiel</strong> selbst in einen Liebestaumel<br />
reißt. Genau diese Unfähigkeit, einen kühlen Kopf zu bewahren, verzeiht<br />
die Merteuil ihm nicht. Und da Valmont die Präsidentin seiner grenzenlosen<br />
Eitelkeit opfert, ohne zu begreifen, dass dieser Schritt die Geliebte<br />
töten muss, bleibt auch diese Liebe bloße Illusion.<br />
Die beiden einzigen Figuren bei denen die Liebe nicht nur als Suche<br />
existiert, obschon auch ihre Fortsetzung ein ums andere Mal aufgeschoben<br />
wird, sind die beiden Libertins selbst. Und auch wenn die Liebe<br />
als Passion zwischen Valmont und der Präsidentin nach wie vor dem<br />
favorisierten Liebesideal Hollywoods entspricht, ist die Beziehung zwischen<br />
Merteuil und Valmont eindeutig die modernere. Ihre auf Vertrauen<br />
und Ehrlichkeit basierende Freundschaft, die einer leidenschaftlichen<br />
Liebesbeziehung gefolgt ist, überschreitet das auch heute immer noch<br />
gültige bürgerliche Liebesideal von ewiger Treue. Anders als die anderen<br />
Paarbeziehungen hat diese Liaison ihren flüchtigen Charakter in<br />
etwas Permanentes verwandelt. Und obwohl die Merteuil längst begriffen<br />
hat, dass Mann und Frau nie gleichrangige Partner sind, der Mann<br />
nie Freund oder Geliebter, sondern immer nur Tyrann oder Sklave einer<br />
Frau ist, scheint sie bei Valmont eine Ausnahme gemacht zu haben,<br />
die er um so bitterer enttäuscht. Anders als Valmont, der sich des<br />
Ruhmes einer bestimmten Gesellschaft sicher ist, ist er für die Merteuil<br />
der alleinige Zeuge ihrer bösen Taten. Nur in ihm kann sie sich spiegeln.<br />
Nur ihm gegenüber legt sie nicht nur ihre Verschleierungstaktiken als<br />
Frau ab, sondern enthüllt sich ihm mit dem 81. Brief vollends.<br />
Das gemeinsame Spiel kollabiert, als beide in entscheidenden Momenten<br />
nicht fähig sind, ihren Willen, sich und den anderen vollständig zu<br />
kontrollieren, zu unterdrücken. Zum Verhängnis wird ihnen nicht der<br />
rasante Wettstreit, den anderen in der Kunst der Intrige zu überbieten,<br />
sondern verletzte Machtansprüche und banale Eifersucht. Beide wollen<br />
unbedingt die Sonne des anderen sein und antworten mehr und mehr<br />
mit Panik, als diese bevorzugte Stellung streitig gemacht wird.<br />
So scheitern auch sie an ihrer alten Liebesbeziehung, die sie aus<br />
Gründen der zwischen ihnen bestehenden Gleichberechtigung aufgegeben<br />
hatten. Am Ende verlässt keiner der Liebeshungrigen den Reigen<br />
unbeschadet. Alle werden zu Opfern ihrer Liebeslust, dem Sehnen,<br />
zu lieben und geliebt zu werden. Was bleibt ist die Unmöglichkeit der<br />
‚wahren‘ Liebe.<br />
sabine westermaier<br />
s: 10 ˚<br />
s: 11 ˚
s chausp iels tuttgart<br />
gefährliche liebschaften<br />
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gefährliche liebschaften<br />
einundachtzigster brief<br />
die marquise von merteuil an den<br />
vicomte von valmont<br />
- 1782 -<br />
(...) Glauben Sie mir, Vicomte, man erwirbt selten die Eigenschaften,<br />
die man entbehren kann. Ich hatte keine Wahl, ich bin<br />
eine Frau. Frauen müssen viel fähiger sein als Männer. Da sie<br />
ohne Gefahr kämpfen, gehen Sie notwendig ohne Vorsicht zu<br />
Werke. Für euch Männer ist jede Niederlage nur ein Erfolg weniger.<br />
Nehmen wir meinetwegen an, dass ihr ebensoviel Geschicklichkeit<br />
daran setzt, uns zu besiegen, als wir daran, uns zu verteidigen,<br />
so werden sie zugeben, dass ihr sie nach dem Erfolge<br />
nicht mehr braucht. Die wechselweise auferlegten und entgegengenommenen<br />
Bande, ihr allein könnt sie nach Gutdünken enger<br />
anziehen oder zerreißen – und glücklich sind wir noch, wenn ihr<br />
leichten Muts das Geheimnis wählt statt des Lärms, euch mit<br />
demütigendem Verlassen begnügt und nicht aus dem Idol von<br />
gestern das Opfer von morgen macht! Wenn nun aber eine unselige<br />
Frau zuerst die Schwere der Kette fühlt, muss Ihre Vorsicht<br />
mit Geschicklichkeit diese selben Bande aufknüpfen, die ihr zerrissen<br />
hättet. Auf die Gnade ihres Feindes angewiesen, ist sie<br />
ohne Rettung, wenn er ohne Großmut ist. Diese Wahrheiten werden<br />
Sie wohl nicht leugnen. Wenn Sie gleichwohl gesehen<br />
haben, wie ich, unter willkürlicher Anordnung von Ereignissen<br />
und Meinungen, aus diesen so furchtbaren Männern das Spielzeug<br />
meiner Launen oder meiner Einfälle machte, wie ich den<br />
einen die Lust, den anderen die Macht, mir zu schaden, nahm;<br />
wenn ich sie abwechselnd an meine Gefolgschaft zu fesseln und<br />
von mir wegzustoßen verstanden habe, und mein Ruf sich dennoch<br />
rein erhalten hat: haben Sie daraus nicht schließen müssen,<br />
dass ich, dazu geboren, mein Geschlecht zu rächen und Ihres zu<br />
meistern, mir Mittel zu schaffen gewusst habe, die bis auf mich<br />
unbekannt waren? In die Welt eingetreten, da ich, als Mädchen<br />
noch dem Schweigen und der Untätigkeit geweiht war, habe ich<br />
dies auszunutzen verstanden. Während man mich für gedankenlos<br />
oder zerstreut hielt, hörte ich wenig auf die Reden, die man<br />
sich mir zu halten befliss, nahm aber sorgfältig die in mir auf, die<br />
s: 12 ˚ s: 13 ˚
s chausp iels tuttgart<br />
gefährliche liebschaften<br />
s chausp iels tuttgart<br />
gefährliche liebschaften<br />
man mir zu verbergen suchte. Diese Neugier diente dazu, mich<br />
zu bilden, und lehrte mich zugleich, mich zu verstellen. Empfand<br />
ich etwa Kummer, befleißigte ich mich, heiter auszusehen. Ich<br />
habe den Eifer so weit getrieben, dass ich lernte, freundlich zu<br />
lächeln, während ich mir unter dem Tisch eine Gabel in den<br />
Handrücken stieß. Mit derselben Sorgfalt habe ich mich bearbeitet,<br />
um die Zeichen einer unerwarteten Freude zu unterdrücken.<br />
So habe ich über meine Physiognomie die Macht erlangt, über<br />
die ich Sie manchmal so in Erstaunen gesehen habe.<br />
Sie können sich denken, dass ich, wie alle jungen Mädchen, die<br />
Liebe und ihre Freuden zu erraten suchte. Mir stand der Sinn<br />
aber nicht nach Genuss, ich wollte wissen. Ich fühlte, dass der<br />
einzige Mann, mit dem ich, ohne mir Blöße zu geben, von dem<br />
Gegenstand sprechen könne, mein Beichtvater sei. Ich beschuldigte<br />
mich, dass ich alles gemacht habe, was die Frauen machten.<br />
Der gute Pater malte mir die Sünde so groß aus, dass ich<br />
daraus schloss, das Vergnügen müsse ungeheuer sein. Wenige<br />
Tage darauf kündigte meine Mutter mir meine Heirat an und ich<br />
gelangte jungfräulich in Monsieur de Merteuils Arme. In der<br />
Hochzeitsnacht erwartete ich mit Seelenruhe den Augenblick,<br />
der mich aufklären sollte, und brauchte Überlegung, um Verwirrung<br />
und Furcht zu zeigen. Diese erste Nacht, von der man sich<br />
gewöhnlich eine so grausame oder so süße Vorstellung macht,<br />
bot mir nur Gelegenheit zu Erfahrungen. Ich beobachtete alles<br />
genau und erblickte in diesen verschiedenen Empfindungen nur<br />
zu sammelnde und zu bedenkende Tatsachen. Monsieur de Merteuils<br />
Krankheit unterbrach diese lieblichen Beschäftigungen. Er<br />
starb, wie Sie wissen, kurze Zeit darauf. Das Trauerjahr benutzte<br />
ich, um meine Studien zu vollenden: ich studierte unsere Sitten<br />
in den Romanen, unsere Ansichten bei den Philosophen, ich<br />
suchte sogar bei den strengsten Moralisten, was sie von uns verlangten,<br />
und verschaffte mir dergestalt Sicherheit über das, was<br />
man tun konnte, was man denken musste und was es zu scheinen<br />
galt. Ich bin in mein Herz hinabgestiegen und habe darin<br />
das der andern erforscht. Ich habe darin gesehen, dass es niemand<br />
gibt, der dort nicht ein Geheimnis bewahrt, an dessen<br />
s: 14 ˚<br />
s: 15 ˚
s chausp iels tuttgart<br />
gefährliche liebschaften<br />
s chausp iels tuttgart<br />
gefährliche liebschaften<br />
Verschleierung ihm liegt. Dann war ich soweit, meine Methoden<br />
zu perfektionieren. Erwerbe den Ruf der Unbesieglichen. Damit<br />
ich dies erreichte, waren die Männer, die mir nicht gefielen,<br />
immer die einzigen, bei deren Huldigung ich aussah, als genehmigte<br />
ich sie. Ich verwendete sie nützlich, um mir einen ehrenvollen<br />
Widerstand zu verschaffen, während ich mich unbesorgt<br />
den vorgezogenen Liebhabern hingab. Die Kunst, sie zur Untreue<br />
zu veranlassen, damit ich selbst nicht flatterhaft aussehe, erheuchelte<br />
Freundschaft, scheinbares Zutrauen, einige Bekundungen<br />
von Großmut, die schmeichelhafte Vorstellung, die noch immer<br />
ein jeder hat, als sei er mein einziger Liebhaber gewesen, haben<br />
mir ihre Verschwiegenheit verschafft.<br />
Sie begehrte ich, bevor ich Sie gesehen hatte. Ich war durch<br />
Ihren Ruf verführt, es schien mir, als gingen Sie meinem Ruhme<br />
ab, ich brannte darauf, Brust an Brust mit Ihnen zu ringen. Es ist<br />
die einzige meiner Neigungen, die je einen Augenblick Herrschaft<br />
über mich gewonnen hat. (...)<br />
Wenn Sie wissen<br />
wollen, wo Gott wohnt,<br />
vertrauen Sie dem<br />
Zucken Ihrer Schenkel,<br />
dem Zittern Ihrer Knie.<br />
Ein Häutchen sollte<br />
uns hindern, ein Leib<br />
zu sein. Kurz ist der<br />
Schmerz und ewig ist<br />
die Freude.<br />
valmont in: heiner müller. quartett<br />
s: 16 ˚<br />
s: 17 ˚
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gefährliche liebschaften<br />
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gefährliche liebschaften<br />
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gefährliche liebschaften<br />
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gefährliche liebschaften<br />
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gefährliche liebschaften<br />
verführung<br />
Lie to me –<br />
I promise I’ll<br />
believe.<br />
sheryl crow<br />
Das allgegenwärtige Thema in gefährliche liebschaften ist das der<br />
Verführung. Doch was ist Verführung? Was macht verführerisch? Und vor<br />
allem: Wer verführt wen? Muss nicht der Verführer auch immer selbst<br />
verführt sein? Er muss, und zwar sowohl von seinem Opfer – sonst würde er<br />
ja nicht verführen wollen – als auch von sich selbst, dem verführerischen<br />
Bild, das er von sich geschaffen hat:<br />
Verführung heißt als Realität sterben und sich als Täuschung produzieren.<br />
Es bedeutet, in die Falle der eigenen Täuschung zu gehen und sich in einer<br />
verzauberten Welt zu bewegen (Jean Baudrillard).<br />
Diese Verzauberung verführt sowohl den Verführer als auch den Verführten.<br />
Ihre Illusion muss unangetastet bleiben, ansonsten stirbt sie. Der Moment<br />
der Reversibilität, des Oszillierens zwischen Täuschung und Enthüllung<br />
macht die Verführung aus. Sie ist ein Spiel, der Realität enthoben, das<br />
sich seine eigene Welt schafft. Ihre Zerbrechlichkeit, die allgegenwärtige<br />
Bedrohung der Verzauberung durch den Einbruch der Realität macht sie<br />
so begehrenswert. Das Ziel des Verführers ist aber zuallererst, den anderen<br />
von seiner Wahrheit abzubringen. Diese Wahrheit bildet fortan ein Geheimnis,<br />
das dem Verführten entgeht (Vincent Descombes).<br />
Der Verführer bringt den Verführten dazu, seine Realität zu vergessen –<br />
insofern ist auch ein Hollywoodfilm höchst verführerisch – während er selbst<br />
sich der Verzauberung, in der er sich bewegt, stets bewusst bleiben muss,<br />
da er es ist, der sie aufrechterhält. Er lässt sich also gleichzeitig von der<br />
Verzauberung und von der eigenen Kontrolle über dieselbe verführen –<br />
man könnte seine Position als Meta-Verführung, eine Verführung zweiten<br />
Grades bezeichnen. In diesem Sinne ist die Marquise de Merteuil<br />
dem Vicomte de Valmont als Verführerin weit überlegen: Ihr gelingt<br />
s: 22 ˚<br />
s: 23 ˚
s chausp iels tuttgart<br />
gefährliche liebschaften<br />
s chausp iels tuttgart<br />
gefährliche liebschaften<br />
das Kunststück, sämtliche anderen Figuren des Romans zu verführen – sie<br />
verführt Valmont dazu, die Präsidentin de Tourvel zu verlassen, obwohl er<br />
sie liebt; sie verführt den Ritter Danceny, der auf diese Weise seine Liebe zu<br />
Cecile vergisst; sie beauftragt Valmont, Cecile zu verführen, die darüber<br />
Danceny vergisst; sie entfremdet Cecile ihrer Mutter und überzeugt diese,<br />
ihre Tochter in eine Vernunftehe mit Gercourt zu zwingen anstatt ihr eine<br />
Liebesheirat mit Danceny zu ermöglichen. Und nicht zuletzt verführt sie ihren<br />
Schöpfer selbst.<br />
Laclos wollte eine Anklage gegen die Verlogenheit und Amoralität der adligen<br />
Gesellschaft verfassen, doch auch er verfällt der Faszination seiner beiden<br />
Hauptfiguren – Valmont und die Marquise dominieren den Raum des Romans,<br />
sie beherrschen ihn durch die minutiöse Schilderung ihrer selbst in ihren<br />
Briefen, sie verführen durch ihre intellektuelle Brillanz sowie ihre Freiheit<br />
von jeglichen moralischen Grenzen und Kategorien und ziehen den Leser in<br />
ein ständiges Wechselspiel von Faszination und Abscheu.<br />
Ihre Herausforderung besteht in der Infragestellung jeglicher ethischer<br />
Begriffe, indem sie die Überlegenheit des eiskalten Intellekts über das<br />
authentische Gefühl beweisen.<br />
schau / spiel<br />
VALMONT: Was ist? Spielen wir weiter?<br />
MERTEUIL: Spielen wir? Was weiter?<br />
(heiner müller. quartett)<br />
Wenn eine Grundvoraussetzung der Verführung die Täuschung ist, muss der<br />
Verführer immer und vor allem anderen <strong>Schauspiel</strong>er sein. Besonders die<br />
Marquise kann als Prototyp des großen <strong>Schauspiel</strong>ers, wie ihn Denis Diderot<br />
1773 in dem Aufsatz ‚Das Paradox über den <strong>Schauspiel</strong>er‘ beschreibt, gesehen<br />
werden: Der große <strong>Schauspiel</strong>er (...) ist eine treffliche Marionette – eine<br />
Marionette, deren Fäden der Dichter in der Hand hält und der mit jeder Zeile<br />
die Gestalt vorschreibt, die die wahre ist und die sie anzunehmen hat.(...)<br />
Wer also die äußeren Zeichen [von Empfindungen] kennt und sie (....) am<br />
vollendetsten wiedergibt, der ist der größte <strong>Schauspiel</strong>er.<br />
Der beste <strong>Schauspiel</strong>er ist also nicht der, der empfindet, der sich völlig mit<br />
der Rolle identifiziert, sondern derjenige, der die äußeren Zeichen der<br />
Empfindung so perfekt nachahmt, dass sie als wahrhaftig erscheinen –<br />
vielleicht sogar noch wahrhaftiger: Was die Leidenschaft selbst nicht leistet –<br />
s: 24 ˚<br />
s: 25 ˚
s chausp iels tuttgart<br />
gefährliche liebschaften<br />
s chausp iels tuttgart<br />
gefährliche liebschaften<br />
die nachgeahmte Leidenschaft bringt es zuwege. Die Fähigkeit, Menschen<br />
zu bewegen, setze voraus, selbst unbewegt zu sein, um die eigene Wirkung<br />
zu kontrollieren und außerdem genau zu beobachten, um nachahmen zu<br />
können, was nur aus einer emotionalen Distanz heraus möglich ist.<br />
Der große <strong>Schauspiel</strong>er darf sich keine Aussetzer erlauben, er muss immer<br />
dieselbe, perfekt austarierte Leistung reproduzieren können – jede Unstimmigkeit<br />
würde das ganze Illusionsgebäude zum Einsturz bringen und damit<br />
jede Wirkung – die Rührung der Zuschauer – zunichte machen.<br />
Diderot hätte die Marquise vermutlich zutiefst bewundert – wenn sie Theaterschauspielerin<br />
gewesen wäre. Doch sie vollzieht ihr Spiel in der (Roman)<br />
Realität, und damit kann jeder Fehler, jede Unstimmigkeit ihren Untergang<br />
bedeuten. Sie ist ihr eigenes Werk, Dichter und <strong>Schauspiel</strong>er in Personalunion:<br />
Vergebens hatte man mir gesagt und hatte ich gelesen, dies Gefühl<br />
[die Liebe] lasse sich nicht heucheln; ich sah gleichwohl, dass es, um dahin<br />
zu gelangen, genügte, mit dem Geist eines Autors die Gaben eines <strong>Schauspiel</strong>ers<br />
zu verbinden.<br />
Sie trainiert die Kontrolle über ihre Mimik, Gestik und Reden mit dem Ziel,<br />
ein täuschend echtes Abbild ihrer selbst zu erschaffen, bis sie schließlich<br />
in jede beliebige Rolle schlüpfen kann – die der mütterlichen Freundin, der<br />
scheuen oder enthemmten Liebhaberin und der tugendsamen Witwe.<br />
An Valmont schreibt sie: Mich nicht durchschauen zu lassen, war mir zu<br />
wenig, und so belustigte ich mich damit, mich unter verschiedenen Masken<br />
zu zeigen.(...) Ich wollte nicht genießen, ich wollte wissen, und der Wunsch,<br />
mich zu unterrichten, gab mir auch die Mittel dazu.<br />
Sie zieht ihre Lust nicht aus der Erfüllung von Begierden, sondern daraus,<br />
die eigenen Begierden und die der anderen nach Belieben zu lenken und zu<br />
kontrollieren. Ihr Wille zum Wissen ist der Wille zur Macht, und diese Macht<br />
schafft Lust. Die andere Seite der Medaille ist die Zurichtung, die dazu nötig<br />
ist. Sie muss sich selbst Gewalt antun, um in den Rahmen des eigenen Bildes<br />
zu passen, und dies wird nur möglich, wenn diese Gewalt als lustvoll empfunden<br />
wird. Die Merteuil darf sich – wie der <strong>Schauspiel</strong>er – keine Aussetzer<br />
erlauben, denn die kleinste Unstimmigkeit würde das Bild, das sie von sich<br />
erschaffen hat, in Scherben zerfallen lassen. Sie hat sich ihr eigenes Gefängnis,<br />
das der Verstellung, geschaffen, in dem sie Wärter und Gefangener<br />
zugleich ist. Verlässt sie ihren Wachtposten oder bricht aus dem selbstgewählten<br />
Gefängnis aus, hat das die Zerstörung des gesamten Gebäudes<br />
zur Folge.<br />
Paradoxerweise ermöglicht ihr die Fähigkeit zur Maskierung aber auch, das<br />
Leben zu führen, das sie sich wünscht, sich jeden Liebhaber zu nehmen der<br />
ihr gefällt und dabei trotzdem noch als Ideal einer tugendsamen Frau angesehen<br />
zu werden. Die Maske ist sowohl Zwang als auch Befreiung, die Lüge<br />
ermöglicht ihr, sie selbst zu sein.<br />
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s chausp iels tuttgart<br />
gefährliche liebschaften<br />
s chausp iels tuttgart<br />
gefährliche liebschaften<br />
enthüllung<br />
° außerdem hat das reale noch nie jemanden interessiert<br />
jean baudrillard<br />
Der Rokoko zelebriert die Rüsche, die Falte, die gezierte Rede und die gekünstelten<br />
Umgangsformen. In der abgeschlossenen Welt des Salons kann<br />
sich eine Kunstwelt entwickeln, ein Gesellschaftsspiel, dessen Regeln nur die<br />
Eingeweihten kennen. Da es eine überschaubare Welt ist, kann man, wenn<br />
man die Regeln beherrscht, sie wie die Merteuil nach Belieben formen und<br />
lenken.<br />
Es ist eine Welt des Scheins, hinter dessen Oberfläche sich lediglich Leere<br />
verbirgt, per se ein ‚verführerischer‘ Ort und ein Ort der Verführung.<br />
Aber die Leere ist nicht existent, solange der Schein für Realität genommen<br />
wird : Wenn die Künstlichkeit so sehr auf die Spitze getrieben wird, dass sie<br />
falscher als das Falsche wird, muss es möglich sein, sie in Realität zu transformieren<br />
– Minus plus Minus ergibt Plus.<br />
Nicht ob etwas wahr ist, ist wichtig, sondern ob es funktioniert – ‚even better<br />
than the real thing‘ heißt es bei U2 und Diderot schreibt (...) was liegt nun<br />
tatsächlich daran, ob sie [die <strong>Schauspiel</strong>er] empfinden oder nicht empfinden<br />
– vorausgesetzt, das wir das letztere nicht merken?<br />
Das Ideal besteht in der Verschmelzung von Person und Rolle, denn die Rolle<br />
verspricht Perfektion. Wenn der schöne Schein so sehr in Fleisch und Blut<br />
überginge, dass er Realität würde, wäre die perfekte Gesellschaft erreicht:<br />
jeder bekäme was er wollte, das Leben verliefe reibungslos wie ein Uhrwerk,<br />
nicht länger gestört von unvorhersehbaren Emotionen und Verhaltensweisen.<br />
Oder gerade nicht? Valmonts Liebe zu Madame de Tourvel gibt eine Ahnung<br />
davon: zuerst spielt er den Verliebten, aber schließlich wird diese Rolle<br />
Realität, er verliebt sich wirklich in sie.<br />
Das Paradoxe ist, dass das Erreichen des Ideals, die Verschmelzung von Rolle<br />
und Person, das System zum Einsturz bringt. Valmont und Merteuil haben<br />
ein Abbild, ein Imago von sich erschaffen, vergleichbar mit dem ‚image‘ von<br />
Hollywoodstars. Ein Star kann auf zwei Arten fallen: entweder wenn das<br />
perfekte Bild, das von ihm geschaffen wurde, zerstört wird – das ist bei der<br />
Marquise der Fall. Oder wenn, wie bei Valmont, das Ideal Realität wird. Im<br />
Gegensatz zu der Marquise ist er als eiskalter Verführer bekannt, niemand<br />
nimmt die Rolle des glühenden Verehrers wirklich ernst. Die Frauen, die er<br />
verführt hat, ließen sich von dem Bild des perfekten Liebhabers verführen,<br />
nicht von der Annahme, dass dieses Bild in irgendeiner Form authentisch sei.<br />
Wenn das Bild anziehend genug ist, wird die Frage nach der Wahrheit<br />
obsolet. Diese Illusion, die nicht vorgibt etwas anderes als eine Illusion zu<br />
sein, kann nur gebrochen werden, wenn sie – Realität wird. Ein Ideal kann<br />
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s chausp iels tuttgart<br />
gefährliche liebschaften<br />
s chausp iels tuttgart<br />
gefährliche liebschaften<br />
nur als Abstraktum und damit in der Vorstellung existieren. Wenn es Vorstellung<br />
ist, muss es von der Realität getrennt sein. Wird das Ideal erreicht,<br />
ist es keine Vorstellung mehr, sondern Realität, und da ein Abstraktum nicht<br />
Realität sein kann, kann es nicht mehr existieren. Ein Abstraktum ist unberührbar,<br />
Reales wird dekonstruierbar, sobald es real ist. Hätte Valmont sich<br />
nicht verliebt, die verräterischen Briefe der Marquise wären nicht ans Licht<br />
gekommen und das Spiel der beiden wäre vielleicht ewig weitergegangen –<br />
eine reibungslos funktionierende Intrigenmaschinerie.<br />
Am Ende haben beide aus Liebe ihre Prinzipien verraten, halten aber trotzdem<br />
an ihren alten Grundsätzen fest. Sie haben sich verändert und handeln<br />
trotzdem, als ob nichts geschehen wäre. Der Spagat zwischen Altem und<br />
Neuem gelingt allerdings nicht, die beiden Verführer fallen in die Lücke, die<br />
sich dazwischen aufgetan hat. Ihrer beider Ego steht zwischen ihnen und<br />
der Liebe, die sie doch eigentlich verbindet.<br />
marie senf<br />
Und Liebe,<br />
hat man die,<br />
wann man<br />
möchte?<br />
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s chausp iels tuttgart<br />
gefährliche liebschaften<br />
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gefährliche liebschaften<br />
CHODERLOS DE LACLOS<br />
Pierre-Ambrosius Choderlos de Laclos wird 1741 in Amiens<br />
als Sohn einer erst kürzlich in den Adelsstand erhobenen<br />
Familie geboren. 1759, während des Siebenjährigen Krieges,<br />
beginnt er eine Ausbildung als Artillerieoffizier. Aufgrund<br />
des Kriegsendes kommt es nicht mehr zum Fronteinsatz und<br />
auch seine weitere militärische Karriere verläuft eher<br />
schleppend, sie besteht vor allem aus häufigen Garnisonswechseln.<br />
Seinen Groll gegen die altadelige Gesellschaft lässt<br />
er 1779 nach einer Versetzung auf die Festungsinsel Aix in<br />
die liaisons dangereuses einfließen. 1783 wird er auf einen<br />
wenig attraktiven Posten in La Rochelle versetzt. Weiterhin<br />
zu einem Leben in der Warteschleife gezwungen, schwängert<br />
und heiratet er die Tochter eines höheren Offiziers.<br />
Während der französischen Revolution verfasst Laclos<br />
diverse politische Schriften, schreibt Reden für Robbespierre<br />
und wird sogar zum General befördert. 1793, während der<br />
Schreckensherrschaft, wird er wegen konterrevolutionärer<br />
Tendenzen verdächtigt und verhaftet. Der Guillotine entgeht<br />
er nur durch den Sturz Robespierres. 1799 schließt er sich<br />
Napoleon an und wird erneut General. 1800 nimmt er mit der<br />
Rheinarmee das erste Mal real an Kriegshandlungen teil.<br />
1803 stirbt Laclos in einem Lazarett in Tarent an einer<br />
Darminfektion. Sein Nachlass: eine bestickte Generalsuniform<br />
und die liaisons dangereuses. Ein geplantes positives<br />
Gegenstück, das vom Glück des Familienlebens handeln soll,<br />
kommt nie zustande.<br />
s: 32 ˚<br />
s: 33 ˚
impressum<br />
textnachweis<br />
Choderlos de Laclos, Gefährliche Liebschaften, aus dem Französischen<br />
von Heinrich Mann, Frankfurt am Main 2003; Choderlos de Laclos, Gefährliche Liebschaften,<br />
Deutsch von Franz Blei, Zürich 1985; Niklas Luhmann, Liebe als Passion:<br />
Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main 1998;<br />
Jean Baudrillard, Von der Verführung, München 1992; Denis Diderot, Das Paradox<br />
über den <strong>Schauspiel</strong>er, in: Ästhetische Schriften Bd. 2, Berlin und Weimar 1967;<br />
Heiner Müller, Quartett (nach Laclos), Berlin 1981.<br />
herausgeber<br />
<strong>Schauspiel</strong> <strong>Stuttgart</strong> / Staatstheater <strong>Stuttgart</strong><br />
intendant<br />
Hasko Weber<br />
redaktion<br />
Marie Senf, Sabine Westermaier<br />
gestaltung<br />
strichpunkt, <strong>Stuttgart</strong> / www.strichpunkt-design.de<br />
druck<br />
Engelhardt & Bauer<br />
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