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gerettet! - Schauspiel Stuttgart

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GEFÄHR-<br />

<strong>gerettet</strong>!<br />

*09<br />

*08 *10 *12 *13<br />

10 13 steinkes gefährliche rettung liebschaften<br />

LICHE<br />

Woyzeck †<br />

Georg Büchner<br />

x<br />

Steinkes Rettung<br />

LIEBvon<br />

Oliver Bukowski<br />

NACH CHODERLOS DE LACLOS<br />

SCHAF-<br />

TEN<br />

s c hausp iel s tuttg a r t<br />

staatstheaterstuttgart<br />

_Nach Johann Wolfgang Goethe<br />

x


GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN<br />

> NACH CHODERLOS DE LACLOS <<br />

aus dem französischen von heinrich mann<br />

spielfassung von stephan rottkamp<br />

und sabine westermaier<br />

Premiere am 01. April 2006 im <strong>Schauspiel</strong>haus.<br />

Spieldauer: ca. 2:30 Stunden mit Pause<br />

Aufführungsrechte bei Suhrkamp Verlag.<br />

s c hausp iel s tuttg a r t<br />

staatstheaterstuttgart<br />

www.staatstheater-stuttgart.de


s chausp iels tuttgart<br />

gefährliche liebschaften<br />

s chausp iels tuttgart<br />

gefährliche liebschaften<br />

Besetzung<br />

marquise de merteuil<br />

präsidentin de tourvel<br />

cécile de volanges<br />

madame de volanges<br />

chevalier danceny<br />

vicomte de valmont<br />

regie<br />

bühne<br />

kostüme<br />

musik<br />

fechtszenen<br />

dramaturgie<br />

regieassistenz<br />

bühnenbildassistenz<br />

kostümassistenz<br />

inspizienz<br />

soufflage<br />

regiehospitanz<br />

bühnenbildhospitanz<br />

kostümhospitanz<br />

dramaturgiehospitanz<br />

studiomusiker<br />

Anna Windmüller<br />

Dorothea Arnold<br />

Mandy Rudski<br />

Katharina Ortmayr<br />

Bernhard Conrad<br />

Felix Goeser<br />

Stephan Rottkamp<br />

Robert Schweer<br />

Nini von Selzam<br />

Cornelius Borgolte<br />

Klaus Figge<br />

Sabine Westermaier<br />

Boris Garni<br />

Matthias Koch<br />

Bianca Spannfellner<br />

Bernd Lindner<br />

Frank Laske<br />

Janagran Mahendran<br />

Elisa Hartono<br />

Anna Schmidt<br />

Marie Senf<br />

Wolf Simon (Schlagzeug, Percussion),<br />

Caroline Siegers (Violine, Viola),<br />

Henning Beckmann (Posaune),<br />

Cornelius Borgolte (Klarinette).<br />

Technische Direktion: Karl-Heinz Mittelstädt // Technische Direktion<br />

<strong>Schauspiel</strong>: Andreas Zechner // Technische Einrichtung: Ralf Bogusch //<br />

Ton: Frank Bürger, Gerd Richard Schaul // Licht: Roland Edrich // Beleuchtung:<br />

Ulfried Kehl // Requisite: Edgar Girolla, Erol Papic // Maschinerie: Hans-<br />

Werner Schmidt // Leitung Dekorationswerkstätten: Bernhard Leykauf //<br />

Technische Produktionsbetreuung: Stefan Döhler // Malsaal: Michael Döring //<br />

Leitung Bildhauerei: Maik Glemser // Bildhauerei: Holger Horn, Eva Strobel,<br />

Stefan Bukovsek, Manije Alami, Tatjana J. Pölsler // Dekorationsabteilung:<br />

Donald Pohl // Schreinerei: Frank Schauss // Schlosserei: Patrick Knopke //<br />

Leitung Maske: Heinz Schary // Maske: Ursula Seidemann, Katrin Sahre,<br />

Renate Broda // Kostümdirektion: Werner Pick // Produktionsleitung Kostüme:<br />

Brigitte Simon // Gewandmeisterinnen: Renate Jeschke (Damen), Elke Betzner,<br />

Ellen Deilke (Herren) // Färberei: Martina Lutz // Rüstmeisterei: Rolf Otto //<br />

Schuhmacherei: Alfred Budenz, Verena Bähr // Modisterei: Ute Thoma //<br />

Kunstgewerbe: Heidemarie Roos-Erdle, Eva Schwarz<br />

Ein besonderer Dank der Bildhauerei geht an Simeon Wieler und Klaus Althoff<br />

aus der Dekorationsabteilung sowie an die Praktikantinnen Romy Müller, Laura<br />

Hansen, Eva Geyer.<br />

Dank an Peter Maaßen und Frank Laske für musikalische Recherche.<br />

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gefährliche liebschaften<br />

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gefährliche liebschaften<br />

GEFÄHRLICHE<br />

LIEBSCHAFTEN<br />

ODER ÜBER DIE UNMÖGLICHKEIT DER WAHREN LIEBE<br />

Der Mensch des 18. Jahrhunderts definiert sich zunehmend über den<br />

Blick der anderen. Ein literarisches Beispiel für das schonungslose Diktat<br />

der öffentlichen Meinung ist der Roman gefährliche liebschaften.<br />

Sieben Jahre vor der Französischen Revolution, die jene Gesellschaftsschicht<br />

abzuschaffen versucht, deren Dekadenz und Unmoral er vorstellt,<br />

wird er als ein Bündel vorgefundener Briefe veröffentlicht. Pointiert<br />

beschreibt sein Autor Choderlos de Laclos die Skrupellosigkeit der Schönen<br />

und Reichen seiner Zeit, denen einerseits gesellschaftliches Ansehen<br />

über alle Maßen wichtig ist, und die andererseits ihren einzigen<br />

Zeitvertreib und Lebenszweck in zerstörerischen amourösen Spielen<br />

suchen. Doch ist der Roman weit mehr als ein historisches Dokument.<br />

Er ist sowohl ein zynischer Kommentar zur Aufklärung als auch ein<br />

frühes Manifest zur Befreiung der Frau. Beide Lesarten verdichten sich<br />

in der zentralen Figur des Romans, der Marquise de Merteuil. Obwohl<br />

man sie als Leser wegen ihres amoralischen Verhaltens verachtet,<br />

zollt man ihr in gleichem Maße Bewunderung für ihr glänzendes Spiel.<br />

Zusammen mit Valmont, ihrem besten Freund und liebsten Feind, bildet<br />

sie ein duo infernale. Hier sind zwei die Gott herausfordern, indem sie<br />

sich ihr Universum selbst erschaffen. Valmont ist die Sonne, um ihn<br />

herum kreisen die Frauen. In jeder von ihnen manifestiert sich ein anderer<br />

Entwurf von Frausein.<br />

Da ist die Präsidentin de Tourvel, eine ehrbare Ehefrau, die ein Opfer<br />

ihrer unterdrückten Sinnlichkeit und moralischen Hochmuts wird. Da ist<br />

die junge Cécile de Volanges, gerade der Klostererziehung entkommen,<br />

die dem schädlichen Einfluss der beiden Libertins keinen Widerstand<br />

zu leisten vermag. Da ist Céciles gluckende Mutter, Madame de Volanges,<br />

eifrig darauf bedacht, gesellschaftliche Konventionen so gut wie<br />

möglich zu erfüllen. Und schließlich die Merteuil selbst als Verkörperung<br />

des Bösen schlechthin. Ihr System, das frei nach Descartes auf der<br />

Absolutsetzung des analytischen Verstandes basiert, offenbart sie<br />

Valmont in dem berühmten 81. Brief: Von frühester Jugend an richtet<br />

sie ihren Blick auf die Innenwelt der Psyche und deren Ausdruck in Verhalten,<br />

Physiognomie und Mimik; sie beobachtet die Regeln zwischen<br />

den Geschlechtern, studiert und erforscht diese. Ihr Begehren ist jedoch<br />

nicht deren offensichtliche Ungerechtigkeiten zu bekämpfen, sondern<br />

diese mit perfider Geschicklichkeit für sich auszunutzen. Es wäre also<br />

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gefährliche liebschaften<br />

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gefährliche liebschaften<br />

falsch bei ihr von einer emanzipierten Frau zu sprechen, trotzdem übt<br />

ihr Selbst- und Weltverständnis eine weit größere Faszination aus als das<br />

der Präsidentin. Die Taktik, auf der die Kunst der Intrige bei Merteuil<br />

und Valmont beruht, heißt Wissen als Macht. Ihr oberstes Gebot ist<br />

die Herrschaft des Verstandes über die Natur, der Ratio über die<br />

Emotion. Ihre Verführungskunst, das einzig auf Sieg ausgerichtete Spiel<br />

mit der Liebe verdanken beide ihrem rhetorischen Talent und psychologischen<br />

Scharfsinn. Die Merteuil ist Valmont jedoch immer eine<br />

Nasenlänge voraus. Weit vor Valmont erkennt sie, dass er die Präsidentin<br />

liebt und, dass sie ihn durch seine Eitelkeit dazu bringen kann,<br />

seine Liaison mit dieser zu beenden. Und wohl wissend, dass eine Frau<br />

in einer materiell orientierten Gesellschaft nach ihrem Marktwert bemessen<br />

wird, besteht ihr erster Schachzug darin, sich als Belohnung für<br />

Valmonts Eroberung der Präsidentin auszusetzen. Ihre Vorstellung von<br />

Liebe ist von gnadenloser Einfachheit: Liebe ist etwas, was man benutzt,<br />

nicht etwas, dem man verfällt. Und man will und darf natürlich<br />

niemals und muss und darf natürlich auf keinen Fall ihr ein klein wenig<br />

zustimmen, alldieweil die Liebe, also die wahre Liebe, sich in allen<br />

Paarkonstellationen als Wunschbild, Fata Morgana, Lüge, Täuschung,<br />

Blendwerk, Wahn, Hirngespinst entpuppt. Bei allen Figuren ist<br />

Sehnsucht nach Liebe mit einer tiefen Angst auf die Erfüllung derselben<br />

gepaart. Immer wieder wird diese hinausgezögert oder vermieden, ganz<br />

als ob sie zugleich ihr Ende bedeutet: Eben deshalb muss der Widerstand,<br />

der Umweg, die Verhinderung geschätzt werden, denn dadurch<br />

allein gewinnt die Liebe Dauer. Als Medium dieser Dauer dient das Wort.<br />

Worte trennen stärker als Körper, sie machen die Differenz zur Information<br />

und zum Anlass der Fortsetzung der Kommunikation (Luhmann).<br />

Bei den jungen Liebenden Danceny und Cécile entlarvt sich der Illusionscharakter<br />

der Liebe schon bald als bloße Schwärmerei. Ihre Empfindungen<br />

füreinander sind flüchtig und zuletzt befriedigen sie ihre durch<br />

die Hindernisse verstärkten Begierden, indem sie den geliebten Menschen<br />

kurzerhand ersetzen. Cécile wechselt Danceny (zunächst gezwungenermaßen,<br />

dann jedoch freiwillig) durch Valmont aus. Danceny<br />

tauscht Cécile durch die Merteuil aus. Die zweite Liebe ist die zwischen<br />

Valmont und der Präsidentin. Vor allem ihre Tugendhaftigkeit ist es,<br />

die in Valmont den Wunsch weckt, sie zu profanieren. Aber erst der nie<br />

gekannte Widerstand, den sie ihm zunächst entgegenbringt und der Pakt<br />

mit der Marquise lassen die so harmlos beginnende Liason zu einem<br />

Wettlauf auf Leben und Tod werden. Auch in dieser Beziehung dominiert<br />

die Verstellung. Valmont schildert ein ums andere Mal wie er der<br />

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gefährliche liebschaften<br />

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gefährliche liebschaften<br />

Präsidentin einen inneren Zustand der Verwirrung vorspielt, der ihn<br />

dann durch sein überzeugendes <strong>Schauspiel</strong> selbst in einen Liebestaumel<br />

reißt. Genau diese Unfähigkeit, einen kühlen Kopf zu bewahren, verzeiht<br />

die Merteuil ihm nicht. Und da Valmont die Präsidentin seiner grenzenlosen<br />

Eitelkeit opfert, ohne zu begreifen, dass dieser Schritt die Geliebte<br />

töten muss, bleibt auch diese Liebe bloße Illusion.<br />

Die beiden einzigen Figuren bei denen die Liebe nicht nur als Suche<br />

existiert, obschon auch ihre Fortsetzung ein ums andere Mal aufgeschoben<br />

wird, sind die beiden Libertins selbst. Und auch wenn die Liebe<br />

als Passion zwischen Valmont und der Präsidentin nach wie vor dem<br />

favorisierten Liebesideal Hollywoods entspricht, ist die Beziehung zwischen<br />

Merteuil und Valmont eindeutig die modernere. Ihre auf Vertrauen<br />

und Ehrlichkeit basierende Freundschaft, die einer leidenschaftlichen<br />

Liebesbeziehung gefolgt ist, überschreitet das auch heute immer noch<br />

gültige bürgerliche Liebesideal von ewiger Treue. Anders als die anderen<br />

Paarbeziehungen hat diese Liaison ihren flüchtigen Charakter in<br />

etwas Permanentes verwandelt. Und obwohl die Merteuil längst begriffen<br />

hat, dass Mann und Frau nie gleichrangige Partner sind, der Mann<br />

nie Freund oder Geliebter, sondern immer nur Tyrann oder Sklave einer<br />

Frau ist, scheint sie bei Valmont eine Ausnahme gemacht zu haben,<br />

die er um so bitterer enttäuscht. Anders als Valmont, der sich des<br />

Ruhmes einer bestimmten Gesellschaft sicher ist, ist er für die Merteuil<br />

der alleinige Zeuge ihrer bösen Taten. Nur in ihm kann sie sich spiegeln.<br />

Nur ihm gegenüber legt sie nicht nur ihre Verschleierungstaktiken als<br />

Frau ab, sondern enthüllt sich ihm mit dem 81. Brief vollends.<br />

Das gemeinsame Spiel kollabiert, als beide in entscheidenden Momenten<br />

nicht fähig sind, ihren Willen, sich und den anderen vollständig zu<br />

kontrollieren, zu unterdrücken. Zum Verhängnis wird ihnen nicht der<br />

rasante Wettstreit, den anderen in der Kunst der Intrige zu überbieten,<br />

sondern verletzte Machtansprüche und banale Eifersucht. Beide wollen<br />

unbedingt die Sonne des anderen sein und antworten mehr und mehr<br />

mit Panik, als diese bevorzugte Stellung streitig gemacht wird.<br />

So scheitern auch sie an ihrer alten Liebesbeziehung, die sie aus<br />

Gründen der zwischen ihnen bestehenden Gleichberechtigung aufgegeben<br />

hatten. Am Ende verlässt keiner der Liebeshungrigen den Reigen<br />

unbeschadet. Alle werden zu Opfern ihrer Liebeslust, dem Sehnen,<br />

zu lieben und geliebt zu werden. Was bleibt ist die Unmöglichkeit der<br />

‚wahren‘ Liebe.<br />

sabine westermaier<br />

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gefährliche liebschaften<br />

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gefährliche liebschaften<br />

einundachtzigster brief<br />

die marquise von merteuil an den<br />

vicomte von valmont<br />

- 1782 -<br />

(...) Glauben Sie mir, Vicomte, man erwirbt selten die Eigenschaften,<br />

die man entbehren kann. Ich hatte keine Wahl, ich bin<br />

eine Frau. Frauen müssen viel fähiger sein als Männer. Da sie<br />

ohne Gefahr kämpfen, gehen Sie notwendig ohne Vorsicht zu<br />

Werke. Für euch Männer ist jede Niederlage nur ein Erfolg weniger.<br />

Nehmen wir meinetwegen an, dass ihr ebensoviel Geschicklichkeit<br />

daran setzt, uns zu besiegen, als wir daran, uns zu verteidigen,<br />

so werden sie zugeben, dass ihr sie nach dem Erfolge<br />

nicht mehr braucht. Die wechselweise auferlegten und entgegengenommenen<br />

Bande, ihr allein könnt sie nach Gutdünken enger<br />

anziehen oder zerreißen – und glücklich sind wir noch, wenn ihr<br />

leichten Muts das Geheimnis wählt statt des Lärms, euch mit<br />

demütigendem Verlassen begnügt und nicht aus dem Idol von<br />

gestern das Opfer von morgen macht! Wenn nun aber eine unselige<br />

Frau zuerst die Schwere der Kette fühlt, muss Ihre Vorsicht<br />

mit Geschicklichkeit diese selben Bande aufknüpfen, die ihr zerrissen<br />

hättet. Auf die Gnade ihres Feindes angewiesen, ist sie<br />

ohne Rettung, wenn er ohne Großmut ist. Diese Wahrheiten werden<br />

Sie wohl nicht leugnen. Wenn Sie gleichwohl gesehen<br />

haben, wie ich, unter willkürlicher Anordnung von Ereignissen<br />

und Meinungen, aus diesen so furchtbaren Männern das Spielzeug<br />

meiner Launen oder meiner Einfälle machte, wie ich den<br />

einen die Lust, den anderen die Macht, mir zu schaden, nahm;<br />

wenn ich sie abwechselnd an meine Gefolgschaft zu fesseln und<br />

von mir wegzustoßen verstanden habe, und mein Ruf sich dennoch<br />

rein erhalten hat: haben Sie daraus nicht schließen müssen,<br />

dass ich, dazu geboren, mein Geschlecht zu rächen und Ihres zu<br />

meistern, mir Mittel zu schaffen gewusst habe, die bis auf mich<br />

unbekannt waren? In die Welt eingetreten, da ich, als Mädchen<br />

noch dem Schweigen und der Untätigkeit geweiht war, habe ich<br />

dies auszunutzen verstanden. Während man mich für gedankenlos<br />

oder zerstreut hielt, hörte ich wenig auf die Reden, die man<br />

sich mir zu halten befliss, nahm aber sorgfältig die in mir auf, die<br />

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gefährliche liebschaften<br />

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gefährliche liebschaften<br />

man mir zu verbergen suchte. Diese Neugier diente dazu, mich<br />

zu bilden, und lehrte mich zugleich, mich zu verstellen. Empfand<br />

ich etwa Kummer, befleißigte ich mich, heiter auszusehen. Ich<br />

habe den Eifer so weit getrieben, dass ich lernte, freundlich zu<br />

lächeln, während ich mir unter dem Tisch eine Gabel in den<br />

Handrücken stieß. Mit derselben Sorgfalt habe ich mich bearbeitet,<br />

um die Zeichen einer unerwarteten Freude zu unterdrücken.<br />

So habe ich über meine Physiognomie die Macht erlangt, über<br />

die ich Sie manchmal so in Erstaunen gesehen habe.<br />

Sie können sich denken, dass ich, wie alle jungen Mädchen, die<br />

Liebe und ihre Freuden zu erraten suchte. Mir stand der Sinn<br />

aber nicht nach Genuss, ich wollte wissen. Ich fühlte, dass der<br />

einzige Mann, mit dem ich, ohne mir Blöße zu geben, von dem<br />

Gegenstand sprechen könne, mein Beichtvater sei. Ich beschuldigte<br />

mich, dass ich alles gemacht habe, was die Frauen machten.<br />

Der gute Pater malte mir die Sünde so groß aus, dass ich<br />

daraus schloss, das Vergnügen müsse ungeheuer sein. Wenige<br />

Tage darauf kündigte meine Mutter mir meine Heirat an und ich<br />

gelangte jungfräulich in Monsieur de Merteuils Arme. In der<br />

Hochzeitsnacht erwartete ich mit Seelenruhe den Augenblick,<br />

der mich aufklären sollte, und brauchte Überlegung, um Verwirrung<br />

und Furcht zu zeigen. Diese erste Nacht, von der man sich<br />

gewöhnlich eine so grausame oder so süße Vorstellung macht,<br />

bot mir nur Gelegenheit zu Erfahrungen. Ich beobachtete alles<br />

genau und erblickte in diesen verschiedenen Empfindungen nur<br />

zu sammelnde und zu bedenkende Tatsachen. Monsieur de Merteuils<br />

Krankheit unterbrach diese lieblichen Beschäftigungen. Er<br />

starb, wie Sie wissen, kurze Zeit darauf. Das Trauerjahr benutzte<br />

ich, um meine Studien zu vollenden: ich studierte unsere Sitten<br />

in den Romanen, unsere Ansichten bei den Philosophen, ich<br />

suchte sogar bei den strengsten Moralisten, was sie von uns verlangten,<br />

und verschaffte mir dergestalt Sicherheit über das, was<br />

man tun konnte, was man denken musste und was es zu scheinen<br />

galt. Ich bin in mein Herz hinabgestiegen und habe darin<br />

das der andern erforscht. Ich habe darin gesehen, dass es niemand<br />

gibt, der dort nicht ein Geheimnis bewahrt, an dessen<br />

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gefährliche liebschaften<br />

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gefährliche liebschaften<br />

Verschleierung ihm liegt. Dann war ich soweit, meine Methoden<br />

zu perfektionieren. Erwerbe den Ruf der Unbesieglichen. Damit<br />

ich dies erreichte, waren die Männer, die mir nicht gefielen,<br />

immer die einzigen, bei deren Huldigung ich aussah, als genehmigte<br />

ich sie. Ich verwendete sie nützlich, um mir einen ehrenvollen<br />

Widerstand zu verschaffen, während ich mich unbesorgt<br />

den vorgezogenen Liebhabern hingab. Die Kunst, sie zur Untreue<br />

zu veranlassen, damit ich selbst nicht flatterhaft aussehe, erheuchelte<br />

Freundschaft, scheinbares Zutrauen, einige Bekundungen<br />

von Großmut, die schmeichelhafte Vorstellung, die noch immer<br />

ein jeder hat, als sei er mein einziger Liebhaber gewesen, haben<br />

mir ihre Verschwiegenheit verschafft.<br />

Sie begehrte ich, bevor ich Sie gesehen hatte. Ich war durch<br />

Ihren Ruf verführt, es schien mir, als gingen Sie meinem Ruhme<br />

ab, ich brannte darauf, Brust an Brust mit Ihnen zu ringen. Es ist<br />

die einzige meiner Neigungen, die je einen Augenblick Herrschaft<br />

über mich gewonnen hat. (...)<br />

Wenn Sie wissen<br />

wollen, wo Gott wohnt,<br />

vertrauen Sie dem<br />

Zucken Ihrer Schenkel,<br />

dem Zittern Ihrer Knie.<br />

Ein Häutchen sollte<br />

uns hindern, ein Leib<br />

zu sein. Kurz ist der<br />

Schmerz und ewig ist<br />

die Freude.<br />

valmont in: heiner müller. quartett<br />

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gefährliche liebschaften<br />

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gefährliche liebschaften<br />

verführung<br />

Lie to me –<br />

I promise I’ll<br />

believe.<br />

sheryl crow<br />

Das allgegenwärtige Thema in gefährliche liebschaften ist das der<br />

Verführung. Doch was ist Verführung? Was macht verführerisch? Und vor<br />

allem: Wer verführt wen? Muss nicht der Verführer auch immer selbst<br />

verführt sein? Er muss, und zwar sowohl von seinem Opfer – sonst würde er<br />

ja nicht verführen wollen – als auch von sich selbst, dem verführerischen<br />

Bild, das er von sich geschaffen hat:<br />

Verführung heißt als Realität sterben und sich als Täuschung produzieren.<br />

Es bedeutet, in die Falle der eigenen Täuschung zu gehen und sich in einer<br />

verzauberten Welt zu bewegen (Jean Baudrillard).<br />

Diese Verzauberung verführt sowohl den Verführer als auch den Verführten.<br />

Ihre Illusion muss unangetastet bleiben, ansonsten stirbt sie. Der Moment<br />

der Reversibilität, des Oszillierens zwischen Täuschung und Enthüllung<br />

macht die Verführung aus. Sie ist ein Spiel, der Realität enthoben, das<br />

sich seine eigene Welt schafft. Ihre Zerbrechlichkeit, die allgegenwärtige<br />

Bedrohung der Verzauberung durch den Einbruch der Realität macht sie<br />

so begehrenswert. Das Ziel des Verführers ist aber zuallererst, den anderen<br />

von seiner Wahrheit abzubringen. Diese Wahrheit bildet fortan ein Geheimnis,<br />

das dem Verführten entgeht (Vincent Descombes).<br />

Der Verführer bringt den Verführten dazu, seine Realität zu vergessen –<br />

insofern ist auch ein Hollywoodfilm höchst verführerisch – während er selbst<br />

sich der Verzauberung, in der er sich bewegt, stets bewusst bleiben muss,<br />

da er es ist, der sie aufrechterhält. Er lässt sich also gleichzeitig von der<br />

Verzauberung und von der eigenen Kontrolle über dieselbe verführen –<br />

man könnte seine Position als Meta-Verführung, eine Verführung zweiten<br />

Grades bezeichnen. In diesem Sinne ist die Marquise de Merteuil<br />

dem Vicomte de Valmont als Verführerin weit überlegen: Ihr gelingt<br />

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gefährliche liebschaften<br />

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gefährliche liebschaften<br />

das Kunststück, sämtliche anderen Figuren des Romans zu verführen – sie<br />

verführt Valmont dazu, die Präsidentin de Tourvel zu verlassen, obwohl er<br />

sie liebt; sie verführt den Ritter Danceny, der auf diese Weise seine Liebe zu<br />

Cecile vergisst; sie beauftragt Valmont, Cecile zu verführen, die darüber<br />

Danceny vergisst; sie entfremdet Cecile ihrer Mutter und überzeugt diese,<br />

ihre Tochter in eine Vernunftehe mit Gercourt zu zwingen anstatt ihr eine<br />

Liebesheirat mit Danceny zu ermöglichen. Und nicht zuletzt verführt sie ihren<br />

Schöpfer selbst.<br />

Laclos wollte eine Anklage gegen die Verlogenheit und Amoralität der adligen<br />

Gesellschaft verfassen, doch auch er verfällt der Faszination seiner beiden<br />

Hauptfiguren – Valmont und die Marquise dominieren den Raum des Romans,<br />

sie beherrschen ihn durch die minutiöse Schilderung ihrer selbst in ihren<br />

Briefen, sie verführen durch ihre intellektuelle Brillanz sowie ihre Freiheit<br />

von jeglichen moralischen Grenzen und Kategorien und ziehen den Leser in<br />

ein ständiges Wechselspiel von Faszination und Abscheu.<br />

Ihre Herausforderung besteht in der Infragestellung jeglicher ethischer<br />

Begriffe, indem sie die Überlegenheit des eiskalten Intellekts über das<br />

authentische Gefühl beweisen.<br />

schau / spiel<br />

VALMONT: Was ist? Spielen wir weiter?<br />

MERTEUIL: Spielen wir? Was weiter?<br />

(heiner müller. quartett)<br />

Wenn eine Grundvoraussetzung der Verführung die Täuschung ist, muss der<br />

Verführer immer und vor allem anderen <strong>Schauspiel</strong>er sein. Besonders die<br />

Marquise kann als Prototyp des großen <strong>Schauspiel</strong>ers, wie ihn Denis Diderot<br />

1773 in dem Aufsatz ‚Das Paradox über den <strong>Schauspiel</strong>er‘ beschreibt, gesehen<br />

werden: Der große <strong>Schauspiel</strong>er (...) ist eine treffliche Marionette – eine<br />

Marionette, deren Fäden der Dichter in der Hand hält und der mit jeder Zeile<br />

die Gestalt vorschreibt, die die wahre ist und die sie anzunehmen hat.(...)<br />

Wer also die äußeren Zeichen [von Empfindungen] kennt und sie (....) am<br />

vollendetsten wiedergibt, der ist der größte <strong>Schauspiel</strong>er.<br />

Der beste <strong>Schauspiel</strong>er ist also nicht der, der empfindet, der sich völlig mit<br />

der Rolle identifiziert, sondern derjenige, der die äußeren Zeichen der<br />

Empfindung so perfekt nachahmt, dass sie als wahrhaftig erscheinen –<br />

vielleicht sogar noch wahrhaftiger: Was die Leidenschaft selbst nicht leistet –<br />

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gefährliche liebschaften<br />

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gefährliche liebschaften<br />

die nachgeahmte Leidenschaft bringt es zuwege. Die Fähigkeit, Menschen<br />

zu bewegen, setze voraus, selbst unbewegt zu sein, um die eigene Wirkung<br />

zu kontrollieren und außerdem genau zu beobachten, um nachahmen zu<br />

können, was nur aus einer emotionalen Distanz heraus möglich ist.<br />

Der große <strong>Schauspiel</strong>er darf sich keine Aussetzer erlauben, er muss immer<br />

dieselbe, perfekt austarierte Leistung reproduzieren können – jede Unstimmigkeit<br />

würde das ganze Illusionsgebäude zum Einsturz bringen und damit<br />

jede Wirkung – die Rührung der Zuschauer – zunichte machen.<br />

Diderot hätte die Marquise vermutlich zutiefst bewundert – wenn sie Theaterschauspielerin<br />

gewesen wäre. Doch sie vollzieht ihr Spiel in der (Roman)<br />

Realität, und damit kann jeder Fehler, jede Unstimmigkeit ihren Untergang<br />

bedeuten. Sie ist ihr eigenes Werk, Dichter und <strong>Schauspiel</strong>er in Personalunion:<br />

Vergebens hatte man mir gesagt und hatte ich gelesen, dies Gefühl<br />

[die Liebe] lasse sich nicht heucheln; ich sah gleichwohl, dass es, um dahin<br />

zu gelangen, genügte, mit dem Geist eines Autors die Gaben eines <strong>Schauspiel</strong>ers<br />

zu verbinden.<br />

Sie trainiert die Kontrolle über ihre Mimik, Gestik und Reden mit dem Ziel,<br />

ein täuschend echtes Abbild ihrer selbst zu erschaffen, bis sie schließlich<br />

in jede beliebige Rolle schlüpfen kann – die der mütterlichen Freundin, der<br />

scheuen oder enthemmten Liebhaberin und der tugendsamen Witwe.<br />

An Valmont schreibt sie: Mich nicht durchschauen zu lassen, war mir zu<br />

wenig, und so belustigte ich mich damit, mich unter verschiedenen Masken<br />

zu zeigen.(...) Ich wollte nicht genießen, ich wollte wissen, und der Wunsch,<br />

mich zu unterrichten, gab mir auch die Mittel dazu.<br />

Sie zieht ihre Lust nicht aus der Erfüllung von Begierden, sondern daraus,<br />

die eigenen Begierden und die der anderen nach Belieben zu lenken und zu<br />

kontrollieren. Ihr Wille zum Wissen ist der Wille zur Macht, und diese Macht<br />

schafft Lust. Die andere Seite der Medaille ist die Zurichtung, die dazu nötig<br />

ist. Sie muss sich selbst Gewalt antun, um in den Rahmen des eigenen Bildes<br />

zu passen, und dies wird nur möglich, wenn diese Gewalt als lustvoll empfunden<br />

wird. Die Merteuil darf sich – wie der <strong>Schauspiel</strong>er – keine Aussetzer<br />

erlauben, denn die kleinste Unstimmigkeit würde das Bild, das sie von sich<br />

erschaffen hat, in Scherben zerfallen lassen. Sie hat sich ihr eigenes Gefängnis,<br />

das der Verstellung, geschaffen, in dem sie Wärter und Gefangener<br />

zugleich ist. Verlässt sie ihren Wachtposten oder bricht aus dem selbstgewählten<br />

Gefängnis aus, hat das die Zerstörung des gesamten Gebäudes<br />

zur Folge.<br />

Paradoxerweise ermöglicht ihr die Fähigkeit zur Maskierung aber auch, das<br />

Leben zu führen, das sie sich wünscht, sich jeden Liebhaber zu nehmen der<br />

ihr gefällt und dabei trotzdem noch als Ideal einer tugendsamen Frau angesehen<br />

zu werden. Die Maske ist sowohl Zwang als auch Befreiung, die Lüge<br />

ermöglicht ihr, sie selbst zu sein.<br />

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s chausp iels tuttgart<br />

gefährliche liebschaften<br />

s chausp iels tuttgart<br />

gefährliche liebschaften<br />

enthüllung<br />

° außerdem hat das reale noch nie jemanden interessiert<br />

jean baudrillard<br />

Der Rokoko zelebriert die Rüsche, die Falte, die gezierte Rede und die gekünstelten<br />

Umgangsformen. In der abgeschlossenen Welt des Salons kann<br />

sich eine Kunstwelt entwickeln, ein Gesellschaftsspiel, dessen Regeln nur die<br />

Eingeweihten kennen. Da es eine überschaubare Welt ist, kann man, wenn<br />

man die Regeln beherrscht, sie wie die Merteuil nach Belieben formen und<br />

lenken.<br />

Es ist eine Welt des Scheins, hinter dessen Oberfläche sich lediglich Leere<br />

verbirgt, per se ein ‚verführerischer‘ Ort und ein Ort der Verführung.<br />

Aber die Leere ist nicht existent, solange der Schein für Realität genommen<br />

wird : Wenn die Künstlichkeit so sehr auf die Spitze getrieben wird, dass sie<br />

falscher als das Falsche wird, muss es möglich sein, sie in Realität zu transformieren<br />

– Minus plus Minus ergibt Plus.<br />

Nicht ob etwas wahr ist, ist wichtig, sondern ob es funktioniert – ‚even better<br />

than the real thing‘ heißt es bei U2 und Diderot schreibt (...) was liegt nun<br />

tatsächlich daran, ob sie [die <strong>Schauspiel</strong>er] empfinden oder nicht empfinden<br />

– vorausgesetzt, das wir das letztere nicht merken?<br />

Das Ideal besteht in der Verschmelzung von Person und Rolle, denn die Rolle<br />

verspricht Perfektion. Wenn der schöne Schein so sehr in Fleisch und Blut<br />

überginge, dass er Realität würde, wäre die perfekte Gesellschaft erreicht:<br />

jeder bekäme was er wollte, das Leben verliefe reibungslos wie ein Uhrwerk,<br />

nicht länger gestört von unvorhersehbaren Emotionen und Verhaltensweisen.<br />

Oder gerade nicht? Valmonts Liebe zu Madame de Tourvel gibt eine Ahnung<br />

davon: zuerst spielt er den Verliebten, aber schließlich wird diese Rolle<br />

Realität, er verliebt sich wirklich in sie.<br />

Das Paradoxe ist, dass das Erreichen des Ideals, die Verschmelzung von Rolle<br />

und Person, das System zum Einsturz bringt. Valmont und Merteuil haben<br />

ein Abbild, ein Imago von sich erschaffen, vergleichbar mit dem ‚image‘ von<br />

Hollywoodstars. Ein Star kann auf zwei Arten fallen: entweder wenn das<br />

perfekte Bild, das von ihm geschaffen wurde, zerstört wird – das ist bei der<br />

Marquise der Fall. Oder wenn, wie bei Valmont, das Ideal Realität wird. Im<br />

Gegensatz zu der Marquise ist er als eiskalter Verführer bekannt, niemand<br />

nimmt die Rolle des glühenden Verehrers wirklich ernst. Die Frauen, die er<br />

verführt hat, ließen sich von dem Bild des perfekten Liebhabers verführen,<br />

nicht von der Annahme, dass dieses Bild in irgendeiner Form authentisch sei.<br />

Wenn das Bild anziehend genug ist, wird die Frage nach der Wahrheit<br />

obsolet. Diese Illusion, die nicht vorgibt etwas anderes als eine Illusion zu<br />

sein, kann nur gebrochen werden, wenn sie – Realität wird. Ein Ideal kann<br />

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s chausp iels tuttgart<br />

gefährliche liebschaften<br />

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gefährliche liebschaften<br />

nur als Abstraktum und damit in der Vorstellung existieren. Wenn es Vorstellung<br />

ist, muss es von der Realität getrennt sein. Wird das Ideal erreicht,<br />

ist es keine Vorstellung mehr, sondern Realität, und da ein Abstraktum nicht<br />

Realität sein kann, kann es nicht mehr existieren. Ein Abstraktum ist unberührbar,<br />

Reales wird dekonstruierbar, sobald es real ist. Hätte Valmont sich<br />

nicht verliebt, die verräterischen Briefe der Marquise wären nicht ans Licht<br />

gekommen und das Spiel der beiden wäre vielleicht ewig weitergegangen –<br />

eine reibungslos funktionierende Intrigenmaschinerie.<br />

Am Ende haben beide aus Liebe ihre Prinzipien verraten, halten aber trotzdem<br />

an ihren alten Grundsätzen fest. Sie haben sich verändert und handeln<br />

trotzdem, als ob nichts geschehen wäre. Der Spagat zwischen Altem und<br />

Neuem gelingt allerdings nicht, die beiden Verführer fallen in die Lücke, die<br />

sich dazwischen aufgetan hat. Ihrer beider Ego steht zwischen ihnen und<br />

der Liebe, die sie doch eigentlich verbindet.<br />

marie senf<br />

Und Liebe,<br />

hat man die,<br />

wann man<br />

möchte?<br />

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gefährliche liebschaften<br />

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gefährliche liebschaften<br />

CHODERLOS DE LACLOS<br />

Pierre-Ambrosius Choderlos de Laclos wird 1741 in Amiens<br />

als Sohn einer erst kürzlich in den Adelsstand erhobenen<br />

Familie geboren. 1759, während des Siebenjährigen Krieges,<br />

beginnt er eine Ausbildung als Artillerieoffizier. Aufgrund<br />

des Kriegsendes kommt es nicht mehr zum Fronteinsatz und<br />

auch seine weitere militärische Karriere verläuft eher<br />

schleppend, sie besteht vor allem aus häufigen Garnisonswechseln.<br />

Seinen Groll gegen die altadelige Gesellschaft lässt<br />

er 1779 nach einer Versetzung auf die Festungsinsel Aix in<br />

die liaisons dangereuses einfließen. 1783 wird er auf einen<br />

wenig attraktiven Posten in La Rochelle versetzt. Weiterhin<br />

zu einem Leben in der Warteschleife gezwungen, schwängert<br />

und heiratet er die Tochter eines höheren Offiziers.<br />

Während der französischen Revolution verfasst Laclos<br />

diverse politische Schriften, schreibt Reden für Robbespierre<br />

und wird sogar zum General befördert. 1793, während der<br />

Schreckensherrschaft, wird er wegen konterrevolutionärer<br />

Tendenzen verdächtigt und verhaftet. Der Guillotine entgeht<br />

er nur durch den Sturz Robespierres. 1799 schließt er sich<br />

Napoleon an und wird erneut General. 1800 nimmt er mit der<br />

Rheinarmee das erste Mal real an Kriegshandlungen teil.<br />

1803 stirbt Laclos in einem Lazarett in Tarent an einer<br />

Darminfektion. Sein Nachlass: eine bestickte Generalsuniform<br />

und die liaisons dangereuses. Ein geplantes positives<br />

Gegenstück, das vom Glück des Familienlebens handeln soll,<br />

kommt nie zustande.<br />

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impressum<br />

textnachweis<br />

Choderlos de Laclos, Gefährliche Liebschaften, aus dem Französischen<br />

von Heinrich Mann, Frankfurt am Main 2003; Choderlos de Laclos, Gefährliche Liebschaften,<br />

Deutsch von Franz Blei, Zürich 1985; Niklas Luhmann, Liebe als Passion:<br />

Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main 1998;<br />

Jean Baudrillard, Von der Verführung, München 1992; Denis Diderot, Das Paradox<br />

über den <strong>Schauspiel</strong>er, in: Ästhetische Schriften Bd. 2, Berlin und Weimar 1967;<br />

Heiner Müller, Quartett (nach Laclos), Berlin 1981.<br />

herausgeber<br />

<strong>Schauspiel</strong> <strong>Stuttgart</strong> / Staatstheater <strong>Stuttgart</strong><br />

intendant<br />

Hasko Weber<br />

redaktion<br />

Marie Senf, Sabine Westermaier<br />

gestaltung<br />

strichpunkt, <strong>Stuttgart</strong> / www.strichpunkt-design.de<br />

druck<br />

Engelhardt & Bauer<br />

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