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Jenseits des Ölgipfels - 4U.org

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<strong>Jenseits</strong> <strong>des</strong> <strong>Ölgipfels</strong><br />

Ein Peak-Oil Roman<br />

Copyright Eva Marbach 2004<br />

Draft 2004-07-28<br />

http://wt.parsimony.net/buch667/<br />

http://survival.4u.<strong>org</strong>/<br />

Forum zum Buch:<br />

http://f27.parsimony.net/forum66717/


Kapitel 1<br />

Sein Geldbeutel war fast leer. Jens stülpte ihn um und entleerte den gesamten Inhalt auf den<br />

Tisch. Auch mehrfaches Zählen der Geldstücke ergab kein befriedigen<strong>des</strong> Ergebnis. Ob sich in der<br />

Schreibtischschublade wohl noch ein Notgroschen finden ließ? Ein paar Münzen lagen tatsächlich<br />

zwischen den Stiften; achtlos hineingeworfen in besseren Zeiten, aber unbewusst für Tage wie diese<br />

zurückgelegt. Insgesamt reichte Jens' gesammelte Barschaft nur für einen sehr kleinen Einkauf, aber<br />

mit billigen Magenfüllern würde er wohl bis zum Monatsende auskommen. Er ahnte noch nicht, dass<br />

er diesen Tag später als den eigentlichen Wendepunkt betrachten würde.<br />

Jens verließ seine Single-Wohnung, sprang die Treppen hinunter, immer zwei Stufen aufeinmal<br />

nehmend und schwang sich auf sein Fahrrad, um zum nächstgelegenen Supermarkt zu fahren. Im<br />

Kopf stellte er unterwegs seinen Einkauf zusammen und strich die Cola als zu teuer; billiger<br />

Pulvereistee musste reichen.<br />

Unterwegs wurde seine Fahrt durch eine Autoschlange gebremst, die offensichtlich an einer<br />

Tankstelle auf das selten gewordene Benzin wartete. Solche Treibstoff-Warteschlangen sah Jens jetzt<br />

immer öfter, denn die Tankstellen hatten nur noch selten Benzin zu verkaufen. Das hatte natürlich<br />

starke Auswirkungen auf den Straßenverkehr, der im Vergleich zu früher nur noch tröpfelte. Auch jetzt<br />

hatten die meisten der fahrenden Autos kein Problem mit Blockierung der Straße durch die<br />

Wartenden, denn sie reihten sich selbst in die Schlange ein. Jens schlängelte sich an den stehenden<br />

Autos vorbei und freute sich, dass er als Fahrradfahrer nie an Tankstellen anstehen musste, um dort<br />

sein letztes Geld loszuwerden.<br />

Im Supermarkt angekommen, schob Jens seinen Wagen zügig an den teuren Leckereien vorbei,<br />

um gar nicht erst in Versuchung zu kommen. Eine Packung Toastbrot wanderte in den<br />

Einkaufswagen, zusammen mit einem Glas Erdbeermarmelade. Als er bei den billigen Spaghetti<br />

ankam, gähnte ihm ein Loch entgegen. Auch die billigen Spiralnudeln waren alle. Das warf Jens Pläne<br />

gründlich durcheinander, denn Nudeln waren sein wichtigstes Grundnahrungsmittel und die anderen<br />

Sorten kosteten dreimal soviel wie seine bevorzugten Spaghettis. Für die Nudeln würde er wohl noch<br />

in einen anderen Laden fahren müssen. Bei den Pizzas hatte er mehr Glück, denn eine einsame<br />

Billig-Pizza lag noch in der Kühltruhe.<br />

Aber auch in vier anderen Läden gab es keine billigen Nudeln mehr. Überhaupt fiel Jens auf, dass<br />

die meisten Produkte der unteren Preisklasse mehr oder weniger ausverkauft waren. An ständige<br />

Preissteigerungen hatte er sich ja schon gewöhnt, aber bisher konnte man immer auf billigere<br />

Ersatzprodukte zurückgreifen. Wenn die jetzt nur noch schwer zu kriegen waren, sah es allerdings<br />

düster aus.<br />

Als er am Gemeindezentrum vorbeifuhr, hatte sich dort eine lange Schlange mit Menschen<br />

angesammelt, die an einem Wagen anstanden. Jens verlangsamte seine Fahrt etwas, denn er war<br />

neugierig, was dort geboten wurde. Die Leute, die sich vom Wagen fortbewegten, hatten Schalen in<br />

der Hand aus denen sie im Stehen löffelten. Jetzt fiel Jens auf, dass die ganze Umgebung nach<br />

Erbseneintopf roch. War das ein Straßenfest oder eine Armenspeisung? Für ein Straßenfest fehlten<br />

die Musik und die Dekoration, und die schäbigen Klamotten, die einige der Schlangesteher trugen,<br />

deuteten eher auf eine Armenspeisung hin. Dass es eine Armenspeisung gab, fand Jens natürlich gut,<br />

aber er war entsetzt, wieviele Leute darauf anscheinend angewiesen waren. Hoffentlich würde er nie<br />

eine Armenspeisung nötig haben.<br />

Zuhause angekommen fand er einen gelben Zettel an seiner Wohnungstür kleben. Darauf stand<br />

"Limitierung Ihres Stromanschlusses auf 3 KW. Details entnehmen Sie bitte dem Informationsbrief in<br />

Ihrem Briefkasten.". Jens brachte schnell seine Einkäufe in die Wohnung und rannte dann nochmal<br />

nach unten, um sich den angekündigten Brief aus dem Briefkasten zu holen. Ausser dem Brief von der<br />

Stromgesellschaft gab es wie üblich nur Rechnungen. Eigentlich sollten viel öfter Liebesbriefe im<br />

Briefkasten liegen, dachte sich Jens, als er die Briefumschläge flüchtig durchblätterte.<br />

Den Strombrief riss er schon beim Treppesteigen auf, weil er wissen wollte, was es mit der<br />

Limitierung auf sich hatte. Der Brief besagte, dass die Kapazitäten der Stromgesellschaft nicht<br />

ausreichten, um alle Bewohner mit beliebig viel Strom zu vers<strong>org</strong>en. Um Ausfälle durch Stromspitzen<br />

zu vermeiden, waren alle normalen Stromverträge auf 3 KW Spitzenleistung begrenzt worden. Die<br />

Hauptsicherungen der Wohnungen waren ausgetauscht worden, sodass die Sicherung rausspringen<br />

würde, wenn man das Limit überschritt. Für einen Aufpreis wurden auch Stromverträge mit 4 oder 5


KW angeboten. Jens fand den Aufpreis jedoch geradezu unverschämt; den würde er sich auf keinen<br />

Fall leisten können.<br />

Seufzend machte er sich in seiner Wohnung daran, die Einkäufe richtig zu verstauen. Durch die<br />

lange Odyssee durch die Supermärkte war die Pizza schon aufgetaut und drängte darauf gebacken<br />

zu werden. Da ging es schon los mit der Stromreduzierung, denn Jens war bewusst, dass Backöfen<br />

besonders viel Strom verschlangen. Er überprüfte den aktuellen Stromfluss an seinem Stromzähler in<br />

der Abstellkammer. Ohne dass er ein Gerät wirklich nutzte, flossen schon 600 Watt. Das waren<br />

bestimmt sein Computer und die ganzen Geräte, die zwar ausgeschaltet waren, aber im Stand-By-<br />

Modus liefen. Um die Werte für den Backofen zu erfahren, musste er die Gebrauchsanweisung<br />

suchen. Er erinnerte sich genau, dass sie beim Einzug in der Wohnung gelegen hatte, zusammen mit<br />

anderen Unterlagen. Bei den Computer-Unterlagen waren sie nicht, obwohl sich dort all die anderen<br />

Gebrauchsanleitungen seiner Geräte befanden. Schließlich fand er das gesuchte Heftchen bei seinem<br />

Mietvertrag. Der Backofen wurde als besonders stromsparend angepriesen; er verbrauchte 2900<br />

Watt.<br />

Um den Backofen zu betreiben, würde er also allen anderen Geräte ausschalten müssen. Obwohl<br />

seine Wohnung sehr klein war, hatten sich einige Geräte angesammelt, die unablässig Strom fraßen.<br />

Das war nicht nur der Fernseher und die Stereoanlage, sondern auch der Anrufbeantworter und der<br />

Kühlschrank. Die meisten dieser Geräte ließen sich gar nicht richtig abschalten. Also entschloss sich<br />

Jens, einfach alle Stecker in seiner Wohnung zu ziehen, in der Hoffnung, dass nicht alle Geräte durch<br />

diesen selbstgemachten Stromausfall ihre Programmierungen verlieren würden. Nachdem in seiner<br />

Wohnung gar nichts mehr blinkte oder summte, stand der Stromzähler endlich auf 0 Watt.<br />

Diese Stromrationierung erschien Jens wie ein sehr schlechtes Zeichen für die zukünftige<br />

Energievers<strong>org</strong>ung. Schon lange wurde das Energiesparen überall gepredigt, aber dass die Höhe <strong>des</strong><br />

Stromverbrauchs gekappt worden war, stellte einen massiven Einbruch in die Lebensgewohnheiten<br />

der Menschen dar. Er selbst wusste immerhin, wie man den Stromverbrauch dosieren konnte, aber<br />

viele Leute wären damit bestimmt überfordert.<br />

Jens heizte den Backofen auf und bereitete die Pizza vor. Für eine zusätzliche Belegung fehlten<br />

ihm die Zutaten, also musste sie so reichen, wie sie war. Damit sie nicht ganz so billig schmeckte,<br />

streute er noch ordentlich Oregano drauf, denn davon hatte er noch genug.<br />

Während die Pizza im Ofen langsam Farbe annahm, dachte Jens über sein Leben nach. Monat für<br />

Monat um jeden Euro ringend, war nicht sein Plan gewesen. Auch nicht, dass er sich mit dem Belegen<br />

von Baguettes in einem Bistro den grössten Teil seines Lebensunterhaltes verdienen würde. Selbst<br />

die wenigen Web<strong>des</strong>ign-Aufträge, die ihm die Butter aufs Brot gaben, entsprachen nicht seinen<br />

eigentlichen Vorstellungen, aber davon dürfte es trotzdem deutlich mehr geben.<br />

Jens' Leben hatte sich sowieso ganz anders entwickelt als erhofft. Auf Anraten seiner Eltern und<br />

Lehrer hatte er Informatik studiert, weil er gut in Mathe gewesen war. Dabei wäre er viel lieber ein<br />

berühmter Erfinder geworden. Aber nein, Informatik galt zu der Zeit, als er sein Abi frisch in der<br />

Tasche hatte, als der sicherste Zukunftsberuf überhaupt. Da er seine Eltern nicht enttäuschen wollte,<br />

hatte er sich also der Informatik gewidmet, was ihm tatsächlich auch gut lag und sogar Spass machte,<br />

als er es mal akzeptiert hatte. Aber schon während <strong>des</strong> Studiums wurde von Jahr zu Jahr deutlicher,<br />

dass die Einstellungschancen für Informatiker immer schlechter wurden. Fast alle<br />

Programmentwickler-Jobs wanderten nach und nach ins Ausland ab und ein Heer von<br />

Programmierern drängte sich in den Bürger-Agenturen, um ihre wöchentliche "Grundsicherung II" den<br />

dortigen Auszahlungsautomaten zu entlocken.<br />

Also hatte Jens sich besonders viel Mühe gegeben, um wenigstens ein sehr gutes Examen<br />

hinzulegen, denn die Besten bekommen meistens einen Job, selbst wenn die Chancen schlecht<br />

stehen. Zwar hatte er sein Studium <strong>des</strong>halb nicht, wie erhofft, in Rekordzeit durchgezogen, dafür aber<br />

die zweitbeste Abschlussnote seines Jahrgangs geschafft. Trotzdem fand er keinen Job als<br />

Informatiker, so sehr er auch suchte. Arbeitsplätze, die seiner Qualifikation entsprachen, gab es<br />

inzwischen kaum noch, und die wenigen noch übrigen waren mit sehr engagierten Informatikern<br />

besetzt, die ihre Stelle hüteten wie den heiligen Gral. Jobs für schlechter ausgebildete Programmierer<br />

gab es hin und wieder noch, aber dort wurde er nicht genommen, weil er überqualifiziert war.<br />

Nur die Bun<strong>des</strong>wehr hatte ihn gewollt. Fast wäre er schon zu alt für die Einberufung geworden und<br />

die Wehrpflicht stand sowieso seit Jahren kurz vor der Abschaffung, aber die musternden Soldaten<br />

und Ärzte waren hocherfreut, jemanden vor sich zu haben, der nicht nur intelligent, sondern auch<br />

körperlich fit war. Die körperliche Fitness hatte er wohl seinem Karatetraining und dem ständigen<br />

Fahrradfahren zu verdanken. Vor lauter Freude, dass ihn jemand gerne haben wollte, vergass er völlig


zu verweigern (obwohl er das eigentlich v<strong>org</strong>ehabt hatte). Die Zeit beim Bund hatte ihm überraschend<br />

gut gefallen. Nach der Grundausbildung wurde er einer Truppe der elektronischen Kriegsführung<br />

zugeteilt und hatte dort die Aufgabe, Hackerangriffe zu simulieren und abzuwehren. Dabei entstanden<br />

einige nette kleine Programme, die wie Wachhunde durchs interne Netz patroullierten und Angreifer<br />

abwehrten. Eigentlich war es fast ein Traumjob, nur die militärische Umgebung behagte Jens auf<br />

Dauer nicht wirklich. Als ihm dann empfohlen wurde, sich zu verpflichten, war er zwar kurz in<br />

Versuchung, schlug aber doch nicht ein.<br />

Und so hatte die Bun<strong>des</strong>wehr ihn nach der Wehrdienstzeit wieder ausgespuckt und er musste<br />

sehen, wie er sich über Wasser hielt.


Kapitel 2<br />

Am nächsten Tag hatte Jens schon mittags Dienst in der Bistroküche. Ein Vorteil seiner Arbeit war,<br />

dass er dort an Arbeitstagen essen konnte, was sein Budget spürbar entlastete. Tina, die Kellnerin,<br />

begrüsste ihn fröhlich, als Jens das spärlich besuchte Bistro betrat. Gegen Monatsende wurde es<br />

immer schlimmer mit den schwindenden Gästen. Jetzt am Mittag waren nur drei Tische besetzt und<br />

gegen Abend war es oft auch nicht viel besser. Der Arbeitseinsatz würde wohl mal wieder langweilig<br />

werden.<br />

Angesichts der wenigen Gäste bereitete Jens nur eine Handvoll Baguettes zum Überbacken vor.<br />

Auch von den Sandwiches, die am Tresen auf hungrige Käufer warteten, ersetzte er nur diejenigen,<br />

die oll aussahen. Im Laufe <strong>des</strong> Vormittags waren offensichtlich kaum welche verkauft worden. Dann<br />

widmete er sich noch eine halbe Stunde dem Putzen, damit es wenigstens so aussah, als hätte er<br />

genug zu tun. Während er gerade die Friteuse einer gründlichen Reinigung unterzog, kam Ricardo,<br />

der Bistroinhaber in die Küche.<br />

"Ah, gut, die Friteuse hatte es sowieso mal wieder nötig. Was ich mit dir besprechen wollte, ...<br />

ähem, du siehst ja, was hier los ist, nämlich nichts. Bis zum nächsten Monatsanfang werde ich dich<br />

mittags hier nicht brauchen. Die paar Baguettes kann Tina auch locker mit erledigen. Und abends<br />

brauche ich dich eigentlich auch nur zur Stosszeit, und dass die zur Zeit kurz ist, weisst du ja selbst.<br />

Dann kannst du die Küche noch klar machen und danach ist Feierabend. Tja, und hoffen wir, dass<br />

zum Monatsanfang wieder mehr zahlungsfreudige Gäste kommen.", sagte Ricardo.<br />

Jens schluckte, sagte aber: "Geht in Ordnung. Also mittags gar nicht und abends nur kurz. Hoffen<br />

wir mal auf den Monatsanfang.". Statt<strong>des</strong>sen hätte er heulen können. Diese Arbeitsverkürzung<br />

bedeutete für ihn einen empfindlichen Verdienstausfall. Und das ausgerechnet jetzt, wo alles ständig<br />

teurer wurde. Blitzartig schoss ihm die Szene mit der Armenspeisung durch den Kopf, aber er<br />

versuchte, sie schnell wieder zu verdrängen.<br />

"Ach und noch was, bevor ich es vergesse: Die Zutaten werden in letzter Zeit immer teurer, wie dir<br />

bestimmt auch schon aufgefallen ist. Mach die Tomatenscheiben etwas dünner und nimm weniger<br />

Salatblätter für die Sandwiches.", fügte Ricardo seiner Hiobsbotschaft noch hinzu.<br />

Diesmal nickte Jens nur. Ihm war klar, dass diese Anweisung sinnvoll war, wenn man die Situation<br />

<strong>des</strong> Bistros bedachte. Aber es war alles andere als ein gutes Zeichen, wenn er sogar bei der Dicke<br />

der Tomatenscheiben sparen sollte.<br />

Schon bald war die Friteuse sauber und da Jens mittags sowieso nicht mehr gebraucht wurde,<br />

beendete er seinen Putzeinsatz. In der ganzen Zeit war nur ein einziges überbackenes Baguette<br />

verkauft worden. Das war ein absoluter Minusrekord, selbst für ein Monatsende.<br />

Frustriert setzte er sich mit einem Glas Wasser an einen der vielen freien Tische. Trinkwasser gab<br />

es noch kostenlos und einen Kaffee wollte er sich selbst zum Personalpreis nicht leisten.<br />

Tina setzte sich zu ihm, denn auch sie hatte momentan nichts zu tun. Darauf hatte Jens gehofft,<br />

weil ein Schwätzchen mit Tina meistens zu den angenehmeren Dingen <strong>des</strong> Lebens gehörte. In der<br />

Zeit seit Jens in dem Bistro arbeitete, hatte Tina sich zu einem echt guten Kumpel entwickelt. Ziemlich<br />

am Anfang hatten sie auch mal ausprobiert, ob da noch mehr zwischen ihnen sein könnte und waren<br />

miteinander in die Kiste gesprungen, aber obwohl es Spass gemacht hatte, war bei keinem der beiden<br />

Verliebtheit entstanden. Das hatte ihrer Freundschaft aber keinen Abbruch getan, eher im Gegenteil.<br />

"Ricardo hat dich auf Schmalspur-Arbeit gesetzt, oder?" eröffnete Tina ihr Gespräch.<br />

"Ja, leider. Das gefällt mir gar nicht, aber man kanns wohl auch nicht ändern.", antwortete Jens<br />

und zuckte mit den Achseln.<br />

"Wirklich beschissen, wie alles in letzter Zeit den Bach runtergeht. Statt dass es besser wird, wird<br />

es immer schneller schlimmer. Was da wohl schief läuft?"<br />

"Naja, Anfang <strong>des</strong> Jahrtausend haben wir wohl die Quittung bekommen für die Jahrzehnte, die wir<br />

seit den 70ern alle über unsere Verhältnisse gelebt haben. Aber der Absturz, den wir jetzt erleben,<br />

liegt anscheinend an der Ölknappheit."<br />

"Aber ich hab immer gehört, dass noch etwa die Hälfte <strong>des</strong> gesamten Erdöls vorhanden ist. Das<br />

müsste uns doch noch ne Weile reichen."


"Das ist aber genau das Problem, denn ab der Hälfte soll es viel langsamer und schwieriger gehen,<br />

das Öl aus dem Boden zu locken. Gestern hab ich mich mal im Internet etwas schlau gemacht, denn<br />

die Entwicklung in letzter Zeit kam mir auch sehr suspekt vor. Also das läuft folgendermaßen:<br />

Schon in den 50ern hat ein Erdölgeologe namens Hubbert herausgefunden, dass die<br />

Erdölförderung in der ersten Hälfte eines Ölfel<strong>des</strong> recht einfach und billig ist, weil das Öl quasi<br />

raussprudelt. Die Förderungsrate nimmt ständig zu, bis etwa die Hälfte <strong>des</strong> Öls in dem Feld gefördert<br />

ist. Danach wird es schwieriger, weil das Öl nicht mehr freiwillig aus dem Boden kommt. Damit man<br />

das Öl aus dem Boden kriegt, muss man zum Beispiel mit hohem Druck Wasser in das Ölfeld<br />

spritzen, um den Druck wieder zu erhöhen. Auch mit waagrechten Bohrlöchern kann man die<br />

Ölförderung noch eine Weile aufrechterhalten. Das alles kostet aber Geld und Energie und man kann<br />

es nicht beliebig steigern. In der Praxis sieht das dann so aus, dass eine alte Ölquelle nach und nach<br />

immer weniger Öl pro Tag hergibt, bis sie eines Tages ganz versiegt.<br />

Dieses Prinzip lässt sich auch auf die weltweite Ölförderung übertragen. Das heisst, nachdem die<br />

Hälfte <strong>des</strong> Erdöls gefördert wurde, wird die jährliche Fördermenge ständig weniger.<br />

Um den Zeitpunkt der höchsten Fördermenge, nach dem es dann bergab geht, wurde jahrlang<br />

gestritten, denn die Politker und Ökonomen haben den offiziellen Angaben über die restliche<br />

verfügbare Ölmenge geglaubt. Diese Mengen waren aber seit den 80ern stark überhöht angegeben,<br />

vor allem bei der OPEC, also den Ländern, die Erdöl exportieren. Diese Übertreibungen bei den<br />

Zahlen über die Ölreservern hatte denen wohl erhebliche Vorteile verschafft.<br />

Die ganzen Entscheidungsträger haben sich also kaum um das kommende Ölproblem gekümmert,<br />

denn sie dachten, das würde erst lange nach ihrer Regierungszeit auftreten. Da hat es auch nichts<br />

genützt, dass mehrere namhafte Erdölgeologen, wie beispielsweise Colin Campbell, vor den falschen<br />

Zahlen gewarnt hatten. Diese Geologen haben dem Phänomen auch den Namen "Peak Oil" gegeben,<br />

um klarzumachen, dass das Problem ab dem Moment der höchsten Fördermenge anfängt. Ihre<br />

Warnungen wurden jedoch einfach als Panikmache abgetan; wahrscheinlich auch, weil die<br />

Regierungen damals schon kaum mit den anderen aktuellen Problemen klarkamen.<br />

Auch die Wirtschaftswissenschaftler konnten mit den Warnungen vor Erdölknappheit nicht viel<br />

anfangen, weil es in ihrer Denkweise nur Angebot, Nachfrage und Geld gibt. Dass irgendetwas sich<br />

nicht nach der Nachfrage richtet, auch wenn die Preise hoch sind, hat einfach nicht in ihr Weltbild<br />

gepasst.<br />

Und so verstrich der gefürchtete Moment <strong>des</strong> Peak Oil nahezu unbemerkt kurz nach der<br />

Jahrtausendwende. Fast alle, die sich mit Erdöl beschäftigten, hatten erwartet, dass die weltweite<br />

Förderung nochmal ansteigen würde. Die Fördermenge blieb aber nach 2000 für ein paar Jahre etwa<br />

gleich hoch, mit unwesentlichen Schwankungen und dann hat sie allmählich nachgelassen. Da haben<br />

dann auch massive Suchbohrungen nach neuen Ölfeldern nicht geholfen, denn die kleinen Ölfelder,<br />

die noch gefunden werden, sind weniger als ein Tropfen auf dem heissen Stein.<br />

Unglücklicherweise wurde die Situation noch verschärft, weil China sich ausgerechnet in dieser<br />

Zeit zu einer Industrienation entwickelt hatte und enorm energiehungrig wurde. Daher sind dann auch<br />

recht bald die Spritpreise angestiegen. Aber das wurde damals noch alles auf die böse OPEC<br />

geschoben, die sich frecherweise weigerte, die Förderquoten zu erhöhen und die Preise zu senken.<br />

Der Knaller kam dann aber, als sich herausstellte, dass die Ölfelder im ölreichsten Land Saudi<br />

Arabien kurz vor dem Versiegen standen. Selbst die meisten Warner waren davon ausgegangen,<br />

dass das Öl in Saudi Arabien noch viele Jahre reichen würde. Es gab zwar einen, der schon 2004<br />

behauptete, dass die grössten Ölfelder in Saudi Arabien schon sehr erschöpft seien, aber das hat<br />

kaum jemanden interessiert. Als es dann allgemein bekannt wurde, fing das mit den Tankstellen ohne<br />

Benzin an. Seitdem gibt es die riesigen Schlangen an den Tankstellen, wenn es mal Benzin gibt. Du<br />

erinnerst dich bestimmt an die Schlagzeilen dazu."<br />

"Ja, ich erinnere mich. Das mit dem Benzin leuchtet mir auch ein. Und dass das Heizöl<br />

unerschwinglich geworden ist, versteh ich auch. Aber was hat das Erdöl mit dem Essen zu tun? Wir<br />

essen schließlich kein Erdöl."<br />

"In gewisser Weise essen wir durchaus Erdöl. Da spielt nicht nur der Sprit eine Rolle, der für die<br />

Traktoren und die LKWs gebraucht wird, sondern auch Dünger und Pestizide werden aus Erdöl und<br />

Erdgas hergestellt. Jetzt versuchen sie anscheinend, Dünger aus Kohle herzustellen, weil wir davon<br />

noch genug haben, aber der Kohledünger ist genauso unerschwinglich teuer, wie der andere Dünger<br />

geworden ist. Und die moderne Landwirtschaft kommt ohne Kunstdünger nicht aus. Ok, es wächst<br />

schon noch ein bisschen was, wenn man auf Dünger verzichtet. Aber das ist nur etwa ein Achtel bis


ein Viertel von dem, was man mit Kunstdünger ernten kann. Das ist sogar der Fall, wenn man diverse<br />

natürliche Düngeverfahren wie zum Beispiel Gründüngung benutzt. Und ohne genügend Pestizide,<br />

also Schädlingsbekämpfungsmittel, wird das hochgezüchtete Getreide ruckzuck Opfer der immer<br />

stärker werdenden Schädlinge; dann gibt es gar keine Ernte mehr. Genau das ist wohl im Lauf <strong>des</strong><br />

letzten Jahres an zu vielen Stellen passiert."<br />

"Hm, das leuchtet ein. Das waren dann wohl die ganzen nervigen Nachrichtenmeldungen von<br />

wegen Missernte und so, oder?"<br />

"Ja, genau. In den Medien haben sie ausführlich darüber berichtet, aber hier in Mitteleuropa kommt<br />

ja keiner auf die Idee, dass Missernten irgendwas mit dem Angebot in unseren Supermärkten zu tun<br />

haben könnten. Missernten lassen aus unserer Sicht die Leute in Entwicklungsländern verhungern,<br />

aber bei uns kann es ja keinen Hunger mehr geben. Wenn wir Pech haben, wird es aber auch bald<br />

hier echten Hunger geben und das nicht nur bei ein paar wenigen armen Schluckern."<br />

Tina riss entsetzt die Augen auf und sagte erstmal gar nichts. Nachdem sie tief Luft geholt hatte,<br />

fand sie einen Teil ihrer Fassung wieder und fragte: "Du meinst im Ernst, dass wir auf eine<br />

Hungersnot zusteuern?".<br />

"Wenn das stimmt, was ich gestern gelesen habe, dann könnte das durchaus passieren. Ich kann<br />

es mir allerdings auch kaum vorstellen, denn es ist irgendwie fast undenkbar in meinem Weltbild.<br />

Allerdings, wenn ich so sehe, wie sich das Angebot in den Supermärkten verschlechtert, dann scheint<br />

eine Hungersnot doch nicht so ganz unwahrscheinlich."<br />

"Ohje, das muss ich erstmal verdauen. Das heisst, dann würden auch Menschen an Hunger<br />

sterben, oder?"<br />

Jens erklärte: "Ja, das heisst es wohl. Manche Autoren schreiben sogar vom Aussterben. Diese<br />

extremen Schwarzseher gehen von Milliarden von Toten weltweit aus. Und wenn wir uns zusätzlich<br />

noch in Kriegen zerfleischen, könnte es sogar das Ende der Menschheit sein.".<br />

"Hm, das klingt ja grauenvoll. Ich fand es jetzt schon schlimm."<br />

"Wahrscheinlich wird es erst noch sehr viel schlimmer, bevor es wieder besser wird."<br />

"Ich glaub, mir wird schlecht. Das kann ich alles kaum fassen, aber irgendwie passt es total<br />

zusammen. Aussterben? Nein, das darf nicht sein! Und keiner hat es gemerkt, dass das Öl knapp<br />

wird?"<br />

"Manche haben es ja durchaus gemerkt und sogar schon vorher immer wieder gewarnt. Aber<br />

außer dass ein paar grüne Politiker ein Programm für alternative Energien durchgeboxt haben, hat<br />

das keiner wissen wollen. Sogar als die Ölpreise Anfang <strong>des</strong> Jahrtausends drastisch anstiegen, hat<br />

man nach tausend anderen Gründen dafür gesucht. Und die Ölfirmen haben die Öffentlichkeit immer<br />

mit Märchen von neuen Ölfeldern oder neuen Energiespendern, wie beispielsweise Teersand bei<br />

Laune gehalten. So langsam setzt sich die Erkenntnis wohl durch, dass die Zeit der Ölknappheit<br />

gekommen ist, aber jetzt ist es zu spät, um den Absturz noch abzufedern."<br />

Tina war inzwischen ziemlich blass geworden. Sie warf einen Blick auf ihren halb getrunkenen<br />

Kaffee, dann ließ sie den Blick durch das ganze Bistro schweifen, so als ob sie sich in Gedanken<br />

schon den Niedergang aller Details ausmalen würde.<br />

"Aussterben.... aussterben...", sagte sich zu sich, als ob sie die schwere Bedeutung dieses Wortes<br />

auf ihrer Zunge schmecken wollte. "... aussterben - das muss verhindert werden"<br />

"Ja, wir sollten das verhindern.", sagte Jens entschlossen. "Aber wie?"


Kapitel 3<br />

Das Thema "Aussterben" ließ Jens keine Ruhe mehr. In den nächsten Tagen dachte er viel<br />

darüber nach und las grosse Teile der englischsprachigen Internetseite dieoff.com, auf der die<br />

verschiedensten Wissenschaftler zu Wort kamen.<br />

Besonders erschreckte ihn die Vorstellung von den Bakterien, denn wenn man Bakterien in eine<br />

Schale mit Nährmedium setzt, dann vermehren sie sich immer schneller bis die Nährstoffe verbraucht<br />

sind. Dann bricht die "Bevölkerung" schlagartig auf ein Zehntel zusammen und die Bakterien fangen<br />

an, einander aufzufressen, bis alle tot sind.<br />

Nun gut, Menschen sind keine Bakterien, dachte sich Jens, aber das gleiche Prinzip hatte man<br />

überall beobachtet, wo Lebewesen in einem umgrenzten Raum mit endlichen Ressourcen lebten. Die<br />

"Einwohner" vermehrten sich ungebremst, Ressourcen wurden ohne Zurückhaltung verbraucht bis sie<br />

eines Tages knapp wurden und sich die Bevölkerung rapide verringerte, meistens auf maximal ein<br />

Zehntel der grössten Bevölkerung. Viele Tierarten waren auch auf diese Weise ausgestorben. Sogar<br />

bei Menschen war sowas schon v<strong>org</strong>ekommen, wie die Geschichte der Osterinsel zeigte.<br />

Ein Teil von Jens hätte sich am liebsten unter der Bettdecke verkrochen und wäre nie wieder<br />

herv<strong>org</strong>ekommen, und ein anderer Teil weigerte sich zu akzeptieren, dass ein Aussterben der<br />

Menschheit möglich sei. Selbst Milliarden von Toten passten einfach nicht in seinen Kopf, der fast zu<br />

platzen drohte. Daher wunderte sich Jens auch nicht über die leichten Kopfschmerzen, die ihn<br />

tagelang begleiteten.<br />

Immer wieder ging ihm durch den Kopf, was er in dem Gespräch mit Tina gesagt hatte: "Wir sollten<br />

das verhindern.". Wenn Jens "wir" sagte, dann meinte er damit auch sich selbst. Er, Jens Markert,<br />

würde nicht zulassen, dass die Menschheit einfach so ausstarb. Aber was konnte er tun, wenn nicht<br />

mal das Heer von Politikern, Wissenschaftlern und Wirtschaftsfachleuten in der Lage war, die<br />

Katastrophe aufzuhalten. Er hatte es ja nicht mal geschafft, sein eigenes Leben auf solide Beine zu<br />

stellen.<br />

Er beschloss, sich erstmal ausgiebig zu informieren, um sich ein möglichst umfassen<strong>des</strong> Bild von<br />

der Lage machen zu können. Ausserdem wurde ihm klar, dass er zunächst sich selbst vor dem<br />

Aussterben bewahren sollte, denn gute Karten hatte er in keinster Weise. Auch das war schon eine<br />

enorme Aufgabe.<br />

Die erste Massnahme war wohl sparen. Sparen in jeder Hinsicht, aber vor allem beim<br />

Energieverbrauch. Wieder einmal war er froh, dass er kein eigenes Auto hatte, aber auch der<br />

Stromverbrauch war von den Problemen betroffen. Weil das Öl so teuer war, wurde Strom inzwischen<br />

viel für den Verkehr benutzt und auch die Fabriken hatten teilweise ihre Energievers<strong>org</strong>ung von Öl auf<br />

Strom umgestellt. Die Folgen davon hatte er ja schon am eigenen Leib zu spüren bekommen.<br />

Bei seinen ausgeschalteten Geräten zog er jetzt immer den Stecker, der Computer wurde nachts<br />

runtergefahren und Pizza wurde ebenso wie alle anderen Gerichte, die einen Backofen brauchten,<br />

vom Speisezettel gestrichen. Sobald er wieder Geld hatte, wollte er sich Energiespar-Glühbirnen<br />

kaufen, denn selbst auf solche Kleinigkeiten hatte er vorher nicht geachtet. Aber das Alles wäre nur<br />

ein Tropfen auf dem heissen Stein.<br />

Jens rief bei der Werbeagentur an, für die er öfters Kundenaufträge erledigte und fragte, wie die<br />

Auftragslage sei. Die war erwartungsgemäss schlecht, aber einer der Kunden hatte Interesse an<br />

einem Online-Shop gezeigt, den er vielleicht bestellen würde, wenn er ein verlocken<strong>des</strong> Angebot<br />

bekäme. Ein Programm für Online-Shops hatte Jens glücklicherweise schon früher geschrieben, damit<br />

er das Rad nicht für jeden Kunden neu erfinden musste. In letzter Zeit konnte man sich sowieso schon<br />

freuen, wenn man einen angemessenen Betrag für die individuelle Anpassung und Installation der<br />

Programme bekam. Die Konkurrenz beherrschte den Markt mit gnadenlosen Dumpingpreisen. Mit<br />

dem Angebot für den potentiellen Kunden gab er sich besonders viel Mühe. Bisher war ihm das<br />

Schreiben von Angeboten immer lästig gewesen, aber jetzt schien es ihm wie ein Strohhalm zum<br />

Dranklammern.<br />

Je<strong>des</strong> Mal, wenn Jens zur Mittagszeit unterwegs war, sah er jetzt die Armenspeisung, bei der sich<br />

von Tag zu Tag mehr hungrige Menschen einfanden. Diese Armenspeisung wurde für Jens immer<br />

mehr zu einem Symbol <strong>des</strong> Niedergangs. Hier konnte er in der Realität sehen, was er sonst eher über<br />

die Medien mitbekam. Die wachsende Menschenmenge beunruhigte ihn enorm. Was würden diese<br />

Leute machen, wenn es keine Armenspeisung gäbe? Würden sie verhungern? Wahrscheinlich nicht


so schnell, denn bis man verhungert, dauert es eine Weile und ab und zu würde wahrscheinlich jeder<br />

noch etwas zu Essen auftreiben. Aber bestimmt würden viele der Leute öfter mal hungrig ins Bett<br />

gehen müssen.<br />

Nach ein paar Tagen hielt er es nicht mehr aus, immer an der Armenspeisung vorbei zu fahren, als<br />

würde sie ihn nichts angehen, denn in gewisser Weise ging sie ihn ja etwas an, weil er ständig daran<br />

denken musste. Also ging er an der Schlange vorbei zur Ausgabestelle, wobei ihm etliche Wartende<br />

zuriefen, er solle sich am Ende der Schlange anstellen, wie alle anderen auch. Jens murmelte etwas<br />

von "Ich will doch nur was fragen." und ging unbeirrt weiter. An der Ausgabestelle angekommen, sagte<br />

ihm auch der erste Helfer, der ihn bemerkte, dass er sich hinten anstellen solle.<br />

"Ich wollte eigentlich nur fragen, ob ich mithelfen kann. Gegessen habe ich schon.", sagte Jens zu<br />

dem Helfer.<br />

"Ach so, das ist was anderes. Wir haben aber keine Suppenkellen mehr. Ansonsten können wir<br />

jede Hilfe gebrauchen."<br />

"Eine Suppenkelle könnte ich holen, ich wohne nicht weit. Soll ich gleich damit wiederkommen?"<br />

Der Helfer nickte und Jens machte sich auf den Weg nach Hause, um eine seiner Suppenkellen zu<br />

holen. Mit der Kelle in der Hand erntete er bei den Schlangestehenden keine Aufforderungen mehr,<br />

sich hinten anzustellen. Einer der Helfer forderte Jens auf, sich den grossen Topf mit ihm zu teilen,<br />

aus dem er die Suppe schöpfte. Insgesamt waren fünf grosse Töpfe nebeneinander aufgebaut, von<br />

denen auch schon mehrere andere durch ein Doppelteam geleert wurden.<br />

Da stand Jens nun, in der rechten Hand die Kelle, mit der er anständige Portionen auf die Teller<br />

oder Schalen schöpfte und in der Linken immer wieder eine neue Scheibe Brot, für jeden der<br />

Hungrigen eine. Viele der Leute hatte eigene Teller mitgebracht; die anderen bekamen eine<br />

Suppenschale aus Plastik und wurden aufgefordert, sie wieder zurückzubringen. Etwa die Hälfte der<br />

Menschen waren Kinder; die kleineren unter ihnen konnten kaum ihre Schale über den Topfrand<br />

heben. Auch viele alte Menschen waren unter der Gästen. Die meisten waren s<strong>org</strong>fältig gekleidet,<br />

sodass man ihnen die Armut normalerweise kaum ansehen würde. Nur bei genauem Hinsehen konnte<br />

man erkennen, dass ein Großteil der Kleider schon ziemlich abgenutzt war.<br />

Manche Gäste bedankten sich für das Essen und sahen ihm dabei in die Augen. Bei den meisten<br />

hatte Jens jedoch den Eindruck, dass sie sich dafür schämten, gespendetes Essen anzunehmen. Nur<br />

die kleinen Kinder gingen völlig unbefangen damit um. Jens wurde im Laufe der Stunden klar, dass<br />

die Armut viele Gesichter hat.<br />

Während die Menschen an ihm vorbeizogen, fragte sich Jens, was ihn überhaupt dazu bewogen<br />

hatte, so spontan bei dieser Armenspeisung mitzuhelfen. Bisher hatte er sich noch nie um eine<br />

ehrenamtliche Tätigkeit gerissen. Wahrscheinlich hing sein Engagement damit zusammen, dass er<br />

durch das Mithelfen wenigstens schon mal ein kleines bisschen gegen das Aussterben unternahm.<br />

Aber Jens wurde auch den Verdacht nicht los, dass er einfach lieber hinter dem Tresen der<br />

Armenspeisung stand, als davor.<br />

Irgendwann erreichte Jens mit seiner Kelle den Topfboden, und so überließ er ihn seinem<br />

Kollegen, um bei einem der Töpfe mit nur einem Helfer mitzumachen. Nach einer Weile war auch<br />

dieser Topf leer und die Gäste verliefen sich allmählich. Hungrig war keiner geblieben, denn die<br />

letzten Portionen waren fast alle Nachschlag für die besonders hungrigen Leute gewesen.<br />

Die Töpfe wurden in das Gemeindezentrum getragen, wo sich eine freundliche Dame mittleren<br />

Alters ihrer Reinigung annahm. Ausserdem galt es, alle Suppenschalen einzusammeln, die zur<br />

Suppenküche gehörten. Als endlich alles aufgeräumt war, lud einer der Helfer Jens zum Essen im<br />

Gemeindezentrum ein. Dort wartete noch ein mittelgrosser Topf Suppe auf die fleissigen Helfer. Da<br />

Jens inzwischen schon wieder ziemlich hungrig war, nahm er das Angebot gerne an.<br />

"Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, bei uns mitzumachen?", fragte ihn sein<br />

Sitznachbar. "Bisher habe ich dich weder bei unserer Tafel, noch im Gemeindezentrum je gesehen.".<br />

"Das kam ganz spontan über mich, als ich an der Warteschlange vorbeifuhr. In den letzten Tagen<br />

bin ich oft bei euch vorbeigekommen und irgendwie hat es mich beschäftigt und ging mir nicht mehr<br />

aus dem Kopf."<br />

"Und hat es dir Spass gemacht?"<br />

"Ja, es war gut, auf jeden Fall besser, als vor sich hinzufrusten. Soll ich m<strong>org</strong>en wiederkommen?"<br />

"Gerne, wenn du willst. Willst du denn?"


"Ja, wollen schon. Bis zum Monatsende hab ich mittags frei und danach hätte ich dreimal in der<br />

Woche frei."<br />

"Das ist ja praktisch, denn im letzten Monatsdrittel ist immer besonders viel los und danach wird es<br />

ein paar Tage lang wieder weniger. Aber im Vergleich zu früher ist jetzt immer Hochbetrieb. Übrigens,<br />

ich heisse Matthias. Wie darf ich dich nennen?"<br />

"Mein Name ist Jens. Wie wird das hier eigentlich <strong>org</strong>anisiert? Wo kommt das Essen her?", wollte<br />

Jens endlich mehr über die Veranstalter der Armenspeisung wissen.<br />

"Für dieses tägliche Mittagessen haben wir vom Tafel-Verein uns mit dem ökumenischen<br />

Gemeindezentrum zusammengetan. Das Gemeindezentrum stellt die Küche und den Platz und wir<br />

<strong>org</strong>anisieren die Lebensmittel. Die Helfer sind bunt durcheinander gemischt. Die Lebensmittel werden<br />

vorwiegend von Supermärkten und Hotels gespendet, aber das wird leider immer weniger in letzter<br />

Zeit. Und das gerade jetzt, wo es mehr denn je gebraucht wird. Wir bekommen aber auch<br />

Geldspenden und davon kaufen wir billige Zutaten für unsere Eintöpfe ein. Hoffentlich wird uns dieser<br />

Geldhahn nicht abgedreht."<br />

Nach dem Essen bat der verantwortliche Organisator der Armenspeisung Jens noch zu einem<br />

kurzen Gespräch, in <strong>des</strong>sen Verlauf Jens seine Adresse hinterließ und sich einverstanden erklärte,<br />

am nächsten Tag um zwölf wieder zu kommen.<br />

Als er wieder zuhause war, informierte Jens sich erstmal im Internet über diesen Tafel-Verein, bei<br />

dem er jetzt nahezu formlos Mitglied geworden war. Das Prinzip der Tafel-Vereine gefiel ihm gut und<br />

irgendwie war es ein gutes Gefühl, wenigstens schon mal ein kleines bisschen gegen die Armut zu<br />

unternehmen. Aber dieser Einsatz würde natürlich bei weitem nicht ausreichen, um alle Probleme zu<br />

lösen.


Kapitel 4<br />

Am nächsten Tag stand Jens pünktlich um zwölf vor dem Gemeindezentrum, mit seiner<br />

Suppenkelle in der Hand. Die Dame, die gestern den Abwasch <strong>org</strong>anisiert hatte, öffnete ihm die Tür<br />

und sagte: "Schön, dass du wiedergekommen bist. Ich bin übrigens die Silke.".<br />

"Ja, ich finds auch schön, Silke. Ich heisse Jens.", antwortete Jens.<br />

"Komm mit, wir treffen uns noch kurz in der Halle, bevor das Mahl losgeht.", forderte Silke Jens<br />

auf.<br />

Jens folgte Silke in einen grossen Raum, von dem viele Türen abgingen. Ausser den Helfern von<br />

gestern sah er auch noch etliche andere, vor allem Frauen, die von einem Duft nach Eintopf umweht<br />

wurden. Ob das die Köchinnen der Eintöpfe waren?<br />

Sobald Jens und Silke den Raum betreten hatten, stellten sich alle in einem Kreis auf und der<br />

Organisator mit dem Jens am Tag zuvor ein kurzes Gespräch geführt hatte, stimmte ein Gebet an.<br />

Anschließend wurde ein Lied gesungen.<br />

Jens fühlte sich ziemlich unbehaglich. Er war nun wirklich kein grosser Kirchgänger, ganz im<br />

Gegenteil. Seine Taufe war wohl das letzte Mal gewesen, dass er eine Kirche von innen gesehen<br />

hatte. Wo war er da nur reingeraten? Das gemeinsame Aufsagen besinnlicher Worte und der<br />

anschließende Gesang hatte aber eine angenehme Wirkung auf ihn. Irgendwie fühlte er sich<br />

anschließend verbundener mit den anderen Helfern und sein Gefühl war angefüllt mit der Gewissheit,<br />

dass er im Begriff war, das Richtige zu tun.<br />

Die zuversichtliche Stimmung hielt auch an, als sie die Tische und Töpfe nach draussen trugen<br />

und anfingen, das Essen zu verteilen. Manche Gesichter erkannte Jens wieder, denn sie waren auch<br />

am Tag zuvor dagewesen. Einige Stunden später ging er wieder nach Hause, satt und zufrieden mit<br />

dem was er geleistet hatte, wenn es auch nur eine Kleinigkeit war.<br />

Abends hatte er wieder Dienst im Bistro, das genauso leer war, wie der Platz bei der<br />

Armenspeisung voll gewesen war. Ricardo lief missmutig durch den Gastraum und warf einen<br />

argwöhnischen Blick in die Küche, ob Jens auch fleissig arbeitete. Jens konnte ihm die schlechte<br />

Stimmung nachfühlen, denn es war ein Leichtes auszurechnen, was die wenigen Gäste für Ricardo<br />

finanziell gesehen bedeuteten. Wahrscheinlich steckte das Bistro in ernsthaften finanziellen<br />

Schwierigkeiten. Daher beendete Jens seine Putzrunde möglichst schnell, weil er es Ricardo nicht<br />

unnötig schwer machen wollte, ihn zu beschäftigen.<br />

Mit einem Glas Wasser in der Hand setzte er sich zu drei Bekannten, die schon seit einer Stunde<br />

im Bistro saßen und immernoch beim ersten Bier waren. Jens vermutete, dass dieses eine Bier<br />

möglicherweise auch das einzige bleiben würde.<br />

Die drei jungen Männer kannte er aus dem Studium und auch sie hatten keinen Arbeitsplatz<br />

gefunden, der ihrer Qualifikation entsprach. Andreas und Thomas lebten von Grundsicherung II, wie<br />

die Vers<strong>org</strong>ung der Erwerbslosen jetzt hiess, und Bennie schlug sich mit Taxifahren durch.<br />

"Du bist heute aber früh fertig.", begrüsste Bennie Jens.<br />

"Ja, Arbeitszeitverkürzung wegen Monatsende. Guck dich doch mal um, hier will doch kaum noch<br />

jemand was essen.", antwortete Jens.<br />

"Tja, alles geht den Bach runter. Mein Taxi steht auch immer mehr rum, statt dass ich damit<br />

Kunden durch die Stadt kutschiere. Die Leute haben einfach kein Geld mehr.", sagte Bennie.<br />

"Mir gehts genauso, wem nicht?", warf Andreas ein.<br />

"Ich helfe seit gestern bei einer Armenspeisung mit, da sieht man so richtig deutlich, wieviel Arme<br />

es inzwischen schon gibt. Die strömen da jeden Tag in Scharen herbei, um einen Teller Erbsensuppe<br />

zu kriegen.", erzählte Jens.<br />

"Du machst was? Bei einer Armenspeisung helfen? Du bist ja wohl verückt geworden oder hast du<br />

schon länger eine soziale Ader?", frotzelte Thomas.<br />

Jens zuckte mit den Achseln und entgegnete: "Naja, ich dachte mir, besser ich steh bei der<br />

Armenspeisung hinter dem Tresen als davor. Und die Suppe schmeckt eigentlich ziemlich lecker.<br />

Spart mir je<strong>des</strong> Mal ein bisschen Knete.".


"Na gut, das macht Sinn, wenn die Suppe gut schmeckt. Aber ich selbst würd mich da als armer<br />

Schlucker kaum hintrauen; sowas ist doch superpeinlich, wenn man da in der Schlange der<br />

Hungerleider steht und jeder kann einen sehen.", sagte Thomas.<br />

"Mir wäre das wohl auch peinlich.", gestand Andreas. "Aber ne ordentliche Suppe wäre auch mal<br />

wieder was Feines. Ich leb eigentlich hauptsächlich von Toastbrot und Erdnussbutter. Mit Kochen hab<br />

ichs nicht so.".<br />

"Peinlich wäre mir das auch, darum bin ich ja zu den Helfern gegangen, denn das ist überhaupt<br />

nicht peinlich.", grinste Jens.<br />

Bennie schaute sinnierend in die Luft und atmete hörbar ein, als röche er einen Wohlgeruch: "Bei<br />

einer leckeren Suppe würde ich auch nicht nein sagen. Aber für den Armentrip gehts mir noch nicht<br />

schlecht genug und auf den Helfertrip hab ich auch keinen Bock. Schade, dass es hier keine billigen<br />

Eintöpfe gibt. So ein Baguette wie ihr es hier anbietet, würde ich noch selbst hinkriegen, aber sowas<br />

richtiges warmes zu essen, das man sich leisten könnte, wäre ne feine Sache.".<br />

"Hm, klingt nach ner guten Idee. Da werd ich mal drüber nachdenken.", freute sich Jens. Vielleicht<br />

ließe sich da wirklich was draus machen. "Würdet ihr anderen sowas auch mögen?", fragte er an die<br />

anderen beiden gewandt.<br />

Andreas nickte: "Ja, schon, wenns nicht zu teuer ist.".<br />

"Gilt auch für mich.", beschied Thomas.<br />

Bennie sagte: "Ich frag mich wirklich, ob alle gerade am Verarmen sind. Ich kenne niemanden, der<br />

keine Gelds<strong>org</strong>en hat."<br />

Thomas runzelte die Stirn und sagte: "Es gibt bestimmt noch ein paar reiche Säcke. Irgendwer<br />

muss das Geld ja schließlich haben.".<br />

Jens warf sein neues Wissen in die Diskussion: "Die Energie wird einfach auch zu teuer. Das liegt<br />

am knapp werdenden Öl. Und da alles, was wir machen, mit viel Energieverbrauch verbunden ist, wird<br />

alles mit in den Abgrund gerissen. Ich bin schon gespannt auf den nächsten Winter. Da brauchen wir<br />

bestimmt dicke Socken.".<br />

"Du meinst im Ernst, dass das ganze Elend mit dem blöden Erdöl zu tun hat?", stellte Thomas<br />

Jens Idee in Frage.<br />

"Ja, zumin<strong>des</strong>t ein grosser Teil. Man blickt es nur nicht so einfach, weil man normalerweise gar<br />

nicht weiss, wo das Öl überall mitmischt. Es steckt im Transport, in der Landwirtschaft, in der<br />

Stahlproduktion, im Plastik, einfach für alles wird direkt oder indirekt Erdöl gebraucht.", entgegnete<br />

Jens.<br />

Sie unterhielten sich noch eine Weile über das Erdöl und die Folgen seiner Verknappung, bis Tina<br />

das Bistro schließen wollte, weil sie heim zu ihrer kleinen Tochter wollte, und sonst keiner mehr im<br />

Bistro saß.<br />

Zuhause ließ Jens sich noch eine Weile vom Fernseher berieseln, weil er auf andere Gedanken<br />

kommen wollte. Doch die Anregung von Bennie ging ihm nicht aus dem Kopf. Ob es sich wohl<br />

rechnete, wenn er ganz schlichte Mahlzeiten aus billigen Zutaten im Bistro anbieten würde. Wie weit<br />

könnte man wohl mit dem Preis runtergehen, damit genügend für Zutaten, seinen Lohn und das Bistro<br />

übrig bleibt? Ohne es geplant zu haben, kritzelte er ihm bekannte Lebensmittelpreise auf ein<br />

rumliegen<strong>des</strong> Stück Papier. Doch schon bald wurde ihm klar, dass er die Idee gründlich<br />

durchkalkulieren müsste, um herauszufinden, ob es ein gutes Geschäft werden könnte. Vom Prinzip<br />

her schien es zwar einfach, aber der Erfolg hing stark davon ab, wieviele Gäste die Mahlzeiten<br />

bestellen würden, wieviel Reste übrig bleiben würden und wie sich die Nahrungsmittel-Preise<br />

entwickeln würden. Vor allem die Sache mit den steigenden Preisen war ein unkalkulierbares Risiko.<br />

Auf der anderen Seite bestand aber Bedarf an preiswerten warmen Mahlzeiten und irgendetwas wollte<br />

Jens unternehmen, um die Sicherheit seines Jobs zu fördern.<br />

Im Fernsehen lief inzwischen eine Sendung über Ölknappheit und alternative Energien. Auch<br />

früher hatte es schon oft solche Sendungen gegeben, aber bisher hatte Jens sich nicht dafür<br />

interessiert, weil ihm nicht klar gewesen war, dass das Öl auch ihn persönlich betraf. Jetzt verfolgte er<br />

die Sendung jedoch voller Aufmerksamkeit.<br />

Besonders interessant fand er den Bericht über solare Energie. Am Anfang <strong>des</strong> Jahrtausends hatte<br />

die Solarenergie in Deutschland noch keine grosse Rolle gespielt, weil die Produktionskosten der<br />

Solarpanele so hoch gewesen waren und zudem die Windenergie massiv gefördert wurde. Als sich


die Proteste wegen der Verspargelung der Landschaft durch Windkraftwerke jedoch häuften, wurde<br />

die Photovoltaik verstärkt gefördert. Vor allem im sonnigen Süden brach der reinste Solarboom aus,<br />

bei dem hunderttausende von Häusern mit Solarpanelen ausgestattet wurden. Für diese Leistung<br />

klopfte sich die Regierung gerne immer wieder selbst auf die Schultern, denn es war einer der<br />

wenigen halbwegs gelungenen Versuche eine Änderung in die richtige Richtung zu bewirken.<br />

Natürlich reichte die Vers<strong>org</strong>ung durch Solaranlagen bei weitem nicht aus, um ernsthaft zur<br />

gesamtdeutschen Energievers<strong>org</strong>ung beizutragen, und inzwischen wurden die Solarzellen auch<br />

wieder teurer, sodass sich kaum jemand eine neue Anlage leisten konnte. Deshalb diskutierte die<br />

Regierung über ein staatlich gefördertes Kreditprogramm, damit Hausbesitzer neue Solaranlagen<br />

finanzieren konnten. Die Diskussion zog sich aber schon seit Monaten hin, denn bisher wusste keiner,<br />

woher das Geld für dieses Kreditprogramm kommen sollte.<br />

Das war mal wieder typisch für die Regierung. Seit Jahren drehte sie sich im Kreis, klebte hier ein<br />

kleines Pflaster auf ein grosses Problem, versprach dort Geld und hatte selber keins, redete von<br />

Senkung der Lohnnebenkosten und verabschiedete Gesetze, die zur Folge hatten, dass sie noch<br />

mehr anstiegen. Inzwischen verfielen die Schulen und Universitäten, Schwimmbäder wurden<br />

geschlossen, Bibliotheken waren kostenpflichtig gewordens, Straßen bekamen immer mehr<br />

Schlaglöcher, kurzum die gesamte Infrastruktur litt. Immer mehr Arbeitslose bekamen immer weniger<br />

Geld vom Staat und die übrig gebliebenen Firmen gingen reihenweise pleite.<br />

Jens fragte sich, wie lange Ricardo noch mit dem Bistro durchhalten würde. Ob Jens Idee mit den<br />

billigen Mahlzeiten wohl etwas bringen würde? Das musste er unbedingt mal durchrechnen.<br />

Ausserdem brauchte er noch zusätzliche Rezeptideen in der Superbillig-Klasse, denn spontan fielen<br />

ihm nur Linsensuppe, Erbsensuppe, Kartoffeln mit Quark und Spaghetti mit Tomatensauce ein. Das<br />

ließe sich aber bestimmt noch stark erweitern. Schließlich waren Karotten, Zwiebeln und Kohl<br />

immernoch recht billig.<br />

Aber selbst wenn es Jens gelingen würde, erfolgreich Billigmahlzeiten an den Mann zu bringen,<br />

würde das Bistro dadurch bestimmt nicht saniert werden.


Kapitel 5<br />

Die Unruhe trieb Jens am nächsten M<strong>org</strong>en schon früh aus dem Bett. Die vergangene Nacht<br />

schien ihm wie ein einziger Traum von grossen Töpfen. Was für eine Schnapsidee ihn da mal wieder<br />

verfolgte. Aber seine ersten Berechnungen am letzten Abend hatten ergeben, dass es sich<br />

möglicherweise durchaus lohnen könnte, Billigmahlzeiten im Bistro anzubieten.<br />

Da er sowieso schon wach war und nichts besseres zu tun hatte, beschloss Jens, beim Kochen in<br />

der Armenküche mitzuhelfen. Die freundlichen Helferinnen würden sich bestimmt über zusätzliche<br />

Hilfe freuen und bei dieser Gelegenheit könnte er ein bisschen Großküchen-Luft schnuppern. Mit<br />

grösseren Mengen Eintopf hatte er bisher nämlich keine Erfahrung und das Überbacken von<br />

Baguettes unterschied sich doch deutlich vom echten Kochen.<br />

Wie erhofft, freuten sich die Köchinnen der Armenspeisung als er bei ihnen aufkreuzte. Er durfte<br />

Zwiebeln schneiden, ganze Berge von Zwiebeln.<br />

Als ihm das Wasser in Strömen aus den Augen lief, tröstete ihn eine entzückende junge Frau<br />

namens Johanna mit den Worten: "Das Weinen beim Zwiebelschneiden tut gut, denn davon bekommt<br />

man schöne Augen.".<br />

"Wirklich. Na, dann sollte ich mal fleissig weiterschneiden, damit das mit den schönen Augen was<br />

wird.", sagte Jens und zwinkerte ihr dabei zu. Die vielen netten Frauen waren ein weiterer Vorteil<br />

seiner Mithilfe bei der Armenspeisung. Darunter waren auch mehrere recht hübsche Geschöpfe, zu<br />

denen auch die dunkelhaarige Johanna zählte. Normalerweise waren sie jedoch alle so sehr von ihrer<br />

caritativen Aufgabe beseelt, dass sich keine rechte Flirtstimmung entwickelte.<br />

Zwischen zwei Säcken Zwiebeln musste Jens kurz auf der Toilette. Beim Händewaschen schaute<br />

ihm ein junger blonder Mann aus dem Spiegel entgegen.<br />

Eigentlich ganz passabel, dachte Jens sich. Dabei fuhr er mit der Hand durch seine struppigen<br />

Haare, die eine seiner Freundinnen immer liebevoll "wuschelig" genannt hatte. Das Kinn war<br />

inzwischen eher kantig, seit die Weichheit der Jugend aus seinem Gesicht verschwunden war. Die<br />

Nase war vielleicht etwas zu gross, aber das störte ihn nicht. Und an der Schönheit seiner blauen<br />

Augen arbeitete er ja gerade.<br />

Auch mit seinem Körper war Jens im Grossen und Ganzen zufrieden. Wenn er sich m<strong>org</strong>ens etwas<br />

streckte, maß er gerade eben einsachtzig und seinen Körperbau konnte man mit gutem Gewissen als<br />

athletisch bezeichnen. Jens grinste sich im Spiegel an und fühlte sich von sich selbst bei Eitelkeiten<br />

ertappt. Aber bei den hübschen Frauen in der Küche war sowas ja auch kein Wunder.<br />

In den letzten Monaten hatte er vor lauter Gelds<strong>org</strong>en kaum Sinn für die Damenwelt gehabt, aber<br />

inzwischen hätte er gegen eine Romanze nichts einzuwenden. Bei diesen christlich angehauchten<br />

Frauen war er sich aber ziemlich sicher, dass sie an einem unverbindlichen Abenteuer nicht viel<br />

Freude hätten. Daher beschloss er, sich in diesem Umfeld besser zurückzuhalten. Aber es sprach ja<br />

nichts dagegen, dass er die Gesellschaft der hübschen Frauen genoss.<br />

Die nächste Stunde gab ihm noch reichlich Gelegenheit an der Schönheit seiner Augen zu<br />

arbeiten, aber bei den letzten drei Zwiebeln hatte er den Eindruck, dass das Tränen etwas nachließ.<br />

Vielleicht konnte man sich ja an Zwiebelschneiden gewöhnen. Danach ließ die allgemeine Aktivität<br />

etwas nach, weil der Eintopf langsam vor sich hinkochte und nur ab und zu umgerührt werden musste.<br />

Jens genoss die fröhliche Stimmung. Vielleicht war es das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, das die<br />

anderen S<strong>org</strong>en abhielt, die bestimmt jeder von den Helfern hatte. Aus den Gesprächen hatte er<br />

jedoch entnommen, dass ein grosser Anteil der Helfer bisher in relativ behüteten Umständen lebte.<br />

Umso mehr achtete er ihre Bereitschaft, ihre kostbare Zeit mit dem Kochen für arme Leute zu<br />

verbringen, weil sie von Haus aus ja noch gar nicht vom Zerfall der Gesellschaft betroffen waren.<br />

Diesmal kamen soviele Menschen zur Armenspeisung, dass das Essen nicht reichte. Silke lief<br />

schon ziemlich frühzeitig unruhig hinter den Helfern auf und ab, um immer wieder in die Töpfe zu<br />

schauen. Dabei murmelte sie leise Zahlen. Als die ersten Zweidrittel <strong>des</strong> Eintopfes ausgegeben<br />

waren, wurde es jedem der Helfer klar, dass es diesmal mehr hungrige Menschen als Essen gab. In<br />

Win<strong>des</strong>eile wurde beschlossen, in einem Supermarkt Doseneintopf nachzukaufen. Silke veranstaltete<br />

eine Sammlung unter den Helfern, von denen sie wusste, dass sie Geld hatten. Jens wurde<br />

glücklicherweise gar nicht gefragt, denn obwohl er nur noch wenige Münzen für den Notfall besaß,<br />

hätte er sich mies gefühlt, wenn er nichts gegeben hätte.


Thorsten, der leitende Organisator bugsierte den Lieferwagen <strong>des</strong> Tafel-Vereins an den Helfern<br />

und Wartenden vorbei, was auf dem engen Platz gar nicht so einfach war. Jens erbot sich<br />

mitzufahren, um die schweren Dosen zu bewegen. Thorsten nahm sein Angebot gerne an, und so<br />

sprang Jens auf den Beifahrersitz. Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit bretterte Thorsten auf die<br />

Straße, als würde er einen Rettungswagen fahren, bei dem es um jede Sekunde ging.<br />

Ein paar Straßen weiter sah Jens mal wieder eine Warteschlange an einer Tankstelle. Als er das<br />

Thorsten gegenüber erwähnte, aktivierte dieser sofort sein Handy und informierte Silke darüber, dass<br />

es an dieser Tankstelle anscheinend Benzin gab. Dann erklärte er Jens, dass jetzt alle entbehrlichen<br />

Helfer mit ihren oder befreundeten Autos zur Tankstelle fahren würden, um die Wagen voll zu tanken.<br />

Der Supermarkt hatte nur halb soviel Doseneintopf vorrätig, wie sie brauchten, daher fuhren sie<br />

noch in einen zweiten Laden. Endlich hatten sie genügend Dosen in den Lieferwagen gepackt und<br />

brausten wieder zum Gemeindezentrum. Thorsten fuhr direkt zum Hintereingang, über den man<br />

direkten Zugang zur Küche hatte.<br />

Dort waren auch schon mehrere der inzwischen vollgetankten Helferautos angekommen. Jens<br />

wurde Zeuge eines bizarren Schauspiels. Das Tor einer Garage wurde geöffnet, auf deren Boden<br />

Jens eine grosse Anzahl Benzinkanister sah. Jeder der Fahrer ergriff soviele Kanister, wie er tragen<br />

konnte und ging damit zu seinem Auto. Dann nahmen sie Schläuche, die sie in die Tanks steckten<br />

und daran saugten. Sobald das Benzin floss, wurde es in die Kanister gefüllt.<br />

Thorsten sah Jens verdutztes Gesicht und erklärte: "Das machen wir jetzt schon seit Wochen so.<br />

Die Tanks der Autos beeinhalten immer nur das Benzin für wenige Kilometer, damit es nicht geklaut<br />

wird, und wir immer für eine neue Tankfüllung bereit sind. Das neugekaufte Benzin wird dann in die<br />

Kanister gefüllt, um genügend Reserven zu haben. Wenn wir das nicht so machen würden, hätten wir<br />

öfters gar nicht genug Sprit für unseren Lieferwagen und könnten keine Lebensmittel bes<strong>org</strong>en.<br />

Tankstellen mit Benzin sind nämlich eine Rarität geworden. So, lass uns schnell ausräumen, denn ich<br />

will auch noch eine Ladung tanken.".<br />

Bis die Eintopfdosen ausgeräumt waren, hatten sich die ersten Autobesitzer schon wieder auf den<br />

Weg gemacht, um nach Möglichkeit eine zweite Ladung Benzin zu ergattern. Auch Thorsten fuhr<br />

sofort nach dem Ausladen in Richtung Tankstelle.<br />

In der Küche war derweil hektische Aktivtät ausgebrochen. Die verbliebenen Helfer öffneten die<br />

Dosen im Akkordtempo und verteilten sie auf mehrere Töpfe, damit sie schneller erhitzt werden<br />

konnten. Draußen stand Matthias und hielt die hungrigen Gäste bei Laune. Jens gesellte sich zu ihm,<br />

denn er wurde in der Küche nicht gebraucht. Eine Viertelstunde später ging er in die Küche zurück, wo<br />

er wie erhofft den ersten Topf mit neuer Suppe in Empfang nehmen durfte. Die Gäste begrüßten ihn<br />

mit lautem Hallo und ließen sich dann den Eintopf schmecken.<br />

Am Abend war im Bistro wieder extrem wenig los. Die paar Gäste, die an den Tischen saßen,<br />

waren fast ausnahmslos Empfänger von Grundsicherung II, denn die Grundsicherung wurde<br />

inzwischen wöchentlich ausgezahlt anstelle von monatlicher Auszahlung und so kam es, dass am<br />

Monatsende die Menschen, die sich durch Arbeit finanzierten, deutlich ärmer wirkten, als die<br />

Menschen, die vom Staat ernährt wurden.<br />

Ausgerechnet in dem Moment, als Jens die bisher ersten Baguettes im Ofen hatte, fiel der Strom<br />

aus. Plötzlich war alles stockdunkel. Vorsichtig tastete sich Jens durch die enge Küche, um in den<br />

Gastraum zu gelangen. Auch dort war es dunkel. Einer der Gäste hatte ein Feuerzeug herv<strong>org</strong>eholt,<br />

aber auch dieses kleine Licht erloscht schnell wieder, gefolgt von einem Schmerzenslaut.<br />

Anscheinend hatte sich der Feuerzeugbesitzer die Finger verbrannt.<br />

Hinter dem Tresen wäre Jens fast über Tina gestolpert, die auf dem Boden kauerte. Nachdem sie<br />

sich von dem Schrecken erholt hatte, sagte sie: "Gut, dass du da bist. Ich suche verzweifelt nach den<br />

Kerzen. Hier müssten noch min<strong>des</strong>tens zwei Packungen Kerzen sein, aber ich finde sie nicht.".<br />

Also machte auch Jens sich auf die Suche nach den Kerzen. Vorsichtig befühlte er den Innenraum<br />

der Regalfächer, öffnete Schubladen und hoffte, dabei nicht in Messer zu greifen oder Gläser<br />

umzuwerfen. Etwa bei der sechsten Schublade knisterte es unter seinen Fingern, wie eine<br />

Plastikverpackung. Durch die Packung konnte er die länglich runde Form von Kerzen erfühlen.<br />

"Ich hab sie.", rief er erfreut und zog die Kerzen aus der Schublade. "Hast du Feuer griffbereit?".<br />

"Ja, oben bei den Aschenbechern müsste ein Feuerzeug liegen.", antwortete sie. Ein lautes Klirren<br />

verriet, dass sie vermutlich die Aschenbecher gefunden hatte, wenn auch nicht so, wie sie es


eabsichtigt hatte. Nach einem lauten Fluch flammte jedoch ein kleines Licht auf, denn wie erhofft,<br />

hatte neben den Aschenbechern ein Feuerzeug gelegen.<br />

Schnell hatte Jens die Kerzen von ihrer Verpackung befreit und hielt Tina die erste entgegen.<br />

Zuerst war die Kerze etwas störrisch und wollte nicht sofort brennen, was Tina mit einer<br />

schmerzverzerrten Grimasse quittierte. Als die Kerze endlich brannte, ließ Tina das Feuerzeug sofort<br />

erlöschen, warf es auf den Tresen und schüttelte ihre Hand.<br />

Nachdem die erste Kerze mal brannte, ging das Anzünden weiterer Kerzen sehr schnell. Als<br />

Kerzenständer benutzte Jens die sauberen Aschenbecher, die sich über den halben Tresen verteilt<br />

hatten. Einer davon war zu Boden gefallen und zerbrochen. Tina war schon dabei, im Halbdunkel<br />

nach dem Handfeger zu suchen, um die Scherben zusammenzukehren.<br />

Derweil fing Jens damit an, die brennenden Kerzen zu den Gästetischen zu bringen, was die Gäste<br />

mit einem langezogenen "Aaah" begrüßten. Eigentlich sah das Bistro sehr romantisch aus mit der<br />

spärlichen Kerzenbeleuchtung. Die Stimmung der Gäste schien auch nicht zu leiden, eher im<br />

Gegenteil. Seit sie wieder Licht hatten, waren sie richtiggehend ausgelassen. Tina musste sogar eine<br />

neue Runde Getränke servieren, als hätten die Gäste im Kerzenlicht ihr schmales Budget vergessen.<br />

Mit einer Kerze bewaffnet ging Jens zurück in die Küche, in der Hoffnung, dass die Restwärme im<br />

Backofen gereicht hatte, um die Baguettes zu überbacken. Er hatte Glück, denn obwohl die Baguettes<br />

noch nicht so weit waren, wie er sie normalerweise gerne hatte, war zumin<strong>des</strong>t der Käse<br />

geschmolzen.<br />

Der restliche Abend im Bistro verlief ziemlich gemütlich. Mit dem Putzen nahm Jens es diesmal<br />

nicht so genau, und um sich die Zeit zu vertreiben, bis die Gäste gegangen waren, setzten sich Jens<br />

und Tina einfach zu ihnen an den Tisch und beteiligten sich an den Gesprächen.<br />

Die Unterhaltung drehte sich natürlich vorwiegend um den Stromausfall und die vermuteten<br />

Gründe dafür. Auch nach einer Stunde war der Strom noch nicht wieder da. Das war natürlich etwas<br />

beunruhigend, gab aber auch Anlass zu Witzeleien über Stromausfälle in New York und die<br />

angebliche Geburtenschwemme, die es neun Monate später gegeben haben sollte. Tina musste sich<br />

einige Anzüglichkeiten gefallen lassen, denn sie war die einzige Frau am Tisch.<br />

Durch die unanständigen Bemerkungen der Gäste etwas aufgeschreckt, bot Jens Tina an, sie nach<br />

Hause zu begleiten, als sie das Bistro schlossen. Tina sträubte sich erst dagegen, denn schließlich<br />

würde sie ja jeden Abend alleine nachhause gehen. Aber als Jens energisch einwand, dass sonst ja<br />

auch kein Stromausfall sei, gab sie nach.<br />

Draussen erleichterte der Halbmond, der durch die dünnen Wolken schimmerte, die Orientierung.<br />

Dennoch war es beinahe gespenstisch, die Stadt so im Dunkeln liegen zu sehen. Normalerweise war<br />

es nie dunkel in der Stadt, sodass sie jetzt völlig fremd wirkte. Auf dem Weg zu Tina mussten sie<br />

durch die nahegelegene Einkaufsstraße gehen, in der sonst die hellerleuchteten Schaufenster mit der<br />

aufwendigen Straßenbeleuchtung um die Wette eiferten. Jetzt lag alles in dunkelgrauen Schatten vor<br />

ihnen. An mehreren Stellen hörte man Lärm, was Jens bewog, die Lärmquellen vorsichtig zu<br />

umgehen.<br />

Plötzlich hörten sie genau auf der anderen Straßenseite lautes Klirren und Rufe. Undeutlich konnte<br />

man erkennen, dass dort eine Schaufensterscheibe eingeschlagen worden war. Graue Schemen, die<br />

man mit viel Phantasie als bepackte Menschen deuten konnte, bewegten sich von der Einschlagstelle<br />

weg. Jens zog Tina in eine kleine Nebenstraße und signalisierte ihr, sich still zu verhalten.<br />

"Plünderer.", flüsterte er ihr ins Ohr. Obwohl es in den engen Nebenstraßen dunkler war, führte Jens<br />

seinen Schützling auf dem restlichen Weg durch die schmalen Gassen, die menschenleer waren.<br />

"Danke, dass du mich nachhause gebracht hast. Das war wohl doch eine gute Idee von dir.", sagte<br />

Tina, als sie endlich beim Haus ihrer Eltern ankamen, in dem sie wieder wohnte, seit der Vater ihrer<br />

Tochter sie sitzengelassen hatte. Jens wartete noch, bis sie sicher das Haus betreten hatte und<br />

machte sich dann auf den Heimweg.<br />

Zu Hause hatte er eine dicke Kerze, die schon seit längerer Zeit unbenutzt vor sich hinstaubte.<br />

Jetzt war er sehr froh darüber, sie zu haben. Im Kerzenschein suchte er nach seinem Batterieradio,<br />

denn er wollte Genaueres über den Stromausfall wissen. Zuerst zeigte sich das Radio störrisch, denn<br />

er bekam keinen Sender rein, aber nach einer Weile hörte er Musik.<br />

Auf eine Ansage <strong>des</strong> Sprechers brauchte er nicht lange warten: "Willkommen an alle, die jetzt erst<br />

zugeschaltet haben. Hier die neuesten Informationen über den fortgesetzten Stromausfall in weiten<br />

Teilen Norddeutschlands. Die Ursache <strong>des</strong> Stromausfalls, der fast ganz Norddeutschland lahmgelegt


hat, ist bisher ungeklärt. Vermutet wird jedoch, dass der gestiegende Strombedarf durch elektrisch<br />

betriebene Heizgeräte in Kombination mit der momentan herschenden Windstille, die zu einem<br />

Stillstand der Windkraftwerke geführt hat, möglicherweise für den Ausfall verantwortlich gemacht<br />

werden kann. Die Belegschaften der betroffenen Stromerzeuger unternehmen alles, um bald wieder<br />

Strom liefern zu können. Die Bevölkerung wird aufgefordert, auf die Verwendung von elektrischen<br />

Heizgeräten, Backöfen, Waschmaschinen und anderen Geräten mit hohem Stromverbrauch zu<br />

verzichten, sobald der Strom wieder verfügbar ist.".<br />

Dann kam wieder Musik. Jens dachte daran, dass Stromausfälle in anderen Ländern inzwischen<br />

schon längst zum regelmäßigen Alltagsproblem geworden waren und fragte sich, ob das jetzt auch<br />

hier öfter vorkommen würde. Wie würde das Leben sein, wenn regelmässig der Strom ausfallen<br />

würde? Was würde man da alles brauchen?<br />

Jens griff nach einem Stück Papier und schrieb auf, was ihm alles an Ausrüstungsgegenständen<br />

einfiel, die einem bei Stromausfällen das Leben erleichtern konnten. Zualleroberst standen natürlich<br />

Kerzen, dann kamen Taschenlampen, batteriebetriebene Campinglampen, Aufladegeräte, Akkus,<br />

Autobatterien, Wechselrichter und dergleichen mehr. Ein paar Kerzen konnte er sich bestimmt leisten,<br />

wenn er mal wieder Geld hatte, aber auf Dauer wären Kerzen auch sehr teuer. Die anderen Geräte<br />

auf seiner Liste überstiegen fast alle sein Budget. Eine billige Taschenlampe wäre vielleicht noch drin<br />

und dazu vielleicht passende Akkus samt Aufladegerät. Aber selbst dafür müsste endlich mal einer<br />

der Web<strong>des</strong>ign-Kunden mit offener Rechnung das langerwartete Geld überweisen. Jens beschloss,<br />

bei diesen Kunden mal wieder nachzuhaken, denn er hatte das Geld wirklich bitter nötig.<br />

Voller S<strong>org</strong>en ging er ins Bett und hoffte, dass am nächsten Tag wenigstens der Strom wieder<br />

fließen würde.


Kapitel 6<br />

Gleich nach dem Aufwachen drückte Jens auf einen Lichtschalter, um auszuprobieren, ob der<br />

Strom wieder funktionierte. Er funktionierte - Jens seufzte erleichtert. Beim M<strong>org</strong>enkaffee schaltete er<br />

ausnahmsweise den Fernseher ein, denn er wollte unbedingt wissen, was es mit dem Stromausfall auf<br />

sich hatte. Schon nach wenigen Minuten wurde darüber berichtet. Anscheinend war der Stromausfall<br />

das Top-Thema <strong>des</strong> Tages. Ausser den bereits vermuteten Ursachen hatte wohl auch eine Rolle<br />

gespielt, dass die Besitzer von Mietshäusern aufgrund der hohen Heizöl-Preise die Zentralheizungen<br />

noch nicht in Betrieb genommen hatten. Aus diesem Grund hatten viele kälteempfindliche Menschen<br />

mit elektrischen Heizgeräten geheizt, denn die Temperaturen waren inzwischen sehr herbstlich.<br />

Mit Nachdruck wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass man auf gar keinen Fall elektrisch<br />

heizen sollte, um weitere Stromausfälle zu verhindern. Die Hausbesitzer wurden gebeten, die<br />

Zentralheizungen in Betrieb zu nehmen. Ein betroffener Hausbesitzer sagte bei einem Interview, dass<br />

er gerne die Heizung anschalten würde, wenn die Mieter zuverlässig zahlen würden. In dieser Hinsicht<br />

hatte er aber Bedenken, weil die Heizkosten min<strong>des</strong>tens doppelt so hoch sein würden wie im letzten<br />

Jahr. Selbst damals sei er schon auf einem großen Teil der Heizkosten sitzengeblieben.<br />

In einer Boulevard-Sendung trat ein Energiespar-Experte auf und gab Tipps zum Einsparen von<br />

Heizenergie in Haushalten. Zuerst hielt er einen längeren Vortrag über den Nutzen von Rolläden und<br />

mehrfach verglasten Fenster. Jens schüttelte den Kopf, denn er hielt diese Tipps für einen Großteil<br />

der Zuschauer für sinnlos, weil sie viel zuviel kosteten. Als hätte der Experte Jens Bedenken geahnt,<br />

empfahl er anschließend noch Maßnahmen für den schmalen Geldbeutel. Er stellte einen<br />

Fenstereinsatz vor, der aus einfachen Holzleisten und einer Plastikplane bestand und den man innen<br />

vor das Fenster setzen konnte. Das sei ein billiger Ersatz für Doppelfenster. Ausserdem legte er allen<br />

Bewohnern nahe, eventuelle Ritzen in ihren Wohnungen zu verschließen, sei es mittels Bauschaum<br />

oder zur Not auch einfach mit alten Zeitungen.<br />

Der Tipp mit den Zeitungen gefiel Jens recht gut, denn ein paar alte Zeitungen ließen sich<br />

bestimmt auftreiben. Momentan fand er es eigentlich noch nicht so kalt, dass er heizen wollte, aber<br />

wenn es kälter werden würde, könnte er das Verstopfen der vielen Ritzen seiner Altbauwohnung<br />

durchaus in Angriff nehmen.<br />

Von Plünderungen wurde auch berichtet. Anscheinend hatte es außer dem Ereignis, <strong>des</strong>sen Zeuge<br />

er mit Tina geworden war, noch etliche andere Einbrüche in Läden gegeben. Auch von Überfällen auf<br />

Passanten war die Rede. Einmal mehr war Jens froh, dass er Tina nachhause begleitet hatte. Die<br />

Fernsehberichte zeigten Ladeninhaber, die dem Nervenzusammenbruch nahe waren, weil sie sowieso<br />

schon schwer unter der Wirtschaftsflaute und den gestiegenen Energiekosten gelitten hatten. Die<br />

zusätzliche Plünderung bedeutete das sichere Aus für ihre Geschäfte.<br />

Als hätten die Hiobsbotschaften in Zusammenhang mit dem Stromausfall noch nicht ausgereicht,<br />

kam anschließend ein Bericht über eine Rentnerin, die in ihrer Wohnung verhungert aufgefunden<br />

worden war. Als sie entdeckt wurde, war sie schon über eine Woche tot gewesen, aber keiner hatte<br />

sie vermisst. Erst der Briefträger war aufmerksam geworden, als er mehrfach ein Einschreiben nicht<br />

zustellen konnte. Dass er nicht einfach einen Zettel in den Briefkasten geworfen hatte, lag daran, dass<br />

er schon seit Jahrzehnten in der Gegend Brieträger war und wusste, dass die alte Frau den weiten<br />

Weg zum nächsten Postamt kaum schaffen konnte. Daher versuchte er immer wieder, das<br />

Einschreiben persönlich zu überbringen, bis er nach drei Tagen die Polizei alarmierte. Mehrere<br />

befragte Ärzte aus der Gegend erzählten, dass gestorbene Rentner in letzter Zeit immer öfter stark<br />

untergewichtig seien.<br />

Jens schaltete den Fernseher aus, denn für einen M<strong>org</strong>en hatte er genug vom Schrecken vor der<br />

eigenen Haustür. Da ging er doch lieber den netten Mädels beim Kochen helfen. Diesmal war der<br />

Zwiebelberg noch grösser als am Tag zuvor. Keiner wollte riskieren, dass das Essen auch an diesem<br />

Tag zu knapp wurde. Ausserdem war der Höhepunkt <strong>des</strong> Monats zu erwarten, denn heute war der<br />

Monatsletzte und am nächsten Tag würde der Ansturm erfahrungsgemäss deutlich nachlassen.<br />

Wie erhofft reichte das Essen diesmal sehr gut aus, um alle Gäste zu sättigen. Sogar für<br />

Nachschlag war noch genug in den Töpfen. Als Jens später mit den anderen Helfern in der Küche saß<br />

und seine eigene Portion aß, musste er an die verhungerte Rentnerin denken. Hier in der Stadt, in der<br />

Nähe der Armenspeisung wäre sie wahrscheinlich nicht verhungert. Kein Wunder, dass soviele<br />

Menschen vom Land in die Stadt zogen. Dort draußen wurde die Infrastruktur immer schlechter, schon<br />

seit vielen Jahren. Ohne Auto und Benzin, um damit zu fahren, konnten die meisten Landbewohner


nicht mal die grundlegendsten Dinge einkaufen, weil die kleinen Läden auf dem Land nach und nach<br />

alle aufgegeben worden waren. Aber auch hier in der Stadt schien sich die Situation rapide zu<br />

verschlechtern.<br />

Das Dankeslied der anderen Helfer riss Jens aus den düsteren Gedanken. Eigentlich hatte er<br />

wirklich Grund zu danken, denn hungrig war er noch nie geblieben, auch wenn das Geld manchmal<br />

knapp war.<br />

Den Nachmittag verbrachte er in Supermärkten, wo er sich die Preise der billigsten Nahrungsmittel<br />

aufschrieb. Es war ihm zwar etwas peinlich, ohne Einkauf durch die Kasse zu gehen, nachdem er<br />

ausgiebig Preise notiert hatte, aber sein letztes Geld wollte er nicht für unnötige Dinge ausgeben, nur<br />

um sich diese Peinlichkeit zu ersparen. Bis zu Dienstbeginn am Abend hatte er eine grobe Kalkulation<br />

für die Billigmahlzeiten im Bistro zusammengestellt.<br />

Am Abend <strong>des</strong> Monatsletzten zahlte Ricardo ihm traditionell einen kleinen Teil seines Gehaltes in<br />

bar, damit er schon mal Geld zum Einkaufen hatte. Der Rest wurde dann im Lauf der nächsten Tage<br />

überwiesen. Diese Gelegenheit ergriff Jens beim Schopfe, um Ricardo die Idee mit den billigen<br />

Mahlzeiten vorzustellen.<br />

"Hier habe ich eine Idee ausgearbeitet, wie man mit erschwinglichen warmen Mahlzeiten den<br />

Umsatz <strong>des</strong> Bistros ankurbeln könnte.", fing Jens an.<br />

"Zeig mal her.", Ricardo nahm die Seiten mit den Kalkulationstabellen an sich. "Mit Linsensuppe<br />

und Spaghetti? Wie kommst du denn auf diese Idee?".<br />

"Einige Gäste haben geäussert, dass sie gerne öfters richtig warme Mahlzeiten essen würden,<br />

aber selbst nicht kochen können. Und da die meisten kaum Geld haben, dachte ich an die<br />

allerunterste Preisklasse. Schau mal hier die Materialkosten. Die sind wirklich sensationell gering im<br />

Vergleich zu dem was wir sonst ausgeben."<br />

"Das ist richtig. Aber das Kochen dieser Mahlzeiten nimmt erheblich mehr Zeit in Anspruch, als<br />

Baguettes zu überbacken. Wie hast du das kalkuliert?"<br />

"Erstmal würde ich das Organisieren und Kochen ohne Zusatzlohn machen, damit du kein Risiko<br />

damit hast. Natürlich möchte ich weiterhin für die bisher üblichen Stunden bezahlt werden; das ist ja<br />

mein Anreiz, diese Aktion zu unternehmen. Und wenn es dann läuft, können wir weitersehen."<br />

"Das klingt schonmal ganz brauchbar, wenn du kostenlos die Mehrarbeit leistest. Und soll das<br />

ganze mittags oder abends stattfinden?"<br />

"Die Entscheidung für mittags oder abends finde ich gar nicht so einfach. Für abends spricht, dass<br />

dann mehr los ist. Auch die Leute, die über Mittag arbeiten, können dann kommen."<br />

"Ok, dann also abends, aber was wird aus den Tagen, an denen du gar nicht hier bist. Dein<br />

Kollege wird wohl kaum freiwillig Linsensuppe kochen."<br />

"Im Zweifelsfall machen wir es halt nur, wenn ich Dienst habe. Vier warme Mahlzeiten in der<br />

Woche sind besser als gar keine."<br />

"Ok, testen wir eine Woche lang, ob du damit klar kommst. Wenn ja, können wir die Testphase auf<br />

einen Monat verlängern. Aber die Zutaten finanzierst du selber vor und erst von den Einnahmen<br />

erstatte ich dir die Kosten.", beschloss Ricardo.<br />

Jens schluckte, denn das mit dem Vorfinanzieren schmeckte ihm überhaupt nicht, aber ansonsten<br />

war es eigentlich besser als erhofft gelaufen. Ob das ein Hinweis darauf war, dass Ricardo das<br />

Wasser bis zum Hals stand? Nun ja, egal, Jens würde versuchen, das Beste daraus zu machen.<br />

Im Verlauf <strong>des</strong> Abends schrieb er auf eine Tafel "M<strong>org</strong>en: Spaghetti mit Tomatensoße zum<br />

sensationellen Billigpreis.". Ausserdem erzählte er den Gästen, die er kannte, dass es ab m<strong>org</strong>en<br />

viermal in der Woche warme Mahlzeiten geben würde.<br />

Am nächsten Tag war Jens schon am M<strong>org</strong>en ganz aufgeregt und dachte immerzu an sein<br />

abendliches Vorhaben. Am Nachmittag holte er seine Satteltaschen aus dem Keller, damit er mehr<br />

Material mit dem Fahrrad transportieren konnte. Auf Dauer würde das wohl nicht reichen; er brauchte<br />

unbedingt einen Fahrrad-Anhänger. Aber angesichts seiner Lohnkürzung konnte er sich den zur Zeit<br />

nicht leisten. Fürs Erste musste er mit dem auskommen, was er hatte.<br />

Für sich selbst kaufte er nur eine Packung Kaffee und Kondensmilch, der ganze Rest seines<br />

Einkaufs war fürs Bistro v<strong>org</strong>esehen. Am Schluss war sein Fahrrad so beladen, dass er es schieben<br />

musste. Darum brachte er die Einkäufe auch direkt ins Bistro, ohne nochmal nachhause zu gehen. Zu


Hause erwartete ihn sowieso nichts und im Bistro konnte er schon mal alles vorbereiten für seine<br />

Kochaktion.<br />

Damit seine Mahlzeit auch Abnehmer finden würde, beschriftete er ein grosses Schild mit dem<br />

neuen Angebot und stellte es auf die Straße vor dem Bistro. Den ganzen Tag schon hatte er überlegt,<br />

mit wieviel Portionen er anfangen sollte, denn wenn er zuviel kochte, würde es gleich Verluste<br />

einbringen. Also entschied er sich für zwölf Portionen in der ersten Runde. Da das Kochen nur etwa<br />

eine halbe Stunde dauern würde, müsste es später auch möglich sein, noch mehr Spaghetti<br />

nachzukochen, wenn der Ansturm auf seine Mahlzeit größer sein sollte.<br />

Das Zwiebelschneiden ging ihm inzwischen flott von der Hand, sodass er im Nu fertig war. Im<br />

Gegensatz zu den riesigen Portionen bei der Armenspeisung schien Jens seine Kochmenge fast<br />

lächerlich klein.<br />

Kaum waren die Spaghetti fertig, kamen auch schon die ersten Gäste. In kurzer Zeit waren die<br />

ersten zwölf Portionen vertilgt und Jens machte sich in aller Eile an die nächste Ladung. Endlich war<br />

mal wieder etwas mehr Betrieb im Bistro. Noch vor einem Jahr hätte er diese Anzahl an Gästen noch<br />

als schwach besucht bezeichnet, aber für aktuelle Verhältnisse konnte man es fast Ansturm nennen.<br />

Erst nachdem er mehr als dreißig Portionen rausgeschickt hatte, wurde es etwas ruhiger.<br />

Für eine kleine Pause setzte er sich zu Bennie, Andreas und Thomas, die wie erhofft zu seiner<br />

ersten Billigmahlzeit gekommen waren.<br />

Andreas fragte: "Sag mal, kann ich eigentlich gleich für die ganze Woche zahlen, dann hab ich die<br />

warmen Mahlzeiten schon mal sicher und geb das Geld nicht für was anderes aus?".<br />

"Hm, auf diese Idee bin ich noch gar nicht gekommen. Aber warum eigentlich nicht? Bevor du am<br />

Ende der Woche kein Geld mehr hast, nehmen wir es doch lieber gleich. Ich besprech das mal mit<br />

Tina und dann kannst du das mit ihr regeln, denn ich hab mit dem Kassieren ja nichts zu tun.",<br />

anrwortete Jens.<br />

"Au ja, das ist ne gute Idee. Ich glaub, das mach ich auch.", sagte Thomas.<br />

"Kann man auch gleich für den ganzen Monat zahlen?", fragte Bennie.<br />

"Eher nicht, denn bisher sind die warmen Mahlzeiten nur für eine Woche sicher. Danach sehen wir<br />

weiter.", erklärte Jens.<br />

Tina freute sich über die Idee mit den Vorauszahlungen. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass<br />

Andreas und Thomas am Ende der Woche noch genug Geld übrig hatten, hielt sie wohl für gering.<br />

Am nächsten Tag gab es Linsensuppe und die Anzahl der Essensgäste stieg auf nahezu sechzig<br />

an. Jens war in seiner engen Küche voll am Rotieren und kam kaum mit der Produktion der Suppe<br />

hinterher. Trotz Stress freute er sich aber über den großen Andrang, denn das zeigte ihm, dass seine<br />

Idee gut gewesen war. Auch Ricardo ließ sich kurz blicken und schien sehr zufrieden, denn nicht nur<br />

die Suppe verkaufte sich gut, sondern die Gäste bestellten auch fast alle noch Getränke zum Essen<br />

und das brachte ordentlich Gewinn. Sogar ein paar Baguettes wurden verkauft.<br />

Als Jens am Wochenende wieder Dienst hatte, brach vollends das Chaos aus. Diesmal gab es<br />

Asia-Gemüse, wobei das asiatischste daran wohl der viele Curry war, den Jens zum Würzen benutzte.<br />

Ansonsten waren die Zwiebeln in dreieckige Stücke geschnitten und die Karotten gestiftet, was dem<br />

Ganzen ein etwas exotischeres Aussehen geben sollte. Natürlich machte dieses Gericht erheblich<br />

mehr Arbeit als die schlichten Spaghettis. Das China-Gemüse erfreute sich so grosser Beliebtheit,<br />

dass gegen zehn Uhr alles aufgegessen war und Jens kein Gemüse mehr hatte, um noch mehr<br />

nachzukochen. Daher kochte er noch mehrere Töpfe Spaghetti, denn davon hatte er so reichlich<br />

eingekauft, dass noch genug vorhanden war. Bis zum Ende der Öffnungszeit hatte er knapp hundert<br />

Portionen verkauft und war völlig erschöpft. Wenn das am nächsten Tag so weitergehen würde,<br />

würden die geplanten Kartoffeln mit Quark nicht ausreichen, denn die Reserve-Nudeln waren ja schon<br />

verbraucht.<br />

Ein weiteres Problem würde der Einkauf darstellen, denn mit seinem Fahrrad artete die<br />

Zutatenbeschaffung in echte Arbeit aus. Für den Wochenendeinkauf hatte er schon vier Touren<br />

gebraucht, einerseits, weil er gar nicht mehr auf einmal transportieren konnte und andererseits, weil<br />

die Supermärkte gar nicht genügend billige Nahrungsmittel auf Lager hatten. Mehrmals war er auch<br />

schon schief angeschaut worden, wenn er mit seinen vollen Einkaufswagen zur Kasse ging.<br />

Um diese Probleme würde er sich nächste Woche kümmern, zunächst mal war Jens sehr<br />

zufrieden mit seinen erfolgreichen Billigmahlzeiten.


Kapitel 7<br />

Natürlich verlängerte Ricardo die Testphase für die billigen Mahlzeiten im Bistro und Jens hatte vor<br />

lauter Arbeit kaum noch Zeit, bei der Armenspeisung mitzuhelfen. Dreimal in der Woche nahm er sich<br />

jedoch die Zeit, wenigstens bei der Essensausgabe mitzuhelfen. Auf diese Weise war er fast von früh<br />

bis spät mit dem Thema Essen beschäftigt und das in einer Zeit, in der auch schon die Medien immer<br />

wieder über Vers<strong>org</strong>ungsengpässe bei der Nahrungsmittelvers<strong>org</strong>ung berichteten.<br />

Die Vers<strong>org</strong>ungsengpässe bekam Jens beim Einkaufen sehr deutlich zu spüren. In einem der<br />

Supermärkte wurde er bald an der Kasse zurückgeschickt, wenn er mit grossen Mengen der gleichen<br />

Artikel ankam. Also musste er das meiste wieder in die Regale legen. Um trotzdem seine Bestände<br />

aufstocken zu können, deckte er sich mit kleinen Mengen aller Artikel ein, die er im Lauf einer Woche<br />

benötigen würde. Und kurz bevor sein Dienst anfing, ging er einfach nochmal hin, um an einer<br />

anderen Kasse ein zweites Mal einzukaufen. Bei den anderen Supermärkten wurde er zwar nicht<br />

weggeschickt, aber die billigen Nahrungsmittel wurden gar nicht so schnell nachgeliefert, wie er sie<br />

wegkaufte. Es schien Jens, als wäre er den ganzen Tag mit Nahrungsmittelbeschaffung beschäftigt.<br />

Als Ricardo sah, welche Mengen Jens mit seinem Fahrrad anschleppte, endschied er sich, den<br />

Großteil der Zutaten bei seinem Großhändler zu bes<strong>org</strong>en. Dort waren die Produkte der unteren<br />

Preisklasse zwar eher teurer als beim Discount-Supermarkt, aber durch die grossen<br />

Verpackungseinheiten lief es etwa auf den gleichen Preis hinaus. Vor allem war der Großhändler an<br />

grosse Mengen gewöhnt.<br />

Eines Tages gab es jedoch keine billigen Spaghettis mehr beim Großhändler. Er bot Ricardo die<br />

teurere Preisklasse an, die mit ihrem dreimal so hohen Preis jedoch die ganze Kalkulation<br />

durcheinander gebracht hätten. Die billigen Spaghettis würde es in absehbarer Zeit nicht mehr geben,<br />

weil es Lieferschwierigkeiten damit gab. Also kam Ricardo ohne Spaghettis zurück ins Bistro, was alle<br />

Anwesenden in Entsetzen versetzte, denn Spaghettis waren das Lieblingsgericht der meisten Gäste.<br />

Jens setzte sich also mal wieder auf sein Fahrrad und suchte die Supermärkte heim. Im ersten<br />

Laden standen gerade noch zwei Kisten Spaghetti an der Stelle, an der früher immer ein ganzer Turm<br />

gestanden hatte. Viel mehr als eine Kiste Spaghetti konnte er sowieso nicht transportieren, also ließ er<br />

die andere Kiste für andere Käufer stehen. Nachdem er die Nudeln ins Bistro gebracht hatte, fuhr er<br />

noch in einen weiteren Supermarkt, wo er nichtmal mehr soviel Spaghetti wie im anderen Landen<br />

vorfand. Auch hier ließ er ein paar Einzelpackungen liegen und kaufte soviel wie er sich traute. Für<br />

etwa drei Mahlzeiten würden die mühsam zusammengekauften Nudeln reichen. Aber was wäre dann?<br />

Nun ja, es gab ja noch andere Gerichte und vielleicht würde es ja bald wieder neue Spaghetti zu<br />

kaufen geben.<br />

In der Zwischenzeit war der Herbst schon so weit fortgeschritten, dass auch Jens es in seiner<br />

Wohnung zu kalt fand. Er verstopfte alle Ritzen, die er entdecken konnte, wie geplant mit<br />

zusammengerollten Zeitungen, was vor allem an windigen Tagen eine spürbare Erleichterung brachte.<br />

Außerdem zog er jetzt meistens dicke Wollsocken und eine Strickjacke an, wenn er sich in seiner<br />

Wohnung aufhielt.<br />

Beim ersten Frost klingelte der Hausverwalter bei ihm, und kündigte an, dass er die Heizung jetzt<br />

anstellen würde, wenn Jens bereit wäre, die doppelte Heizkostenpauschale im Voraus zu zahlen. Da<br />

Jens vor lauter Frösteln schon ganz verspannt war, willigte er ein, obwohl ihn der zusätzliche Betrag<br />

schon wieder an den Rand der Geldlosigkeit brachte.<br />

Dabei war es in letzter Zeit eigentlich ganz gut gelaufen. Die Kochaktionen hatten ihn davor<br />

bewahrt, wieder auf Kurzarbeit gesetzt zu werden, einer der Web<strong>des</strong>ign-Kunden hatte inzwischen<br />

bezahlt, die anderen beiden waren pleite gegangen und vor allem hatte Jens vor lauter Arbeit kaum<br />

Zeit gehabt, sein weniges Geld auszugeben. Außerdem hatte er ja jeden Tag min<strong>des</strong>tens eine<br />

kostenlose warme Mahlzeit.<br />

Der Strom fiel jetzt fast zweimal in der Woche aus, aber meistens floss er nach wenigen Stunden<br />

wieder. In der Stadt waren wochenlang alle Kerzen und Taschenlampen ausverkauft. Doch<br />

irgendwann fand auch Jens eine bezahlbare Taschenlampe, die er fortan immer dabei hatte. Kerzen<br />

kaufte er immer, wenn er bei einem seiner zahllosen Supermarktbesuche welche sah. Meistens waren<br />

die Kerzenregale jedoch wie leergefegt. Nur ein paar einzelne teure Kitschkerzen staubten noch<br />

einsam vor sich hin. Nach einer Weile sah man aber auch keine Kitschkerzen mehr im Angebot. Als<br />

endlich neue Kerzen auf den Markt kamen, kosteten sie viermal so viel wie früher. Es hieß, dass die<br />

enorme Preissteigerung an den hohen Erdölpreisen liegen würde.


Und dann kam der Tag, an dem Jens ganzes schönes Überlebenskonstrukt in sich<br />

zusammenbrach. Erst wunderte er sich nur, dass nur halb soviele Gäste wie sonst zum Essen<br />

gekommen waren. Dann sah er bei einem rätselnden Blick in den Gastraum, wie Thomas das Bistro<br />

betrat. Er sah sehr niedergeschlagen aus. Auf direktem Weg ging er zum Tresen, nicht wie sonst,<br />

wenn er sich an einen der Fensterplätze lümmelte.<br />

"Nein, ich will heut nichts. Heute ist mein schwarzer Tag und wohl nicht nur meiner. Diese blöden<br />

Typen vom Bürgeramt zahlen uns jetzt kein Geld mehr, sondern es gibt Nahrungsmittel-<br />

Bezugsscheine. Die können wir in Supermärkten einlösen oder uns das Essen aus Automaten holen.<br />

Und das alles mit so einer bescheuerten Chipkarte. Damit können die mich auf Schritt und Tritt<br />

überwachen. An Geld gibts nur noch Taschengeld. Und zwar wenig, sehr wenig. Das reicht nichtmal<br />

für ein Bierchen. Und das Ganze nennen sie jetzt Grundsicherung III, als hätten sie etwas Tolles<br />

geleistet.", erzählte Thomas traurig.<br />

Jens lud Thomas in die Küche ein, und gab ihm heimlich einen Teller Suppe, denn er hatte<br />

sowieso mehr gekocht, als wahrscheinlich bestellt werden würde, wenn das so weiter ging. Dass die<br />

heimliche Suppe eine Ausnahme war, wussten beide ohne darüber zu sprechen.<br />

Die nächsten Tage zeigten, dass sich die Folgen der Änderung bei der Grundsicherungs-<br />

Auszahlung massiv auf das Geschäft <strong>des</strong> Bistros auswirkten. Von den warmen Mahlzeiten wurde nur<br />

noch ein Bruchteil der vorigen Mengen verkauft und auch der Getränkeabsatz ging drastisch zurück.<br />

Jens konnte sich kaum vorstellen, dass all die Leute, die sonst je<strong>des</strong>mal zum Essen gekommen<br />

waren, von der Grundsicherung lebten.<br />

Bennie gab Jens schließlich unwissentlich einen Hinweis, was es mit dem massiven<br />

Umsatzeinbruch auf sich haben könnte, denn er erzählte bei einem seiner selten gewordenen<br />

Besuche: "Seit die Grundsicherungsleute kein Geld mehr bekommen, fährt fast niemand mehr Taxi.<br />

Dabei habe ich normalerweise gar keine Kunden, die von Grundsicherung leben. Aber anscheinend<br />

leben meine bisherigen Kunden zum großen Teil von staatlich unterstützten Leuten. Und jetzt wo die<br />

kein Geld mehr haben, gibt es die reinste Kettenreaktion. Also fährt kaum noch jemand Taxi, ich bin<br />

so gut wie arbeitslos. Kriegt ihr die Folgen der Grundsicherungsänderung nicht zu spüren?".<br />

"Doch, doch, hier sieht es auch ganz schlecht aus. Guck dich doch mal um. Kaum noch Gäste da.<br />

Ich hatte mich nur gewundert, dass soviele Leute von Grundsicherung leben, aber so wie du das<br />

schilderst, macht es durchaus Sinn. Wir sind hier ja selbst Opfer der Kettenreaktion.", antwortete Jens.<br />

"Ich mach mir echt S<strong>org</strong>en, wie das weitergehen soll.", sagte Bennie. "Jeden Tag schau ich mich<br />

schon nach einen anderen Job um, denn das mit dem Taxi-Fahren kann ich wohl bald aufgeben.".<br />

"Das sollte ich vielleicht auch mal tun. Wer weiß, wielange es mit dem Bistro noch weitergeht.",<br />

überlegte Jens.<br />

Als hätte er es heraufbeschworen, kam Ricardo noch am gleichen Abend und sagte zu Jens: "Du<br />

siehst ja selbst, was hier los ist, nämlich gar nichts. Das mit den Billigmahlzeiten kann man wohl<br />

getrost als gescheitert bezeichnen. Natürlich ist das nicht deine Schuld, du hast dich ja wirklich<br />

ordentlich eingesetzt, aber es ist nunmal Tatsache, dass kaum noch jemand kommt, um die<br />

Mahlzeiten zu kaufen. Wir lassen das also ab sofort bleiben. Vielleicht können wir noch einen kleinen<br />

Topf Spaghettis anbieten, aber dann zum höheren Preis, damit es sich auch rechnet. Die ganze<br />

Zutatenbeschaffung wird ja schließlich immer schwieriger und teurer. Und bei der geringen Menge<br />

lohnt sich das nicht zum Billigpreis. Ach ja, und mittags kann ich mir deine Anwesenheit nicht mehr<br />

leisten. Ab sofort also nur noch abends.".<br />

Jens sass da wie vom Donner gerührt, aber er sagte sich, dass er ja eigentlich damit gerechnet<br />

hatte. Das half aber kaum, den Schock zu dämpfen.<br />

"He, Kopf hoch Junge. Du hast wirklich gut gearbeitet in letzter Zeit und wenn ich es mir leisten<br />

könnte, würde ich dich sogar ganztags einstellen, aber mir sind leider die Hände gebunden.", sagte<br />

Ricardo noch, bevor er in seinem Büro verschwand.<br />

Tina nahm Jens kurz tröstend in den Arm, als dieser wie ein begossener Pudel an ihr vorbei in die<br />

Küche schlurfte.<br />

In der Küche angekommen, fing Jens an zu putzen, denn er erwartete keine Essensgäste mehr<br />

und irgendwas musste er tun, um seinen inneren Aufruhr zu besänftigen. Das Geld, das er ohne<br />

Mittagsschichten verdienen würde, reichte gerade so eben für die Miete, aber ohne Strom. Für alles<br />

andere blieb nicht das Geringste übrig. Zudem war das Web<strong>des</strong>ign-Geschäft vollständig


zusammengebrochen. Bei seinem letzten Anruf bei der Werbeagentur hatte ihm die Sekretärin nur die<br />

Ohren vollgejammert, wie miserabel die Auftragslage sei.<br />

Jens musste sich wirklich was einfallen lassen. Am besten etwas, das länger funktionieren würde,<br />

als seine Idee mit den Billigmahlzeiten.


Kapitel 8<br />

Bis zum nächsten M<strong>org</strong>en hatte Jens noch keine guten Ideen, um seine Geldprobleme zu lösen,<br />

und weil er nichts besseres zu tun hatte, ging er mal wieder recht früh zum Helfen bei der<br />

Armenspeisung.<br />

Aber selbst dort war die Welt nicht mehr in Ordnung. Johanna saß tränenüberströmt am<br />

Küchentisch und es war sofort offensichtlich, dass die Tränen nicht von den Zwiebeln verursacht<br />

worden waren. Silke saß neben ihr und hatte den Arm um ihre Schulter gelegt.<br />

Jens setzte sich an den Tisch und wusste nicht so recht, wie er sich verhalten sollte, also nahm er<br />

sich einfach einen Beutel Zwiebeln und fing an, sie zu schneiden.<br />

Nach einer Weile hatte sich Johanna wieder etwas gefangen und sagte zu Jens: "Mein Vater hat<br />

seine Arbeitsstelle verloren. Jetzt geht es auch mit uns den Bach runter. Wahrscheinlich verlieren wir<br />

unser Haus und dann sitzen wir auf der Straße.". Bei diesen Worten schluckte sie hart und konnte<br />

nicht verhindern, dass ihr neue Tränen in die Augen traten, auch wenn sie offensichtlich dagegen<br />

ankämpfte.<br />

"Nun, nun, die Suppe wird nicht so heiss gegessen wie gekocht.", beschwichtigte Silke die<br />

verzweifelte Johanna. "Wenn ihr eure Hausraten nicht mehr zahlen könnt, wird das Haus irgendwann<br />

zur Versteigerung ausgeschrieben. Und wer soll sich heutzutage noch so ein teures Haus ersteigern<br />

können? Niemand. Es gibt jetzt schon Häuser in Überfülle, die keinen Käufer mehr finden. Die Bank<br />

wird dann froh sein, wenn ihr im Haus wohnen bleibt, denn dann verfällt es nicht so schnell. Natürlich<br />

werden sie versuchen, soviel Geld wie möglich aus euch rauszupressen, aber rauswerfen werden sie<br />

euch in diesen Zeiten bestimmt nicht.".<br />

"Glaubst du wirklich? Ja, du glaubst es wirklich. Leuchtet auch irgendwie ein.", sagte Johanna<br />

unsicher. "Dann ist es vielleicht gar nicht so schlimm, wie ich dachte. Naja, am besten ich fange mal<br />

an mit dem Zwiebel-Schnippeln." Sie gab sich einen Ruck, wischte mit dem Ärmel über ihr Gesicht,<br />

ergriff ein Küchenmesser und begann mit der täglichen Arbeit.<br />

Als Jens etwas später den ersten Topf nach draussen trug, hatte er den Eindruck, dass die<br />

Flüssigkeit darin mehr schwappte als sonst. Bisher war das Essen immer ein dicker Eintopf gewesen,<br />

der wie ein Berg auf dem Teller stand, bevor er langsam von der Schwerkraft platt gedrückt wurde.<br />

Was Jens jetzt nach draussen trug, konnte man eindeutig als Suppe bezeichnen, denn sie war richtig<br />

flüssig. Beim Abholen <strong>des</strong> zweiten Topfes sprach er Silke darauf an.<br />

"Ja, die Suppe ist dünner geworden. Du siehst ja, wieviele Töpfe jetzt auf den Herden stehen. Das<br />

ist die Hälfte mehr als noch letzten Monat, weil es immer mehr Gäste gibt. Und die Spenden von<br />

Restaurants und Supermärkten sind fast vollständig ausgefallen. Wir finanzieren die Suppen jetzt aus<br />

eigener Tasche. Und, nun ja, wir wollen das ja noch einige Zeit durchhalten, darum strecken wir die<br />

Suppe jetzt etwas. Aber zum Sattwerden reicht es immernoch."<br />

Jens nickte verständnisvoll und trug den Topf nach draussen. Die Menge der Wartenden war in der<br />

Tat enorm angeschwollen. Dabei müssten die ganzen Grundsicherungs-Leute ihr Essen jetzt doch<br />

eigentlich direkt bekommen. Warum kamen dann immernoch soviele Menschen zur Armenspeisung?<br />

Die Antwort auf diese Frage ließ nicht lange auf sich warten, denn plötzlich stand Andreas vor ihm<br />

und wollte Suppe. Jens staunte nicht schlecht, denn er erinnerte sich genau, wie Andreas gesagt<br />

hatte, dass er sich zu sehr schämen würde, um zu einer Armenspeisung zu gehen. Inzwischen hatte<br />

das Schamgefühl wohl nachgelassen. Jens bat seinen Mithelfer, ihn kurz zu entschuldigen und ging<br />

zu Andreas, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln.<br />

"Hi Jens, jetzt bin ich doch bei dieser Armenspeisung gelandet. Von deinen Mahlzeiten her bin ich<br />

jetzt wohl warme Mahlzeiten gewöhnt und will sie nicht mehr missen.", Andreas grinste Jens schief an.<br />

"Ja, schmeckt doch ganz gut, die Suppe. Ich dachte ihr bekommt jetzt das ganze Essen per<br />

Bezugsschein."<br />

"Klasse, ja, hab ich auch gedacht. Aber die Supermärkte kriegen das nicht geregelt. Die Sachen,<br />

auf die wir Anrecht haben, sind fast immer ausverkauft und was anderes geben sie uns nicht. Und die<br />

Automaten, die sie aufstellen wollten, gibt es fast noch gar nicht. Sie labern was von Stahlknappheit,<br />

die die Produktion verzögern würde. Dass ich nicht lache, das ist doch bestimmt mal wieder ne faule<br />

Ausrede, um uns zu schikanieren. Und die paar Automaten, die schon stehen, sind fast immer leer.<br />

Also gibt es nix zu Beissen für Unsereins."


"Das klingt ja wirklich nicht erfreulich."<br />

"Tja und das Beste kommt erst noch. Ab nächsten Monat wollen sie uns in Container sperren, weil<br />

sie unsere Mieten nicht mehr zahlen wollen. Wie die mir auf den Sack gehen, diese unfähigen<br />

Politker."<br />

"Ja, die Zeiten sind echt mies. Ich muss mal wieder an die Arbeit gehen. Mein Kollege wartet schon<br />

auf mich."<br />

Als er wieder hinter seinem Suppentopf stand und Essen ausgab, ging ihm das Gespräch immer<br />

wieder durch den Kopf. Irgendwie konnte er nicht nachempfinden, warum Andreas sein Schicksal so<br />

vollständig in die Hände eines darbenden Staates gelegt hatte. Da war keine Spur von "ich<br />

unternehme irgendetwas, um meine Situation zu verbessern" gewesen. Jens konnte ihm zwar keine<br />

bequemen Alternativen vorschlagen, denn seine eigene mühsame Strampelei war ja wirklich kein<br />

gutes Beispiel für eine gelungene Lebensgestaltung, aber es war ihm immer noch lieber, als nichts zu<br />

tun, und sich vom Staat abhängig zu machen. Vielleicht waren viele Menschen einfach nicht in der<br />

Lage, sich um sich selbst zu kümmern. Ob das ein Mitgrund für die schwierige Situation sein könnte?<br />

Das herzliche Dankeschön einer uralten Frau riss ihn aus seinen Gedanken, nachdem er ihr wie<br />

abwesend eine Portion Suppe in die Schale gelöffelt hatte. Obwohl das Gesicht der Frau wie ein<br />

Hochgebirge aus Runzeln aussah, leuchteten ihre lebendigen Augen ihn hellwach an und ein Lächeln<br />

strahlte über ihr Gesicht. Diese alte Frau hatte bestimmt nicht viele Alternativen zu einer<br />

Armenspeisung und weil er hier war und Suppe ausgab, blieb ihr vielleicht das Schicksal der<br />

verhungerten Frau aus dem Fernsehen erspart.<br />

"Oh, gern. Ich danke Ihnen für ihre Freundlichkeit.", hörte Jens sich sagen, ehe ihm klar wurde,<br />

was er eigentlich sagen wollte.<br />

Die Frau zwinkerte ihn an, nickte ihm freundlich zu und humpelte davon. Jens fühlte sich innerlich<br />

wie verwandelt. Es war doch nicht alles sinnlos. Es lohnte sich, irgendwas gegen die Not zu tun, auch<br />

wenn es nur ein Tropfen auf dem heissen Stein war.<br />

Später am Abend saß Jens vor dem Fernseher und ließ sich berieseln, um sich vom täglichen<br />

Irrsinn abzulenken. Das Thema Ölknappheit ließ ihn jedoch nicht Ruhe, denn kaum hatte er<br />

angeschaltet, kam ein Bericht über die verheerenden weltweiten Folgen <strong>des</strong> schwindenden Erdöls. In<br />

den meisten Ländern der dritten Welt waren Hungersnöte ausgebrochen und die Menschen starben<br />

wie die Fliegen. Das lag daran, dass die reichen Ländern keine überschüssigen Nahrungsmittel mehr<br />

produzierten und daher auch nichts mehr exportierten. Viele arme Länder hatten sich jedoch an die<br />

Entwicklungshilfe gewöhnt und waren von Getreidelieferungen abhängig. Ihre eigene Landwirtschaft<br />

war in vielen Gegenden völlig heruntergewirtschaftet, weil es sich für die dortigen Bauern nicht mehr<br />

gelohnt hatte, Getreide anzubauen, denn das Importgetreide verdarb ihnen alle Absatzchancen. Die<br />

Luxusprodukte, die in vielen Gegenden statt<strong>des</strong>sen angebaut wurden, nützten ihnen kaum, denn von<br />

Kaffee wird man nicht satt.<br />

In Afrika hatten sich Unruhen zu blutigen Kriegen ausgeweitet und in vielen Grossstädten Asiens<br />

gab es Aufstände. Gegen die dortigen Verhältnisse war es in Deutschland ja fast noch paradiesisch.<br />

Besonders erschreckende Nachrichten kamen jedoch aus den USA, denn von dort kannte man<br />

bisher nur Reichtum und Überfluss. Die Abhängigkeit der USA vom Erdöl war jedoch so ausgeprägt,<br />

dass die Verknappung es den Leuten unmöglich machte, zu ihren weit entfernten Arbeitsplätzen zu<br />

fahren. Ausserdem war die Landwirtschaft fast vollständig zusammengebrochen. Das lag unter<br />

anderem daran, dass die hohen Preise für Dünger und Treibstoff viele Bauern schon im Laufe <strong>des</strong><br />

letzten Jahres in die Pleite getrieben hatten. Dadurch war nicht nur der Ertrag pro Hektar drastisch<br />

gesunken, sondern ein grosser Teil der landwirtschaftlichen Fläche lag brach und konnte nicht mehr<br />

bearbeitet werden. Die Transportwege von der Kornkammer der USA zu den Städten waren so weit,<br />

dass nur ein Teil der verfügbaren knappen Nahrung den Weg in die Städte schaffte. Die Regierung<br />

hatte die Landwirtschaft zwar inzwischen zur Chefsache erklärt, aber vieles deutete darauf hin, dass<br />

Massen von Amerikanern im Laufe <strong>des</strong> Winters verhungern würden.<br />

Dann endlich, als Jens schon versucht war, den Fernseher wieder auszuschalten, weil er genug<br />

Hiobsbotschaften für diesen Tag gehört hatte, kam eine positive Meldung.<br />

Der Nachrichtensprecher berichtete, dass den Japanern ein Durchbruch bei der Förderung von<br />

Methanhydraten gelungen sei. Ab sofort würden sie die Förderung im grossen Stil in Angriff nehmen,<br />

denn die Testphase sei erfolgreich verlaufen. Mit dem Methanhydrat wäre dann ein<br />

Ersatzenergieträger für Erdgas verfügbar. Die geschätzten weltweiten Methanhydrat-Vorräte würden<br />

angeblich für tausende von Jahren reichen, um die Menscheit mit Energie zu vers<strong>org</strong>en.


Das war die erste wirklich erfreuliche Nachricht seit Monaten, fand Jens. Die folgende ausführliche<br />

Sendung zum Thema Methanhydrat sah er sich <strong>des</strong>halb gerne an. Durch den wissenschaftlichen<br />

Moderator der Sendung erfuhr er einiges über Methanhydrate.<br />

Methan ist ein Kohlenwasserstoff, der unter anderem ein Hauptbestandteil <strong>des</strong> normalen Erdgases<br />

ist. Es wird gebildet, wenn Kleinstlebewesen im Meer sterben und unter Luftabschluss verwesen. In<br />

mittleren Meerestiefen verbindet sich das Methan unter dem hohen Druck und der niedrigen<br />

Temperatur, die dort herrschen, mit Wasser, das um die Methan-Moleküle herum gefriert. Dadurch<br />

wird das normalerweise gasförmige Methan in fester Form gebunden und komprimiert. Diese eisartige<br />

Mischung wird Methanhydrat genannt. Vor allem an den Kontinentalhängen, das sind die Stellen, wo<br />

die flachen Schelfmeere nahe der Kontinente in die Tiefsee übergehen, gibt es ganze Gebirge, die<br />

zum grossen Teil aus Methanhydrat bestehen. In gewisser Weise wirkt das Methanhydrat wie Kit, der<br />

die ganzen lockeren Sedimente <strong>des</strong> Meeresbodens zusammenhält.<br />

Doch die Förderung <strong>des</strong> Methanhydrates barg enorme Schwierigkeiten, denn die Arbeit in so<br />

großer Tiefe erfordert sehr kostspielige Maschinen. Außerdem löst sich Methanhydrat nahezu<br />

explosionsartig auf, sobald es aus der Zone <strong>des</strong> hohen Drucks und der niedrigen Temperaturen<br />

entfernt wird. Das entströmende Methangas nimmt 164 mal soviel Raum ein, wie das ursprüngliche<br />

Methanhydrat.<br />

Der Sprecher berichtete, dass manche Methanhydrat-Forscher davor warnten, dass das<br />

Entweichen großer Mengen Methan den Treibhauseffekt verstärken könnte, wodurch die globale<br />

Erwärmung noch schneller fortschreiten würde. Noch schlimmer war die Gefahr der Destabilisierung<br />

<strong>des</strong> Meeresbodens, dort wo das Methanhydrat abgebaut werden sollte.<br />

In den letzten 20.000 Jahren hatte sich das Methanhydrat vor der Küste Norwegens <strong>des</strong>tabilisiert,<br />

wahrscheinlich aufgrund einer Senkung <strong>des</strong> Meeresspiegels während der Eiszeiten, was den Druck<br />

auf dem Meeresboden verringert hatte. Dadurch war es drei Mal zu gigantischen Erdrutschen am<br />

Kontinentalhang gekommen, was riesige Tsunamis ausgelöst hatte, die die norwegische, schottische<br />

und norddeutsche Küste verwüstet hatten. Diese Rutschungen nannte man Storegga-Rutschung, weil<br />

sich die zuerst gefundene Rutschung in der Nähe <strong>des</strong> norwegischen Ortes Storegga befand.<br />

Die gleiche Gefahr würde jetzt möglicherweise auch vom Methanhydrat-Abbau drohen, warnten die<br />

Skeptiker.<br />

Dann wurde noch ausführlicher von den Abbau-Erfolgen der Japaner berichtet. Ebenso wie die<br />

USA hatte Japan seit vielen Jahren intensive Forschung für die Methanhydrat-Gewinnung betrieben.<br />

Für Japan war Methanhydrat besonders verlockend, weil es grosse Vorkommen östlich ihrer<br />

Hauptinsel Honshu gab und sie selbst üner keinerlei Erdöl- oder Erdgas-Vorkommen verfügten,<br />

sodass sie vollständig auf Importe dieser Triebfedern der technischen Zivilisationen angewiesen<br />

waren. Der Abbau mit großen Baggern, die dem hohen Druck gewachsen sein mussten, hatte sich<br />

jedoch als kaum durchführbar erwiesen.<br />

Das Hauptproblem dabei war wohl die anhaltende Stahlknappheit und die langsame Arbeitsweise<br />

der vorhandenen Testbagger. Daher hatten die Japaner ein spezielles Sprengverfahren entwickelt, bei<br />

der das vorsichtig freigesprengte Methan von großen darübergestülpten Glocken aufgefangen und in<br />

Pipelines weitergeleitet wurde. Die Amerikaner, die interviewt wurden, um die Erfolge der Japaner zu<br />

kommentieren, gaben an, dass sie selbst auch schon in einer fortgeschrittenen Testphase mit dieser<br />

neuen Abbaumethode seien. In Kürze würde auch vor Florida Methanhydrat im grossen Stil abgebaut<br />

werden. Das Ende der Energieknappheit sei nahe.<br />

Jens glaubte nicht an die Versprechungen im Zusammenhang mit dem Methanhydrat. Er<br />

vermutete eher, dass die Erfolgsmeldungen die Menschen beruhigen sollten und hoffte, dass die<br />

Europäer nicht auf die Idee kommen würden, auch den Boden der Nordsee systematisch zu<br />

sprengen.<br />

Der Methanhydrat-Durchbruch schien sich herumgesprochen zu haben, denn am nächsten Tag<br />

konnte man in allen Tageszeitungen auf der Titelseite von den großartigen Erfolgen der Japaner<br />

lesen. Selbst in der Küche <strong>des</strong> Gemeindehauses war Methan das Hauptthema <strong>des</strong> Tages. Jens war<br />

sich zuerst nicht sicher, ob er den Menschen die aufkeimende Hoffnung mit seiner Skepsis vermiesen<br />

sollte, aber schließlich entschied er sich für schonungslose Aufklärung und erklärte den anderen<br />

Küchenhelfern, was er am Abend zuvor über die Gefahren <strong>des</strong> Methan-Abbaus erfahren hatte.


Kapitel 9<br />

Jens saß mal wieder in der Küche <strong>des</strong> Gemeindezentrums und kämpfte mit den Zwiebeln, als ein<br />

unbekannter Mann die Küche betrat. Silke begrüsste ihn, als hätte sie ihn erwartet.<br />

"Sie kommen bestimmt, um die Tagesrationen abzuliefern, oder?", fragte sie den Neuankömmling.<br />

"Ja, das ist richtig. Zunächst möchte ich Sie jedoch mit dem System vertraut machen, damit Sie<br />

wissen, wie es funktioniert. Drei Leute wären eine sinnvolle Gruppe für diese Einführung.", sagte der<br />

Mann und hielt Silke ein technisch aussehen<strong>des</strong> kleines Gerät entgegen, wohl um zu zeigen, was er<br />

vorzustellen hatte.<br />

"Ok, das lässt sich machen. Jens, du kennst dich doch gut mit Technik aus, und Markus, du auch.<br />

Wenn ihr bereit seid, kommt mit an den Tisch dort drüben.", schlug Silke vor.<br />

Jens ließ sich das nicht zweimal sagen, denn er war sehr neugierig, worum es ging. Auch Markus<br />

war sofort aufgesprungen und strebte in die von Silke angegebene Richtung. Die anderen Helfer<br />

reckten die Hälse und murmelten. Verhalten konnte man aus mehreren Ecken "ich auch" hören.<br />

Silke war das nicht entgangen, denn sie sagte an die anderen gerichtet: "Keine S<strong>org</strong>e, wir zeigen<br />

es euch später in aller Ruhe.", dann ging auch sie zum Nebentisch, an dem der Mann schon<br />

platzgenommen hatte.<br />

"Wie Sie wissen,", wandte sich der Mann an Silke, "sind Sie ab sofort auch Ausgabestelle für<br />

Grundsicherungs-Nahrung. Dass wir mit der Umrüstung der geplanten Automaten etwas<br />

hinterherhinken, haben Sie wahrscheinlich schon gehört. Daher richten wir jetzt an allen geeigneten<br />

Stellen automatenfreie Ausgabestellen ein, bis die nötige Anzahl Automaten verfügbar ist. Ihre soziale<br />

Einrichtung wurde von uns als geeignet klassifiziert.<br />

Täglich gegen zwölf wird in Zukunft eine Palette Tagesrationen hier angeliefert. Sie geben diese<br />

Rationspakete in Eigenregie an Grundsicherungs-Empfänger aus. Zur Abrechnung erhalten Sie zwei<br />

Buchungsgeräte, um die Tagesrationen von den Bürger-Karten der Empfänger abzubuchen. Diese<br />

Buchungsgeräte müssen Sie täglich mit unseren Auslieferern abgleichen, bevor Sie die nächste<br />

Lieferung erhalten.<br />

Mit der Rations-Nahrung darf auf keinen Fall Handel getrieben werden. Zuwiderhandlungen<br />

werden strafrechtlich verfolgt. Hier habe ich einen Stapel Infozettel, die Sie an Ihre Kunden ausliefern<br />

können. Ein paar größere Plakate können Sie aushängen. Haben Sie noch Fragen?", beendete der<br />

Mann seine Erklärung.<br />

"Ja,", sagte Jens, "was ist denn da drin, in so einer Tagesration?".<br />

"Gut, dass Sie das fragen, denn hier habe ich zwei Testpakete für Ihre Gruppe. Damit können Sie<br />

sich mit dem Angebot etwas vertraut machen. In dieser Broschüre steht alles Wissenswerte dazu drin.<br />

Die Nahrungsmittel sind so zusammengestellt, dass sie ein ausgewogenes Verhältnis von Nährstoffen<br />

bieten.<br />

Brot und Riegel sind mit Soja-Proteinen angereichert. In die Riegel werden außerdem alle<br />

lebenswichtigen Vitamine und Spurenelemente eingearbeitet, damit es nicht zu Mangelerscheinungen<br />

kommt. Passend zu den heutigen Ernährungsgewohnheiten ist das gesamte Angebot Ready-to-Eat,<br />

wie es so schön heisst.".<br />

Der Mann holte zwei Pakete aus seinem Koffer und legte sie auf den Tisch. Eines davon nahm er<br />

in beide Hände, drehte und wendete es, wie bei einer Verkaufspräsentation. Das Paket sah aus wie<br />

eine überdimensionierte Packung Butter, wenn es auch nicht so scharfe Kanten hatte wie Butter.<br />

"Hier sehen Sie die biologisch abbaubare Umverpackung. Vorne steht der enthaltene Typ, dazu<br />

kommen wir später noch ausführlicher. Die Umverpackung können Ihre Kunden entweder in den<br />

Container werfen, den wir Ihnen hinstellen und täglich auswechseln, oder sie können das Papier auf<br />

der Innenseite auch beschriften, dazu ist es ausdrücklich geeignet. Und hier kommen wir zum<br />

abwechslungsreichen Inhalt. Zuerst das Soja-Kraftbrot; es enthält reichlich hochwertige Proteine durch<br />

die Kombination von Soja- und Getreide-Eiweiss. Eingewickelt ist das Brot, wie auch die Riegel, in<br />

diese praktischen Weichtücher, sehen Sie, die kann man auch als Servietten oder Toilettenpapier<br />

verwenden und natürlich sind sie voll biologisch abbaubar.<br />

Nun kommen wir zum Aufstrich. Da haben wir zunächst süße Aufstriche in den Sorten Erdbeer,<br />

Aprikose und Schokocreme. Dann gibt es salzige Aufstriche, die den Ausschlag für die


Typbezeichnung der Ration geben. Bei Typ A ist Lyoner Wurst enthalten, bei Typ B Geflügel-Pastete<br />

und bei Typ C Streichkäse. Typ B und C sind auch für Moslems geeignet, Typ C sogar für Vegetarier.<br />

In jeder Tagesration findet man je einen süßen und einen salzigen Aufstrich, natürlich in biologisch<br />

abbaubaren Behältern, die wir in den Containern einsammeln.<br />

Und hier kommt der Clou: Damit man die Aufstriche auf die Brote streichen kann, sind zwei<br />

essbare Messer beigelegt. Sie sind stabil genug, um damit je zwei Brotscheiben zu beschmieren;<br />

danach werden sie weicher. Wenn man hineinbeisst, brechen sie knusprig auseinander. Durch ihre<br />

milde Würzung stellen sie durchaus eine Leckerei dar.<br />

Ah, ich sehe schon, Sie wollen sie mal ausprobieren. Hier habe ich einen Satz für Sie alle<br />

mitgebracht.", er kramte in seinem Koffer und zauberte ein Bündel beigefarbener Gegenstände in<br />

Messerform daraus hervor. Diese Messer verteilte er nicht nur an die drei offiziellen Teilnehmer der<br />

Einweisung, sondern auch an die anderen Helfer, die längst neugierig nähergekommen waren, sofern<br />

es ihre Aufgabe zuließ.<br />

Jens schmunzelte darüber, wie begeistert der Mann diese Tagesrationen vorführte. Als wollte er<br />

ihnen einen teuren Staubsauger verkaufen. Aber er wollte ihnen diese Rationen ja tatsächlich in<br />

gewisser Weise verkaufen, denn sie sollten in Zukunft Tag für Tag diese Pakete ausliefern, ohne dafür<br />

bezahlt zu werden. Und um sich dieser kostenlosen Arbeitskraft zu versichern, machten sie den<br />

Helfern das Produkt eben möglichst schmackhaft.<br />

Inzwischen hörte man einige Ohs, Ahs und verhaltenes Kichern, als die Helfer nach und nach in<br />

die Messer bissen. Jens betrachtete sein Messer ausgiebig, bevor er hineinbiss. Es sah aus wie ein<br />

gewöhnliches Plastikmesser, auch Elastizität und Härte waren ähnlich. Und da sollte er jetzt<br />

reinbeissen? Er riskierte es und tatsächlich stachen ihm keine harten Plastikstücke in den Gaumen,<br />

wie er fast befürchtet hatte, sondern es war ähnlich wie beim Abbeissen von Kartoffelchips. Auch der<br />

Geschmack ähnelte Kartoffelchips, wenn er auch milder war.<br />

"Schmeckt wie Butterkeks.", ließ einer der Helfer hören.<br />

"Oh, meins schmeckt wie Salzkräcker."<br />

"Und meins wie Kartoffelchips.".<br />

"Ich hab eins mit Schokogeschmack."<br />

"Gut, Sie haben die Messer jetzt kennen- und schätzengelernt.", ergriff der Mann wieder das Wort.<br />

"Lassen Sie uns fortfahren. Denn wir haben hier noch die Riegel, drei Sorten je Tagesration und wie<br />

das Brot in Mehrzweckpapier eingepackt. Zum einen haben wir hier die Fruchtriegel, immer zwei<br />

handliche Stücke je Packung.", dabei begann er, die Fruchtriegelstücke in handliche Happen zu<br />

zerbrechen und zu verteilen. "Zum anderen gibt es Schokoriegel, kraftspendend und anregend. Und<br />

hier der Knüller, der Pizzariegel. Pizza in handlicher Riegelform, mit dem vollen Pizza-Aroma. In<br />

Paketen <strong>des</strong> Types A mit Salamistückchen, Typ B mit Sardellen und Typ C mit Zwiebelstücken.<br />

Jede Tagesration enthält alle Nährstoffe, die ein Erwachsener oder Heranwachsender am Tag<br />

braucht. Für Kleinkinder gibt es spezielle Kleinkinderpakete, die sogenannten "Mini-Packs", die etwas<br />

kleiner und geschmacklich kindgerecht abgerundet sind. Alternativ für Kleinstkinder die<br />

Flaschenmischung, die nur mit Wasser angerührt werden muss. Stillende Mütter können statt<strong>des</strong>sen<br />

auf ihre Kinder-Bürgerkarte eine Kleinkinderpackung zusätzlich zu ihrer Ration bekommen.<br />

Grundschulkinder bekommen ein "Junior-Pack", das zwischen den "Mini-Packs" und den<br />

erwachsenen Rationen liegt. Diese "Junior-Packs" werden vorwiegend an den Schulen ausgegeben,<br />

außer an schulfreien Tagen. Und die Mini- und Junior-Bürgerkarten sind nicht übertragbar, auch nicht<br />

an die Eltern; die Kinder müssen bei der Ausgabe der Rationen anwesend sein. Damit wird<br />

sichergestellt, dass die Kinder ihre Rationen auch tatsächlich bekommen. So, jetzt zeige ich Ihnen<br />

noch die Funktion der Abrechnungs-Geräte und dann können wir Ihre heutige Palette entladen.".<br />

Er zeigte Silke, Markus und Jens wie man die schlichten Geräte benutzte. Im Prinzip mussten die<br />

Leute nur ihre Karte in einen Schlitz stecken und der jeweilige Helfer musste auf einen "Ok"-Knopf<br />

drücken, das war das ganze Geheimnis.<br />

Anschließend begleiteten die Drei den Mann nach draussen, wo ein LKW auf dem Hof <strong>des</strong><br />

Gemeindezentrums parkte. Um die vielen Neugierigen abzuhalten, hielt ein Mann Wache, der<br />

gelangweilt an einer Zigarette nuckelte. Als der Mann sah, dass sein Kollege den Hof betreten hatte,<br />

setzte er sich in Bewegung und öffnete die Ladeluke <strong>des</strong> LKWs. Eine vollbeladene Palette fuhr wir von<br />

Geisterhand auf die Ladeluke und wurde runtergelassen. Ein weiterer Mechanismus beförderte die<br />

Palette sanft auf den Hof.


"So, jetzt sollten Sie die Rationen nicht mehr aus den Augen lassen. Am besten fangen Sie gleich<br />

mit der Ausgabe an, bei sovielen Leuten, die hier schon warten. Mein Kollege Herr Martens wird dann<br />

ab m<strong>org</strong>en allein kommen, um Ihnen die Palette zu liefern und abzurechnen. Viel Erfolg und auf<br />

Wiedersehen.", sagte der wortgewandte Präsentator und verschwand im Innern <strong>des</strong> Führerhauses,<br />

woraufhin sich der LKW vorsichtig in Bewegung setzte. Die wartende Menschenmenge machte ihm<br />

zögernd Platz.<br />

Sofort brach der reinste Tumult aus. Alle wollten nicht nur wissen, was da auf den Paletten lag,<br />

sondern wollten es auch haben.<br />

Silke rief mit ihrer kräftigen Stimme: "Hier gibt es jetzt Grundsicherungs-Rationen. Inhaber von<br />

Bürger-Karten können sich hier anstellen. Aber ordentlich, wenn ich bitten darf, sonst gibt es nichts.".<br />

Sie setzte ihren strengen Blick auf, der seine Wirkung nicht verfehlte. "Jeder bekommt einen Infozettel<br />

und später können auch Fragen gestellt werden. Bitte ordentlich anstellen. Erst wenn wir hier zwei<br />

saubere Schlangen haben, fangen wir mit der Ausgabe an. Nur Inhaber von Bürger-Karten anstellen,<br />

bitte.". Silke bedeutete Jens und Markus, sich mit den Geräten bereitzuhalten. Jens stellte sich auf die<br />

eine Seite der Palette und Markus auf die andere.<br />

Überraschend zügig ordneten sich auch die Gäste zu zwei Schlangen, sodass Silke bald das<br />

Startsignal für die Ausgabe gab. Das Verteilen der Pakete verlief reibungslos, denn sie hatten genau<br />

die richtige Größe, um bequem mit einer Hand gegriffen werden zu können und das Abrechnugsgerät<br />

passte in die andere Hand und ließ sich mit dem Daumen drücken. Als die Gäste merkten, dass es<br />

unterschiedliche Sorten gab, wurde es etwas schwieriger, denn plötzlich wollte jeder einen<br />

bestimmten Typ haben. Das kostete jedoch zuviel Zeit, sodass Jens den Leuten zurief, dass sie ihre<br />

Rationen ja untereinander austauschen könnten. Nur bei islamisch aussehenden Gästen achtete Jens<br />

darauf, ihnen nicht Typ A zu geben.<br />

Nach einer guten Stunde waren alle Rationen verteilt, aber noch eine Menge Leute warteten auf<br />

Essen. Silke rief der hungrigen Menge zu: "In einer Viertelstunde kommt die Suppe für alle, die noch<br />

hungrig sind. Auch beim Bürgeramt im Bekleidungs-Center werden Tagesrationen ausgegeben. Wir<br />

werden versuchen, ab m<strong>org</strong>en doppelt soviele Rationen verfügbar zu haben.".<br />

Die Menschen beruhigten sich etwas, manche gingen in Richtung Bürgeramt davon und andere<br />

stellten sich in die gewohnte Suppenschlange. Diejenigen, die eine Ration ergattert hatten, blieben<br />

teilweise auf dem Platz und packten ihre Pakete aus. Den Geräuschen nach zu urteilen, kamen die<br />

Rationen sehr gut an. Vor allem die Messer riefen Entzücken hervor, aber auch die Pizzariegel waren,<br />

wie angekündigt, der reinste Knüller.<br />

Jens sah den knabbernden Menschen zu und dachte sich seinen Teil. Durch seine eigenen Billig-<br />

Kochaktionen hatte er sich ausreichend mit der Materie beschäftigt, um zu wissen, dass die Zutaten<br />

für diese Rationen sehr billig waren, zumal in den großen Mengen, in denen der Staat sie abnehmen<br />

würde. Im Vergleich zu der Geldauszahlung, die die Grundsicherungs-Empfänger bisher bekommen<br />

hatten, kostete die neue Vers<strong>org</strong>ungsart nur einen Bruchteil.<br />

Außerdem war sichergestellt, dass die Zuwendungen für die Ernährung benutzt und nicht für<br />

unnötigen Luxus, wie Zigaretten, ausgegeben wurden, oft zu Lasten hungriger Kinder. Als Material für<br />

die Riegel und Aufstriche konnte man fast alles verwenden, was sich zu Nahrung verarbeiten ließ, das<br />

konnten auch synthetische Stoffe sein. Mit den Aromen, die offensichtlich auf den Geschmack der<br />

Bevölkerung abgestimmt waren, hielt man die Menschen bei Laune. Solange sie die Rationen<br />

mochten, würden sie nicht so schnell revoltieren. Sehr schlau ausgeklügelt. So einen genialen<br />

Schachzug hätte Jens der Regierung gar nicht zugetraut.<br />

Die Verteilung der Tagesrationen war anscheinend bun<strong>des</strong>weit im grossen Stil angelaufen,<br />

nachdem es anfänglich ja große Engpässe gegeben hatte. Als Jens abends seinen Fernseher<br />

einschaltete, sah er Schulkinder, die interviewt wurden und sich alle begeistert über die "Junior-Packs"<br />

äusserten. Auch in verschiedenen Städten war die Ausgabe der Rationen und die Reaktionen der<br />

Grundsicherungs-Empfänger gefilmt worden. Sogar der Bun<strong>des</strong>kanzler hielt eine kleine Ansprache<br />

und sagte zu, dass ab nächster Woche alle Grundsicherungs-Empfänger regelmäßig mit<br />

Tagesrationen vers<strong>org</strong>t werden würden. Dann wurden Anpreisungen gesendet, die der<br />

Produktpräsentation im Gemeindezentrum glichen.<br />

Skeptische Worte fielen nicht an diesem Abend, was Jens etwas verwunderte, denn ihm war<br />

durchaus klar, dass jede ausgegebene Tagesration einen Sargnagel für Einzelhandel und<br />

Gastronomie bedeutete. Aber anders war es wohl nicht möglich, die ganzen Erwerbslosen zu sättigen.<br />

Der Staat konnte nicht auch noch die Supermärkte und Restaurants durchfüttern.


Kapitel 10<br />

Die Umstellung der Armenspeisung auf die neuen Tagesrationen verlief etwas turbulent. Zwar gab<br />

es schon am nächsten Tag zwei Paletten, wodurch es gelang, alle wartenden Grundsicherungs-<br />

Empfänger zu vers<strong>org</strong>en, aber die übrigen, die nicht vom Staat ernährt wurden, blieben auf der<br />

Strecke. Manche Grundsicherungs-Empfänger stellten sich auch noch zur Suppe an, was dazu führte,<br />

dass andere hungrig blieben. Diejenigen, die sowohl Ration als auch Suppe bekommen hatten,<br />

sagten, dass sie unbedingt auch noch etwas warmes zu essen haben wollten. Also wurde für die<br />

Zukunft beschlossen, dass die Grundsicherungs-Empfänger auf Wunsch zusätzlich eine leichte<br />

Nudelsuppe bekommen könnten, aber von der Eintopf-Verteilung ausgeschlossen waren. Diejenigen,<br />

die auf andere Weise ihren Lebensunterhalt bestritten, oder eher, nicht mehr bestreiten konnten,<br />

bekamen Eintopf und eine zusätzliche Scheibe Brot.<br />

Doch der Neid der mittellosen Selbstverdiener blieb ungebrochen. Etliche gaben ihren ständigen<br />

Kampf ums selbstständige Überleben auf und meldeten sich beim Bürgeramt. Als Folge dieser<br />

Entscheidung mussten sie zwar ihre Wohnungen verlassen und in die staatlich <strong>org</strong>anisierten<br />

Containersiedlungen ziehen, aber das nahmen viele in Kauf. In die freiwerdenden Wohnungen, die<br />

bisher von einer Person bewohnt worden waren, wurden ganze Familien einquartiert. Alleinstehende<br />

zogen in Vierbettzimmer in den Containern oder in passend umgebaute ehemalige Mietskasernen.<br />

Nach und nach wurden auch in diesen Siedlungsgebieten Nahrungsautomaten oder menschliche<br />

Ausgabestellen eingerichtet, sodass der Ansturm bei der Armenspeisung weniger anschwoll als<br />

befürchtet. Der Anteil an Familien und jüngeren Senioren nahm im Vergleich zu jungen<br />

Alleinstehenden etwas zu. Die ganz alten Grundsicherungsempfänger wurden weniger, denn für sie<br />

war ein großes städtisches Altersheim eröffnet worden, in das hilfsbedürftige Rentner nach und nach<br />

einzogen.<br />

Auch Andreas und Thomas waren inzwischen klaglos in eine Containersiedlung gezogen, wie sie<br />

bei einem ihrer selten gewordenen Besuche im Bistro berichteten. Es gefiel ihnen zwar nicht, dass sie<br />

zu viert in einem Raum leben mussten, aber sie hatten einen Fernseher mitbringen können und<br />

konnten dort fünfzig Programme empfangen. Einer hatte auch ein Sofa mitgebracht, für das in dem<br />

Raum noch Platz war und so konnten sie recht gemütlich die Tage verbringen. Essen gab es immer in<br />

der Nähe; tagsüber war meistens eine Ausgabestelle besetzt und für nachts gab es sogar Automaten.<br />

In den Automaten gab es die Riegel und Brote auch einzeln, sodass man sich ganz nach seinem<br />

Geschmack bedienen konnte.<br />

Für ihr Taschengeld, "Bürger-Geld" genannt, mussten sie stundenweise in der Siedlung<br />

mitarbeiten, was aber anscheinend ein lockerer Job war. Und weil Ricardo inzwischen ein Bürgergeld-<br />

Abrechnungsgerät hatte, konnten sie sich mit ihrem Bürger-Geld ein Bier leisten.<br />

Jens war ganz erstaunt, wie zufrieden die beiden im Gegensatz zu früher wirkten. Sonst hatten sie<br />

immer an Allem etwas auszusetzen gehabt. Er versprach, sie an einem der nächsten freien Tage in<br />

ihrem neuen Zuhause zu besuchen.<br />

Doch bevor er dazu kam, stand eines Nachmittags ein Installateur der Stromwerke vor Jens<br />

Wohnungstür, um den Stromzähler auf das neue Abrechnungssystem umzustellen. Jens war erst<br />

völlig überrascht, doch dann erinnerte er sich an ein Informationsblatt, das vor einigen Tagen in seiner<br />

Post gelegen hatte. Er hatte es gar nicht richtig gelesen, weil er es für unwichtig gehalten hatte, aber<br />

anscheinend war er persönlich davon betroffen.<br />

Der Installateur ging zum Stromkasten in der Abstellkammer und baute dort mit wenigen<br />

Handgriffen ein kleines Zusatzgerät ein.<br />

Er zeigte auf einen Schlitz in dem neuen Gerät: "Hier sehen Sie, da können Sie Ihre Geldkarte<br />

oder eine der neuen Prepaid-Stromkarten einführen. Dann wird der verbrauchte Strom direkt davon<br />

abgebucht. Die Prepaid-Stromkarten haben den Vorteil, dass Sie sie an Ort und Stelle belassen<br />

können, während Sie mit Ihrer Geldkarte unterwegs sind. Außerdem haben die Karten ein E-Ink-<br />

Display, an dem Sie den aktuellen Stromverbrauch und die Kosten ablesen können. Die Karten<br />

erhalten Sie entweder bei mir oder in allen Schreibwarengeschäften, Lotto-Annahmestellen und<br />

Postämtern. Dort können Sie sie gegen Bargeld aufladen, an Geldautomaten können Sie sie auch<br />

über Ihr Bankkonto aufladen. Sofern Sie einen Computer mit Karten-Lesegerät und Internetanschluss<br />

oder ein geeignetes Handy haben, können Sie die Karte auch online aufladen. Wünschen Sie eine<br />

solche Prepaid-Stromkarte, gegen Gebühr?".


Jens fühlte sich etwas überrumpelt, stimmte aber zu. Die Gebühr dieser Karte würde direkt bei der<br />

ersten Aktivierung abgebucht werden, es sei also ratsam, die Karte am Anfang gleich mit etwas<br />

Spielraum aufzuladen, damit man den Strom auch nutzen konnte, erklärte der Installateur, als er Jens<br />

die Karte überreichte. Jens starrte erst etwas ratlos auf die blau schimmernde Karte, die durch eine<br />

metallisch glänzende Fläche geziert wurde. In der oberen Hälfte konnte man ein Display erkennen,<br />

das momentan nichts anzeigte. Wie Jens wusste, arbeiteten moderne Karten mit RFID-Technik, von<br />

der er nur wusste, dass sie billig herzustellen war und recht viel über den Nutzer verriet.<br />

"Sie können die Karte jetzt aufladen. Haben Sie beispielsweise ein Handy?", drängte der<br />

Installateur Jens zu einer Entscheidung.<br />

"Ja, natürlich. Ja, ich habe ein geeignetes Handy.", sagte Jens und zog sein Handy aus der<br />

Tasche. Bisher hatte er es nur selten benutzt, um damit seine kontengebundene Geldkarte<br />

aufzuladen, denn er bevorzugte traditionelle Zahlungsmittel wie Bargeld. Er hoffte, dass noch genug<br />

Geld auf seinem Konto war, um die Gebühr zu bezahlen und sich für ein paar Tage mit Strom zu<br />

vers<strong>org</strong>en. Er hatte Glück, denn es reichte gerade so eben.<br />

Als das Display der Stromkarte die gewünschte Zahl anzeigte und in einer Ecke wohlig grün<br />

schimmerte, steckte Jens sie in den dafür v<strong>org</strong>esehenen Schlitz <strong>des</strong> Stromzählers. Sofort wurde die<br />

Gebühr auf der Anzeige abgezogen. Jens betätigte einen Lichtschalter, woraufhin das Licht wie erhofft<br />

anging und die Anzeige auf der Karte den Stromverbrauch anzeigte.<br />

"Ok, das läuft wie es soll.", sagte der Installateur und schickte sich an zu gehen.<br />

Jens verabschiedete ihn und setzte sich dann erstmal hin, um über die neue Situation<br />

nachzudenken. Auf den ersten Blick sah es so aus, als würde sich gar nicht soviel ändern, weil er ja<br />

sowieso für den Strom bezahlen musste. Aber durch den Trick mit der Karte konnte es nie mehr zu<br />

höherem Stromverbrauch kommen, als vorab bezahlt wurde. Die Abschaltung <strong>des</strong> Stromkastens lief<br />

dadurch vollautomatisch.<br />

Der Vorteil der neuen Methode konnte aber sein, dass es leichter wurde, sparsam mit dem Strom<br />

umzugehen. Bei seinem Handy nutzte er schließlich auch seit Jahren eine Prepaid-Karte und das half<br />

ihm durchaus, sich kurz zu fassen.<br />

Am nächsten freien Abend machte sich Jens auf den Weg in die neue Containersiedlung. Sie war<br />

in direkter Nachbarschaft zu einer Hochhaussiedlung gebaut worden, die hier schon seit den 70er<br />

Jahren <strong>des</strong> letzten Jahrhunderts stand und nach einer Phase <strong>des</strong> Leerstands jetzt wieder voll genutzt<br />

wurde. In den letzten Monaten waren nahezu alle Empfänger von staatlichen Leistungen hier<br />

zusammengepfercht worden, weil sich die Stadt die Unterbringung in den bisherigen Mietswohnungen<br />

nicht mehr leisten konnte.<br />

Eigentlich erwartete Jens Horden von Jugendlichen, die unterwegs waren, um die Umgebung der<br />

Siedlung unsicher zu machen, aber es blieb erstaunlich ruhig. Vielleicht war es den meisten zu<br />

feuchtkalt, dachte sich Jens. Nachdem er die alten Hochhäuser hinter sich gelassen hatte, stand er<br />

vor der Container-Siedlung.<br />

Die Container ragten dreistöckig vor ihm auf und waren wabenartig angeordnet. Je eine Reihe, die<br />

aus min<strong>des</strong>tens zehn Containern bestand, wechselte sich ab mit einer Gasse, die im ersten und<br />

zweiten Stockwerk durch Übergänge unterbrochen wurde. Zu diesen Übergängen führten schmale<br />

Treppen. An der Stirnseite jeder Reihe standen grosse Nummern.<br />

Jens befragte sein Handy nach der Nummer, die ihm Andreas mitgeteilt hatte. Dann ging er bis zur<br />

sechsten Reihe, durch die enge Gasse bis zum fünften Container und stieg zum Übergang im ersten<br />

Stock. Von dort aus kam er in einen kleinen Vorraum, von dem aus ein schmaler Gang zu den<br />

Zimmern abzweigte. An der Tür mit der Nummer zwei klopfte er an.<br />

"Herein.", tönte eine gedämpfte Stimme von drinnen.<br />

Das Zimmer, in das Jens trat, wurde von zwei Stockbetten links und rechts dominiert. Die<br />

Bewohner sassen an der Fensterseite im hinteren Bereich auf dem Sofa, von dem Thomas erzählt<br />

hatte. Ausser dem Sofa standen da noch bequeme Sessel und ein niedriger Tisch. Andreas stellte<br />

Jens die beiden Mitbewohner vor, die Timmie und Chris hiessen.<br />

Der Fernseher lief und zeigte eine makabre Ekel-Show. Timmie und Chris wandten sich sofort<br />

nach der Begrüssung wieder den Würmern auf dem Bildschirm zu und witzelten darüber, ob in ihren<br />

Pizza-Riegeln womöglich auch Würmer mit Salamigeschmack drin sein könnten. Das schien sie aber<br />

nicht weiter zu bekümmern, denn kurz danach, griff jeder nach einem der Pizza-Riegel, die auf dem<br />

Tisch lagen und biss herzhaft hinein.


Thomas hatte Jens einen Stuhl gebracht, und ihm gastfreundlich einen Riegel seiner Wahl<br />

angeboten. Anscheinend herrschte kein großer Mangel an diesen Riegeln. Jens ließ sich jedoch Zeit<br />

mit dem Zugreifen, denn er hatte eigentlich keinen Hunger. Statt<strong>des</strong>sen fragte er nach dem Leben in<br />

der neuen Siedlung.<br />

"Ach, das ist eigentlich ganz locker hier. Der Frass schmeckt eigentlich ganz gut und in der Glotze<br />

gibts meistens was Interessantes. Sogar einen Erotiksender haben sie uns reingeschaltet, hätte ich<br />

denen gar nicht zugetraut.", berichtete Andreas.<br />

"Und guckt ihr auch manchmal Nachrichten und sowas?", fragte Jens, dem die unkritische Haltung<br />

seiner ehemaligen Studienkollegen etwas unheimlich war.<br />

"Nachrichten ja klar, die gibts doch immer mal wieder, auf allen Sendern. Wir kriegen hier das volle<br />

Programm. Und das Geilste ist: Diese Behördenfuzzis nerven uns nicht mehr ständig mit<br />

Arbeitszwang, Fortbildung und so nem Mist. Das haben sie wohl aufgegeben. Jetzt können wir ganz<br />

locker ab und zu ein bisschen mithelfen und verdienen uns das Bürger-Geld. Und was den Rest<br />

angeht, fühl ich mich hier sicherer als in all den letzten Jahren. Von wegen Katastrophe. Nur ein<br />

bisschen kalt ist es hier, aber wir haben extra Doppeldecken bekommen.", erweiterte Thomas<br />

Andreas Schilderung.<br />

Obwohl das alles sehr positiv klang und Jens den beiden gönnte, dass die Behörden sie nicht mehr<br />

drängelten, weil er das sowieso meistens für überflüssig gehalten hatte, blieb ein gewisser Zweifel<br />

angesichts der Situation. Doch Jens sagte sich, dass da wahrscheinlich eine ordentliche Portion Neid<br />

bei seinem Zweifel mitwirkte. Immerhin konnten sich die Männer hier einen faulen Lenz machen, ohne<br />

einen Finger dafür krumm machen zu müssen, und Jens kämpfte täglich um seine Existenz. Nun ja,<br />

das war seine eigene Entscheidung, schließlich wollte er seinen Stolz und seine Unabhängigkeit<br />

wahren, was eben seinen Preis kostete.<br />

Andreas kratzte sich heftig zwischen den Fingern, spuckte auf die juckende Stelle und stieß einen<br />

Fluch aus. Bei diesem Anblick wurde Jens bewusst, dass sich alle vier Mäner ziemlich oft gekratzt<br />

hatten, seit er hier war, vor allem an den Händen.<br />

"Zeig mal, was plagt dich denn da?", fragte Jens Andreas interessiert, denn ihm schwante Übles.<br />

"Och, irgend so ein Ausschlag.", sagte Andreas. "Nix schlimmes eigentlich.". Er streckte Jens seine<br />

Hand hin, die zwischen den Fingern stark gerötet war. Ein paar kleine rote Knötchen waren zu sehen<br />

und auch Verbingungslinien zwischen diesen Knötchen.<br />

"Sieht aus wie Krätze.", sagte Jens.<br />

"Na und, juckt mich nicht.", kam von Andreas.<br />

"Damit solltest du aber zu Arzt gehen. Das kann ziemlich grässlich werden, breitet sich aus, steckt<br />

an und man wirds nur schwer wieder los.", blieb Jens beharrlich.<br />

"Mal sehen.", sagte Andreas und machte mit seinem Tonfall deutlich, dass für ihn das Thema<br />

beendet war.<br />

Der Fernseher wurde zum Erotik-Kanal umgeschaltet und das Gespräch zwischen Jens und<br />

seinen Kollegen verstummte nach und nach. Aus Langeweile und Neugier nahm Jens sich einen der<br />

Pizzariegel und biss hinein. Es schmeckte erstaunlich pizzaähnlich. Geschmacklich war es ein echter<br />

Knüller, wie Jens überrascht zugeben musste. Mit mildem Interesse ließ er die wogenden Busen <strong>des</strong><br />

Erotik-Kanals auf sich wirken und die Zeit verstrich unmerklich. Zwischendrin kam eine<br />

Nachrichtensendung, in der berichtet wurde, dass eine Jens unbekannte Schauspielerin angeblich<br />

ihre Brust auf 110 cm Brustumfang vergrössert hatte, was von den Bewohnern der Zimmers mit einem<br />

Gröhlen quittiert wurde. Ausserdem wurde eine neue Sorte Pizzariegel mit Paprikageschmack<br />

angekündigt.<br />

Durch den Programmwechsel wurde Jens bewusst, wie spät es schon war und er beschloss<br />

aufzubrechen, um noch heimzukommen, solange die Straßenlaternen leuchteten. Er verabschiedete<br />

sich und machte sich auf den Weg. Beim Verlassen <strong>des</strong> Zimmers erschien es ihm lange nicht mehr so<br />

trostlos, wie am Anfang. Eigentlich war es sogar ganz gemütlich. Auch die Containersiedlung wirkte<br />

nicht mehr bedrohlich auf ihn, die gleichförmige Struktur vermittelte ein Gefühl von Ordnung.<br />

Auf der Straße angekommen, schlug Jens seinen Kragen hoch, um den kalten Nieselregen besser<br />

zu ertragen, der ihm unfreundlich ins Gesicht schlug. Der Wind hatte zugenommen im Laufe <strong>des</strong><br />

Tages und es war deutlich kälter geworden. Ihm grauste es schon vor seiner kalten Wohnung, die<br />

leider immernoch ziemlich zugig war, obwohl die Ritzenstopfaktion mit den Zeitungen spürbare


Verbesserung gebracht hatte. Tja, da hatte so eine enge Viererbude mit gut isolierten Fenstern<br />

durchaus seine Vorzüge, dachte Jens an die vergleichsweise wohnliche Container-Bleibe.<br />

Er schüttelte sich, stieg auf sein geparktes Fahrrad, das friedlich, aber nass auf ihn wartete und<br />

fuhr ein Stück weit mit voller Kraft, um die Schwere loszuwerden, die wie bleiern an ihm hing. So<br />

schnell würde er seine Unabhängigkeit nicht aufgeben, auch wenn er dafür kräftig strampeln musste.<br />

Um Strom zu sparen, leuchtete seit dem ersten grossen Stromausfall nur noch jede zweite<br />

Straßenlaterne, bei Windstille sogar nur jede dritte. Das hatte geholfen, die Stromausfälle auf ein<br />

erträgliches Maß zu begrenzen, behaupteten zumin<strong>des</strong>t die Verantwortlichen.<br />

Zuhause angekommen, ging er erstmal duschen, um sich etwas aufzuwärmen und vom Mief der<br />

Containersiedlung zu befreien. Nach dem Duschen schaltete er seinen Fernseher an, der zufällig<br />

gerade wie erhofft Nachrichten brachte. Die Oberweite der Schauspielerin hatte Jens an Informationen<br />

über die Welt noch nicht gereicht. Sein bevorzugter Sender brachte andere Nachrichten, die eher<br />

unerfreulich waren. Der Ölpreis hatte ein neues Rekordhoch erreicht, immer mehr Windkraftwerke<br />

fielen aus und konnten mit den verfügbaren Mitteln nicht repariert werden, die Erwerbslosen-Rate war<br />

wie erwartet angestiegen, aber die Regierung konnte erstmals seit zwölf Monaten wieder eine leicht<br />

gestiegene Zustimmung unter der Bevölkerung verzeichnen.<br />

Jens wunderte sich im Nachhinein, wie zuversichtlich er sich in den letzten Stunden in der<br />

Containersiedlung gefühlt hatte. Jetzt fühlte er sich wieder wie vor dem Besuch: Unsicher in Bezug auf<br />

die Zukunft, aber entschlossen, seinen Weg zu gehen. Wann hatte es angefangen, dass es ihm bei<br />

den Anderen gefiel? Nachdem er den Pizza-Riegel gegessen hatte? Vielleicht war es auch nur die<br />

entspannte Kumpelstimmung gewesen.


Kapitel 11<br />

Obwohl er kaum noch Geld hatte, ging Jens am nächsten M<strong>org</strong>en in ein Geschäft, das Bettdecken<br />

verkaufte. Er wollte sich einfach mal informieren, wieviel man für eine brauchbare Decke hinblättern<br />

musste. Der Laden hatte auch schon bessere Zeiten gesehen, das zeigte schon die abgesplitterte<br />

Farbe an der Eingangstür. Drinnen stapelten sich jedoch neu aussehende Decken und eine junge<br />

Verkäuferin machte ein Geschäft nach dem anderen.<br />

Die Decken auf dem grossen Stapel waren zwar eigentlich nicht sehr teuer, überstiegen Jens<br />

Budget jedoch bei weitem. Er streifte im Laden umher, um vielleicht billigere Angebote zu finden.<br />

Insgesamt schien ihm die Produktpalette ziemlich schmal. Viele Regale sahen so aus, als wären sie<br />

normalerweise gefüllter. Wahrscheinlich waren Decken in letzter Zeit sehr begehrt, dachte sich Jens,<br />

der ja auch erst jetzt auf die Idee gekommen war, sich eine Zusatzdecke zu kaufen.<br />

"Suchen Sie etwas Bestimmtes?", schreckte ihn eine männliche Stimme auf. Ein untersetzter Mann<br />

mit Halbglatze schaute Jens fragend an.<br />

"Äh ja, ich suche eine Decke. Haben Sie auch was sehr preiswertes?", sagte Jens.<br />

"Die Sonderangebote von letzter Woche sind leider ausverkauft. Da hätte ich aber noch diese hier,<br />

die könnte ich Ihnen etwas herabsetzen.", er zeigte Jens eine Decke, die leicht fleckig aussah,<br />

ansonsten aber akzeptabel schien. Doch der Preis, den der Mann nannte, war Jens immernoch zu<br />

hoch.<br />

Jens zuckte bedauernd mit den Achseln: "Leider ist mir das momentan immernoch zu kostspielig.<br />

Da werde ich wohl ein andermal wiederkommen.".<br />

"Tja, schade,..", sagte der Mann und schien zu überlegen, ob er noch etwas hinzufügen sollte. "Da<br />

gäbe es eventuell noch eine andere Möglichkeit. Sie sehen kräftig aus und ich könnte jemand<br />

gebrauchen, der den Lagerraum entrümpelt. Damit könnten Sie sich die Decke erarbeiten. Wie wärs<br />

damit?", schlug er vor.<br />

Jens überlegte nicht lange und schlug ein: "Gerne, das wär mir eine Decke wert. Wann und wie soll<br />

denn das stattfinden?".<br />

Der Mann führte ihn durch einen schmalen Gang in einen grossen Raum, der voller Gerümpel<br />

stand. Am hinteren Ende konnte man ein Garagentor erahnen, doch es war von verschiedenen<br />

Gegenständen verstellt.<br />

"Schauen Sie junger Mann, das muss alles mal aufgeräumt werden. Und zwar soll alles, was nach<br />

Decke aussieht, geordnet werden, damit ich es als Sonderposten verkaufen kann. Decken gehen zur<br />

Zeit weg wie nie. Das ist mein letzter Boom und den sollte ich mitnehmen, wenn ich schon noch mal<br />

die Chance hab, viel zu verkaufen. Die Lieferanten können gar nicht genug liefern, wie Decken<br />

verkauft werden. Darum jetzt das alte Lager. Hier liegen bestimmt noch hunderte von Decken rum.<br />

Und irgendwo müssten auch noch Heizkissen sein, die könnte ich zu Höchstpreisen verkaufen, ich<br />

musste schon drei Kundinnen wegschicken, denn bis zu den Heizkissen, kann ich mich nicht mehr<br />

durcharbeiten.", dabei schmunzelte der Mann und schaukelte seinen runden Bauch, um zu<br />

demonstrieren, warum er nicht an die versteckten Heizkissen dran kam.<br />

Er fuhr fort: "Mein Name ist übrigens Schmidtbauer. Also, alle Decken sortieren und der Rest kann<br />

weg. Mein Vetter hat eine Entrümplungsfirma und stellt mir eine kleine Mulde hin. Ich muss ihn nur<br />

mal anrufen. Schauen Sie sich nur mal um, ich werd es gleich mal versuchen, einen Termin zu<br />

vereinbaren.". Herr Schmidtbauer fischte ein Handy aus einer Jackentasche und telefonierte kurz.<br />

"Heute?", sprach er ins Telefon. An Jens gewandt fragte er: "Passt Ihnen heute nachmittag?". Jens<br />

nickte und Herr Schmidtbauer beendete zügig sein Gespräch.<br />

"Soweit alles klar?", fragte Herr Schmidtbauer.<br />

"Ja, heute nachmittag. Ich kann gegen drei bei Ihnen sein. Reicht Ihnen das?", sagte Jens. Herr<br />

Schmidtbauer stimmte zu und Jens machte sich auf den Weg zum Gemeindezentrum.<br />

Kaum war er dort angekommen, brachte Johanna ihm eine Tasse Kaffee, die Jens sehr gelegen<br />

kam. Der Kaffee schmeckte kräftiger als sonst und hatte einen Hauch Kakaoaroma, etwa wie<br />

Capuccino. Jens sagte zu Johanna: "Das ist ne neue Sorte, oder? So ähnlichen Kaffee kenn ich vom<br />

Bund, da haben wir den immer vor langen Manövern bekommen, weil der ordentlich Power gibt.".


Johanna antwortete: "Ja, da steht ein neues Glas bei der Kaffeemaschine. Schmeckt er dir?".<br />

"Ja, schmeckt gut.", sagte Jens und ging zur Kaffeemaschine, um sich das Glas anzusehen.<br />

"Power-Kaffee - extra stark", stand auf der Packung. Der Zutatenbeschreibung konnte er<br />

entnehmen, dass es sich um ein coffeinhaltiges Kaffeesurrogat mit naturidentischem Kaffee-Aroma<br />

handelte. Ausserdem waren Lecithin, Taurin und körpereigene Proteine als Zutaten angegeben. Das<br />

mochte ein Teufelszeug sein, dachte sich Jens.<br />

Die Arbeit ging ihm leicht von der Hand und er freute sich sogar auf die Entrümpelungsaktion am<br />

Nachmittag. Die Ausgabe der Tagesrationen wurde allmählich zur Routine, da kam ihm ein wenig<br />

Abwechslung gerade recht. Die Regelung mit der dünnen Suppe für die Rations-Empfänger und der<br />

zusätzlichen Brotscheibe für die Anderen hatte sich einigermaßen gut eingespielt. Die Anzahl der<br />

Armen, die nicht durch die Grundsicherung vers<strong>org</strong>t wurden, nahm allmählich ab, was bestimmt auch<br />

daran lag, dass Silke den Bedürftigen nachmittags beim Ausfüllen ihrer Grundsicherungsanträge half.<br />

Wenn Silke dazuschrieb, dass sie beim Antrag geholfen hatte, verlief die Genehmigung der Anträge<br />

meistens ohne Probleme.<br />

Punkt drei stand Jens im Bettwarengeschäft. Herr Schmidtbauer führte ihn ins Lager. Das<br />

Garagentor war inzwischen von aussen geöffnet worden und Jens sah einen mittelgrossen Container<br />

davorstehen, der oben offen war, die sogenannte Mulde.<br />

"Alles klar?", fragte Herr Schmidtbauer jovial.<br />

"Ja, im Prinzip schon. Soll der Raum danach leer sein, oder wollen Sie ihn als Lager nutzen?",<br />

fagte Jens.<br />

"Ah, ich seh schon, Sie denken mit. Er soll als Lager dienen. Die brauchbaren der alten Regale<br />

können Sie an die Wand stellen oder so in den Raum, dass man von allen Seiten drankommt. Ok, sie<br />

können loslegen.", sagte Herr Schmidtbauer und ging wieder in den Verkaufsraum.<br />

Jens bahnte sich zuerst einen Weg zum Tor und begutachtete die Lage von der anderen Seite.<br />

Hier war wohl jahrelang einfach immer alles reingestellt worden, bis man kaum noch den Raum<br />

betreten konnte. Auch als Auffanglager für eine alte Ladeneinrichtung hatte das Lager herhalten<br />

müssen. Daher standen etliche Regale kreuz und quer.<br />

Um sich Platz zu schaffen, räumte Jens zuerst einige der sperrigen Regale in den Hof und fing<br />

dann an, unbrauchbar aussehende Gegenstände in die Mulde zu werfen. Decken und ähnliche<br />

nützliche Artikel schüttelte er aus und sortierte sie je nach Beschaffenheit. Wie Herr Schmidtbauer<br />

gehofft hatte, verbargen sich in dem Chaos noch wahre Kostbarkeiten, die sich in diesem kalten<br />

Herbst bestimmt zu viel Geld machen ließen.<br />

Schon nach kurzer Zeit war Jens über und über staubbedeckt, aber es machte ihm Freude, Luft in<br />

die drangvolle Enge zu bringen und ungeahnte Schätze zu bergen. Er merkte kaum, wie die Zeit<br />

verging.<br />

Irgendwann war die erste Wand freigeräumt und Jens konnte passende Regale hinstellen und die<br />

Decken darin aufstapeln. Nach und nach füllte sich die Mulde mit kaputten oder vergammelten Dingen<br />

aller Art. Bei vielen Gegenständen war aber auch nicht klar, ob sie weggeworfen oder aufgehoben<br />

werden sollten. Diese Sachen stellte Jens in eine extra Ecke. Unter diesen Gegenständen befand sich<br />

eine alte Tret-Nähmaschine, ein Holzofen, ein Schaukelpferd und eine Kommode.<br />

Als Jens fertig war, ging er in den Verkaufsraum, um Herrn Schmidtbauer Bescheid zu sagen. Herr<br />

Schmidtbauer folgte ihm ins Lager und stiess ein erstauntes "Oh" aus.<br />

Dann sagte er: "Sehr gut junger Mann. So ähnlich habe ich mir das v<strong>org</strong>estellt. Dann werde ich<br />

doch gleich mal meinen Vetter anrufen, dass er die Sachen abholen kann.". Er telefonierte kurz. Dann<br />

ging er mit gewichtigen Schritten auf die Tret-Nähmaschine zu und sagte: "Ach, die alte Nähmaschine<br />

meiner Mutter. Fast hätte ich sie vergessen. Wie schön, dass sie noch da ist. Den alten Ofen hier, und<br />

die Kommode, die können Sie noch wegwerfen; die brauch ich nicht. Aber das Schaukelpferd soll<br />

hierbleiben, das hat mal meinem Sohn gehört. Vielleicht kommt ja doch noch mal ein Enkel, der darauf<br />

reiten will.".<br />

Jens betrachtete den Ofen und schaltete blitzschnell: "Wenn Sie den Ofen nicht mehr brauchen,<br />

könnte ich den vielleicht gebrauchen. Wäre doch schade, ihn wegzuwerfen.".<br />

"Nur zu, junger Mann. Sie können die Sackkarre dort hinten benutzen, um ihn nachhause zu<br />

bringen. Haben Sie denn einen Schornstein im Haus?", sagte Herr Schmidtbauer.


"Danke, vielen Dank.", sagte Jens. "Ja, ich glaube, ich habe einen Schornstein in der Wohnung.<br />

Eine Dame, die über mir wohnt, heizt mit einem Ofen, soviel ich weiss.".<br />

"Wenn Sie doch keinen Schornstein haben, können Sie auch einen Abzug durch ein Fenster<br />

bauen, aber das macht Arbeit und zieht nicht so gut. Schornsteine sind besser. Irgendwo müsste ich<br />

auch noch passende Rohre haben. Vielleicht im Keller, da können wir anschließend mal schauen. Ah<br />

ja, und hier sehe ich die Heizkissen und sogar ein paar von den Heizdecken, wunderbar.", Herr<br />

Schmidtbauer rieb sich die Hände. "Oh, und warum liegt diese Heizdecke neben all den anderen? Ah<br />

ja, ich sehe schon, sie ist fleckig. Schade, schade. Wissen Sie was, junger Mann? Sie haben das hier<br />

so schön hingekriegt, dass ich bereit wäre, Ihnen außer der versprochenen Decke noch diese fleckige<br />

Heizdecke zu geben. Was halten sie davon?".<br />

Jens war zunächst sprachlos, denn er war es gar nicht gewöhnt, ungefragt mehr zu bekommen, als<br />

er gewünscht hatte. So eine Heizdecke konnte sehr praktisch sein, denn damit konnte man die<br />

Raumtemperatur stark runterfahren und musste trotzdem nicht frieren. Eigentlich war es ja mehr was<br />

für Omas, aber in solchen Zeiten sollte man sich auch als junger Mann nicht zieren.<br />

"Ja, sehr gerne nehme ich die Heizdecke. Das ist sehr großzügig von Ihnen. Vielen Dank!", sagte<br />

Jens schließlich.<br />

Inzwischen war der Vetter von Herrn Schmidtbauer eingetroffen und gesellte sich zu ihnen.<br />

"Wacker, wacker.", sagte er an Jens gerichtet. "Und das haben Sie alles seit heut mittag um drei<br />

entrümpelt?". Jens nickte und der Vetter fuhr fort: "Na Armin, da hast du ja mal ausnahmsweise Glück<br />

gehabt, mit einer deiner Spontanentscheidungen.". Er wandte sich wieder an Jens: "Wissen Sie, so<br />

einen kräftigen jungen Mann wie Sie, der sich nicht scheut anzupacken, könnte ich zur Zeit öfters mal<br />

gebrauchen. Das Entrümpelungsgeschäft läuft gut, weil die ganzen Grundsicherungsleute<br />

umgesiedelt werden. Wir haben Arbeit in Hülle und Fülle. Wenn Sie wollen, rufen Sie mich m<strong>org</strong>en<br />

tagsüber in meinem Büro an. Hier ist meine Karte. Ich habs eilig, mach mich gleich wieder auf den<br />

Weg - Armin, grüss Lotte von mir.". Der Vetter winkte noch kurz zum Abschied, schwang sich dann in<br />

seinen LKW, lud die Mulde auf und fuhr davon.<br />

"Ja ja, der Nobby, immer auf Achse.", sagte Herr Schmidtbauer schmunzelnd.<br />

Jens warf einen gründlichen Blick auf die Visitenkarte, die der Entrümplungsspezialist ihm gegeben<br />

hatte. "Norbert Lorenz" stand dort als Name. Wenn er Herrn Lorenz recht verstanden hatte, war ihm<br />

gerade ein Job angeboten worden.<br />

Heute war anscheinend sein Glückstag. Nicht nur eine Decke, sondern auch einen Ofen, eine<br />

Heizdecke und einen Job hatte er bekommen. Und das alles, weil er sich ein paar Stunden in einem<br />

vollgestopften Lager ausgetobt hatte. Er verabschiedete sich hochzufrieden von Herrn Schmidtbauer<br />

und versprach, die Sackkarre in Kürze wieder zurückzubringen.<br />

Der Transport <strong>des</strong> Ofens bis zu seiner Wohnung war eine echte Plackerei. Ihm war gar nicht<br />

bewusst gewesen, dass ein Ofen so schwer sein konnte. Dabei war der Ofen nicht einmal gross.<br />

Irgendwann stand der Ofen jedoch in seinem Zimmer und Jens lehnte sich schweissüberströmt an die<br />

Sackkarre. Jetzt musste er noch einmal zu Fuss zurück zum Laden und dann mit dem Fahrrad wieder<br />

heim. Aber im Vergleich zur Ofenschlepperei war das ein Kinderspiel und Herr Schmidtbauer freute<br />

sich, als Jens an seiner Privatklingel läutete, um die Sackkarre wieder abzuliefern.<br />

Zuhause belohnte er sich mit einer warmen Dusche, um sich den Staub und Schweiss vom Körper<br />

zu waschen. Dann kochte er sich eine ordentliche Portion Spaghetti, denn die Lageraktion hatte ihn<br />

wieder richtig hungrig gemacht. Wie gut, dass er jetzt immer einen ausreichenden Vorrat Kochzutaten<br />

im Haus hatte, um für eventuelle Vers<strong>org</strong>ungsengpässe gerüstet zu sein.<br />

Die Heizdecke legte er schon mal in sein Bett, damit sie es aufheizen konnte und die neue<br />

Bettdecke bezog er mit seinem letzten Bettbezug. Das würde eine mollig warme Nacht werden.<br />

Während er seine Spaghettis verschlang, setzte sich Jens vor den Fernseher, um mal wieder das<br />

Neueste aus der Welt zu erfahren.<br />

Das beherrschende Thema <strong>des</strong> Tages war Lagos in Nigeria.<br />

Schon seit Monaten herrschte Bürgerkrieg in Nigeria. Etwa hundert ethnische Konflikte waren<br />

zwischen den gut dreihundert Völkern <strong>des</strong> Vielvölkerkstaates ausgebrochen. Drei dieser Völker waren<br />

im letzten halben Jahr anscheinend vollständig ausgerottet worden. Besonders gross war die Kluft<br />

zwischen christlichen und islamischen Völkern. Die Kämpfe drehten sich vorwiegend um die knappen<br />

Nahrungsmittel und territoriale Ansprüche. Weil Nigeria stark auf Nahrungsmittel-Importe angewiesen


war, gab es lan<strong>des</strong>weit eine grosse Hungersnot, denn die Lebensmittel-Lieferungen waren<br />

ausgeblieben.<br />

Die Regierung, für ihre Korruption bekannt, war vor zwei Wochen durch Attentate von Rebellen<br />

gestürzt worden. Bisher war keinerlei funktionierende neue Regierung an ihre Stelle getreten.<br />

Das Öl war zwar Nigerias Haupteinnahmequelle, und die nachlassende Förderrate wurde durch<br />

den hohen Ölpreis mehr als ausgeglichen, aber von den Gewinnen kam kaum etwas bei der<br />

Bevölkerung an. Die Bewohner <strong>des</strong> bevölkerungsreichsten Lan<strong>des</strong> Afrikas hungerten seit Jahren.<br />

Durch die ausbleibenden Nahrungsimporte war die gewohnte Armut einem Massensterben gewichen.<br />

Insgesamt wurden die bisherigen Toten durch Hunger und kriegerische Handlungen auf etwa<br />

sechs Millionen geschätzt. Das waren etwa vier Prozent der Gesamtbevölkerung. Ein Ende <strong>des</strong><br />

Massensterbens war nicht abzusehen.<br />

Besonders grauenvoll stellte sich die Situation in Lagos, der grössten Stadt <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> dar. Am<br />

Meer gelegen, verteilte sie sich auf mehrere Inseln und ein grosses Stück Festland. Lagos war die<br />

Stadt, die in den letzten zwanzig Jahren weltweit am schnellsten gewachsen war. Aktuelle<br />

Schätzungen beliefen sich auf achtzehn bis zwanzig Millionen Einwohner.<br />

In Lagos kämpfte nahezu jeder gegen jeden. Die Zustände waren apokalyptisch. Geschätzte zwei<br />

Millionen Tote lagen unbestattet auf den Straßen oder in ihren Wohnungen. Hingestreckt von den<br />

verschiedensten Rebellengruppen. Wer sich auf die Straße wagte, musste in Minutenfrist damit<br />

rechnen, von einer Kalaschnikow oder Machete getötet zu werden. Ganze Straßenzüge wurden<br />

entvölkert. Die Brücken zu den Inseln waren gesprengt worden und die Einwohner waren von jeder<br />

Vers<strong>org</strong>ung abgeschnitten. Vor allem an Trinkwasser mangelte es. Anstatt massakriert zu werden,<br />

starben die Menschen hier am Durst oder an der Cholera, die ausgebrochen war.<br />

Ein einziger Fernsehsender sendete noch per Satellit und war die einzige Verbindung Lagos zum<br />

Rest der Welt. Ausländische Reporter oder Hilfs<strong>org</strong>anisationen hatten schon vor Monaten das Land<br />

verlassen und so stand ein Nigerianer vor der Kamera der BBC, zu der der Sender offiziell gehörte. In<br />

makelosem Englisch berichtete er von unvorstellbarem Grauen. Das Teleobjektiv der Kamera fing<br />

vom Dach <strong>des</strong> Senders aus einige Straßenszenen ein, die bei der Ausstrahlung durch optische<br />

Verfremdung teilweise zensiert wurden. Aber auch so sah Jens mehr, als ihm lieb war.<br />

Der Sprecher rief die Vereinten Nationen auf, Truppen und Nahrungsmittelhilfen zu schicken, sonst<br />

würden weitere Millionen von Menschen sterben müssen.<br />

Ausserdem berichtete er, dass eine Rebellengruppe hundert hochrangige Vertreter der<br />

verschiedenen Olkönzerne, die sich in Nigeria aufhielten, entführt hatte und Waffen für ihre<br />

Freilassung forderte. Diese Rebellengruppe hatte sich zum Ziel gesetzt, ganz Nigeria von<br />

Ungläubigen und minderwertigen Völkern zu säubern.<br />

Ein Bildwechsel zeigte mehrere amerikanische Angehörige der entführten Öl-Manager, die<br />

verzweifelt weinten, und um deren Freilassung baten.<br />

Der Sprecher der Vereinten Nationen bestätigte, dass er die Notwendigkeit eines Eingreifens<br />

sehen würde, und am nächsten Tag würde der Sicherheitsrat dazu in einer Sondersitzung tagen, aber<br />

die Hoffnung sei gering, dass die Lage ohne weitere Verluste in den Griff zu bekommen sei, weil alle<br />

Länder zur Zeit mit eigenen Krisen zu kämpfen hatten.<br />

Jens sass wie betäubt auf seinem Sofa. Da hatte er den Niedergang Deutschlands schon als<br />

grauenvoll empfunden und war voller Argwohn gegenüber der Verpflegung und Unterbringung<br />

deutscher Armer gewesen, aber im Vergleich zu den Zuständen in Nigeria ging es den Leuten hier<br />

doch richtig gut.<br />

Im Container herrschte zwar Stumpfsinn, aber sogar der türkisch wirkende Mitbewohner <strong>des</strong><br />

Viererzimmers schien sich mit seinen Mitbewohnern gut zu verstehen, was Jens bisher für<br />

selbstverständlich genommen hatte. Und was da in Lagos passierte, war im Vergleich dazu so<br />

grauenvoll, das Jens es kaum verkraften konnte. Dort ging es ja nicht um ein paar hundert Tote,<br />

sondern um Millionen. Die Zahl konnte er sich kaum vorstellen, aber er hatte Leichenberge gesehen,<br />

die deutlich machten, dass es wirklich um ein Massensterben ging.<br />

Als Jens dann in seinem v<strong>org</strong>eheizten Bett lag, kam ihm sein Leben fast unanständig luxuriös vor.<br />

Sogar einen neuen Job hatte er vielleicht gefunden.


Kapitel 12<br />

Am nächsten M<strong>org</strong>en rief Jens gleich nach dem Aufstehen bei Norbert Lorenz an, der ihn für<br />

Nachmittags in sein Büro bestellte. Gegen drei Uhr stand Jens vor der angegebenen Adresse und<br />

wurde von einer älteren Sekretärin in Herrn Lorenz Arbeitszimmer gebeten. Jens schlug ein starker<br />

Geruch nach abgestandenem Zigarrenrauch entgegen. Sein neuer Arbeitgeber schien ihn schon zu<br />

erwarten, denn er kam gleich zur Sache. Nur unterbrochen von der Sekretärin, die beiden einen<br />

Kaffee servierte, der nach "Power-Kaffee" schmeckte, erklärte er Jens worum es ging.<br />

Jens sollte Wohnungen leer räumen, die von umgesiedelten Grundsicherungs-Empfängern<br />

verlassen worden waren, sodass die Räume anschließend nach einer flüchtigen Renovierung von<br />

ganzen Familien bezogen werden konnten. Hin und wieder gab es auch Wohnungen von<br />

Verstorbenen, die es auszuräumen galt. Herr Lorenz war einerseits an dem Geld interessiert, das ihm<br />

die Hausbesitzer für das Entrümpeln zahlten, außerdem handelte er mit Antiquitäten, wobei der Begriff<br />

"Antiquität" eher weit gefasst schien. Beim Ausräumen mussten also immer die verkäuflichen<br />

Gegenstände vom Abfall getrennt werden, ähnlich wie der Entrümpelung <strong>des</strong> Bettdecken-Lagers.<br />

Jens würde einen nicht gerade üppigen Stundenlohn erhalten und durfte sich vom unverkäuflichen<br />

Gerümpel beliebig viel aussuchen.<br />

Gleich nach dem Einstellungsgespräch brachte Herr Lorenz Jens zu einer Wohnung, in der schon<br />

ein anderer Mitarbeiter namens Müller mit dem Ausräumen beschäftigt war. Die Arbeit war<br />

schweisstreibend, aber Jens und sein Kollege kamen zügig voran. Am Abend war die Wohnung leer.<br />

Ausser dem Geld, das Herr Lorenz ihm direkt auf die Geldkarte gebucht hatte, konnte Jens noch<br />

etliche Holzstücke mit nach Hause nehmen. Mit dem Holz wollte er seinen neuen Ofen betreiben.<br />

In seiner Wohnung hatte Jens nicht nur einen Schornstein gefunden, sondern auch eine geeignete<br />

Öffnung entdeckt, die bisher von einem Deckel verschlossen gewesen war. Neben dem Schornstein<br />

war ein Stück <strong>des</strong> Bodens gefliest, und stellte einen hervorragenden Platz für den Ofen dar. Bisher<br />

hatte sich Jens immer gefragt, was es mit dem gefliesten Stück auf sich haben könnte und hatte<br />

einfach ein Regal an diese Stelle gerückt. Für das Regal musste Jens jetzt einen anderen Platz<br />

finden, aber das stellte kein Problem dar. Das Montieren <strong>des</strong> Ofenrohrs war schon schwieriger. Jens<br />

brauchte eine gute Stunde, um die verschiedenen Teile <strong>des</strong> Rohres so zusammenzufügen, dass Ofen<br />

und Schornstein zuverläsig miteinander verbunden waren.<br />

Das Abfallholz hatte er schon im Hof der Entrümplungsfirma in handliche Stücke zersägt, denn dort<br />

gab es eine elektrisch betriebene Motorsäge, die dafür geeignet war. Jens hatte noch nie einen<br />

Holzofen selbst befeuert, aber immerhin hatte er bei mehreren Gelegenheiten neugierig zugesehen.<br />

Ausserdem hatte er in seiner Jugend so oft es ging Grillfeuer entzündet, manchmal auch heimlich an<br />

verbotener Stelle.<br />

Schon die verschiedenen Bereiche <strong>des</strong> Ofens stellten ihn vor leichte Rätsel. Eine<br />

Gebrauchsanleitung lag natürlich nicht bei, wie nicht anders zu erwarten. Unten konnte man eine<br />

Schublade rausziehen, darüber befand sich ein Rost und eine Öffnung mit Klappe. Auch oben war<br />

eine Öffnung, die normalerweise von einem Deckel verschlossen war. Hinten ging das Ofenrohr ab;<br />

dort sollte später der Rauch nach oben steigen, soviel war klar. Ein Schieberegler war wohl dazu<br />

geeignet, den Zug zu regulieren, denn die Ofenbesitzer, die Jens kannte, hatten immer wieder vom<br />

guten oder schlechten Zug geredet und dabei diverse Regler verschoben oder verdreht, je nachdem,<br />

wie ihr Ofen beschaffen war.<br />

Der Logik eines Feuers folgend, beschloss Jens, dass der richtige Platz für das Brennmaterial wohl<br />

der Raum oberhalb <strong>des</strong> Gitterrostes war und die Schublade dem Auffangen der Asche diente. Also<br />

knüllte er mehrere Blätter einer alten Zeitung zusammen und schob sie durch die Öffnung an der<br />

Vorderfront. Darüber kamen einige Schnipsel Pappe und Splitter einer Obstkiste, die Jens bei der<br />

Entrümplung gefunden hatte. Die eigentlichen Holzstücke legte er durch die obere Klappe in den<br />

Ofen, denn die vordere Öffnung ließ ihn nicht so hoch reichen. Als er endlich mit seinem Werk<br />

zufrieden war, hatten seine Unterarme eine dunkelgraue Färbung angenommen, vom Ruß, der das<br />

Innere <strong>des</strong> Ofens überzog. Das Befüllen <strong>des</strong> Ofens würde er wohl noch üben müssen.<br />

Endlich war der Moment <strong>des</strong> Anzündens gekommen. Die Zeitung flammte sofort auf und<br />

anscheinend hatte Jens alles richtig gemacht, denn auch die härteren Teile brannten nach kurzer Zeit.<br />

Vorsichtig schloss Jens die Klappe, als klar war, dass das Holz Feuer fangen würde. Leider war der<br />

Raum voller Rauch, doch der legte sich schnell, denn nach dem Schließen der Klappe zog der weitere<br />

Rauch wie erhofft durch das Ofenrohr nach oben.


In der nächsten Viertelstunde überprüfte Jens mehrmals, ob das Holz wirklich brannte und wann er<br />

nachlegen müsste. Er war überrascht, wie schnell sich das Holz schwärzte, kleiner wurde und dann in<br />

sich zusammenfiel. Wenn er regelmässig mit Holz heizen wollte, würde er große Mengen<br />

antransportieren müssen. Für den ersten Versuch hatte er jedoch genügend Holz angeschleppt und<br />

nach einer halben Stunde wurde der Raum merklich wärmer.<br />

Jens machte es sich auf seinem Sofa bequem, ausnahmsweise mal wieder ohne Jacke, und<br />

überdachte seine neue Verdienstsituation. Der Job im Bistro war stark heruntergefahren worden,<br />

Ricardo hatte den anderen Kollegen, der mit Jens den Job abgewechselt hatte, sogar schon ganz<br />

entlassen. Jens wurde nur noch auf Abruf beschäftigt, wenn mehr los war, als Ricardo und Tina<br />

bewältigen konnten. Durch den Entrümplungs-Job würde er jetzt jedoch wieder genug Geld haben,<br />

um seine Wohnung zu bezahlen. Sogar Geld für Essen war übrig. Das schien ihm inzwischen schon<br />

fast üppig. Vielleicht würde sogar mal wieder ein Schinken möglich sein. Auch für Kleidung und<br />

andere Dinge, die man so brauchte, würde etwas Geld da sein. Selbst wenn er nur nachmittags<br />

entrümpeln würde, wäre das der Fall, aber Herr Lorenz hatte angedeutet, dass er Jens wahrscheinlich<br />

bald ganztags einsetzen würde.<br />

Unter ganztägiger Arbeit würde natürlich die Armenspeisung leiden, was Jens sehr schade fand,<br />

denn er hatte sich an die familiäre Umgebung dort gewöhnt. Zwar hatte er mit keinem der Helfer eine<br />

Freundschaft aufgebaut, aber die Arbeit im Gemeindezentrum war wie eine beständige Insel im<br />

Chaos. Allerdings hatte die Ausgabe der Tagesrationen die Stimmung verändert, Jens fühlte sich<br />

manchmal wie ein unbezahlter Handlanger <strong>des</strong> Staates, was er ja bei genauer Betrachtung auch war.<br />

Im Fernsehen wurde täglich weiter aus Lagos berichtet, wo die Menschen immernoch in Scharen<br />

starben. Nach ein paar Tagen brach die Bildübertragung von Lagos aus zusammen, sodass man<br />

aktuelle Berichte <strong>des</strong> Reporters vor Ort nur noch über Telefon hören konnte. Die wenigen Standbilder,<br />

die noch per Datenübertragung die Welt erreichten, waren grauenvoll genug, um den Schrecken<br />

aufrecht zu erhalten. Satellitenbilder zeigten eine dichte Rauchwolke, die inzwischen über der<br />

brennenden Stadt lag.<br />

Allmählich wurden die Nachrichten aus Lagos aber auch durch Berichte aus den USA verdrängt,<br />

wo die Situation außer Kontrolle zu geraten drohte. New York City war weitgehend von der Nahrungsund<br />

Wasservers<strong>org</strong>ung abgeschnitten und Millionen Bewohner waren in Gefahr zu verdursten. In den<br />

meisten Stadtteilen stand die jugendliche Bevölkerung im ständigen Kampf gegen die Ordnungshüter.<br />

Das Militär hatte Schwierigkeiten, in die Problemzonen zu gelangen, weil ihren Fahrzeugen der<br />

Treibstoff fehlte. Die Wallstreet war evakuiert und in eine benachbarte Kleinstadt verlegt worden. Aus<br />

den Metropolen der Westküste hörte man ähnliche Meldungen. In Washington war die Situation zwar<br />

nicht ganz so angespannt, dennoch hatte sich der Präsident sicherheitshalber auf seinen Landsitz<br />

Camp David zurückgezogen.<br />

Jens staunte wieder einmal darüber, wie vergleichsweise harmlos die Krise hier in Deutschland<br />

verlief. Wie es wohl weitergegangen wäre, wenn die Tagesrationen den Menschen nicht geschmeckt<br />

hätten und sie sich nicht so bereitwillig hätten zusammenpferchen lassen?<br />

Die nächsten Tage hielten Jens so in Atem, dass er kaum Zeit zum weiteren Nachdenken fand.<br />

Nach der Arbeit im Gemeindezentrum fuhr er zur Entrümpelungsfirma, wo es zur Begrüßung immer<br />

einen Power-Kaffee auf Kosten <strong>des</strong> Hauses gab, und dann ging es an die Arbeit. Jens war oft<br />

überrascht, wieviel Müll die Menschen in ihren Wohnungen lagerten. Meistens fanden sie jedoch auch<br />

eine Menge Nützliches zum Verkaufen. Geschirr und Möbel konnten die alleinstehenden<br />

Grundsicherungs-Empfänger nicht mitnehmen, wenn sie in die Container umquartiert wurden. Daher<br />

konnten Jens und Herr Müller aus fast jeder Wohnung einen vollständigen Satz Möblierung und<br />

Küchenausstattung in die Verkaufshalle der Entrümplungsfirma bringen, wo sich die armen Leute, die<br />

noch ein wenig Geld hatten, manchmal sogar um die schöneren Stücke stritten, so begehrt waren<br />

billige Möbel. Jens stellte sich manchmal vor, dass die Möbel möglicherweise wieder in die<br />

ursprünglichen Wohnungen zurücktransportiert wurden, aus denen er sie geholt hatte. Nur, dass Herr<br />

Lorenz inzwischen daran noch Geld verdient hatte.<br />

Nur die Schrankwände, die Jens und Herr Müller in vielen Wohnung demontieren mussten,<br />

verkauften sich schlecht, denn sie waren wahrscheinlich zu voluminös für die mit Menschen<br />

vollgestopften kleinen Wohnungen. Also wurde beschlossen, nur noch die wertvolleren Schrankwände<br />

zu demontieren, die billigen wurden einfach plattgemacht und in den Müllcontainer geworfen.<br />

Meistens taugten sie nicht mal zum Verbrennen im Ofen.<br />

Die geräumten Wohnungen füllten sich erstaunlich schnell mit neuen Bewohnern, wie Jens<br />

beobachten konnte, wenn er in einem grösseren Wohnkomplex für mehrere Tage beschäftigt war.


Eigentlich hätte er erwartet, dass ganze Häuserblocks leerstehen würden, weil ja alle<br />

Grundsicherungsempfänger auf einem Bruchteil <strong>des</strong> bisherigen Raums zusammengepfercht wurden.<br />

Herr Lorenz erklärte ihm jedoch, dass es einen enormen Zustrom von ehemaligen Landbewohnern<br />

gab. Fast alle Menschen, die auf dem Land lebten, aber in den Städten ihre Arbeit hatten, zogen nach<br />

und nach in die Stadt, weil sie sich die enormen Benzinkosten fürs Pendeln nicht mehr leisten<br />

konnten. Und auch die mittellosen Landbewohner zog es in die Stadt, weil dort die Vers<strong>org</strong>ung besser<br />

war.<br />

Durch den Zuzug der Landbewohner ließen sich auch die guten Geschäfte erklären, die Herr<br />

Lorenz mit seinen Altmöbeln machte, denn die meisten Flüchtlinge brachten kaum Möbel mit, weil die<br />

Transportkosten so hoch waren.<br />

Schon bald erweiterte Herr Lorenz Jens Arbeitszeit auf den ganzen Tag, wodurch er nur noch am<br />

Wochenende Zeit für die Armenspeisung hatte. Obwohl der Entrümplungs-Job sehr anstrengend war,<br />

freute sich Jens immer schon auf die Arbeit im Gemeindezentrum, wenn er am Wochenende m<strong>org</strong>ens<br />

aufwachte. Dort gab es zur Begrüssung leckeren Kaffee, der den richtigen Kick gab, um zügig zu<br />

arbeiten und es machte irgendwie einfach Freude, die armen Leute nach der Mahlzeit satt von dannen<br />

ziehen zu sehen.<br />

Völlig überrascht wurde Jens jedoch von der Tatsache, dass die Besucherzahlen im Bistro wieder<br />

anstiegen. Als er eines Samstag-Abends mal wieder im Bistro Dienst hatte, erzählte Ricardo ihm, dass<br />

zwei andere Bistros in der Nähe aufgegeben hatten und dass seitdem soviel los war, dass Jens<br />

wieder regelmässig an vier Abenden in der Woche gebraucht würde.<br />

Tatsächlich lief der Betrieb wieder fast so wie in alten Zeiten, allerdings nur abends, denn die<br />

neuen Kunden schienen alle ganztags zu arbeiten. In der Bistroküche stand jetzt auch ein Glas mit<br />

Power-Kaffee und Tina bot Jens bei Dienstbeginn erstmal einen Kaffee an. Jens wunderte sich, wie<br />

sich dieser Kaffee so schnell hatte verbreiten können, denn in den Supermärkten hatte er ihn bisher<br />

noch nicht entdeckt.<br />

"Hast du den Kaffee bes<strong>org</strong>t?", fragte er Tina.<br />

"Schmeckt gut, nicht wahr? Und macht ordentlich Dampf. Aber ich weiss nicht, wo man den<br />

herbekommt. Den hat bestimmt Ricardo mitgebracht.", antwortete Tina.<br />

"Seltsam, den gibt es inzwischen überall, wo ich arbeite. Aber du hast Recht, er macht ordentlich<br />

Dampf. Ist bestimmt ne doppelte Dosis Coffein drin.", sagte Jens.<br />

Das Gespräch wurde durch eine Baguettebestellung beendet. Den ganzen Abend über riss der<br />

Strom der Bestellungen nicht ab. Auch die inzwischen teuren Spaghetti-Portionen gingen weg wie<br />

warme Semmeln. Jens stand mitten in der engen Küche und jonglierte beidhändig mit den<br />

Küchengeräten, um die Bestellungen im gleichen Tempo rauszuschicken, wie sie reinkamen. Bei jeder<br />

Portion, die er in die Durchreiche stellte, konnte er einen Blick auf Tinas knackiges Hinterteil werfen,<br />

was ein sehr erfreulicher Anblick war. Obwohl es sehr hektisch war, hatte Jens Freude daran, so<br />

schnell zu arbeiten, denn er fühlte seine Lebendigkeit in sich rauschen.<br />

Erst am späten Abend wurde es etwas ruhiger, und Jens gönnte sich ausnahmsweise ein Bier,<br />

denn das konnte er sich jetzt wieder leisten. Als Tina die letzten Getränkebestellungen erledigt hatte,<br />

lud Jens sie auch zu einem Bier ein. Tina lächelte ihn an, als sie sich das Bier ins Glas laufen ließ.<br />

Dabei fielen Jens die hübschen Grübchen in ihren Wangen auf, die nur dann sichtbar waren, wenn<br />

Tina lächelte. Mit ihrem dunklen Pagenschnitt wirkte sie irgendwie französisch. Seltsam, dass ihm in<br />

letzter Zeit gar nicht mehr aufgefallen war, wie knusprig Tina aussah.<br />

Mit ihrem Glas in der Hand setzte Tina sich zu ihm an den Tisch. Jens wurde umweht von ihrem<br />

Duft, der sich aus einem leicht exotischem Parfum und viel Tina zusammensetzte. Während ihrer<br />

Unterhaltung, die sich vorwiegend um Tinas aktuelle Lebensumstände drehte, berührten sich immer<br />

mal wieder wie zufällig die Knie unter dem Tisch, was Jens je<strong>des</strong>mal etwas elektrisierte.<br />

Tina erzählte, dass sie jetzt nahezu der einzige Verdiener in ihrer Familie war, die aus ihren Eltern<br />

und ihrer Tochter bestand. Das Reihenhaus, in dem sie lebten, war glücklicherweise abgezahlt.<br />

Dadurch entfiel bei der Rente ihres Vaters natürlich der Wohnanteil der Grundsicherungs-Rente. Mit<br />

dem bisschen Geld, das noch vom Staat überwiesen wurde, konnten gerade eben die Medikamente<br />

für die Diabetes der Mutter bezahlt werden. Da Tinas Vater Arzt gewesen war, konnten sie wenigstens<br />

bei den Behandlungskosten sparen. Die Lebensversicherungen <strong>des</strong> Vaters, die er in Zeiten<br />

abgeschlossen hatte, als den Kunden das Blaue vom Himmel herunter versprochen worden war,<br />

reichten kaum, um die Eltern zu ernähren. Zusammen mit Tinas Gehalt kamen sie jedoch ganz gut<br />

über die Runden. Jens konnte gut nachvollziehen, was es für Tina bedeutete, dass das Bistro wieder


esser lief. Das schwierige Thema ernüchterte Jens ein wenig, aber die warme Wolke, die von Tina<br />

ausging, war stärker als die Probleme <strong>des</strong> Niedergangs.<br />

Als das Bistro schloss, lud er sie in seine Wohnung ein und lockte sie mit einem frisch erworbenen<br />

Rotwein. Tina ließ sich bereitwillig locken und so schlugen sie den Weg zu Jens Wohnung ein.<br />

Testweise legte Jens den Arm um Tinas Hüfte und Tina reagierte darauf wie erhofft, indem sie sich an<br />

seine Seite schmiegte. Ihre Hüfte unter seinen Händen fühlte sich wunderbar lebendig an, wie sie bei<br />

jedem Schritt rhythmisch ihre Form wechselte. Von der Seite, die ihm zugewandt war, strahlte Wärme<br />

aus, die Jens sogar durch die Jacken hindurch spürte.<br />

Fast war es schade, als sie bei Jens Wohnnung ankamen und er sich von Tina lösen musste, um<br />

nach seinem Schlüssel zu kramen. Oben angekommen bot er ihr einen Platz auf dem Sofa an und<br />

holte zwei Weingläser, in die er den versprochenen Rotwein goss. Das Klingen der Gläser beim<br />

Anstossen schien wie der Auftakt zu einem erfreulichen Spätabend.<br />

"Oh, der schmeckt fein.", sagte Tina mit samtener Stimme, nachdem sie den ersten Schluck<br />

gekostet hatte. "Nicht so herb und auch nicht zu süss, sondern eher leicht und frisch. So mag ich<br />

Rotwein.". Sie drückte Jens unvermittelt einen Kuss auf den Mund, den er überrascht erwiderte.<br />

Der Kuss schmeckte süss, aber nicht zu süss, sondern eher frisch. Die Erregung, die schon seit<br />

Stunden darauf wartete, sich zu entfalten, stieg Jens glutheiss durch den ganzen Körper. Er<br />

schnappte nach Luft und stellte das Weinglas vorsichtig auf den Tisch, ohne seine Lippen von Tinas<br />

Mund zu lösen. Auch Tina stellte ihr Weinglas ab und drückte Jens dann unnachgiebig auf das Sofa.<br />

Dann zeigte sie Jens, was sie wirklich unter Küssen verstand, denn der erste Kuss war anscheinend<br />

nur ein zarter V<strong>org</strong>eschmack gewesen. Jens musste sich zurückhalten, nicht sofort zu explodieren, so<br />

heftig war Tinas Wirkung auf ihn. Seine Hände waren überall gleichzeitig und fühlten ihre schlanke<br />

Taille, die runden Brüste, strichen über ihren Rücken und die knackigen Pobacken. Und er löste sich<br />

fast in ihren leidenschaftlichen Küssen auf.<br />

Viele zeitlose Küsse später setzte Tina sich auf und knöpfte quälend langsam ihre Bluse auf. Sie<br />

lächelte Jens verschmitzt an und sagte: "Keine S<strong>org</strong>e, ich nehme noch die Pille.". Dann erhob sie sich,<br />

um ihre Jeans auszuziehen. Die Entkleidung von Jens verlief weniger elegant, dafür umso hastiger.<br />

Wieder drückte Tina Jens mit sanfter Gewalt auf das Sofa und küsste ihm dabei fast den Verstand<br />

aus dem Kopf. Sie setzte sich auf Jens Hüften und nahm ihn ganz langsam mit kleinen<br />

Hüftbewegungen in sich auf. Jens stöhnte auf, so heftig war dieser langvermisste Genuss. Tina ließ<br />

ihre Hüften kreisen und wechselte immer wieder den Rhythmus ihrer Bewegungen, mit denen sie Jens<br />

fast zur Raserei trieb. Endlich, als er schon glaubte, es kaum noch aushalten zu können,<br />

beschleunigte Tina das Tempo und brach zuckend über ihm zusammen, als er ihr wie eine<br />

Sprungfeder in voller Ekstase entgegenkam. Völlig erschöpft blieben sie eine Weile<br />

ineinanderverknäuelt liegen.<br />

Später, als Tina sich verabschiedet hatte, und Jens allein in seinem Bett lag, erinnerte er sich voller<br />

Wohligkeit an seine Begegnung mit Tina und fragte sich, ob ihr heutiges Erlebnis etwas zwischen<br />

ihnen geändert hatte. Von seiner Seite aus spürte er keine wesentliche Veränderung, sie waren immer<br />

noch gute Freunde, die ab und zu mal wahnsinnig scharf aufeinander waren und Tina hatte auf ihn<br />

auch nicht den Eindruck gemacht, als wollte sie ihn als festen Partner haben.


Kapitel 13<br />

Dumpfes, rhythmisches Schaben weckte Jens am nächsten M<strong>org</strong>en. Er blinzelte unter der Decke<br />

hervor und sah durch einen Spalt im Vorhang graues Licht hereinsickern. "Noch viel zu früh für<br />

Sonntag.", dachte er sich, als er sich nochmal umdrehte. Doch die regelmäßigen Kratzgeräusche<br />

ließen nicht nach und hielten ihn vom Schlafen ab. Ein Blick auf den Wecker verriet ihm, dass es<br />

schon nach zehn war. Dafür war es aber draussen zu dunkel. Plötzlich war Jens hellwach und sprang<br />

zum Fenster.<br />

Schneeflocken sanken dicht an dicht zu Boden, der schon mit einer min<strong>des</strong>tens zehn Zentimeter<br />

dicken Schneeschicht bedeckt war. Vor den Nachbarhäusern kämpften dickvermummte Menschen mit<br />

ihren Schneeschippen um einen benutzbaren Gehweg. Die weiße Pracht auf der Straße schien völlig<br />

makellos, von keiner Reifenspur durchbrochen. Sowas hatte Jens hier noch nie gesehen, selbst an<br />

Sonntagen nicht. Wenn es mal schneite, wurde der Schnee auf den Straßen normalerweise binnen<br />

Sekunden zu dunkelgrauem Matsch gefahren, egal zu welcher Tageszeit.<br />

Jens schmunzelte über diese erfreuliche Folge der Ölkrise. Sein Fahrradfahrer-Leben hatte sich in<br />

letzter Zeit sowieso drastisch verbessert, seit der Autoverkehr fast vollständig zusammengebrochen<br />

war. Nur Geschäftsfahrzeuge waren noch regelmässig unterwegs und selbst die anscheinend nur,<br />

wenn es sich nicht vermeiden ließ. Die Straßen gehörten inzwischen den Radfahrern.<br />

Er schlüpfte in seine Klamotten, griff nach seiner Jacke und eilte aus seiner Wohnung, denn für<br />

das Schneeschippen vor diesem Haus war er höchstpersönlich zuständig. Zumin<strong>des</strong>t hatte sich das<br />

so eingespielt, denn er war der jüngste der Hausbewohner, der ständig hier wohnte. Also holte er die<br />

Schneeschaufel aus dem Keller und gesellte sich zu den Männern, die vor den Nachbarhäusern dem<br />

Schnee schon ein ordentliches Stück Gehweg abgetrotzt hatten.<br />

Der Schnee hing schwer an der Schaufel und ließ sich nur mit Widerstand von der Straße kratzen.<br />

Eine dünne Schicht schaffte es meistens, der Schaufel zu entgehen und wurde gleich wieder durch<br />

nachfallenden Schnee verstärkt. Während <strong>des</strong> Kratzens erinnerte sich Jens an den wohligen Abend<br />

mit Tina, wodurch ihm das Schippen gleich viel leichter von der Hand ging. Der Pappmatsch-Berg am<br />

Straßenrand wuchs zusehens und nach relativ kurzer Zeit hatte Jens einen breiten Durchgang<br />

freigelegt.<br />

Nach einem M<strong>org</strong>enkaffee, der ihm fade schmeckte, machte sich Jens auf den Weg zum<br />

Gemeindezentrum, denn dort gab es bestimmt sehr viel Schnee, der den Platz für ihre Gäste<br />

blockierte. Fünfzig Meter jenseits seines Hauses endete der geräumte Gehweg, also musste Jens an<br />

den Langschläfer-Häusern vorbeistapfen, hoffend dass seine Stiefel der Herausforderung gewachsen<br />

waren. Er fühlte sich wie ein Pionier, der seine Fußstapfen das erste Mal auf eine unberührte Insel<br />

setzt.<br />

Beim Gemeindezentrum traf er Markus schon beim Freikratzen <strong>des</strong> Vorplatzes an. Markus erklärte<br />

ihm kurz, wo er eine Schneeschaufel finden konnte und widmete sich wieder seiner Arbeit. Mit einer<br />

Schneeschaufel bewaffnet unterstützte Jens ihn bald bei der umfangreichen Aufgabe. Schon nach<br />

wenigen Metern fand er den Schnee gar nicht mehr prachtvoll, so klebrig, wie er auf den Platten<br />

haftete.<br />

Nach und nach trudelten auch die anderen Helfer ein und verschwanden in der Küche. Silke<br />

brachte den beiden Platzbefreiern je eine grosse Tasse Power-Kaffee, bei der Jens gleich schmeckte,<br />

dass da Kraft drin war. Ob es das Kakao-Aroma war, das diesen Kaffee so vollmundig schmecken<br />

ließ? Was auch immer den Kaffee so lecker machte, das Schneeschippen ging anschließend leichter<br />

von der Hand.<br />

Nach geschlagener Schlacht gingen Jens und Markus schließlich in die Küche, um sich<br />

aufzuwärmen. Jetzt erst bemerkte Jens, dass seine Schuhe den Kampf gegen die Feuchtigkeit<br />

verloren hatten und auch Jacke und Hose konnte man als durchgeweicht bezeichnen. Die<br />

entbehrlichen Klamotten hängte er über Stühle nahe der Heizung und setzte sich an den Arbeitstisch<br />

zu den Zwiebeln.<br />

Johanna hatte schon den größten Teil der Zwiebeln bewältigt. Obwohl sie schniefte und hustete,<br />

strahlten ihre Augen Jens fröhlich an. "Stell dir vor:", begann sie, "Mein Vater hat eine neuen<br />

Arbeitstelle bekommen. Jetzt brauch ich mir nicht mehr soviel S<strong>org</strong>en um unsere Familie machen.".<br />

"Das freut mich zu hören.", antwortete Jens. "Was für ein Job ist es denn?".


"Er ist Abteilungsleiter bei einem renommierten Insolvenzverwalter geworden. Mein Vater sagt, das<br />

sei eine der wenigen Branchen, die zur Zeit boomen.", ihre Stimme schwang zwischen Stolz und<br />

Bitterkeit.<br />

"Besser Insolvensverwalter, als gar kein Job. Hast du dich erkältet?", lenkte Jens das Gespräch<br />

auf ein anderes Thema.<br />

"Ja, merkt man, nicht wahr?", schniefte Johanna tapfer lächelnd.<br />

Später bei der Essensausgabe bemerkte Jens, dass auch ziemlich viele der Gäste erkältet waren.<br />

Noch mehr fielen ihm jedoch die entzündeten, verkrusteten Hände auf, mit denen einige der Armen<br />

ihre Suppenschale emporreckten. Bei genauerer Betrachtung der Wartenden konnte er sehen, dass<br />

viele sich fortwährend kratzten.<br />

Als er Silke darauf ansprach, nachdem sie ihre eigene Mahlzeit beendet hatten, nickte sie wissend:<br />

"Ist es dir also auch schon aufgefallen. Alle, bei denen ich gesehen habe, dass sie unter Krätze leiden,<br />

habe ich in den letzten Tagen zum Arzt geschickt und den zuständigen Arzt habe ich aufgefordert,<br />

dem nachzugehen. Sogar das Gesundheitsamt habe ich schon informiert, aber die sind anscheinend<br />

überlastet. Ohne Hilfe schaffen es unsere Gäste bestimmt nicht, sich und ihrer gesamten Wäsche die<br />

nötige Behandlung angedeihen zu lassen.".<br />

Sie fuhr fort: "Viel mehr S<strong>org</strong>en macht mir im Moment jedoch die Erkältung, die zu grassieren<br />

scheint. Einige der älteren Gäste sind heute nicht gekommen. Sobald ich hier fertig bin, werde ich sie<br />

besuchen gehen, um nach dem Rechten zu sehen.".<br />

Jens war beeindruckt von der unermüdlichen Hilfsbereitschaft Silkes. Als er ihr das sagte, wehrte<br />

sie schmunzelnd ab und entgegnete: "Das liegt nur daran, dass meine Kinder schon aus dem Haus<br />

sind. Ich bin nun mal eine unverbesserliche Glucke.".<br />

Am Abend im Bistro begrüsste Tina ihn mit einem fröhlichen Zwinkern. Die Tische waren gut<br />

besetzt und Tina schien erleichtert, dass sie ihm die Küche übergeben konnte. Für den leckeren<br />

Kaffee, der schon auf ihn wartete, hatte Jens kaum Zeit, also trank er ihn nach und nach in kleinen<br />

Schlucken, wenn die Bestellungen eine Lücke ließen. Das Wirbeln in der Küche machte ihm mal<br />

wieder richtig Spass. In einer kurzen Pause kam Tina in die Küche und kündigte an, dass sie diesmal<br />

früher gehen würde, weil ihre Tochter stark erkältet war und mütterlichen Beistand brauchte. Ricardo<br />

würde ihre Arbeit übernehmen. Zum Abschied gab sie Jens einen schnellen Kuss auf die Wange.<br />

Jens machte sich wieder an die Arbeit, denn er hatte noch viele Bestellungen vorliegen.<br />

Etliche Baguettes später putzte Jens die Küche und freute sich auf den Feierabend. Als er in den<br />

Gastraum trat, sah er Andreas, Thomas und Bennie, die nach langer Pause mal wieder zu Gast<br />

waren. Da Jens nichts Bestimmtes vorhatte, setzte er sich zu ihnen.<br />

"Na, auch mal wieder im Lande.", begrüsste er die Drei.<br />

"Klar, ab und zu muss man auch mal raus aus der Bude.", antwortete Andreas. "Und in letzter Zeit<br />

hab ich gut Bürgergeld verdient. Genug um Thomas hier einzuladen.".<br />

Thomas schlug Andreas anerkennend auf die Schulter, wohl um ihm seine Heldenhaftigkeit zu<br />

bestätigen.<br />

Jens dachte an die träge herumhockenden Männer im Container und fragte sich, wie man die wohl<br />

zur Arbeit mobilisieren konnte. Er fragte: "Wie läuft denn das eigentlich so bei euch mit dem Verdienen<br />

<strong>des</strong> Bürgergelds?".<br />

"Ganz lässig läuft das. Wenn ich Bock hab, was zu arbeiten, dann geh ich ins Action-Center, ja so<br />

nennen die das tatsächlich, zieh mir ne Nummer und setz mich hin zum Warten, bis ich nen Job krieg.<br />

In der Wartezeit gibts lecker Kaffee, Junge, Junge, das ist ein Teufelszeug. Naja, und wenn ich dann<br />

dran bin, gehts Arbeiten. Manchmal krieg ich sogar was mit Computer, weil die wissen, dass ich das<br />

drauf hab.", erklärte Andreas.<br />

"Klingt eigentlich ganz brauchbar. Und das macht dir dann Spass und du machst es ganz<br />

freiwillig?", wollte Jens mehr darüber wissen.<br />

"Auf Dauer wirds halt auch langweilig, immer gemütlich vor der Glotze zu hocken. Und ich will ja<br />

auch Geld haben. Meistens macht es schon Spass, zwar nicht alle Jobs, aber immerhin hat man ein<br />

bisschen Abwechslung.", sagte Andreas.


"Also ich finds meistens öde bei der Bürgerarbeit. Aber ein bisschen Knete will ich halt auch haben,<br />

darum quäl ich mich da auch manchmal hin.", ergänzte Thomas. "Meistens ist es dann aber dann<br />

ganz ok, wenn ich erstmal auf Trab bin.".<br />

"Ihr habts echt gut. Müsst nur für den Luxus arbeiten und den Rest kriegt ihr in den Rachen<br />

geschmissen.", warf Bennie ein.<br />

"Dafür hast du aber ne eigene Wohnung und musst nicht mit drei anderen Typen in einem Zimmer<br />

leben.", konterte Thomas.<br />

"Aber da isses meistens kalt.".<br />

"Nimm halt ne zweite Decke dazu.".<br />

"Und um mein Essen muss ich mich auch immer selbst kümmern und auch noch dafür arbeiten.".<br />

"Aber du kannst dir kaufen, worauf du Bock hast.".<br />

"Was heisst hier Bock? Ich kauf nur, was ich bezahlen kann und das ist wenig.".<br />

"Dann komm halt zu uns. Hindert dich doch keiner.", schlug Thomas vor.<br />

"Zu euch? Und dann auch euren Ruhigstell-Fraß essen? Nein Danke.", wehrte Bennie ab.<br />

"Ruhigstell-Fraß? Was meinste denn damit? Unser Essen schneckt ganz brauchbar. Auf jeden Fall<br />

besser als das elende Toastbrot, das ich vorher immer gegessen hab. Bleib halt bei deinem<br />

Taxifahren, wenn es dich glücklich macht.", empörte sich Thomas.<br />

"Wie läuft eigentlich dein Taxigeschäft?", fragte Jens, um das neue Thema aufzugreifen.<br />

"Das Taxifahren?", Bennie brauchte einen Moment, um umzuschalten. "In letzter Zeit ist es wieder<br />

etwas besser geworden. Viele der früheren Kunden sind zwar weggefallen, wohl weil sie kein Geld<br />

mehr haben, aber dafür gibt es neue Kunden, die grad kein Benzin für ihr Auto haben und dringend<br />

irgendwo hin müssen. Und bei der Tankerei bin ich inzwischen schon Spezialist geworden. Mit meinen<br />

Kollegen informieren wir uns immer gegenseitig per Handy, wenn irgendwo Benzin angeboten wird.<br />

Dann geht zwar immer viel Zeit drauf, aber ohne Benzin bin ich ja völlig aufgeschmissen.".<br />

"Hier ist es auch wieder besser geworden, weil zwei Bistros in der Nähe dicht gemacht haben.<br />

Glück für uns.", sagte Jens.<br />

"Das waren bestimmt deine Billigmahlzeiten, die euer Bistro über die kritische Phase gebracht<br />

haben.", sagte Bennie.<br />

"Glaubst du ehrlich?", fragte Jens, der eigentlich von der Aktion mit den Billigmahlzeiten enttäuscht<br />

war, weil sie nur so kurz funktioniert hatte.<br />

"Ja klar.", bekräftigte Bennie seine Aussage. "In der Zeit, als das bei euch lief, haben die anderen<br />

Bistros das Verdienstloch gehabt, das ihr sonst auch gehabt hättet. Hat mein Vater immer gepredigt:<br />

Du musst nur länger durchhalten als die anderen.".<br />

"Dann kann ich ja zufrieden sein." sagte Jens und grinste.<br />

An Andreas gewandt fragte er: "Was macht eigentlich dein Ausschlag?", denn Andreas Krätze war<br />

ihm immer mal wieder durch den Kopf gegangen, vor allem heute, als er die Armen in der<br />

Suppenschlange mit ihren zerkratzten Händen gesehen hatte.<br />

"Och, das ist weg. War wohl das Duschgel. Der Doc hat uns ein anderes Duschgel gegeben und<br />

das hat geholfen. Ruckzuck war es weg.", Andreas streckte Jens die Hände entgegen, die tatsächlich<br />

wieder verheilt waren. "Riecht zwar etwas streng das neue Duschgel, aber ist besser als das alte. Wir<br />

benutzen jetzt alle das neue.".<br />

Jens dachte sich, dass er sich vielleicht geirrt hatte, mit seiner Vermutung, dass Andreas und seine<br />

Mitbewohner Krätze hatten. Ein neues Duschgel half da normalerweise gar nichts. Aber der Ausschlag<br />

an Andreas Händen hatte genauso ausgesehen, wie bei den Leuten von der Armenspeisung. Und<br />

Silke hatte <strong>des</strong>wegen sogar das Gesundheitsamt aufgeschreckt. Merkwürdige Sache.<br />

Ricardo wollte das Bistro schließen und drängte zum Aufbruch. Thomas griff nach seiner Jacke,<br />

kramte in einer Tasche und zog einen Pizzariegel daraus hervor, den er Bennie zuwarf: "Hier du<br />

wolltest doch mal was zu Essen haben, ohne dafür arbeiten zu müssen. Für dich habe ich auch einen,<br />

Jens", dabei warf er auch Jens einen Riegel zu.


Jens fing ihn auf und drehte ihn unschlüssig in den Händen. Es war ein Schokoriegel. "Danke.",<br />

sagte er schließlich und steckte den Riegel ein.<br />

Auch Andreas hatte seine grosszügigen fünf Minuten und spendierte den beiden Mitgliedern der<br />

arbeitenden Bevölkerung noch einen Zusatzriegel. Dabei bewegte er sich wie ein gönnerhafter Bonze,<br />

grinste aber ironisch.<br />

Durch den Schnee, der inzwischen wieder reichlich gefallen war, stapfte Jens nach Hause und<br />

freute sich schon auf seine Heizdecke.<br />

Wie üblich setzte er sich noch eine Weile vor den Fernseher. Am Anfang lief noch ein Heimatfilm,<br />

aber Jens erkannte bald, dass der Film sich dem Höhepunkt näherte, denn man hörte schon die<br />

Brautglocken läuten, sodass er beschloss auszuharren.<br />

Schon bald wurde seine Geduld belohnt und das tägliche Kaleidoskop der Schreckensmeldungen<br />

kündigte sich an.<br />

Aus Lagos gab es keine Neuigkeiten mehr, was aber daran lag, dass alle<br />

Kommunikationsleitungen nach ganz Nigeria unterbrochen waren. Ein aktuelles Satellitenbild zeigte<br />

jedoch noch mehr Rauch als zuvor.<br />

In den USA spitzte sich die Situation weiter zu. Manche Stadtteile der Metropolen waren von der<br />

Ordnungsmacht aufgegeben und sich selbst überlassen worden. Starke Vergrösserungen von<br />

Satellitenaufnahmen zeigten LKW-Kolonnen, die laut Sprecher mit Getreide beladen waren, aber nicht<br />

weiterkamen, weil ihnen der Treibstoff ausgegangen war. Ein schneller Bildwechsel zeigte massenhaft<br />

Demonstranten, die gegen Hunger protestierten.<br />

Zusätzlich zu den bisherigen Krisenherden wurde von Massakern im Kongo berichtet,<br />

möglicherweise mit Kannibalismus und der Sprecher deutete an, dass viele Nachrichten aus ganz<br />

Afrika die Welt wohl gar nicht erreichen würden.<br />

Ein völlig verstörter Chinese war in Vietnam aufgetaucht und hatte sich von dort aus an die WHO<br />

gewandt. Er behauptete, Arzt zu sein, und dass in China die grösste Geflügelpest-Epidemie aller<br />

Zeiten grassierte. Schon über tausend Menschen seien dieser speziellen Variante zum Opfer gefallen,<br />

die anscheinend für Menschen deutlich ansteckender war als frühere Geflügelpest-Varianten. Weil die<br />

meisten Menschen auf dem Land aufgrund der mehrjährigen Missernten inzwischen an<br />

Unterernährung litten, befürchtete der chinesiche Arzt, dass sie ein riesiges Reservoir für den<br />

agressiven Virus darstellen würden, in dem er sich ungehemmt vermehren und verändern konnte.<br />

Die chinesische Regierung dementierte das Auftreten einer Geflügel-Pest in Südchina.<br />

Ein Bildwechsel zeigte einen Krankenhausgang, in dem viele Krankenbetten standen, sodass<br />

kaum ein Durchgang frei blieb. Die Kamera zoomte näher an ein Bett heran, bis man den Patienten<br />

sehen konnte. Zu Jens Überraschung sah er aber keinen Chinesen, sondern eine alte Frau mit<br />

zweifellos europäischem Aussehen, die durch eine Sauerstoffmaske atmete. Etwas verspätet erklang<br />

ein Kommentar, dass die meisten Krankenhäuser in Deutschland aufgrund vieler<br />

Lungenentzündungen überlastet seien. Ein befragter Mediziner machte die unterkühlten Wohnungen<br />

der ärmeren Bevölkerung dafür verantwortlich. Er empfahl der frierenden Bevölkerung mit Socken,<br />

Jacken und doppelten Decken ins Bett zu gehen, um nicht zu unterkühlen.<br />

Jens kuschelte sich an seine Heizdecke und dachte an die erkälteten Armenspeisungs-Gäste, an<br />

Johanna und an Tinas kleine Tochter.


Kapitel 14<br />

Schnee beherrschte auch den nächsten Vormittag beim Entrümpeln, denn Herr Lorenz ließ Jens<br />

den ganzen Hof freiräumen. Für einen seiner LWKs hatte Herr Lorenz Schneeketten bes<strong>org</strong>t, der auf<br />

dem Weg zum Arbeitseinsatz seine Muster in die weißen Straßen drückte.<br />

Die Wohnung, die es heute zu entrümpeln gab, war mal wieder eine der typischen Jungmann-<br />

Kruschtbuden. Der Müll stapelte sich in allen Ecken, im Kühlschrank schimmelte noch ein alter Käse<br />

vor sich hin und eine angerostete Gemüsedose ließ den Kühlschrank voller als nötig erscheinen.<br />

Einige der Möbelstücke würden vielleicht noch brauchbares Brennholz abgeben.<br />

Im Keller erwartete Jens jedoch eine Überraschung. Dort stand, begraben unter unzähligen<br />

Pappkartons, ein Fahrradanhänger, <strong>des</strong>sen eines Rad verbogen war. An dem Anhänger lehnte ein<br />

Fahrrad mit verzogenem Rahmen, bei dem die Räder jedoch gut aussahen. Sofort wurde Jens klar,<br />

dass er aus dem kaputten Anhänger und den Rädern <strong>des</strong> Fahrrads einen funktionierenden<br />

Fahrradanhänger bauen konnte. Einen Fahrradanhänger hatte er sich schon lange gewünscht, um<br />

sein Brennholz und Einkäufe besser transportieren zu können.<br />

Zurück bei der Entrümplungsfirma fragte er Herrn Lorenz, ob er den Anhänger ein paar Tage auf<br />

dem Hof stehen lassen könnte, denn der Schnee machte einen Heimtransport <strong>des</strong> Anhängers fast<br />

unmöglich. Selbst sein Fahrrad hatte er zuhause gelassen.<br />

Herr Lorenz antwortete: "Den Hof will ich ganz leer und aufgeräumt lassen, denn wir haben mit<br />

mehr als genug Gerümpel zu schaffen. Sie brauchen einen eigenen Platz zum Lagern und Werkeln.<br />

Auch die Sägerei auf dem Hof schmeckt mir auf Dauer nicht.".<br />

"Ein eigener Platz für solche Zwecke wäre ne prima Sache. Gehören Ihnen nicht auch die<br />

Garagen, die in den Hof münden?", sagte Jens.<br />

"Klar gehören mir die Garagen. Aber die brauche ich für eigene Zwecke."<br />

Jens ließ nicht locker: "Was ist denn da drin, außer Autos?"<br />

"Waren. Was sich halt so ansammelt, wenn man als Entrümpler arbeitet."<br />

"Können Sie da keine entbehren? Ich würde auch Miete zahlen."<br />

"Die sind alle voll."<br />

"Vielleicht könnte ich eine freiräumen?"<br />

"Unsinn! Sie sollen fremde Wohnungen leerräumen und nicht meine Garagen."<br />

"Sie hätten mehr Profit dadurch. Ich würde sie auch in meiner Freizeit ausräumen."<br />

"Mehr Profit? Das ist ein Argument. Aber wenn, dann abends in der Freizeit. Ich will dadurch nicht<br />

belästigt werden."<br />

"Geht in Ordnung.", gab Jens sich zufrieden.<br />

Sie handelten noch einen fairen Betrag für die Garagenmiete aus und Herr Lorenz zeigte Jens die<br />

infrage kommenden Garagen.<br />

"Hier haben wir ein Lager mit HiFi-Geräten und dort eines mit Haushaltsgeräten - alle defekt. Eines<br />

davon können Sie sich aussuchen und beide Warenbestände zusammen in eine Garage räumen. Um<br />

Platz zu gewinnen, können Sie irreparable Geräte ausmustern und andere reparieren, falls Sie das<br />

können.", bot Herr Lorenz an.<br />

Beide Garagen waren vollgestopft mit Geräten, doch bei genauerem Hinsehen konnte man<br />

erkennen, dass in der Garage mit den HiFi-Geräten ein langer Tisch stand, den man als Werkbank<br />

benutzen konnte, wenn er leergeräumt war, also entschied sich Jens für diese Garage. Da er an<br />

diesem Abend im Bistro frei hatte, machte er sich gleich an die Arbeit.<br />

Der Anfang war schwierig, denn erst musste er Raum schaffen, um sich überhaupt in den Garagen<br />

bewegen zu können. Ein kleiner Teil der Geräte war ganz offensichtlich Schrott, die warf Jens als<br />

Erstes in den bereitstehenden Container. Im Lampenschein fing er anschließend an, den Tisch leer zu<br />

räumen und entdeckte unter den achtlos hingestellten Geräten ein Messgerät, einen Lötkolben und<br />

mehrere feine Schraubenzieher. Anscheinend hatte vor ihm schon jemand versucht, Ordnung in das<br />

Lager zu bringen.


Dann nahm er wahllos eines der Geräte, um zu überprüfen, warum es kaputt war. Der Fehler war<br />

schnell gefunden und behoben, denn ein Kabel der Stromvers<strong>org</strong>ung hatte sich gelockert. Da das<br />

Reparieren so schnell gegangen war, nahm er sich noch mehr Geräte vor, von denen er einen Teil<br />

zügig reparieren und einen anderen Teil als irreparabel erkennen konnte. Nach etwa einer Stunde<br />

hatte er fünf reparierte Geräte neben sich auf dem Tisch aufgestapelt. Die würde er m<strong>org</strong>en im<br />

Ramschladen, wie er die Verkaufshalle der Entrümplungsfirma heimlich nannte, abliefern können und<br />

hätte dann noch mehr Platz gewonnen.<br />

Endlich konnte er sich mit gutem Gewissen seinem Fahrradanhänger widmen. Das Vorderrad <strong>des</strong><br />

Fahrrads passte genau zu dem verbliebenen Rad <strong>des</strong> Anhängers. Die Schraubenmutter saß ziemlich<br />

fest, aber nach einiger Kraftanstrengung ließ sie sich lockern und Jens konnte das neue Rad<br />

montieren. Anschließend bewunderte er seinen neuen Lastesel, entfernte die Anhängerkupplung am<br />

Fahrrad, warf die kaputten Reste in den Container und fischte noch möglichst viel Holz aus den<br />

großen Abfallmulden, denn diesmal hatte er endlich die Möglichkeit, eine größere Menge Brennholz<br />

auf einen Schlag nachhause zu bringen.<br />

Zu später Stunde, kurz bevor die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet wurde, zog er seinen<br />

beladenen Anhänger durch den wieder dichter werdenden Schnee. Schnell konnte man diese neue<br />

Transportmethode nicht nennen, aber immerhin musste er nichts tragen.<br />

Zuhause stapelte Jens das Holz in der Nähe <strong>des</strong> Ofens und entfachte ein kleines Feuer, um es<br />

wärmer zu haben. Dann machte er es sich vor dem Fernseher gemütlich.<br />

Die Topnachricht <strong>des</strong> Tages war die "World Commercial Crisis Conference", kurz WCCC genannt,<br />

die heute in Frankfurt stattgefunden hatte. Zu dieser Konferenz waren Wirtschafts-Koryphäen aus<br />

allen wichtigen Ländern eingetroffen. Ergänzt wurden sie durch Wissenschaftler und Politiker, sogar<br />

der deutsche Wirtschaftsminister hatte teilgenommen. Es ging darum, Wege zu finden, um die<br />

Energiekrise besser bewältigen zu können.<br />

Vetreter Japans brüsteten sich mit ihren Erfolgen beim Methanhydrat-Abbau. Die Deutschen<br />

wollten die Welt mit ihrer Windkraft-Technologie beglücken, wussten aber keine Antwort auf die Frage,<br />

woher der ganze dafür benötigte Stahl kommen sollte. Und die Franzosen wollten mit ihren<br />

hochmodernen Atomkraftwerken punkten, die ihnen größere Stromengpässe ersparten. Sie wurden<br />

aber niedergeschrien, weil sie anderen Länder die knappen Uranvorräte wegnehmen würden.<br />

Ein heissumstrittenes Thema war die Verlegung der UNO nach Genf, weil in New York der<br />

Ausnahmezustand herrschte. Da kaum einer der anwesenden Konferenzteilnehmer bei dieser Frage<br />

mitzubestimmten hatte, war die Diskussion eigentlich überflüssig, aber der Botschafter der UNO, der<br />

auch an der Konferenz teilnahm, versprach, das Thema an die Vereinten Nationen weiterzuleiten.<br />

Die Kamera schwenkte über die zahlreichen Teilnehmer, die nach Ländern geordnet den<br />

Konferenzraum bevölkerten. Die Vertreter der USA wirkten ziemlich kleinlaut und starrten angestrengt<br />

auf ihre Papiere, als die Kamera sie streifte, der Chef der französischen Energiebehörde zwirbelte<br />

selbstzufrieden an seinem Schnurrbart, die Japaner waren in ein hektisches Gespräch vertieft und die<br />

Chinesen sassen fast regungslos an ihren Plätzen. Einer der Chinesen hatte auffallend rote Wangen<br />

und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn.<br />

Zur Bekämpfung <strong>des</strong> Hungers sollte das verbliebene Erdöl und Erdgas vordringlich zur Erzeugung<br />

von Düngern und Pestiziden verwendet werden, weil Düngermangel anscheinend die Hauptursache<br />

für die Missernten gewesen sei. Die Chemiekonzerne nutzten ihre Macht, um gegen den Willen der<br />

amerikanischen Regierungsvertreter ein Sonderabkommen mit der OPEC durchzusetzen.<br />

Frankreich wurde aufgefordert, einen Teil seines Atomstroms an benachbarte EU-Länder zu<br />

liefern, denn vor allem in Italien und Spanien war die Stromknappheit gewaltig.<br />

Jens erschienen die geplanten Maßnahmen wie der Versuch, mit einem Papierflieger zum Mond<br />

zu fliegen, aber er hatte nichts anderes erwartet.<br />

Nach dem Bericht von der WCCC wehte ein Schneesturm durch den Bildschirm. Der Norden der<br />

USA war von einem Wintereinbruch mit Blizzards heimgesucht worden. Erschwert wurde die Situation<br />

durch weiträumige Stromausfälle und Ausfall der Heizungen aufgrund von Erdgasmangel. Jens<br />

versuchte sich auszumalen, wie das Leben in New York zur Zeit sein musste, ohne Essen, Wasser<br />

und Heizung während vor den Fenstern der Schneesturm tobte. Es fiel ihm schwer, sich das stolze<br />

New York so vorzustellen.<br />

Weitere Krisenregionen wurden aufgezählt, wie Perlen einer Kette, sodass Jens die einzelnen<br />

Ereignisse kaum noch auseinanderhalten konnte.


Am nächsten M<strong>org</strong>en hatte es aufgeklart und ein kalter Wind fegte durch die winterlichen Straßen.<br />

Jens verstopfte ein paar neu entdeckte Ritzen in seiner Wohnung mit Zeitungspapier und machte sich<br />

auf den Weg zur Entrümplungsfirma. Der Wind hatte die Straßen teilweise frei geblasen, sodass Jens<br />

einen Teil der Strecke sogar radelnd bewältigen konnte.<br />

Herr Lorenz freute sich über die reparierten Geräte, die er gleich in seine Verkaufshalle aufnahm.<br />

Er versprach Jens eine prozentuale Beteiligung, wenn die Geräte verkauft würden. Jens parkte sein<br />

Fahrrad diesmal in seiner neuen Garage, die bei Tageslicht betrachtet immernoch wie ein<br />

Gerümpellager aussah. An diesem Abend würde er wohl keine Zeit haben, mehr Ordnung in die<br />

Garage zu bringen, denn das Bistro wartete mal wieder auf ihn.<br />

Im Anschluss an seine Bistro-Schicht besuchte Tina ihn wieder und sie hatten leidenschaftlichen<br />

Sex. Noch gemütlich im Bett liegend, begannen sie ein Gespräch über das aktuelle Weltgeschehen.<br />

Tina war überraschenderweise der Meinung, dass sich die Situation wohl wieder zum Besseren<br />

gewendet hatte, von der Tatsache ausgehend, dass ihr Job im Bistro jetzt wieder sicherer schien.<br />

Jens gab zu bedenken: "Dafür sind aber zwei andere Bistros in der Nähe pleite gegangen. Das ist<br />

eine Reduktion auf ein Drittel.".<br />

"Aber immerhin scheinen sie das Problem mit den Arbeitslosen in den Griff bekommen zu haben."<br />

"Da ist schon was dran, denn die Ausgabe von Essen hat das Problem mit dem Hunger am<br />

Wochenende gelöst. Aber die Leute werden wie Käfigtiere gehalten und mit irgendwas, das im Essen<br />

steckt ruhiggestellt, da bin ich mir sicher."<br />

"Wie? Du meinst, die haben Drogen im Essen? Das kann doch wohl nicht sein."<br />

"Nicht unbedingt so Drogen wie Heroin, eher sowas wie Coffein, aber gegenteilig wirkend.<br />

Vielleicht ähnliche Stoffe, wie sie auch in Schokolade sind. Ist ja alles ganz legal. Das Essen wird<br />

doch sowieso schon lange mit irgendwelchen Wirkstoffen vollgestopft. Sie nennen es dann Functional<br />

Food und sind ganz stolz darauf."<br />

"Hm... das kann ich mir echt kaum vorstellen."<br />

"In Gefängnissen werden die Insassen angeblich schon länger ruhiggestellt und in Altersheimen<br />

doch auch, das ist ja sogar allgemein bekannt. Und die Grundsicherungs-Empfänger sind alle<br />

zufrieden damit. So hab ich sie noch nie vorher erlebt. Aber besser zufrieden eingepfercht, als<br />

verhungert und erfroren."<br />

"Na, jetzt übertreibst du aber. Verhungert und erfroren, wie sich das anhört."<br />

"Du siehst nicht oft Nachrichten, oder?"<br />

"Ne, dafür hab ich kaum Zeit. Und die erzählen einem doch sowieso immer den gleichen<br />

Schauderkram."<br />

"Schauderkram ist durchaus ein passen<strong>des</strong> Wort dafür. Aber für mich sieht es zur Zeit wirklich<br />

ernsthaft schlimm aus. In vielen Gegenden geht quasi die Welt unter. Nicht nur in der dritten Welt<br />

sterben sie wie die Fliegen, sondern sogar im Amiland sind viele Städte vom Verhungern bedroht.<br />

Hast du noch nichts von New York gehört? Dort gibt es jetzt sogar Schneestürme und das alles ohne<br />

Heizung und Strom."<br />

"Ja klar. Vom Schnee in New York konnte man ja auch in jeder Schlagzeile lesen. Aber die haben<br />

dort doch oft Schneestürme."<br />

"Sonst haben die aber Strom und Heizung. Und jetzt herrscht dort schon seit Monaten Nahrungsund<br />

Wasserknappheit. Die Leute waren also schon vorher geschwächt."<br />

"Das war mir nicht bewusst. Und du glaubst, dass das hier auch so wird?"<br />

"Ganz so schlimm wird es hier hoffentlich nicht. Bei uns sind die Orte dicht zusammen, wir haben<br />

ein brauchbares Schienennetz, die Häuser sind besser isoliert und wir sind das Stromsparen eher<br />

gewöhnt. Aber auch uns stehen bestimmt noch einige harte Jahre bevor, denn das geförderte Erdöl<br />

wird jetzt je<strong>des</strong> Jahr weniger. Wir müssen uns also Jahr für Jahr neue Lösungen einfallen lassen. Zur<br />

Zeit haben wir wohl so eine Art Atempause."<br />

Tina kuschelte sich schutzsuchend an Jens, was er sich gern gefallen ließ. Er roch ihr duften<strong>des</strong><br />

Haar und ihr Atem strich warm über seinen Brustkorb. Fast wären sie so eingeschlafen, aber plötzlich<br />

sprang Tina auf und verkündete, dass sie jetzt nachhause gehen würde.


Am Wochenende hatte Jens endlich mal wieder Zeit zur Armenspeisung zu gehen. Auf dem<br />

Vorplatz vom Gemeindezentrum stand ein grosser Klotz, der sich bei näherer Betrachtung als<br />

Nahrungsausgabe-Automat erwies. Jens sah zu, wie ein Bürgerkarten-Inhaber seine Karte an ein<br />

Sensorfeld hielt, woraufhin sich eine Klappe öffnete und das bekannte Rationspaket ausspuckte.<br />

In der Küche angekommen fragte Jens nach einer kurzen Begrüßung, was es mit dem Automaten<br />

auf sich hatte.<br />

Markus erklärte: "Den haben sie schon am Mittwoch aufgestellt. Bei der Post gibt es die ja schon<br />

länger. Da haben die einfach die alten Paketausgabe-Automaten umfunktioniert. Und bei den<br />

Häusern, in denen viele Grundsicherungs-Empfänger leben, werden nach und nach auch welche<br />

aufgestellt. Wir sind jetzt wieder nur noch für die Suppe zuständig.".<br />

Jens nickte und setzte sich zu den Zwiebeln und Johanna. Nach einer Weile kam Silke in die<br />

Küche gestürmt und entschuldigte sich für ihr Zuspätkommen. Man konnte ihr die Eile an den<br />

geröteten Wangen ansehen.<br />

"Mein Mann hat eine dicke Erkältung erwischt. Ich konnte leider nicht früher kommen.", sagte sie.<br />

Die Suppenmenge, die gekocht wurde, war stark zurückgegangen, daher waren die Zwiebeln<br />

schnell geschnitten und die Helfer nutzten die Wartezeit für Unterhaltungen.<br />

Jens fragte Silke: "Wie ist es denn deinen anderen Erkältungsopfern ergangen?".<br />

"Den meisten geht es inzwischen schon wieder besser. Aber zwei alte Damen mussten wegen<br />

Lungenentzündung ins Krankenhaus. Ich fürchte, die meisten halten nicht mehr lange durch in ihren<br />

eigenen Wohnungen."<br />

"Dann müssen sie in das städtische Altersheim, oder? Warst du mal dort?"<br />

"Ja, öfters. Es könnte wohl schlimmer sein, aber die Alten vegetieren da ziemlich vor sich hin.<br />

Jedoch auch in ihren eigenen Wohnungen geht es den Leuten oft nicht gut und dieses Jahr leiden die<br />

meisten an ständiger Unterkühlung. Dieses Problem gibt es im städtischen Altersheim kaum. Du<br />

kannst mich ja begleiten, wenn ich mal wieder hingehe."<br />

"Ok, wenn ich Zeit habe, dann werde ich mal mitkommen. Leider habe ich im Moment nur selten<br />

frei."<br />

Genauso wie die Suppenmenge war auch die Anzahl der Gäste geschrumpft, die vers<strong>org</strong>t werden<br />

wollten. Daher war die Essensausgabe bald beendet und Jens war früher wieder zuhause als<br />

erwartet. Weil er gerade nichts besseres zu tun hatte, und es sich nicht lohnte, für die kurze Zeit zu<br />

seiner Garage zu fahren, schaltete er den Fernseher ein.<br />

Anscheinend war er gerade rechtzeitig gekommen, denn die Nachrichten meldeten sich mit einer<br />

Sondersendung.<br />

Über Frankfurt war eine Quarantäne verhängt worden.<br />

Völlig überraschend war dort innerhalb weniger Tage eine neuartige Grippe mit extrem<br />

schwerwiegendem Verlauf ausgebrochen, die sich mit ungeahnter Geschwindigkeit ausgebreitet hatte.<br />

In den Krankenhäusern lagen schon tausende von Kranken, von denen viele mit dem Tode rangen.<br />

Auch erste Tote hatte es gegeben.<br />

Da viele der Erkrankten an der WCCC Konferenz teilgenommen hatten, vermuteten die<br />

Seuchenbeauftragten, dass die Epidemie möglicherweise auf diesem Weg nach Frankfurt gelangt sei.<br />

Unter den ersten Erkrankten war auch ein Chinese aus Shanghai, der halbtot in seinem Hotelzimmer<br />

aufgefunden worden war. Man konnte den Kranken sehen, wie er umgeben von vielen Schläuchen<br />

und Maschinen von medizinischem Personal in Raumanzügen betreut wurde. Es sah aus wie im Film<br />

Outbreak.<br />

Auf dem Flughafen sah man tausende von verängstigten Passagieren, die nicht mehr weiterfliegen<br />

durften. Für auswärtige Fluggäste wurden provisorische Lager eingerichtet, aber das half nicht, um die<br />

Panik zu verringern. Züge hielten nicht mehr am Bahnhof, sondern wurden umgeleitet. An den<br />

Ausfallstraßen standen bewaffnete Kontrollen, die auch in Schutzanzügen steckten.<br />

Die Hersteller von wirksamen Grippemitteln hatten Sonderschichten eingelegt, aber sie<br />

bezweifelten, dass sie in kurzer Zeit genügend Medikamente herstellen konnten, um die gesamte<br />

Bevölkerung damit zu vers<strong>org</strong>en. In den Krankenhäusern reichten die vorhandenen Vorräte nur aus,<br />

um das medizinische Personal und die allerschlimmsten Fälle damit zu vers<strong>org</strong>en.


Jens war froh, nicht in Frankfurt zu leben.<br />

Tina kam an diesem Abend nicht ins Bistro, sondern sagte ab, weil ihr Vater sie zu einer Privat-<br />

Quarantäne verdonnert hatte. Später, als Jens wieder zuhause war, gab es weitere Berichte über die<br />

Seuchensituation in Frankfurt. Die Epidemie verschlimmerte sich von Stunde zu Stunde.<br />

Beim Einschlafen sah Jens nochmal die Bilder der Konferenz vor sich ablaufen. Das Bild <strong>des</strong><br />

rotwangigen Chinesen, der sich über die Stirn wischte, überlagerte sich mit Silkes erhitztem Gesicht<br />

am Mittag und schon halb im Schlaf zog der Gedanke durch seinen Kopf, dass Silkes Mann ein<br />

wichtiger Banker war.


Kapitel 15<br />

Am liebsten wäre Jens einfach im Bett liegengeblieben, so gemütlich war es, sich in die Decken<br />

einzukuscheln. Im Zimmer war es nur zehn Grad kühl, wie er bei einem Blick auf das Thermometer<br />

feststellen musste, nachdem er sich endlich überwunden hatte aufzustehen. Auf einen Kaffee<br />

verzichtete er, denn der Kaffee im Gemeindezentrum war einfach wohlschmeckender. Dick vermummt<br />

machte er sich auf den Weg durch den Schnee.<br />

Im Gemeindezentrum waren die Leute schon eifrig beim Gemüseschnippeln, als Jens ankam. Er<br />

setzte sich dazu und widmete sich den üblichen Zwiebeln. Kaum standen ihm die gewohnten Tränen<br />

in den Augen, betrat der Armenspeisungs-Organisator, den Jens bisher nur selten gesehen hatte, die<br />

Küche und verkündete, dass Silke sich wegen Grippe entschuldigt hatte.<br />

Silke hatte noch nie gefehlt, seit Jens bei der Armenspeisung mithalf, und sie war immer die Herrin<br />

der Kochtöpfe, daher wunderte er sich nicht, dass einige Verwirrung entstand, als das Kochen der<br />

Suppe begann. Schließlich übernahm Johanna das Kochkommando und Jens half ihr, die<br />

anbratenden Zwiebeln in den Töpfen umzurühren. Es ging ziemlich hektisch zu, bis endlich das<br />

Wasser in die Töpfe gegossen wurde und darauf wartete, heiss zu werden.<br />

"Die arme Silke.", sagte Johanna in einer Rührpause. "Das kommt bestimmt von den vielen<br />

Krankenbesuchen."<br />

"Oder sie hat sich bei ihrem Mann angesteckt, der ist doch gestern auch schon krank gewesen.",<br />

entgegnete Jens. Und nach einer Weile sagte er: "Du hast dich anscheinend wieder erholt."<br />

"Ja, das war nicht so schlimm. Anfang der Woche hab ich mir ein bisschen Ruhe gegönnt und<br />

dann wurds auch schon wieder besser. So eine kleine Erkältung gehört wohl einfach zum Winter<br />

dazu."<br />

"Das denk ich auch. Und jetzt, wo das Heizen so schwierig geworden ist, herrschen in vielen<br />

Wohnungen auch ungewohnt niedrige Temperaturen."<br />

"Bei uns ist das auch ganz schrecklich. Wir haben ein ziemlich grosses Haus und das ist natürlich<br />

schwer zu heizen. Tagsüber sitzen wir jetzt immer alle im Esszimer, weil das kleiner ist, als das<br />

Wohnzimmer und nur zum Schlafen benutzen wir die eigenen Zimmer. Und jetzt, wo es so kalt<br />

geworden ist, kommt meine kleine Schwester fast jede Nacht angekrochen, weil sie vor Kälte nicht<br />

schlafen kann. Dann wärmen wir uns eben gegenseitig."<br />

"Gegen Kälte im Bett habe ich ein tolles Zaubermittel entdeckt. Und zwar habe ich eine Heizdecke,<br />

die ich abends ins Bett lege, um es aufzuwärmen. Verbraucht kaum Strom und ist trotzdem wirksam,<br />

weil sie direkt vor Ort wirkt."<br />

"Eine Heizdecke? Meine Oma hatte so eine. Und du meinst, das bringt was?"<br />

"Das bringt enorm viel. Zuerst war es mir ja auch fast peinlich, weil ich Heizdecken auch mit Omas<br />

assoziiert hatte, aber es ist wunderbar. Und man spart ne Menge Heizkosten, weil man den Raum<br />

nicht mehr so stark heizen muss."<br />

"Das werd ich mal meiner Mutter erzählen. Vielleicht kauft sie uns dann welche. Danke für die gute<br />

Idee."<br />

"Gern geschehen. Doppelte Decken sind übrigens auch sehr nützlich, denn dann hält die Wärme<br />

besser."<br />

"Die Decken nehmen wir sowieso schon doppelt. Ohne wäre es bestimmt kaum auszuhalten. Mich<br />

wundert es inzwischen nicht mehr, dass die Leute im Mittelalter immer zu mehreren im Bett lagen. Die<br />

hatten ja meistens nicht mal Fensterscheiben."<br />

"Daran kann man sehen, wie gut es uns trotz Krise geht. Wir sind wohl ziemlich verwöhnt."<br />

"Ja, ich glaube auch. Hättest du eigentlich Lust, uns mal zu besuchen?"<br />

"Oh, ja, gerne. Aber glaubst du, dass es deinen Eltern recht ist, wenn du so einen Tagelöhner wie<br />

mich einlädst?"<br />

"Du bist lustig. Ja, ich glaube, dass es meinen Eltern recht ist. Schon allein die Tatsache, dass du<br />

hier freiwillig mitarbeitest, adelt dich in ihren Augen. Sie mögen nur keine jungen Männer, die den<br />

ganzen Tag auf der faulen Haut liegen. Und du bist ja ständig auf Achse."


"Da hast du recht, manchmal komme ich kaum zum Luftholen."<br />

"Gib mir doch mal deine Telefonnummer. Dann ruf ich dich an, wenn ich mit meinen Eltern<br />

besprochen habe, wann es am besten passt."<br />

Sie tauschten ihre Telefonnummern und dann forderte die inzwischen kochende Suppe wieder ihre<br />

volle Aufmerksamkeit.<br />

Nachmittags fuhr Jens zu seiner Garage, denn er hatte keine Lust, zuhause die Zeit totzuschlagen.<br />

In der Garage war es kalt, daher schloss er das Tor hinter sich und knipste das Licht an. Die<br />

Handschuhe stopfte er in seine Manteltaschen, um die Hände freizuhaben, aber Mantel und Mütze<br />

behielt er an. Seine Atemluft stieg in Dampfwolken zur Decke, aber davon ließ er sich nicht abhalten.<br />

Je<strong>des</strong> Gerät, das er sich vornahm, war wie eine neue Rätselaufgabe. Jens schraubte das Gehäuse<br />

auf, wie andere ein Geschenk auspacken. Neugierig, welches Bild sich ihm bieten würde. Fast je<strong>des</strong><br />

zweite Gerät hatte sofort erkennbare Probleme mit der Stromvers<strong>org</strong>ung. Lockere Kabel lötete oder<br />

schraubte Jens zügig wieder an die v<strong>org</strong>esehene Stelle und meistens funktionierten die Geräte dann<br />

wieder.<br />

Bei einem alten Cassetten-Deck drehten sich die Motoren selbst im Leerlauf so schleppend, dass<br />

Jens kaum Hoffnung auf Besserung hatte, zumal kaum noch jemand Cassetten-Decks brauchte. Er<br />

entfernte die Kabel und das Netzteil und legte die Teile in ein Regalfach, das er für Ersatzteile<br />

v<strong>org</strong>esehen hatte.<br />

Immer wenn er mit einem Gerät fertig war, zog ihn ein anderes magisch an und wollte enträtselt<br />

werden. So merkte er kaum, wie die Zeit verging. Erst als er keinen Platz mehr auf dem Tisch fand,<br />

um die reparierten Geräte zu stapeln, wurde sie ihm wieder bewusst. Es war höchste Zeit, um ins<br />

Bistro zu fahren.<br />

Wie ausgekühlt er war, merkte er daran, dass seine Zähne klapperten. Draussen war es nicht nur<br />

kälter als in der Garage, sondern ein eisiger Wind pfiff durch die Straßen. Jens schlug den Kragen<br />

hoch und stemmte sich gegen den Wind. Der Weg von der Garage zum Bistro kam ihm diesmal<br />

ausgesprochen weit vor.<br />

Endlich erreichte er das Bistro. In der Küche schien es ihm geradezu himmlisch warm. Eine grosse<br />

Tasse Kaffee ließ die Wärme auch nach innen fließen. Mit beiden Händen umschloss Jens die Tasse<br />

und blies in den Kaffee, sodass der warme Dampf seinen Kopf einhüllte.<br />

Kaum hatte Jens sich etwas aufgewärmt, kamen auch schon die ersten Bestellungen. Ricardo<br />

kämpfte im Gastraum darum, die Übersicht zu behalten, was ihm sichtlich schwerer fiel als Tina, die<br />

das Tag für Tag mit Leichtigkeit schaffte. Um Ricardo zu helfen, brachte Jens einige der Gerichte<br />

direkt an die Tische, wenn er wusste für wen das Essen sein sollte.<br />

Das Kochen schien Jens anstrengender als sonst. Nach einer Weile fand er es sogar in der Küche<br />

zu kalt, obwohl der Baguetteofen ständig in Betrieb war. Davon ließ er sich jedoch nicht weiter beirren<br />

und eilte mit den nächsten Tellern in den Gastraum. Beim Tragen der Teller fiel ihm auf, dass ihm<br />

seine Arme und der Rücken wehtaten. Wahrscheinlich war er einfach überarbeitet. Ein dumpfer Druck<br />

entstand in seinem Kopf, der sich im Verlauf der nächsten beiden Baguetterunden zu einem heftigen<br />

Kopfschmerz zusammenzog.<br />

Glücklicherweise ließen die Bestellungen allmählich nach, daher fing Jens mit dem Putzen an, um<br />

bald Feierabend machen zu können. Kurz bevor er fertig geputzt hatte, rief Ricardo ihm noch eine<br />

Baguettebestellung zu. Die Zutaten, die Jens jetzt wieder aus dem Kühlschrank holen musste, waren<br />

bleischwer, das Messer kämpfte mit jeder einzelnen Scheibe und die Wartezeit, bis der Käse<br />

geschmolzen war, verlängerte sich zu gefühlten Stunden. Jens Kopf dröhnte und sein Körper fühlte<br />

sich an wie erschlagen. Heute würde er früh ins Bett gehen.<br />

Endlich durfte Jens Feierabend machen. Es fiel ihm sogar schwer, sich in Jacke, Mütze und<br />

Handschuhe einzupacken; erst nach dem dritten Versuch gelang es ihm, das Ärmelloch zu treffen.<br />

Draussen bestieg er sein Fahrrad, wobei ihm schwindelig wurde. Also beschloss er, das Fahrrad<br />

lieber zu schieben.<br />

Der Wind peitschte um seinen Körper und wollte ihn am liebsten umwerfen. Wie gut, dass er ein<br />

Fahrrad hatte, um sich abzustützen. Jens klammerte sich am Lenker fest und ließ sich von seinem<br />

Fahrrad nachhause ziehen. Wie praktisch so ein Fahrrad doch war. Jens war je<strong>des</strong>mal froh, wenn sie<br />

wieder ein beleuchtetes Stück Gehweg erreichten, denn in den dunklen Abschnitten schien ihn der<br />

Wind zu Boden ziehen zu wollen.


An einer Kurve wollte das Fahrrad plötzlich in eine andere Richtung fahren als Jens. Jens verlor<br />

den Kampf und fand sich auf dem Boden wieder. Über ihm lag sein Fahrrad. Der Boden war eisig, wie<br />

Jens nach einer Weile feststellte. Er sollte wieder aufstehen. Warum lag er überhaupt auf dem Boden?<br />

Das war doch sonst nicht seine Art.<br />

Von ganz weit her schob sich die Erinnerung an einen rotwangigen Chinesen in seinen<br />

hämmernden Kopf. Jens wunderte sich über diesen Gedanken, der sich zu so unpassender Zeit<br />

meldete. Oder hatte der Gedanke vielleicht eine wichtige Bedeutung? Dieser Gedanke war wichtig, er<br />

wollte ihm etwas mitteilen, da war Jens ganz sicher.<br />

Grippe! Er hatte vielleicht diese Mördergrippe. Dann musste er schleunigst nach Hause. Doch wie<br />

konnte er sich wieder von dem fesselnden Boden befreien? Am liebsten wäre er einfach<br />

eingeschlafen. Wenn es nur nicht so kalt wäre. Vielleicht, wenn man sich an die Kälte gewöhnt, ...<br />

Doch er dachte diesen Gedanken nicht fertig, denn plötzlich wurde ihm klar, dass er in Gefahr war.<br />

Mit heftig rudernden Bewegungen gelang es ihm, das Fahrrad von sich runter zu schieben. Mühsam<br />

stützte er sich mit den Händen auf und stemmte sich in die Hocke. Schließlich gelang es ihm, sich auf<br />

wackeligen Beinen aufzurichten. Jetzt musste er nur noch sein Fahrrad aufrichten. Beim Bücken barst<br />

ihm fast der Schädel. Die Reifen wollten immer wieder abrutschen, als wollte auch das Fahrrad lieber<br />

liegenbleiben. Endlich stand das Fahrrad und sie hielten sich gegenseitig aufrecht.<br />

Jetzt schnell nach Hause. Fast wäre Jens in seiner Eile wieder ausgerutscht, doch er mahnte sich<br />

rechtzeitig zur Vorsicht. Schritt für Schritt kämpfte er sich durch den Wind, bis er endlich in der Ferne<br />

seine Haustür erahnte. Die letzten Meter zogen sich wie an einem Gummiband.<br />

Wie im Traum brachte er das Fahrrad in den Keller. Irgendwann fand er sich schlotternd auf<br />

seinem Sofa wieder. Mit letzter Kraft entledigte er sich seiner feuchten Klamotten, schaltete seine<br />

Heizdecke ein und legte sich unter seine Decken.<br />

In der Nacht suchten ihn chinesiche Fahrräder heim, die ihn zu ersticken drohten. Immer wieder<br />

wachte er hustengeschüttelt auf. Dann hatte er seine Decken weggestrampelt und fror bis auf die<br />

Knochen. Ein ander Mal kochte er in der Gluthitze der Decken.<br />

Einmal, als er sich schon fragte, wielange diese Nacht wohl noch dauern würde, grinste ihm sein<br />

Wecker eine höhnische 2:17 entgegen. Eine Weile schaute er den Sekunden beim Wechseln zu, aber<br />

davon taten ihm die Augen weh. Also schloss er sie wieder, wühlte sich in die Decken und hoffte auf<br />

Schlaf. Der überfiel ihn dann auch mit unzähligen Baguettes, an denen er rumschrauben musste, um<br />

sie zu reparieren.<br />

Quälend langsam verstrichen die Stunden. So schwer hatte noch nie eine Krankheit Jens<br />

heimgesucht. Natürlich hatte er schon öfters fieberhafte Erkältungen gehabt und auch an eine<br />

schwere Mandelentzündung in seiner Kindheit konnte er sich erinnern, aber das hier war eine ganz<br />

andere Liga. Wie Furien jagten die feurigen Flammen aus Schmerz durch seinen Körper.<br />

Er sehnte das M<strong>org</strong>engrauen herbei, doch die Sekunden entschlossen sich nur langsam, sich zu<br />

Minuten zu sammeln und die Bewältigung einer Stunde erschien Jens wie Schwerarbeit. Endlich<br />

konnte er durch seine zu Schlitzen geöffneten Augen einen grauen Lichtschein hinter dem<br />

vorhanglosen Fenster erahnen, was ihn so erleichterte, dass er sich entspannte und in einen<br />

traumlosen Schlummer fiel.<br />

Als er das nächste Mal erwachte, schien die Sonne hell ins Zimmer. Auf Puddingbeinen schleppte<br />

er sich auf die Toilette. Das Wasser <strong>des</strong> Waschbeckens zischte fast, als er sich damit sein Gesicht<br />

kühlen wollte. Als ihm das Wasser in den Mund rann, merkte er, dass er durstig war und trank den<br />

Hahn in grossen Schlucken fast leer. Zwischen den Schlucken japste er nach Luft. Erst als sein<br />

Magen schon anfing zu protestieren, hörte er auf zu trinken.<br />

Erschöpft fiel er wieder in sein Bett und ihm war egal, dass es aussah wie nach einer Schlacht.<br />

Zitternd wärmte er sich wieder auf, denn sein Ausflug ins Bad hatte ihn ausgekühlt.<br />

An Schlaf war nicht mehr zu denken und es war langweilig, immerzu auf den nächsten<br />

Hustenanfall zu warten, der hinter dem Brustbein brannte, als würde er Feuer einatmen. Daher quälte<br />

er sich zu seinem Fernseher und schaltete ihn ein, um sich etwas abzulenken.<br />

Gerade wurde irgendein alberner Blödsinn gesendet, aber es reichte, um Jens etwas von seinem<br />

Zustand abzulenken. Den schweren Kopf auf ein Kissen gebettet schaute er mit einem Auge dem<br />

fröhlichen Treiben auf dem Bildschirm zu.


Zwischendrin fiel ihm ein, dass er bei der Entrümplungsfirma erwartet wurde. Aus seiner<br />

immernoch feuchten Jacke, die auf dem Boden vor dem Bett rumlungerte, kramte er sein Handy<br />

hervor und drückte die entsprechenden Kurzwahltasten. Als endlich jemand dranging, eigentlich<br />

waren es nur drei Klingler gewesen, krächzte Jens Stimme so sehr, dass er sie kaum wieder erkannte.<br />

Mit Mühe brachte er seine Krankmeldung heraus. Die Sekretärin am anderen Ende der Leitung zeigte<br />

viel Verständnis, klang aber ziemlich verzweifelt, als sie erzählte, dass die Hälfte der Mitarbeiter<br />

erkrankt war.<br />

Im Fernsehen kam eine Sondersendung über die Grippe-Epidemie. Die Grippe war inzwischen in<br />

allen deutschen Grossstädten ausgebrochen, bun<strong>des</strong>weit waren alle Krankenhäuser überlastet. Die<br />

neuartige Grippe-Variante sollte angeblich besonders oft zu Lungenentzündungen führen. Der<br />

Sprecher empfahl allen Erkrankten, genügend zu trinken, am besten einfaches Wasser.<br />

Da Jens schon wieder Durst hatte, nahm er sich diese Empfehlung zu Herzen und wackelte zu<br />

seiner Kochnische, wo eine volle und eine leere Flasche mit stillem Mineralwasser auf dem Boden<br />

standen. Er nahm die leere Flasche und füllte sie mit Leitungswasser. Dann trank er solange direkt<br />

aus dem Hahn, bis sein Magen meldete, dass er genug getrunken hatte. Die beiden Flaschen nahm<br />

er mit zu seinem Bett, damit er nicht für jeden Schluck extra aufstehen musste.<br />

Die kleine Aktion hatte ihn schon wieder völlig erschöpft und schweratmend lag er in seinem Bett.<br />

Sein Herz schlug schmerzhaft gegen seine Schädeldecke und jeder Atemzug tat weh. Er schloss die<br />

Augen, versuchte möglichst vorsichtig zu atmen und sein Herz wieder zu beruhigen. Doch sein Herz<br />

richtete sich nicht nach seinen Wünschen und schlug eher schneller als ruhiger. Nach kurzer Zeit<br />

merkte Jens, wie ihm der Schweiss ausbrach. Sein gerade erst getrocknetes Bettzeug wurde wieder<br />

klitschnass. Unruhig warf er sich von einer Seite auf die andere.<br />

Anscheinend hatte er eine Weile geschlafen, denn irgendwann erwachte er wieder, weil ihm das<br />

Atmen so weh tat. Das Brennen hinter dem Brustbein hatte sich über den ganzen Brustkorb<br />

ausgebreitet und machte jeden Atemzug zur Qual. Die kleinen Japser, die er sich noch gestattete,<br />

gaben ihm das Gefühl zu ersticken. Erst als er sich aufsetzte, ging das Atmen wieder etwas leichter,<br />

doch es strengte enorm an, aufrecht zu sitzen. Am Fussende <strong>des</strong> Bettes lag noch ein dickes Kissen,<br />

das er mühsam zu sich heran zog und am Kopfende aufstellte. So konnte er sich anlehnen und<br />

trotzdem fast aufrecht sitzen.<br />

Das Atmen ging dadurch wieder etwas besser, aber dennoch musste sich Jens auf jeden Atemzug<br />

konzentrieren. Stunden vergingen, in denen die Luft immer knapper wurde. Inzwischen war Jens bei<br />

einem flachen Hecheln angekommen, das er nur selten durch den Versuch eines tiefen Atemzuges<br />

unterbrach.<br />

Tränen liefen unbemerkt über seine Wangen und er sehnte sich nach seiner Mutter. Ausgerechnet<br />

jetzt musste ihm auch noch seine Mutter einfallen. Seit Monaten war es ihm gelungen, nicht mehr an<br />

seine Eltern zu denken, die bei einem Autounfall gestorben waren, als er gerade bei der Bun<strong>des</strong>wehr<br />

angefangen hatte. In der Zeit davor war Jens so wütend auf sie gewesen, weil sie ihn zum Informatik-<br />

Studium überredet hatten, dass er jeden Kontakt abgebrochen hatte. Und dann waren sie ihm<br />

endgültig entrissen worden. Ohne dass sie nochmal miteinander gesprochen hätten. Vor lauter<br />

unausgelebter Wut, Trauer, Schmerz und Schuldgefühl wusste Jens kaum, wie er mit der Situation<br />

umgehen sollte und hatte die ganzen Gefühle bei der Beerdigung zusammen mit dem Sand in die<br />

Gräber geworfen. Der Drill bei der Bun<strong>des</strong>wehr hatte ihm anschließend geholfen, den Schmerz weit<br />

von sich zu halten.<br />

Aber jetzt vermisste er seine Mutter so sehr wie nie zuvor. Da lag er nun und rang um je<strong>des</strong><br />

Quentchen Luft in seinen Lungen, völlig alleingelassen, und der Kummer über den Verlust seiner<br />

Eltern überspülte ihn bis zu den Zehenspitzen. Früher wenn er mal krank gewesen war, hatte seine<br />

Mutter immer an seinem Bett gesessen und ihm v<strong>org</strong>elesen. Wenn er ganz genau hinhörte, konnte er<br />

sie zwischen seinen lauten Atemzügen auch jetzt vorlesen hören. Er verstand zwar nicht den Sinn<br />

<strong>des</strong>sen, was sie vorlas, aber das Wichtigste war, sie überhaupt zu hören.<br />

Wenn er jetzt seine Mutter hörte, bedeutete das dann, dass er auch tot war? Nein, denn er spürte<br />

jeden Atemzug wie ein Schwert, das ihm bewies, dass er noch am Leben war. Aber das bisschen Luft,<br />

das den Weg in seinen Körper fand, reichte nicht aus, um ihn am Leben zu halten. Jens fragte sich,<br />

ob man nach dem Sterben tatsächlich seine Angehörigen wieder treffen würde, oder ob dann alles<br />

vorbei war. Seine Mutter sang ihm ein beruhigen<strong>des</strong> Lied.


Kapitel 16<br />

Wielange Jens um jeden Atemzug rang, wusste er nicht, denn er hatte je<strong>des</strong> Zeitgefühl verloren.<br />

Die Stimme seiner Mutter begleitete ihn durch die schwierigste Zeit, die sich hinzog, als wären es<br />

ganze Leben.<br />

Irgendwann sagte seine Mutter: "Und jetzt eine Sondersendung zur Grippe-Pandemie."<br />

Jens stutzte, denn sowas würde seine Mutter normalerweise nicht sagen. Auch was danach kam,<br />

klang so gar nicht mütterlich. Er drehte mühsam seinen Kopf und öffnete die Augen, um sehen zu<br />

können, wer da bei ihm war. Niemand war da, aber sein Fernseher lief. War es möglicherweise die<br />

ganze Zeit der Fernseher gewesen, der ihn getröstet hatte?<br />

Sein Mund war völlig ausgetrocknet vom schnellen Atmen und seine Zunge fühlte sich an, als wäre<br />

sie doppelt so gross wie gewöhnlich. Zäh kroch die Erkenntnis in seinen Kopf, dass er<br />

Wasserflaschen neben seinem Bett stehen hatte. Seinen Arm ließ er aus dem Bett rutschen und dann<br />

ruderte er mit der Hand, bis er den Hals einer Flasche fühlte. Sie hochzuziehen und anschließend zu<br />

öffnen, artete in Arbeit aus, sodass Jens mehrere Pausen einlegen musste. Fast hätte er es<br />

aufgegeben, doch dann störte ihn wieder seine trockene, dicke Zunge. Endlich war die Flasche offen<br />

und Jens neigte sie vorsichtig seinem Mund entgegen.<br />

Ein grosser Schwall sprang aus der Flasche und durchnässte Gesicht und Kopfkissen. Nur wenig<br />

war in den durstigen Mund gelangt. Beim nächsten Versuch ging es schon etwas besser, aber nach<br />

vier Schlucken verließ ihn die Kraft. Jetzt musste er die Flasche nur noch zuschrauben und<br />

zurückstellen. Dafür musste er aber erst noch neue Kraft sammeln. Einige Minuten lang hechelte er<br />

sich kleine Luftportionen zu, mit der offenen Flasche in der einen und dem Deckel in der anderen<br />

Hand.<br />

Als er sich wieder kräftig genug fühlte, entschloss er sich, noch ein paar Schlucke zu trinken, bevor<br />

er die Flasche wieder zuschraubte. Wohltuend rann das kühle Nass durch seine wunde Kehle und<br />

spendete ihm genug Kraft, um anschließend die Flasche verschrauben und wieder auf den Boden<br />

stellen zu können. Danach fühlte er sich wie nach einem langen Arbeitstag.<br />

Zwischen Wachen und Schlafen treibend, beschäftigte Jens sich vorwiegend damit, Luft in seinen<br />

Körper zu pumpen, egal wie sehr jeder Atemzug schmerzte. Es schien wieder etwas besser zu<br />

werden, zumin<strong>des</strong>t hatte er nicht mehr permanent das Gefühl gleich zu ersticken.<br />

Manchmal empfahl der Fernseher, Wasser zu trinken, was Jens auch je<strong>des</strong>mal brav befolgte,<br />

wenn er sich kräftig genug dafür fühlte. Fetzen der Neuigkeiten drangen an sein Bewusstsein.<br />

Inzwischen war weltweit eine Quarantäne verhängt worden, Flugzeuge und Züge hatten den<br />

Verkehr eingestellt. In den meisten Ländern war der Notstand ausgerufen worden, sofern nicht<br />

sowieso schon Notstandsrecht galt. Besonders betroffen waren die Grossstädte, auf dem Land war es<br />

nur zu vereinzelten Ausbrüchen gekommen.<br />

Jens dachte kurz darüber nach, dass es wohl vielen Millionen von Menschen jetzt ähnlich ging wie<br />

ihm. Wenn die kein Wasser am Bett stehen hatten, dann würden sie verdursten, wenn die Grippe sie<br />

schon nicht umbrachte. Jens fand diese Vorstellung zu grässlich, um weiter darüber nachzudenken,<br />

erkämpfte sich ein paar Schlucke aus seiner Flasche und widmete sich dann wieder dem Atmen.<br />

Irgendwann klingelte sein Telefon lange und ausdauernd. Von der Möglichkeit das Gespräch<br />

entgegenzunehmen war Jens meilenweit entfernt. Wer auch immer etwas von ihm wollte, musste<br />

warten, bis es ihm wieder besser ging.<br />

Lange Zeit später gelang es ihm, sich aufzusetzen, aber nach wenigen Sekunden wurde ihm<br />

schwindelig und er sank zurück auf seine Kissen. Es war mal wieder Tag, was er daran erkannte,<br />

dass das Licht durchs Fenster kam und das Leuchten seiner Deckenlampe überstrahlte. Draussen<br />

herrschte anscheinend schönster Sonnenschein, was gar nicht dazu passte, wie Jens sich fühlte.<br />

Ein ander Mal hatte er seine beiden Flaschen leergetrunken und der Durst quälte ihn zunehmend.<br />

Also entschloss er sich, die Flaschen wieder zu füllen. Er setzte sich auf und versuchte die Beine aus<br />

dem Bett zu schwingen, was ihm nur mit Mühe gelang. Kaum stand er, gaben die Beine unter ihm<br />

nach, bis er neben den Flaschen vor dem Bett kniete. Es musste wohl ohne aufrechten Gang<br />

funktionieren. Jens griff nach den Flaschen und robbte auf allen Vieren zur Kochnische, beförderte die<br />

leeren Flaschen in die Spüle, zog sich unter Aufbietung aller Kräfte nach oben und füllte dann die<br />

Flaschen, nachdem er sich zuerst sattgetrunken hatte.


Sein T-Shirt war in der oberen Hälfte völlig durchnässt, weil er sich bis zu den Achseln ins<br />

Waschbecken gehängt hatte, um den Halt nicht zu verlieren. In der Wohnung war es eiskalt,<br />

zumin<strong>des</strong>t schien es ihm so mit dem nassen T-Shirt am Leib. Auf dem Rückweg zum Bett machte er<br />

<strong>des</strong>halb einen Umweg am Kleiderregal vorbei und zog ein frisches T-Shirt aus dem zweiten Fach von<br />

unten. Das nasse T-Shirt klebte an seinem Körper und ließ sich nur schwer ausziehen. Aber endlich<br />

war es geschafft und Jens konnte umständlich in das trockene T-Shirt schlüpfen.<br />

Endlich hatte er sein Bett erreicht und es gelang ihm, wieder reinzuklettern. Die Decken drehte er<br />

um, da sie durchgeschwitzt waren und auch seine Kissen rückte er zurecht, bevor er sich ausgepumpt<br />

zurückfallen ließ und von den grossen Taten erholte.<br />

Wieviele Tage vergangen waren, bis er das erste Mal auf seinen Beinen zur Kochnische gehen<br />

konnte, wusste Jens nicht, aber es erfüllte ihn mit Triumpf, als er aufrecht am Spülbecken stand und<br />

sich nur noch mit einer Hand festhalten musste.<br />

Kurz danach verspürte er Hunger und war heilfroh, dass er in letzter Zeit soviel Wert auf gute<br />

Vorräte gelegt hatte. Jetzt hatte er Nahrungsmittel für mehrere Wochen in seinem Küchenschrank und<br />

der Abstellkammer verstaut. Und das Beste war, dass ihm die volle Auswahl zur Verfügung stand. Er<br />

entschied sich für Haferflocken mit Kakao und H-Milch, weil es viel Kraft und wenig Essanstrengung<br />

versprach.<br />

Auf dem Weg zur Kochnische zog er einen Stuhl mit sich, damit er sich zwischendrin etwas<br />

ausruhen konnte. Halb sitzend durchstöberte er seine Schränke, bis er alles zusammen hatte. Die<br />

Mischung der drei Zutaten in der Müslischüssel war anstrengender als hundert Baguettes zu<br />

überbacken. Nachdem seine Mahlzeit fertig war, musste er sich erst eine Weile an die<br />

Küchenschränke gelehnt ausruhen, bis er bereit für den ersten Bissen war. Die süssen Haferflocken<br />

fühlten sich wie Fremdkörper in seinem Mund an, doch der Zucker weckte Ahnungen an vergessene<br />

Kräfte und so nahm er gleich den zweiten Bissen. Als er die Hälfte der Schale geleert hatte, erinnerte<br />

sich, dass man nach einer Fastenzeit nicht soviel aufeinmal essen sollte und hielt inne. Den Rest <strong>des</strong><br />

Müslis nahm er nach einer kurzen Erholungspause mit zu seinem Bett und stellte es auf den<br />

Nachttisch.<br />

Langsam kehrten seine Lebensgeister zurück, doch es vergingen noch viele Wasserfüllungen und<br />

Müslis, bis er kräftig genug war, um sich den Schweiss vom Körper zu duschen und neue Bettwäsche<br />

aufzuziehen. Danach fühlte er sich wie neugeboren. Endlich mal wieder richtig trocken und seinem<br />

eigenen Gestank entkommen. Ein paar Stunden später schaffte er es sogar, sein Zimmer zu lüften,<br />

denn die Luft war so schwer, dass man sie kaum noch als abgestanden bezeichnen konnte.<br />

Seine Wärmedecke war ihm nach dem Lüften besonders lieb, denn von draussen war eiskalte Luft<br />

ins Zimmer geweht. Was wäre wohl ohne seine zuverlässige Heizdecke aus ihm geworden?<br />

Inzwischen gab es auch wieder längere Zeiträume, in denen er nicht vor sich hindämmerte und so<br />

erfuhr er aus dem Fernsehen mehr über Grippe, als er je hatte wissen wollen.<br />

Die grösste bekannte Grippe-Pandemie, die seit dem zwanzigsten Jahrhundert stattgefunden<br />

hatte, hatte 1918 in kürzester Zeit 40 Millionen Menschen dahingerafft. Da die Erde inzwischen viel<br />

dichter bevölkert und durch den Flugverkehr zu einem grossen Dorf geworden war, rechnete man<br />

diesmal möglicherweise mit noch mehr Toten. Die Ölkrise war in Puncto Verbreitung sogar fast ein<br />

Segen, aber auch die wenigen Flüge hatten ausgereicht, um den Virus innerhalb weniger Tage über<br />

den ganzen Globus zu verteilen. Erschwerend kam die allgemein schlechte Vers<strong>org</strong>ungslage hinzu,<br />

denn die meisten Länder hatten wegen der Energieknappheit schon vorher in der Krise gesteckt.<br />

Berge von Grippemitteln waren inzwischen produziert worden, aber sie warteten bei den<br />

Herstellerfirmen teilweise vergeblich auf den Abtransport. Die Bun<strong>des</strong>wehr hatte Militärmaschinen und<br />

Treibstoff aus den letzten staatlichen Reserven mobilisiert, um die schlimmsten Epidemieherde über<br />

die Luft zu vers<strong>org</strong>en. Vor Ort haperte es dann an der Verteilung, sodass kaum jemand, der zuhause<br />

krank darnieder lag, in den Genuss der modernen Medikamente kam. Selbst für die überfüllten<br />

Krankenhäuser gab es nicht genug Medikamente.<br />

An dieser Grippe-Pandemie war so schlimm, dass es sich um eine neue Virus-Variante handelte,<br />

die sich vermutlich aus einem Geflügelpest-Virus in Kombination mit einem Menschengrippe-Virus<br />

gebildet hatte. Weil dieser neue Virus so stark von bisherigen Grippe-Viren abwich, wirkte die natürlich<br />

erworbene Immunität gegen Grippe nicht mehr und auch die Wirkung der Impfung ging gegen Null.<br />

Nur die speziellen Grippe-Präparate wirkten wie erhofft.


Im Gegensatz zu den üblichen Grippen verlief diese Variante besonders schwerwiegend und tötete<br />

die Befallenen oft mittels Lungenentzündung. Ausserdem war der neue Virus erheblich ansteckender<br />

als normale Grippe-Viren.<br />

Die WHO hatte seit vielen Jahren vor einer solchen Grippe-Pandemie gewarnt und laut dem<br />

berichtenden Grippe-Spezialist war es kein Wunder, dass sie just in dem Moment ausgebrochen war,<br />

als in der typischen Brutstätte Südchina das blanke Chaos herrschte und die ganze Welt durch die<br />

Ölkrise geschwächt war.<br />

Als dieses Mal das Telefon klingelte, schaffte es Jens, rechtzeitig dranzugehen. Die Stimme am<br />

anderen Ende der Leitung schien froh zu sein, sein Krächzen zu hören. Zuerst wusste er gar nicht, mit<br />

wem er sprach, doch dann stellte sich heraus, dass es Johanna war, die ihn zu einem Besuch<br />

einladen wollte.<br />

Jens erklärte, dass er noch Grippe hatte und dass es noch mehrere Tage dauern würde, bis er sich<br />

nach drausen wagen würde.<br />

"Oh, du Armer. Dann komm ich dich besuchen.", rief Johanna ihm aufmunternd zu.<br />

"Vielleicht solltest du besser zuhause bleiben, denn du könntest dich überall anstecken."<br />

"Du bist ja schon lange nicht mehr ansteckend und außerdem nehmen wir alle jeden Tag die<br />

Grippemittel, um geschützt zu sein. Pass auf, in einer Stunde bin ich bei dir."<br />

Jens konnte gar nicht mehr widersprechen, denn sie hatte schon aufgelegt. Eigentlich freute er<br />

sich ja auch, mal wieder ein menschliches Wesen zu sehen.<br />

So schnell es ging, duschte er, zog saubere Klamotten an, lüftete und bezog sein Bett. Danach war<br />

er wieder reif für ein kleines Päuschen unter der warmen Decke. Immerhin sah er jetzt wieder<br />

halbwegs manierlich aus und sein abgemagerter Körper wurde durch die Kleidung verhüllt. Wie dünn<br />

er geworden war, hatte er mit Entsetzen beim Duschen festgestellt. Die Rippen und Hüftknochen<br />

ragten hervor und die Knie glichen dicken Knoten eines Bambusstengels. Er hoffte, dass er sich die<br />

verlorenen Muskeln bald wieder anfuttern würde.<br />

Nach fast genau einer Stunde klingelte es an der Tür und Jens stand auf, um zu öffnen. Fast hätte<br />

er Johanna nicht wiedererkannt, denn sie trug die Haare offen und sah umwerfend aus. Zuerst<br />

brachte er kein Wort heraus, dann kam ihm eine holprige Bergüssung über die Lippen. Beim<br />

Reingehen machte er ihr ein Kompliment über ihre Frisur, das sie leicht errötend annahm.<br />

"Ich dachte mir, vielleicht hast du Hunger.", sagte sie und legte zwei nach Pizza duftende<br />

Schachteln auf den Tisch.<br />

"Lecker! Das ist genau das richtige nach den ewigen Haferflocken. Wart, ich hole schnell Besteck."<br />

Jens war begeistert von der Idee mit der Pizza und sie roch so verführerisch, dass ihm das Wasser<br />

fast aus dem Mund lief. Während sie aßen, unterhielten sie sich über die Grippe und was Jens mit ihr<br />

erlebt hatte.<br />

Als er davon erzählte, wie er seinen Fernseher mit seiner Mutter verwechselt hatte, und wie ihm<br />

das durch die schwerste Zeit geholfen hatte, schaute Johanna ihn mit entsetzten Augen an, in denen<br />

ein unterdrücktes Lachen zuckte. Auch Jens wurde plötzlich bewusst, wie grotesk die Geschichte<br />

eigentlich war. Er brach in ein befreien<strong>des</strong> Gelächter aus, das sich zwar mit Husteneinlagen mischte,<br />

von denen er sich aber nicht stören ließ. Johanna hielt ihr Lachen auch nicht länger zurück und so<br />

lachten sie zusammen, bis ihnen die Seiten wehtaten, was bei Jens recht bald einsetzte.<br />

"Wenn ich das meinem Vater erzähle, dass Fernseher Leben retten können, wird er mir das kaum<br />

glauben, so ein Fernsehverächter ist er.", sagte Johanna und wischte sich die Lachtränen aus den<br />

Augen. Etwas verhaltener fuhr sie fort: "Du hast nie erzählt, dass deine Eltern gestorben sind. Ist das<br />

schon lange her?"<br />

"Ein paar Jahre schon. Ich hatte sie vorher längere Zeit nicht gesehen. Meistens denke ich nicht<br />

gern daran."<br />

"Das kann ich gut verstehen. Und vermisst du sie sehr?"<br />

Johannas freundliche Aufmerksamkeit lockerte die letzten Blockaden, die ihn hinderten, an seine<br />

Eltern zu denken und er fing an, von ihnen zu erzählen. Er berichtete von dem letzten großen Streit,<br />

bei dem Jens sie angeschrien hatte, voller Vorwurf, dass sie seine Zukunft zerstört hatten, weil sie ihn<br />

zum Informatik-Studium gedrängt hatten und wie er bei der Bun<strong>des</strong>wehr erfahren hatte, dass sie<br />

gestorben waren, wie er damals alle Gefühle so weit wie möglich weggedrängt hatte, und dass er


irgendwie immer noch wütend war, dass sie ihn verlassen hatten, sich gleichzeitig aber schuldig<br />

fühlte.<br />

"Dass du keine Schuld an ihrem Unfall trägst, ist dir bestimmt bewusst?", fragte Johanna.<br />

"Ja, das ist mir schon klar, aber leider hilft das nicht viel."<br />

"Und dennoch hat deine Mutter dich gerettet."<br />

"Wie meinst du das?"<br />

"Ich weiss natürlich nicht genau, ob es wirklich ein Leben nach dem Tode gibt, aber als meine<br />

heissgeliebte Grossmutter starb, habe ich sie schrecklich vermisst, weil sie oft meine engste Vertraute<br />

gewesen war. Und dann habe ich angefangen, manchmal mit ihr zu reden, als würde sie tatsächlich<br />

im Himmel sitzen und auf mich runterschauen. Irgendwie hat das geholfen. Oft höre ich dann auch<br />

ihre Stimme in mir, wie sie immer geredet hat und sie gibt mir die Ratschläge, von denen ich weiss,<br />

dass sie so denken würde. Auch wenn ich mir das wahrscheinlich einbilde, tut es gut und so lebt sie<br />

wenigstens in mir weiter."<br />

"Hm."<br />

"Du könntest dich ja versuchsweise mal mit den Eltern, die in dir weiterleben, versöhnen und ihnen<br />

sagen, wie sehr du sie vermisst."<br />

"Hm. Vielleicht hast du Recht. Es kann bestimmt nichts schaden, es mal zu versuchen."<br />

Johanna nickte aufmunternd und nahm sich noch ein Stück Pizza.<br />

Jens nutzte die Gelegenheit, um das Thema zu wechseln, denn es hatte ihn ziemlich aufgewühlt,<br />

das erste Mal von seinen Eltern zu erzählen. Er fragte: "Weisst du, wie es den anderen von der<br />

Armenspeisung ergangen ist?"<br />

Die Pizza fiel Johanna fast aus dem Mund, als sie sich verschluckte und einen Hustenanfall<br />

bekam. Jens sprang auf und schlug ihr vorsichtig auf den Rücken.<br />

Als sie wieder sprechen konnte, sagte sie leise: "Silke ist gestorben."<br />

Zuerst war Jens sprachlos. Dann brachte er ein gestammeltes "Echt?" hervor.<br />

"V<strong>org</strong>estern habe ich es erfahren. Obwohl sie noch von einem Krankenhaus aufgenommen wurde,<br />

sie hat wohl einen sehr fürs<strong>org</strong>lichen Hausarzt gehabt, ist sie nach ein paar Tagen an<br />

Lungenversagen gestorben. Ihr Mann starb einen Tag später.", berichtete Johanna.<br />

"Mist. Aber ich kann es durchaus verstehen, dass man an dieser Teufelsgrippe sterben kann.<br />

Zwischendrin dachte ich selbst, dass ich sterben würde. Bis sich dann mein mütterlicher Fernseher<br />

um mich kümmerte."<br />

Diese absurde Vorstellung hatte nichts an Komik eingebüsst, sodass sie ihr Entsetzen über Silkes<br />

Tod einfach erstmal weglachten.<br />

Bald wurde klar, dass es kaum ein erfreuliches Thema gab, über das sie sich locker unterhalten<br />

konnten, jeder neue Ansatz endete bei Grippe, Tod und Krise. Das einzig erfreuliche schien, dass<br />

Johannas Mutter noch vor der Epidemie einen umfangreichen Grippemittel-Vorrat aufgebaut hatte,<br />

was ihrer Hypochondrie zu verdanken war. Johanna bot Jens eine Packung Grippemittel an, was er<br />

jedoch ablehnte, denn inzwischen hatte er das Schlimmste ja hinter sich.<br />

Später, als sie sich verabschiedeten, verabredeten sie, dass Jens sie besuchen würde, wenn er<br />

wieder vollständig auf den Beinen war. Noch lange nachdem Johanna gegangen war, hing ihr<br />

frühlingsblumenartiger Duft im Zimmer, sodass Jens gar nicht lüften wollte. Trotz der schwierigen<br />

Themen, die sie gewälzt hatten, fühlte er sich besser als seit vielen Tagen.<br />

Am nächsten Tag rief er beim Bistro an, um sich zurückzumelden. Doch dort ging nur der<br />

Anrufbeantworter dran, dem Jens kurz erzählte, dass er noch lebte und hoffte in einer Woche wieder<br />

auf den Beinen zu sein. Anschließend versuchte er es bei der Entrümplungsfirma. Dort war Herr<br />

Lorenz am Apparat, die Sekretärin hatte wohl auch Grippe.<br />

Nachdem Jens sich zurück unter die Lebenden gemeldet hatte, sagte Herr Lorenz: "Das ist gut,<br />

dass Sie bald wiederkommen. Wir haben nämlich bergeweise Aufträge; lukrative aber schwierige<br />

Aufträge. Wir sollen Leichen ents<strong>org</strong>en.".


Kapitel 17<br />

Die Vorstellung, Leichen ents<strong>org</strong>en zu müssen, behagte Jens nicht im Geringsten. Lukrative<br />

Aufträge hin oder her - er war doch kein Bestattungsunternehmen. Doch dann sah er im Fernsehen,<br />

wie massenhaft Gräber auf Wiesen ausgehoben wurden, um die Vielzahl der Gestorbenen<br />

aufzunehmen, inzwischen rechnete man mit einer Million Toten innerhalb von Deutschlands, und er<br />

kam zu dem Schluss, dass Leichenents<strong>org</strong>ung eine wichtige Aufgabe war, der man sich nicht<br />

verschließen sollte.<br />

Aber zur Zeit war er noch lange nicht wieder gesund genug, um körperlich zu arbeiten. Immerhin<br />

konnte er jetzt schon mehrere Stunden ohne Unterbrechung sein Bett verlassen, aber er ermüdete<br />

noch rasch. Am nächsten Tag schien die Sonne und Jens entschloss sich, einen Spaziergang zu<br />

riskieren. Schon die Treppe ins Erdgeschoss zeigte ihm deutlich, dass seine Beine an Kraft verloren<br />

hatten. Doch davon wollte er sich nicht einschüchtern lassen.<br />

Die Sonne stach Jens in die Augen, als er aus dem Schatten <strong>des</strong> Hauses trat. Das gleissende<br />

Licht wurde von den übrig gebliebenen Schneeresten noch verstärkt. Die Straße lag menschenleer vor<br />

ihm. So leer hatte er die Straße noch nie gesehen. Weil ihm kein besseres Ziel einfiel, schlug er die<br />

Richtung zum Bistro ein. Ein Leichenwagen fuhr vorbei.<br />

An der einen Ecke erinnerte er sich vage, dass er hier von der Grippe niedergestreckt worden war.<br />

Wielange das jetzt schon wieder her war? Es schien ihm wie Jahre, doch es waren nur knapp drei<br />

Wochen gewesen.<br />

Ein paar Meter weiter stiess er auf einen Lieferwagen mit geöffneter Klappe. Aus einem Haus<br />

kamen zwei Männer, die einen schweren Sack zum Lieferwagen schleppten. Der Sack hatte Form und<br />

Größe eines Menschen. Jens wartete kurz, bis die Männer den Weg passiert hatten und setzte seinen<br />

Weg dann fort. Sowas wie das hier würde wohl auch bald seine Aufgabe sein.<br />

Als er beim Bistro ankam, war er schon ziemlich außer Puste, obwohl er nur langsam gegangen<br />

war. Das Bistro war geschlossen. Kein Zettel an der Tür - nichts. Ob es Ricardo wohl so schnell<br />

überkommen hatte, dass ihm die Zeit für ein "Wegen Krankheit geschlossen"-Schild gefehlt hatte?<br />

Zurück zuhause, versuchte er Ricardo telefonisch zu erreichen, aber auch unter seiner privaten<br />

Nummer meldete sich nur ein Anrufbeantworter. Weil ihm nach menschlichem Kontakt dürstete,<br />

versuchte er es anschließend bei Tina. Als sie sich nach wenigen Klinglern meldete, war er richtig<br />

erleichtert.<br />

"Oh, du bist das, Jens. Ich hab mir schon S<strong>org</strong>en um dich gemacht. Wie geht es dir?"<br />

"Inzwischen geht es mir wieder ziemlich gut. Bin dem Tod nochmal von der Schippe gesprungen.<br />

Und wie sieht es bei euch aus?"<br />

"Mein Vater hält uns alle noch eingesperrt. Und wenn ich die Bilder im Fernsehen sehe, dann<br />

denke ich inzwischen auch, dass er Recht hat. Gesundheitlich gehts uns gut, aber die Stimmung ist<br />

miserabel."<br />

"Gute Stimmung hat zur Zeit bestimmt Seltenheitswert. Allerdings bin ich selbst eigentlich guter<br />

Dinge, weil ich wieder rumlaufen kann. Weisst du was vom Bistro oder von Ricardo?"<br />

"Ricardo ist krank. Seine Freundin hat mich kurz angerufen, als es ihn erwischt hat. Erzähl doch<br />

mal, wie es dir ergangen ist."<br />

Jens erzählte von seinem Kampf gegen die Grippe, was Tina viele Aahs und Oohs entlockte.<br />

Besonders entsetzt schien sie von der Vorstellung, dass er ganz allein gegen das Ersticken<br />

angekämpft hatte. Immer wieder sagte sie: "Wie gut, dass du das überstanden hast.".<br />

Nach dem Telefonat merkte Jens, dass er völlig erledigt war und legte sich wieder in sein<br />

kuscheliges Bett. Er schlief ein und wachte erst nach sechzehn Stunden wieder auf.<br />

Ausgeschlafen, aber noch mit Schlafnebeln im Kopf, machte er sich zuerst einen starken Kaffee,<br />

bei <strong>des</strong>sen Geschmack er sich nach dem Power-Kaffee sehnte. Dann holte er sein Fahrrad aus dem<br />

Keller, denn der Weg zur Entrümplungsfirma war ihm zu weit, um ihn zu Fuß zu gehen und heute<br />

wollte er Herrn Lorenz besuchen. Das Fahrrad schien Jens doppelt so schwer wie sonst und er war<br />

froh, als er es aus dem Haus bugsiert hatte. Behutsam stieg er auf und gewann Fahrt. Überraschend<br />

leicht kam er vorwärts, wenn er auch nicht so sauste wie sonst.


Die Straße gehörte ihm, so leer war sie. Nur hin und wieder fuhr ein Lieferwagen an ihm vorbei.<br />

Auch drei Leichenwagen begegneten ihm unterwegs, aber Privatautos waren so gut wie gar nicht<br />

unterwegs. Eine vermummte Gestalt mit Mundschutz hastete über den Gehweg, aus einem Haus<br />

wurde wieder ein Toter geb<strong>org</strong>en.<br />

Die Entrümplungsfirma lag wie ausgestorben da, aber die Eingangstür war unverschlossen und<br />

Jens ging direkt in Herrn Lorenz Büro, denn dort konnte man ihn meistens antreffen. So auch diesmal.<br />

Mit dem Qualm seiner Zigarre schien er alle gefährlichen Krankheitserreger vertreiben zu wollen, denn<br />

der Rauch im Zimmer war so dicht, dass man Herrn Lorenz von der Tür aus kaum sehen konnte.<br />

"Willkommen zurück unter den Lebenden, junger Mann.", rief er Jens entgegen.<br />

"Guten Tag Herr Lorenz. Ich mache gerade eine kleine Genesungsfahrt auf meinem Fahrrad, und<br />

wollte einfach mal bei Ihnen vorbeischauen."<br />

"Was heisst hier Genesungsfahrt. Sie sehen doch ganz munter aus."<br />

"Fürs Stehen reichts inzwischen auch wieder. Bis ich richtig zupacken kann, wird es wohl noch<br />

eine Weile dauern."<br />

"Schnick-Schnack. Hunderte von Toten warten auf Ihren Einsatz. Der Müller ist ganz alleine mit der<br />

Aufgabe und wie schwer es ist, die Leichen alleine zu schleppen, können Sie sich bestimmt<br />

vorstellen."<br />

"Klar, das kann ich mir durchaus vorstellen. Ich wollte Ihnen aber noch etwas zeigen, das ich vor<br />

meiner Krankheit noch gemacht habe."<br />

"Da bin ich ja mal gespannt."<br />

Jens führte Herrn Lorenz zu seiner Garage, öffnete das Tor und spähte hinein, um zu sehen, ob da<br />

tatsächlich mehrere reparierte Geräte standen, wie er es in Erinnerung hatte. Tatsächlich, da standen<br />

sie aufgestapelt und füllten einen grossen Teil <strong>des</strong> Arbeitstisches.<br />

"Donnerwetter, die haben Sie alle noch repariert?"<br />

"Ja, ich war gerade gut in Fahrt."<br />

"Sehr gut. Sie können mir dabei helfen, sie in die Verkaufshalle zu tragen. Wenn die Überlebenden<br />

irgendwann aus ihren Löchern kriechen, finden sie neue Angebote vor."<br />

Als die reparierten Geräte ordentlich in den Verkaufsregalen standen, wollte Jens sich schnell<br />

verabschieden, damit sein Gegenüber keine Zeit mehr hatte, das Thema Leichenents<strong>org</strong>ung erneut<br />

anzuschneiden, doch Herr Lorenz war schneller.<br />

"Ok, und jetzt fahre ich Sie zu Müller."<br />

Jens wollte gerade protestieren, aber er kam gar nicht erst zum Luftholen.<br />

"Sie wollen doch den Herrn Müller nicht im Stich lassen. Der hat sich auch gerade erst von der<br />

Grippe erholt. Nur ein paar Stunden."<br />

Gegen solche Argumente fühlte sich Jens machtlos, also ging er widerstandslos mit Herrn Lorenz<br />

zu seinem Wagen, einem umgerüsteten Diesel, der auch mit Salatöl sehr gut fuhr, wie Herr Lorenz<br />

immer wieder stolz betonte. Herr Lorenz zog sich einen Mundschutz über Mund und Nase und reichte<br />

auch Jens eine Maske.<br />

"Die werd ich nicht brauchen, denn ich bin jetzt ja immun.", protestierte Jens.<br />

"Gegen die Grippe wohl schon. Aber da können alle möglichen zusätzlichen Bakterien<br />

rumschwirren und gegen die sind Sie nicht immun. Superinfektion hat der Mann vom Gesundheitsamt<br />

das genannt. Das Super käme aber nicht davon, dass die Infektion so gross sei, sondern weil sie<br />

sich über die Grippeinfektion drüber gestülpt hat. Die Maske ist also Pflicht. Sie können sich gleich<br />

schon mal daran gewöhnen."<br />

Jens setzte die Maske auf und hatte einen kurzen Moment das Gefühl wieder zu ersticken, was<br />

Panik aufsteigen ließ. Doch er riss sich mühsam zusammen, sagte sich, dass keine Erstickungsgefahr<br />

bestand und atmete möglichst ruhig durch das weiße Gewebe.<br />

Die Fahrt durch die leere Stadt dauerte nur kurz und führte sie in ein ärmeres Stadtviertel, in dem<br />

Jens schon mehrmals entrümpelt hatte. Herr Lorenz hielt neben dem blauen Lieferwagen, mit dem<br />

Herr Müller unterwegs war. Dieser kam gerade aus dem Haus, beladen mit einem Sack, der nur halb<br />

gefüllt schien.


"Ein kleines Mädchen.", sagte er mit bekümmertem Gesichtsausdruck, nachdem er den Sack im<br />

Innern <strong>des</strong> Lieferwagens verstaut hatte. "Gut, dass Sie kommen, junger Mann. Alleine komme ich<br />

kaum hinterher mit der Arbeit."<br />

"Richtig gesund bin ich aber noch nicht. Ein paar Stunden gehen vielleicht."<br />

"Vor ein paar Tagen lag ich auch noch im Bett. Aber mich hats auch weniger schlimmer erwischt,<br />

als die armen Teufel hier.", dabei machte er eine ausholende Geste, die alle Häuser Umgebung<br />

umschloss.<br />

Herr Lorenz gab Herrn Müller noch einen dünnen Stapel Papiere, dann winkte er zum Abschied,<br />

setzte sich in sein Auto und fuhr davon. Herr Müller zog eine Liste aus der Tasche, studierte sie<br />

s<strong>org</strong>fältig, ergriff einen leeren Leichensack und bedeutete Jens ihm zu folgen. Im zweiten Stock, vor<br />

einer Wohnung angekommen, nestelte er an seinem überdimensionierten Schlüsselbund, bis er den<br />

gewünschten Schlüssel gefunden hatte und schloss die Wohnungstür auf.<br />

Beim Öffnen der Tür schlug den beiden ein muffig, süsslicher Geruch entgegen, der aber durch die<br />

Masken gedämpft wurde. Herr Müller drückte einen Schalter und Licht fiel auf hunderte von kleinen<br />

Engelchen, die s<strong>org</strong>fältig auf einer Kommode angeordnet waren. Die Blumen an der Tapete ließen<br />

den Flur trotz Beleuchtung düster wirken.<br />

"So, jetzt schauen wir erstmal nach dem Rechten und dann müssen wir nach Ausweisen suchen,<br />

um sie dem Toten mitzugeben.", sagte Herr Müller und öffnete eine Zimmertür nach der anderen.<br />

Hinter der zweiten Tür verbarg sich offenbar das Schlafzimmer, denn Herr Müller betrat den Raum<br />

und der süßliche Geruch verstärkte sich.<br />

Als Jens in den Raum trat, hatte sich Herr Müller vor dem Bett aufgebaut und deutete auf die alte<br />

Frau, die sich darin befand und nicht rührte. Ihr Gesicht war bläulich angelaufen und die Züge leicht<br />

verzerrt. Ansonsten sah es aber fast so aus, als schliefe sie.<br />

"Wir haben Glück, dass Winter ist und viele der Wohnungen kaum geheizt sind.", dozierte Herr<br />

Müller. "Denn dadurch gibt es nur wenig Befall durch Maden und auch der Geruch hält sich in<br />

Grenzen. Dadurch sind die meisten der Toten wie frisch. Das hat mir der Herr vom Gesundheitsamt so<br />

gesagt und im Grossen und Ganzen hat er Recht behalten. Wo wir schon mal hier sind, können wir sie<br />

auch gleich in den Sack stecken. Packen Sie mal mit an, junger Mann."<br />

Er zog die Decke weg und legte den mitgebrachten Sack neben die klapperdürre Frau deren<br />

verknittertem Nachthemd man noch deutlich ansah, wie sehr sie geschwitzt haben musste. Jens<br />

öffnete den Reissverschluss <strong>des</strong> Sackes, denn das war der offensichtliche nächste Schritt der Aktion<br />

und mit vereinten Kräften hoben sie die Frau in den Sack. Sie war so leicht, wie sie aussah, doch Jens<br />

merkte deutlich, dass er an körperliche Arbeit nicht mehr gewöhnt war. Dann schloss er den<br />

Reissverschluss wieder und Herr Müller half, indem er die Falten <strong>des</strong> Sackes glättete und den<br />

Reißverschluss zusammenhielt.<br />

"So, jetzt müssen wir nach einem Ausweis suchen. Der wird dann in so ein Tütchen gepackt, dazu<br />

noch das ausgefüllte Formular und mit Klebestreifen an den Sack geheftet. Suchen Sie doch schon<br />

mal nach einer Handtasche oder in Schubladen, ob Sie den Ausweis finden. Ich übernehme das<br />

Formular."<br />

Jens blickte sich im Schlafzimmer um, sah dort aber keine Handtasche offen herumliegen. Dann<br />

ging er zurück in den Flur, aber am Gaderobenhaken hing nur ein Mantel und auf der Ablage darüber<br />

lag ein Hut. Er öffnete die nächstliegende Tür, hinter der sich ein schlauchförmiges Badezimmer<br />

befand. Hinter der nächsten Tür fand er ein Wohnzimmer, aber keine Handtasche. Er fühlte sich wie<br />

ein Eindringling, als er einen Stuhl mit geschwungenen Holzlehnen umrundete, den er für einen<br />

Biedermeierstuhl hielt. Auf dem peinlich ordentlichen Sekretär, der dahinter stand, lagen zwei Briefe,<br />

die auf einen flüchtigen Blick hin nach Rechnung aussahen, ein gebundenes Buch mit der Aufschrift<br />

"Tagebuch", aber weder Ausweis noch Handtasche. Hier könnte er aber eventuell später noch in den<br />

Schubladen suchen, falls das mit der Handtasche nicht klappen sollte.<br />

In der Küche wurde er endlich fündig. Auf einem Stuhl, der weitgehend unter den Küchentisch<br />

geschoben war, stand eine typische Altdamen-Handtasche. Die Öffnung der Handtasche war Jens<br />

sehr suspekt, daher trug er sie lieber ungeöffnet zu Herrn Müller, der im Schlafzimmer an einer<br />

Kommode stand und Kreuze auf ein Formular setzte.<br />

"Hier hab ich die Handtasche. Die sollten wir vielleicht unter Zeugen durchsuchen.", sagte Jens.<br />

"Gut, dass Sie das vorschlagen. Da ich bisher alleine gearbeitet habe, hab ich glatt vergessen, es<br />

zu erwähnen. Also geben Sie mal her, ich hab da schon Übung."


Jens übergab ihm erleichtert die Handtasche. Nach kurzer Zeit hatte Herr Müller einen<br />

Personalausweis entdeckt und verschloss die Tasche wieder.<br />

"Gut.", sagte Herr Müller. "Schauen Sie sich das Formular gut an, das muss immer ausgefüllt<br />

werden, mit Name, Adresse, Fundort; für den Zustand gibt es verschiedene Ankreuzmöglichkeiten, die<br />

Raumtemperatur müssen wir messen, hier sinds fünfzehn Grad, ob ein Ausweis vorhanden ist, und so<br />

weiter, sehen Sie: lauter Detailkram. Ist aber nötig für die ärztliche Begutachtung, Erbensuche und für<br />

unseren Lohn. Ok, dann können wir die Dame jetzt runtertragen."<br />

Herr Müller befestigte die Unterlagen mit einem breiten Klebeband am Sack, aber so, dass man ihn<br />

noch öffnen konnte. Dann forderte er Jens auf, die Füsse zu ergreifen und nahm selber den<br />

Oberkörper. Außerhalb der Wohnung legten sie ihre Last vorsichtig auf den Boden, denn Herr Müller<br />

musste noch das Licht löschen und die Tür nicht nur abschließen, sondern auch mit einem amtlich<br />

aussehenden Siegel verkleben.<br />

Der Sack erwies sich auf dem Weg nach unten als unhandlich und Jens befürchtete mehrmals,<br />

dass er ihm aus den Händen rutschen würde, aber sie kamen heil auf der Straße an. Wie hatte Herr<br />

Müller die Säcke nur allein bewältigt? Jens staunte nicht schlecht über die Kraft <strong>des</strong> Mannes, der<br />

durch seine Grippe auch sichtbar dünner geworden war. Aber er war immer noch ein Bär und Jens<br />

fühlte sich neben ihm fast zierlich, obwohl er sich sonst eher für gross und stark hielt. Die Stärke<br />

würde ja hoffentlich bald wieder zunehmen.<br />

Als der Sack im Lieferwagen ordentlich auf einer Reihe anderer Säcke lag, fragte Jens: "Was<br />

passiert denn jetzt mit den Toten und mit deren Wohnungen?".<br />

"Die Säcke fahren wir später auf den neuen Friedhof, der außerhalb der Stadt eröffnet wurde. Dort<br />

werden sie noch von Ärzten begutachtet, vonwegen ordentlichem Totenschein und dann kommen sie<br />

in eine Art Massengrab, Seit an Seit mit ihren Leidensgenossen. Die Wohnungen bleiben für einen<br />

Monat versiegelt, damit die Erben Zeit haben, sich zu melden, dann wird das Meiste entrümpelt und<br />

verscherbelt. Ein Treuhänder bekommt den Großteil <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong>. Er verwaltet es, bis die Erben<br />

aufgetrieben wurden. Unser Chef erhält natürlich Prozente. Hier hab ich einen Kaffee für Sie, extra<br />

aus dem Büro mitgebracht."<br />

Her Müller holte eine Thermoskanne aus dem Führerhaus und schenkte Jens einen Becher ein.<br />

Der Kaffee schmeckte belebend nach Power-Kaffee.<br />

"Und wie gehts jetzt weiter?", fragte Jens.<br />

"Jetzt kommen die nächsten zehn Opfer dran."


Kapitel 18<br />

Fünf Tote später war Jens schon ziemlich erschöpft und hätte am liebsten Feierabend gemacht,<br />

aber er konnte Herrn Müller schlecht alleine lassen, zumal dieser auch schon müde wirkte.<br />

Der nächste "Kunde" war ein Mann in Jens Alter. Jens wurde ganz mulmig zumute, als er ihn sah.<br />

Die bisherigen Toten waren alle alt gewesen, da konnte man leichter akzeptieren, dass sie tot waren,<br />

aber dieser junge Mann erinnerte Jens daran, dass auch er tot in seiner Wohnung hätte liegen<br />

können. Schließlich waren es eher Kleinigkeiten, die ihn gerettet hatten, wie Wasser am Bett, seine<br />

Heizdecke und sein mütterlicher Fernseher.<br />

Da der junge Mann schwerer war als die bisherigen Toten, ging Herr Müller extra nochmal zum<br />

Auto, um einen besonders stabilen Sack mit Griffen zu holen, denn ohne Griffe hätten sie es zu zweit<br />

wohl kaum geschafft, ihn ins Auto zu transportieren.<br />

Als wäre der junge Mann nicht schon erschreckend genug gewesen, fanden sie in der nächsten<br />

Wohnung eine Frau Anfang zwanzig mit ihren beiden Kleinkindern. Der alte Mann, der als letzter auf<br />

der Liste für diesen Tag stand, war für Jens dann fast schon erleichternd, was ihn sofort mit einem<br />

schlechten Gewissen erfüllte, denn der Tod war schrecklich, egal wie alt der Gestorbene war.<br />

Vor der Fahrt zum neuen Friedhof gab es noch einen Kaffee, der Jens Lebensgeister wieder<br />

weckte. Obwohl die Straßen fast leer waren, dauerte die Fahrt zum neuen Friedhof über eine halbe<br />

Stunde. Unterwegs sammelten sich immer mehr Lieferwagen, die das gleiche Ziel hatten wie sie.<br />

Schließlich erreichten sie ein Feld, das von fern so aussah, als würden dort Vorbereitungen für ein<br />

Festival stattfinden. Das Areal war durch ein rot-weiss gestreiftes Plastikband abgegrenzt und im<br />

Einfahrtsbereich standen mehrere Zelte. Offensichtlich herrschte Hochbetrieb, denn Jens und Herr<br />

Müller mussten eine Viertelstunde in einer Schlange warten, bis sie auf den Ausladeparkplatz fahren<br />

durften.<br />

Dann fing die Schlepperei wieder an. Ein Ordner wies ihnen den Weg zu einem der Zelte. Das Zelt<br />

stand voller Biertische, die auf ihre traurige Last warteten. Ein maskierter Mann im weissen Kittel teilte<br />

ihnen einen der Tische zu und überprüfte kurz die Dokumente, bevor er seine Unterschrift auf Herrn<br />

Müllers Liste setzte. Dieser V<strong>org</strong>ang wiederholte sich, bis der Lieferwagen leer war. In einem anderen<br />

Zelt holten sie neue Leichensäcke und eine Liste samt Schlüsseln für den nächsten Tag.<br />

"So, jetzt suchen wir uns einen anderen Parkplatz und dann gehen wir zur Beerdigung.", sagte<br />

Herr Müller.<br />

"Wir gehen wohin? Zu einer Beerdigung? Aber wir haben doch schon den ganzen Tag mit Toten zu<br />

tun gehabt."<br />

"Ja, gerade <strong>des</strong>halb. Sie ahnen ja gar nicht, wieviel Last es von der Seele nimmt, wenn man<br />

mitkriegt, dass sie am Schluss ordnungsgemäss in der Erde liegen. Am ersten Tag war ich nicht bei<br />

einer Beerdigung und da habe ich die ganze Nacht über Tote vor mir gesehen. Ausserdem freut sich<br />

der Pfarrer, wenn er nicht so alleine ist, bei den ganzen Beerdigungen."<br />

Herr Müller fuhr den Wagen vom Gelände und parkte am Straßenrand. Dann gingen sie zu Fuß zu<br />

den ausgehobenen Grabreihen. Die ersten Reihen waren schon wieder aufgefüllt und schlichte<br />

Holzkreuze standen dicht nebeneinander, so dass ihre Enden fast aneinander stiessen. Erst jetzt<br />

wurde Jens die Anzahl der Toten so richtig bewusst. Der Gang zu den aktuellen Gräbern war ein<br />

richtiger kleiner Spaziergang und das umzäunte Gelände war noch um ein Vielfaches größer als das<br />

bisher genutzte Areal. Das gestreifte Band verlor sich fast in der Ferne. Tausende mussten hier schon<br />

liegen. Und viele Tausende würden noch folgen.<br />

Der Graben, der diesmal zur Bestattung anstand, war etwa zwanzig Meter lang. An seinem Boden<br />

lagen dicht an dicht in weisse Tücher gehüllte Körper. Ein Pfarrer stand etwa in der Mitte, umstanden<br />

von einer Handvoll Männer, und hielt seine Rede. Jens und Herr Müller stellten sich dazu und<br />

lauschten den Worten <strong>des</strong> Pfarrers. Er sagte etwas von schweren Zeiten und dass der Herr die<br />

Gestorbenen zu sich gerufen hatte, alles in dem bedächtigen Tonfall, den Jens auch schon vom Wort<br />

zum Sonntag kannte.<br />

Jens blickte auf die Körpersäcke im Graben und stellte sich vor, dass die Menschen, die er heute<br />

aus ihren Wohnungen geholt hatte, bald auch in Leintücher gehüllt in einem langen Graben liegen<br />

würden. Nach dem obligatorischen Gebet durfte jeder der Anwesenden eine Schaufel voll Erde in den<br />

Graben werfen. Einer der Männer entfernte sich gleich anschließend und ging zu einem Bagger, der


am Ende <strong>des</strong> Grabens stand. Der Bagger erwachte zum Leben und schaufelte eine ansehnliche<br />

Ladung Erde in den Graben. Jens ließ seinen Blick noch einmal über die Toten streifen und dann<br />

folgte er Herrn Müller, der sich auf den Rückweg zum Parkplatz gemacht hatte.<br />

Irgendwie hatte es tatsächlich geholfen, bei der Beerdigung teilzunehmen. Etwas in seinem Innern,<br />

von dem Jens vorher gar nicht gemerkt hatte, dass es in ihm war, hatte sich aufgelöst. Aufeinmal<br />

konnte er wieder besser durchatmen, als hätte er vorher die Luft angehalten.<br />

"Jetzt werden Sie ein kleines Wunder erleben.", sagte Herr Müller, als sie wieder unterwegs waren<br />

und bog zu einer Tankstelle ein. Er fuhr an der Schlange der Wartenden vorbei zu einer Zapfsäule, an<br />

der "Nur mit Bezugsschein" stand. Ein Mann, der eine Uniform in den Farben der Tankstelle trug, warf<br />

einen Blick auf ihre Windschutzscheibe und Herr Müller deutete auf eine Scheibe, die an eine<br />

Parkscheibe erinnerte und auf dem Armaturenbrett lag. Der Tankstellenmann nickte, zückte den<br />

Benzinschlauch und begann ihren Tank zu füllen.<br />

"Ist das nicht herrlich, einfach so zu tanken, ohne vorher eine Stunde warten zu müssen? Und eine<br />

Unterschrift reicht zum Bezahlen.", fragte Herr Müller voller Begeisterung.<br />

Obwohl Jens nie in einer Tankstellenschlange gewartet hatte, konnte er sich den damit<br />

verbundenen Frust gut vorstellen und stimmte Herrn Müller daher zu.<br />

"Und jetzt gehen wir ein Bierchen trinken, haben wir uns redlich verdient.", schlug Herr Müller vor.<br />

Jens war sich zwar nicht sicher, ob er für alkoholische Getränke schon wieder gesund genug war,<br />

aber der anstrengende Tag hatte Lust auf ein Bier gemacht und so erhob Jens keine Einwände, als<br />

Herr Müller bei einer Kneipe in der Nähe der Entrümplungsfirma hielt.<br />

Die Kneipe war ein dunkles, verrauchtes Loch und die verlebt wirkende Bedienung trug eine<br />

Gesichtsmaske, aber das Bier zischte erfrischend durch die Kehle.<br />

"Ich bin übrigens der Achim.", sagte Herr Müller und hob sein Glas.<br />

"Und ich bin der Jens.", antwortete Jens, erleichtert, dass er nicht mehr ständig "Herr Müller" sagen<br />

musste, denn er war Duzen bei der Arbeit gewöhnt.<br />

Das Bier stieg Jens ziemlich schnell in den Kopf, und obwohl er immernoch Bedenken hatte, ob es<br />

ihm gut tun würde, fühlte er sich angenehm beschwingt. Auch das Schnitzel, das sie bestellten,<br />

schmeckte besser als erwartet. Achim verwickelte ihn in ein Gespräch über das Leben als Entrümpler<br />

und erzählte Schwänke aus zwanzig Jahren Gerümpelerfahrung, die teilweise sehr lustig waren.<br />

Später fuhren sie mit dem Lieferwagen zur Entrümplungsfirma und Achim versprach, Jens am<br />

nächsten M<strong>org</strong>en direkt zuhause abzuholen.<br />

Auf dem Heimweg mit dem Fahrrad, als der Fahrtwind um seine Ohren pfiff, fühlte Jens sich zwar<br />

erschöpft von der Arbeit, aber dennoch so lebendig wie seit langem nicht mehr.<br />

Zuhause zündete er ein Ofenfeuer an und machte es sich vor dem Fernseher bequem. Doch kaum<br />

hatte er eingeschaltet, klingelte das Telefon. Johanna war dran.<br />

"Hallo Jens. Schön dass ich dich erreiche. Ich wollte dich fürs Wochenende zu uns einladen."<br />

"Hallo Johanna. Ja gerne. Wann soll ich denn kommen?"<br />

"Am Samstag um drei würde es passen. Die Armenspeisung setzt zur Zeit noch aus wegen der<br />

Grippe. Hast du meine Adresse?"<br />

"Bisher noch nicht. Wart, ich notier sie mir."<br />

Jens notierte Johannas Adresse auf einem rumliegenden Zettel.<br />

Johanna fragte: "Warst du heute unterwegs? Ich habe dich nachmittags nicht erreicht.".<br />

"Ja, ich hab heut schon wieder angefangen zu arbeiten. Mein Chef brauchte mich unbedingt."<br />

"Was machst du da eigentlich? Irgendwas mit Entrümplung, oder?"<br />

"Normalerweise schon, zur Zeit bringen wir aber Tote zum neuen Friedhof."<br />

"Dir bleibt aber auch nichts erspart. Stell dir vor, meine Mutter hat gestern eine Bekannte im neuen<br />

Altenheim besucht. Dort sind siebzig Prozent aller Bewohner an der Grippe gestorben, weil die<br />

Grippemittel zu spät ankamen. Es soll richtig unheimlich dort sein, so leer ist es."<br />

"Siebzig Prozent sind ja echte ne Menge. Und bei euch sind noch alle gesund?"


"Ja glücklicherweise gehts uns allen gut. Aber trotzdem hat sich das Leben verändert seit der<br />

Grippe."<br />

"Das wird wohl eine Weile dauern, bis die Grippeepidemie an Schrecken verliert. Und ob es dann<br />

wieder genauso wird wie vorher, wage ich zu bezweifeln."<br />

"Wahrscheinlich hast du recht. Ausserdem war es ja auch vorher schon nicht mehr in Ordnung.<br />

Hoffen wir das Beste. Wir sehen uns am Wochenende?"<br />

"Ja, bis dann. Lass es dir gutgehen."<br />

Jens legte auf und sah sich noch einen Krimi an, bevor er ins Bett ging. Kaum hatte er sein<br />

Kopfkissen berührt, war er auch schon eingeschlafen und er erwachte erst wieder, als es laut<br />

klingelte.<br />

Zuerst war er ganz wirr im Kopf, aber dann fiel ihm ein, dass Achim ihn ja mit dem Lieferwagen<br />

abholen wollte. War es schon so spät? Ein Blick auf den Wecker bestätigte ihm, dass er verschlafen<br />

hatte. In Win<strong>des</strong>eile schlüpfte er in seine Hose und öffnete die Tür.<br />

"Sorry, ich hab verschlafen."<br />

"Sieht man. Hast den Schlaf wohl nötig gehabt. Während du dich anziehst, hol ich einen Kaffee von<br />

unten. Ich hab extra viel mitgenommen. Ein paar Minuten können wir uns noch gönnen."<br />

Achim verschwand wieder und Jens zog sich vollständig an. Eigentlich hätte er sich viel lieber<br />

wieder ins Bett gelegt, denn er war immernoch müde und am ganzen Körper piesakte ihn ein heftiger<br />

Muskelkater. Ansonsten ging es aber halbwegs, vor allem konnte er frei durchatmen, was ihm in<br />

letzter Zeit besonders wichtig geworden war. M<strong>org</strong>en würde er sich den Wecker stellen. Der Kaffee<br />

weckte dann seine Lebensgeister und anschließend machten sie sich auf den Weg zu den Leichen.<br />

Von Tag zu Tag bargen sie mehr Tote, denn sie waren inzwischen gut in Übung und die<br />

Wartelisten der Friedhofsverwaltung quollen über. Weil die Leichensäcke trotz Wiederverwendung<br />

inzwischen knapp wurden, mussten sie Kinder und kleine Erwachsene in Müllsäcken transportieren.<br />

Nachmittags galt es mal wieder ein älteres Ehepaar einzusammeln. Den süsslichen Geruch nahm<br />

Jens inzwischen kaum noch wahr und den gestorbenen Mann konnten sie zügig in einen der wenigen<br />

Säcke mit Griff einpacken.<br />

Doch mit der Frau war irgendetwas anders, aber Jens konnte nicht einordnen, was es war. Als<br />

Achim den Sack neben sie gelegt hatte, nahm Jens sie wie gewohnt unter den Achseln und wartete,<br />

bis Achim die Füsse gepackt hatte. Irgendwie fühlte sich diese Frau nachgiebiger an als die übrigen<br />

Toten, und wärmer.<br />

Als er sie schließlich anhob, hörte er einen Seufzer. Er hielt inne und sah fragend zuerst zu Achim,<br />

der auch zur Salzsäule erstarrt war, dann betrachtete er die Frau in seinen Armen. Atmete sie? Es war<br />

kaum zu erkennen. Er hob ihren Oberkörper noch weiter an und wieder hörte man ein deutliches<br />

Atemgeräusch.<br />

"Sie lebt."<br />

Ohne lang zu überlegen, übernahm Jens das Kommando, als würde er wissen, was zu tun sei.<br />

"Hol ein Glas Wasser." wies er Achim an. Dann richtete er die Frau soweit wie möglich auf, hielt sie<br />

mit dem einen Arm und klopfte ihr mit der anderen Hand leicht auf den Rücken. Ihre stärker<br />

werdenden Atemgeräusche zeigten, dass es ihr anscheinend half. Ein Hustenanfall brachte einiges an<br />

Schleim hervor, der auf ihr Nachthemd sabberte. Aber das störte Jens nicht im Geringsten, sondern er<br />

fuhr fort, den Rücken der Frau abzuklopfen. Dabei redete er aufmunternd auf sie ein. Als er den<br />

Eindruck hatte, dass das Abklopfen erstmal ausreichte, kniete er sich auf das Bett, um die Frau mit<br />

seinem Oberschenkel und einem Arm zu stützen, während er die freigewordene Hand benutzte, um<br />

das Kopfkissen <strong>des</strong> toten Ehemannes herüberzuziehen und ihr eigenes Kissen aufzuschütteln und so<br />

anzuordnen, dass die Frau halb aufrecht liegen konnte, um die Atmung zu erleichtern.<br />

Dann legte er sie vorsichtig auf die Kissen und beobachtete, wie die Frau schwach atmete. Sie<br />

wirkte zwar immernoch nicht sehr lebendig, aber der Atem war jetzt deutlich erkennbar im Gegensatz<br />

zu vorher. Inzwischen war auch Achim wieder da und hielt Jens ein Glas mit Wasser entgegen. Jens<br />

schaute vom Glas auf die Frau und wusste nicht so recht, wie er es anpacken sollte.<br />

Er entschloss sich, sie wieder aufzurichten und hielt ihr das Glas an die Lippen. Natürlich trank sie<br />

nicht, denn sie war ja gar nicht bei Bewusstsein. Also versuchte Jens einen kleinen Schluck in ihren<br />

Mund zu gießen, wobei das Meiste vorbeifloss.


Aber sie schluckte. Gleich probierte Jens es nochmal und wieder schluckte sie. Auf diese Weise<br />

gelang es ihm, ihr etwa ein Drittel <strong>des</strong> Glasinhalts einzuflößen. Viel zuwenig natürlich, um ihren<br />

Wassermangel auszugleichen, aber fürs Erste bestimmt genug. Als er sie wieder hinlegte, flatterten<br />

kurz ihre Augen und ihre Lippen bewegten sich, als wollte sie etwas sagen.<br />

"Wir sind jetzt da und kümmern uns um Sie. Einfach tapfer weiteratmen.", sagte Jens zu ihr, in der<br />

Hoffnung, sie erreichen zu können.<br />

"Sie heisst Frau Wagner." meldete sich Achim und nahm das Glas wieder in Empfang.<br />

"Frau Wagner, hallo, hören Sie mich?", rief Jens ihr zu.<br />

Ihre Augen flatterten wieder und ein Krächzen entrang sich ihrer Kehle.<br />

Bei der Überlegung, was jetzt am besten zu tun sei, fiel Jens auf, dass Frau Wagner viel zu kalt für<br />

einen lebenden Menschen war. Er fing an, ihren Oberkörper zu massieren, um sie aufzuwärmen und<br />

wies Achim an, die Decke <strong>des</strong> Ehemanns an der frischen Luft auszuschütteln. Langsam wich die<br />

graublaue Gesichtsfarbe von Frau Wagner einem blassen Rosa, aber die Lippen blieben bläulich.<br />

Jens schüttelte auch Frau Wagners eigene Decke und deckte sie anschließend damit zu. Immer<br />

wieder sagte er aufmunternde Belanglosigkeiten zu ihr, und erklärte ihr, was er vorhatte, denn er<br />

wusste nicht wieviel sie wahrnahm.<br />

Achim brachte die zweite Decke, die nur noch leicht muffig roch, und Jens deckte Frau Wagner<br />

auch mit dieser Decke zu.<br />

"Und jetzt?", fragte Achim.<br />

"Gute Frage. Vielleicht sollten wir ein Krankenhaus für sie finden.", schlug Jens vor.<br />

Im Wohnzimmer fanden sie ein Telefon samt Telefonbuch und Jens wählte die erste Nummer in<br />

der Liste der Krankenhäuser. Doch als das Gespräch endlich angenommen wurde und er um Hilfe<br />

bat, sagte ihm eine rüde Stimme, dass das Krankenhaus hoffnungslos überbelegt sei. Genauso war<br />

es bei allen anderen Krankenhäusern.<br />

Ratlos sahen Jens und Achim sich an.<br />

"Wir müssen weiter.", drängte Achim.<br />

"Ja, ich weiss, aber wir können sie doch nicht einfach so liegenlassen."<br />

"Du hast recht, aber was sollen wir tun?"<br />

"Wenn wir gehen, sollten wir ihr vorher noch was zu trinken geben und danach das Nachthemd<br />

wechseln, denn das ist total durchweicht. Und nach der Arbeit komm ich wieder und lass mir was<br />

einfallen."<br />

"Du hast Nerven. Aber gut, geben wir ihr noch etwas Wasser und ziehen sie um, wenn du dich<br />

dann besser fühlst."<br />

Zuerst suchten sie nach einem frischen Nachthemd. Jens fühlte sich unbehaglich, so in den<br />

Schränken der Kranken rumzuwühlen, aber er beruhigte sich mit dem Gedanken, dass es ja der Frau<br />

zugute kommen sollte. Dann erklärte Jens Frau Wagner worum es ging und flößte ihr noch ein paar<br />

Schlucke Wasser ein.<br />

Das Wechseln <strong>des</strong> Nachthemds erwieß sich als Schwerarbeit. Bis sie ihr endlich das feuchte<br />

Nachthemd ausgezogen hatten, tat Jens die arme Frau richtig leid, weil sie so an ihr zerren mussten.<br />

Das Anziehen <strong>des</strong> neuen Hem<strong>des</strong> ging dann schon etwas leichter, nur beim Einfädeln der Arme<br />

stießen sie auf grössere Schwierigkeiten. Doch endlich lag Frau Wagner in trockenen Tüchern und<br />

atmete tapfer frische Luft in ihre Lungen.<br />

"Frau Wagner, wir müssen jetzt wieder gehen. Aber ich komme wieder und dann hole ich Hilfe.<br />

Verstehen Sie? Ich bin bald wieder da."<br />

Ein Hauch, der wie ein "ja" klang, strömte aus Frau Wagners Mund.<br />

"Ok, bis bald. Ich komme wieder.", sagte Jens zum Abschied und dann schloss er sich Achim an,<br />

der schon im Gang auf ihn wartete.<br />

Bei den nächsten Toten war Jens unkonzentriert und immer wieder befühlte er die Leichnahme<br />

argwöhnisch, ob sie auch wirklich tot waren. Doch es war kein weiterer Lebender unter ihnen. Immer<br />

wieder fragte er sich, wie es Frau Wagner jetzt wohl gehen würde.


Anscheinend spürte Achim Jens Unruhe, denn als der letzte Tote im Lieferwagen lag, sagte er:<br />

"Also gut, ich bring dich zu deiner Patientin und fahre allein zum Friedhof. Dort sag ich dann<br />

Bescheid."<br />

"Oh danke, das ist eine gute Idee. Gib denen doch meine Handynummer, dass sie mich erreichen<br />

können, wenn ihnen einfällt, wo Frau Wagner hinkönnte."<br />

Achim brachte Jens noch zur Wohnung von Frau Wagner und verabschiedete sich dann. Frau<br />

Wagner lag unverändert in ihrem Bett und Jens musste genau hinschauen, um zu sehen, dass sie<br />

immernoch lebte. Ob sie vorhin das Richtige getan hatten? Nun, egal, auf jeden Fall lebte sie noch.<br />

"Frau Wagner, ich bin wieder da. Hören Sie mich?"<br />

Wieder einmal flatterten die Augenlider und diesmal sah die Frau Jens sogar für einen<br />

Sekundenbruchteil an. Das nahm er als Ermunterung und flößte ihr wieder etwas Wasser ein.<br />

Inzwischen hatte er den Bogen raus, sodass kaum noch Wasser danebenfloss. Vielleicht trank Frau<br />

Wagner auch wieder selbstständiger.<br />

Jens war ziemlich ratlos, was er tun könnte, denn die Krankenhäuser hatten sie ja schon alle<br />

durchtelefoniert. Wenn er wenigstens von der Grippemedizin etwas hätte, die Johanna ihm angeboten<br />

hatte. Aber das hatte er ja stolz abgelehnt. Apropos Johanna - mit ihr hing eine wichtige Information<br />

zusammen. Was war das nur? Sie hatten doch gar nicht über Plätze in Krankenhäusern gesprochen,<br />

sondern nur über das Altersheim, in dem soviele Menschen gestorben waren. Das Altersheim -<br />

vielleicht hatten sie ja dort Platz für Frau Wagner.<br />

Er blätterte im Telefonbuch, um die Nummer <strong>des</strong> Altersheims zu finden, aber da stand es nicht<br />

drin. Kein Wunder, denn das Altersheim war ja auch noch ganz neu. Also befragte er mit seinem<br />

Handy die Online-Auskunft und erhielt eine Nummer. Hoffnungsvoll wählte er und tatsächlich meldete<br />

sich nach kurzer Zeit eine weibliche Stimme mit: "Städtisches Altenheim, was kann ich für Sie tun?".<br />

"Haben Sie einen Platz für eine schwer grippekranke ältere Dame?"<br />

"Sind Sie der Sohn?"<br />

"Nein, ich sollte sie eigentlich zum Friedhof bringen, aber sie lebt noch. Ich arbeite zur Zeit in der<br />

Leichenbergung."<br />

"Und da haben Sie eine Lebende entdeckt. Ist sie denn ansprechbar?"<br />

"Nein, aber sie atmet schon mehr als am Anfang und sie hat versucht zu sprechen und mich<br />

anzusehen."<br />

"Also gut, ich schicke jemand vorbei. Geben Sie mir bitte die Adresse."<br />

Jens gab der Frau die Adresse und fragte: "Wielange wird es etwa dauern?"<br />

"Das kann ich nicht so genau sagen. Vielleicht eine Stunde."<br />

"Ok, ich kümmere mich solange um Frau Wagner."<br />

Jens gab Frau Wagner noch etwas zu trinken, zog sich dann einen Stuhl ans Bett und ergriff ihre<br />

Hand. Als er sie ansprach, drückte sie schwach seine Hand. Also hatte sie ihn gehört und wusste,<br />

dass er da war. Er erzählte ihr, dass bald jemand kommen würde, der sich mit medizinischen Dingen<br />

auskannte.<br />

Die Stunde verstrich langsam. Um die Zeit totzuschlagen, erzählte Jens seiner Patientin alles<br />

Mögliche, was ihm gerade so einfiel. Auch von seiner eigenen Grippe berichtete er ihr. Dass sie<br />

zuhörte, merkte Jens daran, dass sie an passenden Stellen seine Hand drückte. Als es klingelte,<br />

erzählte er gerade von seiner Kindheit, was Frau Wagner zu gefallen schien.<br />

Vor der Tür standen zwei Männer, die vollständig mit Schutzanzügen bekleidet waren. Zuerst wich<br />

Jens zurück, doch dann erholte er sich von seinem Schreck und ließ die Männer eintreten. Er fühlte<br />

sich wie im Film.<br />

"Wo ist die Frau?", tönte es überraschend gut verständlich aus einem der Helme.<br />

"Folgen Sie mir.", antwortete Jens und führte die beiden Männer ins Schlafzimmer.<br />

Sofort begannen sie mit einer Untersuchung, in deren Verlauf sie Frau Wagner einen Schlauch in<br />

den Mund schoben und mit einer Pumpe laut gurgelnd Schleim absaugten, während die arme Frau<br />

sich aufbäumte und würgte. Doch danach konnte sie erheblich freier atmen; also hatte sich die Tortur<br />

wohl gelohnt.


Dann holte einer der Männer eine kleine Maske mit einem dran befestigten daumengrossen<br />

Zylinder aus einer Tasche, hielt die Maske Frau Wagner über die untere Gesichtshälfte und drückte<br />

den Zylinder zusammen, woraufhin es zischte und in der Maske bildete sich dichter Nebel.<br />

"Ein Grippemittel.", erklärte einer der Männer, als er Jens fragenden Blick bemerkte.<br />

"Könnten Sie mir davon auch ein paar geben, falls ich noch mehr Lebende finde?", fragte Jens.<br />

"Normalerweise nicht, denn die sind verschreibungspflichtig. Aber ich werd mal drüber<br />

nachdenken. Berichten Sie mir bitte genau, wie Sie sie v<strong>org</strong>efunden und was Sie unternommen<br />

haben."<br />

Jens berichtete von seinen Beobachtungen und Massnahmen und fragte sich dabei, ob er das<br />

Richtige getan hatte.<br />

Der Mann schien zufrieden: "Im Grossen und Ganzen haben Sie das ganz ordentlich hingekriegt,<br />

so ganz ohne Geräte. Die gute Frau Wagner hat Ihnen wahrscheinlich ihr Leben zu verdanken.".<br />

Angeschlossen an einen Tropf und eine Sauerstoffmaske lag Frau Wagner schließlich auf der<br />

Trage und wurde von den Männern aus dem Zimmer getragen. Jens rief ihr noch eine Abschiedsgruß<br />

zu und wünschte ihr gute Besserung. Nie zuvor war ihm die Tragweite dieses Wunsches bewusster<br />

gewesen, als in diesem Moment.<br />

Hinter den Männern verließ auch Jens die Wohnung und machte sich auf den Heimweg. Bisher<br />

hatte er sich noch gar keine Gedanken darüber gemacht, wie er nachhause kommen sollte. Frau<br />

Wagner wohnte fast zehn Kilometer entfernt von Jens Wohnung und sein Fahrrad stand zuhause, weil<br />

Achim ihn m<strong>org</strong>ens abgeholt hatte. Öffentliche Verkehrsmittel wollte er lieber nicht nutzen und er<br />

wusste auch gar nicht, ob die U-Bahnen fuhren. Busse hatte er seit der Epidemie nicht mehr gesehen.<br />

So blieb ihm gar nichts anderes übrig, als zu Fuß loszumarschieren, denn für ein Taxi war er zu<br />

geizig. Bevor die Straßenlampen ausgingen, würde er bestimmt wieder zuhause sein.<br />

Er war aber erst einen Kilometer weit gegangen, als plötzlich sein Handy klingelte.<br />

"Hallo, hier ist Achim. Wie läuft es denn bei dir? Im neuen Altersheim ist vielleicht ein Platz frei,<br />

haben die auf dem Friedhof gesagt."<br />

"Dahin ist sie jetzt schon unterwegs. Ich bin auf dem Heimweg."<br />

"Doch nicht etwa zu Fuss? Mach langsam, ist nur ein kleiner Umweg, ich hol dich ab."


Kapitel 19<br />

"Ich bin ja echt froh, dass du das mit Frau Wagner übernommen hast.", sagte Achim später bei<br />

einem Bier. "Ich hätte nicht gewusst, was ich tun soll und ich weiss auch nicht, ob ich die Bereitschaft<br />

gehabt hätte, wieder hinzugehen und mich drum zu kümmern, bis der Fall gelöst ist."<br />

"Lust hatte ich auch keine und als ich dort saß und über eine Lösung nachdachte, war ich der<br />

Verzweiflung nahe. Am liebsten wäre ich davongerannt, aber dann hätte ich mir nicht mehr in die<br />

Augen schauen können."<br />

"Liegengelassen hätte ich sie wohl auch nicht, auch wenns mir gestunken hätte, den Sani spielen<br />

zu müssen. Vielleicht hätte ich sie mit raus zum Friedhof genommen, natürlich in Decken gehüllt, statt<br />

im Sack. Dort sind schließlich Ärzte."<br />

"Stimmt. Das wäre wahrscheinlich auch gegangen, wenn es auch makaber wirkt. Vielleicht könnte<br />

man zukünftige Opfer direkt zum Altersheim fahren, dann spart man Wartezeit."<br />

"Klingt brauchbar. Eigentlich ist es ja ne feine Sache, jemanden den Klauen <strong>des</strong> To<strong>des</strong> entrissen<br />

zu haben. Wenn man weiss, was zu tun ist und vor allem, wo man sie hinbringen kann, dann ist das<br />

allemal besser, als sie unter die Erde zu bringen, auch wenns mehr Zeit kostet."<br />

Achim lehnte sich zufrieden grinsend zurück und hob sein Glas. Die Kneipe war Tag für Tag voller<br />

geworden, denn anscheinend hatte es sich herumgesprochen, dass sie offen hatte und dass das<br />

Essen geniessbar war. Viele der Gäste hatte Jens auch schon bei der Entrümplungsfirma oder auf<br />

dem Friedhof gesehen.<br />

Nie hätte er erwartet, dass er sich mit Achim so gut anfreunden würde. Am Anfang hatte er mit<br />

einer äusserst flüchtigen Eintagsbekanntschaft gerechnet, aber das Bergen von Toten schweisste<br />

wohl zusammen.<br />

Das Wochenende hatten sie sich freigekämpft, denn beide mussten mal wieder einkaufen und vor<br />

allem ausruhen. Doch als Jens am Samstagm<strong>org</strong>en bei seinem Lieblingssupermarkt ankam, war<br />

dieser geschlossen. Auch der nächstgelegene Ersatz-Supermarkt hatte zu. Erst beim vierten Versuch<br />

fand Jens geöffnete Türen vor. Dies war der Supermarkt, der besonders ausgeprägt auf moderne<br />

Technik setzte und auschliesslich vollautomatische Kassen benutzte. Hier sah man selten<br />

menschliche Mitarbeiter, wusste sich aber ständig von aufmerksamen Kameras beobachtet.<br />

Die Regale waren zur Hälfte leer, aber Jens fand noch genug, um seine Vorräte aufzustocken.<br />

Sein Einkaufswagen war übervoll, als er zur Kasse ging. Der Kassenautomat scannte innerhalb einer<br />

Sekunde alle Produkte, die im Wagen lagen. Jens musste nur seine Geldkarte in einen Schlitz<br />

stecken, um zu bezahlen. Durch die schnelle Abwicklung gab es hier auch kaum Warteschlangen.<br />

Das Beste war jedoch, dass das lästige Förderband wegfiel, auf das man in anderen Supermärkten<br />

alle Waren aufreihen und anschließend wieder einpacken musste. Dank Fahrradanhänger war es jetzt<br />

auch ein Kinderspiel, den Großeinkauf nach Hause zu transportieren.<br />

Für den Besuch bei Johanna zog Jens sich nach dem Duschen seine besten Klamotten an. Er war<br />

schon gespannt auf Johannas Lebensumstände. Die Sonne schien warm vom Himmel, sodass man<br />

kaum merkte, dass immernoch Frost herrschte. Von einigen Dächern tropften jedoch schon Eiszapfen.<br />

Johanna wohnte in einem Stadtteil, den Jens bisher gar nicht kannte, dabei war er gar nicht soweit<br />

weg von Jens Wohnung, lag aber in einer anderen Richtung als Jens sonstige Aktivitäten.<br />

Ein Stück <strong>des</strong> Weges führte an Johannas Viertel vorbei, aber er konnte nichts davon sehen, weil<br />

die Straße durch eine massive Betonmauer von den Häusern getrennt war. Als er in Johannas Straße<br />

einbiegen wollte, versperrte ihm ein Gittertor den Weg. Hinter dem Tor stand breitbeinig ein kräftig<br />

gebauter Mann, der sein Gewehr demonstrativ vor die Brust hielt.<br />

"Hallo, ich wollte zu Johanna. Johanna Trautmann. Dort bin ich eingeladen."<br />

Mit einer unwirschen Bewegung seines Gewehrs deutete der Mann zur Seite, wo Jens ein<br />

Pförtnerhäuschen entdeckte.<br />

Jens ging zum Pförtner, der "Passierschein" knurrte, als er Jens bemerkte.<br />

"Ich bin bei Johanna Trautmann eingeladen. Von einem Passierschein weiss ich nichts."<br />

"Kein Passierschein? Dann kommen Sie hier nicht rein."


"Aber ich bin doch eingeladen. Von der ganzen Familie. Sie können gerne nachfragen.", Jens<br />

zückte sein Handy und befragte es nach Johannas Nummer. "Hier ist die Telefonnummer.", sagte er<br />

und hielt dem Pförtner sein Handy hin. "Sie können gerne nachfragen."<br />

Der Mann knurrte etwas unverständliches, drückte auf einige Tasten seines Computers, grunzte<br />

und nickte dann unwillig. Anschließend griff er nach einem Hörer, drückte auf eine weitere Taste der<br />

Tastatur und wartete, mit den Fingern auf den Tisch trommelnd.<br />

"Ja, hier ist der Sicherheitsdienst. Entschuldigen Sie die Störung. Erwarten Sie Besuch?", fragte er<br />

in den Hörer.<br />

In Richtung Jens bellte er: "Name?".<br />

"Markert. Jens Markert."<br />

"Ok, können passieren!"<br />

Eine Gittertür schwang auf und Jens schob sein Fahrrad hindurch. Erst zehn Meter hinter dem Tor<br />

stieg er wieder auf und fuhr langsam die Straße entlang. Mit so einer scharfen Bewachung hatte er<br />

nicht gerechnet. Das war ja schlimmer, als in ein militärisches Gelände hineinzukommen. Zwar hatte<br />

er schon von bewachten Wohnanlagen gehört, aber in der Praxis hatte er es noch nie erlebt.<br />

Johanna stand schon in der Tür, als Jens das Haus erreichte.<br />

"Entschuldige bitte, ich hatte völlig vergessen, dass du ja durch die Kontrolle musst.", begrüsste sie<br />

ihn.<br />

"Hallo. War nicht so schlimm, sie haben mich ja durchgelassen."<br />

"Tut mir trotzdem leid. Weisst du, die anderen, die mich besuchen kommen, wohnen alle in der<br />

Nachbarschaft. Hier kannst du dein Fahrrad abstellen."<br />

Jens stellte sein Fahrrad an die angegebene Stelle und folgte Johanna ins Haus. Sie trug Jeans,<br />

die man fast als eng bezeichnen konnte. Ihr flauschiger Pullover verlockte zu Reingreifen. Ein<br />

Mädchen im Grundschulalter sprang herbei, baute sich vor Jens auf, streckte ihm die Hand entgegen:<br />

"Guten Tag Herr Markert. Wie schön, dass Sie uns besuchen.". Es klang eher wie: "He du großer<br />

Junge, willst du mit mir durch den Garten toben?".<br />

"Sehr erfreut junge Dame. Mit wem habe ich die Ehre?", mimte Jens den Galanten, als er dem<br />

Mädchen die Hand reichte.<br />

"Ich heisse Sonja.", sagte sie mit einem unterdrückten Quieken in der Stimme. Strahlend drehte sie<br />

sich um und wies auf ihre Eltern, die inzwischen hinzugekommen waren.<br />

Jens schüttelte die angebotenen Hände und stellte sich artig vor. Johannas Mutter bat ihn<br />

händeringend um Verzeihung für ihre vorlaute Tochter, was er mit einem "Sie war doch sehr<br />

charmant." abwehrte.<br />

Die Mutter war eine Frau, die sich sehr aufrecht hielt. Die vermutlich langen Haare waren straff<br />

nach hinten gezogen und bildeten einen Knoten. Sie trug Rock, Bluse und Strickweste in cremeweiss.<br />

Den Kopf <strong>des</strong> Vaters zierte eine ausgeprägte Halbglatze, sein Anzug wirkte sehr perfekt. Für so eine<br />

junge Tochter wie Sonja schien Herr Trautmann ziemlich alt.<br />

Höflichkeiten austauschend bewegten sich alle in Richtung Esszimmer. Auf dem Tisch thronte<br />

bereits ein verführerisch duftender Apfelkuchen. Eine makellos weisse Tischdecke und das<br />

Goldrandgeschirr ließen die ganze Umgebung hochoffiziell wirken. Aber vielleicht gehörte das bei<br />

Trautmanns auch zum Alltag, denn auch der Rest <strong>des</strong> Zimmers war ausgesprochen gepflegt.<br />

Am Kopfende <strong>des</strong> Tisches wurde Jens ein Platz angeboten, gegenüber von Herrn Trautmann und<br />

schräg neben Johanna. Frau Trautmann eilte mit einer dampfenden Kaffeekanne herbei und schenkte<br />

zuerst ihm, dann Herrn Trautmann und erst danach sich und Johanna ein. Sonja bekam Kakao. Dann<br />

wurde der Kuchen in exakte Stücke geschnitten und in der gleichen Reihenfolge auf die Teller gelegt.<br />

Jens wollte gerade zur Kaffeetasse greifen, doch irgendetwas ließ ihn innehalten. Die Familie wartete<br />

auf etwas, auch wenn er nicht wusste, auf was.<br />

Diese Frage klärte sich jedoch schnell, denn als Frau Trautmann sich hingesetzt hatte, faltete Herr<br />

Trautmann demonstrativ die Hände und der Rest der Familie folgte seinem Beispiel. Jens verstand,<br />

faltete auch die Hände und senkte den Kopf. Durch das Gemeindezentrum waren ihm solche Rituale<br />

inzwischen vertraut. Herr Trautmann sprach ein kurzes Gebet und dann schauten alle auf Jens.


Jetzt sollte er wohl als Gast mit dem Essen beginnen. Jens hob die silberne Kuchengabel,<br />

versicherte sich durch einen kurzen Rundblick, ob dies die erwartete Handlung war und als Johanna<br />

ihm fast unmerklich zunickte, stach er in den Kuchen und beförderte den ersten Bissen in seinen<br />

Mund. Der Kuchen war noch leckerer als er roch. Zart zerging er auf der Zunge und erfüllte den Mund<br />

mit wärmendem Zimtaroma.<br />

Voller Begeisterung konnte Jens ein "Mhm" trotz vollem Mund nicht verhindern. Als er Frau<br />

Trautmann anerkennend zunickte, war das wie ein Startsignal für die anderen, in eifrige<br />

Betriebsamkeit auszubrechen. Frau Trautmann bot Sahne an, Zucker und Kaffeesahne wurden<br />

herumgereicht. Sobald er wieder einen leeren Mund hatte, lobte Jens den Kuchen, was Frau<br />

Trautmann ein zufriedenes Lächeln entlockte.<br />

"Haben Sie gut hergefunden, vom Sicherheitsdienst mal abgesehen?", eröffnete Herr Trautmann<br />

das Gespräch.<br />

"Ja, die Fahrt war völlig problemlos."<br />

"Und Ihre Grippe haben Sie gut überstanden?"<br />

"Ja, ich arbeite seit einigen Tagen wieder."<br />

"Meine Tochter hat erwähnt, dass Sie Informatiker sind, aber zur Zeit in einem anderen Bereich<br />

tätig sind."<br />

"Das ist richtig. Ich habe Informatik studiert."<br />

"Und wie hat Ihnen das gefallen?"<br />

Jens erzählte von seinem Studium und streute auch einige Details ein, denn das unterbrach für<br />

einen Moment das Frage-Antwort-Spiel.<br />

"Sehr schön haben Sie es hier.", sagte er anschließend, um das Thema von sich abzulenken.<br />

"Ja, in der Tat, ich könnte mir auch kein schöneres Zuhause vorstellen.", antwortete Herr<br />

Trautmann. "Johanna hat erzählt, dass Sie sich im Gemeindezentrum kennengelernt haben."<br />

"Stimmt. Ich bin da mehr zufällig reingerutscht und dann hat es mir gefallen."<br />

"Wie schön. Heutzutage ist es selten, dass junge Männer von sich aus den Impuls verspüren,<br />

anderen zu helfen."<br />

"Wenn ich ehrlich bin, hat mich eher der Gedanke geschreckt, dort als hungriger Gast in der<br />

Schlange zu stehen, und dem wollte ich v<strong>org</strong>reifen.", sagte Jens, um seine damalige Intention nicht zu<br />

beschönigen. "Und Johanna ist ja schon länger dabei."<br />

"Ich mache dort mein soziales Jahr, hast du das nicht gewusst?", mischte Johanna sich ein.<br />

"Nein, das war mir bisher entgangen. Ich hatte mich schonmal gefragt, wie du es schaffst, jeden<br />

Tag Zeit dafür zu haben, aber dann habe ich nicht weiter darüber nachgedacht."<br />

"Nach dem Abi wollte ich etwas Sinnvolles tun und anschließend werde ich Betriebswirtschaft<br />

studieren.", erklärte Johanna.<br />

"Die Armenspeisung ist bestimmt eine sinnvolle Aufgabe.", sagte Jens und merkte gar nicht, dass<br />

die Eltern beim Wort "Armenspeisung" zusammenzuckten, denn ihm war mit Schrecken bewusst<br />

geworden, dass Johanna deutlich älter war, als er vermutet hatte. Sie musste min<strong>des</strong>tens achtzehn<br />

sein oder eher sogar schon neunzehn. Er hatte sie auf sechzehn geschätzt, viel zu jung, um auch nur<br />

daran zu denken, mit ihr was anzufangen. Was hatte ihn auf die Idee gebracht, dass sie noch so jung<br />

war? Ob es die Zöpfe waren, die bisher immer ihre Mähne gebändigt hatten? Oder war es ihre<br />

unschuldige Ausstrahlung?<br />

Plötzlich erschien sein ganzer Besuch bei Johanna in einem anderen Licht. Offensichtlich sah die<br />

Familie ihn als potentiellen Freund von Johanna. Aber er hätte die Einladung ja auch kaum ablehnen<br />

können, wo Johanna ihn doch so nett besucht hatte.<br />

Das Gespräch wandte sich den schlechten Zeiten im Allgemeinen und der Grippeepidemie im<br />

Speziellen zu. Herr Trautmann erzählte von dem Glück, das er bezüglich der Grippe gehabt hatte. Um<br />

ein Haar wäre auch ein Mitarbeiter seiner Firma als Delegierter zur WCCC gefahren und das wäre<br />

wahrscheinlich er selbst gewesen. Doch in letzter Minute war die Wahl auf ein<br />

Konkurrenzunternehmen gefallen, was sie alle vor der Grippe bewahrt hatte.


Mit gegenseitigem Händefassen und einem Minigebet wurde die Kaffeetafel schließlich<br />

aufgehoben. Jens durfte sich mit Johanna in ihr Zimmer zurückziehen, während Frau Trautmann und<br />

Sonja in der Küche werkelten. Herr Trautmann verschwand in seinem Arbeitszimmer, nachdem er<br />

Johanna vielsagend zugenickt hatte.<br />

Johannas Zimmer war ein typisches Jungmädchenzimmer, jedoch ohne das viele Rosa, das Jens<br />

sonst mit solchen Zimmern assoziierte. Jens durfte auf dem einzigen Sessel platznehmen und<br />

Johanna setzte sich auf ihr zum Sofa umfunktioniertes Bett. Sie streckte sich zum Nachttisch am<br />

Kopfende <strong>des</strong> Bettes und schaltete dort gefühlvolle Musik ein.<br />

"Der Kuchen war wirklich sehr lecker.", begann Jens das Gespräch mit einem unverfänglichen<br />

Thema.<br />

"Da wird sich meine Mutter freuen. Ihre Kuchen sind ihr ganzer Stolz. Meine Eltern mögen übrigens<br />

gar nicht gern das Wort 'Armenspeisung'. 'Suppenküche' ist hingegen eine akzeptierte Bezeichnung.<br />

Warum viele so allergisch auf das Wort 'Armenspeisung' reagieren, weiss ich auch nicht. Vielleicht<br />

weil es aus dem Mittelalter kommt und nicht als zeitgemäss gilt. Vielleicht will man auch das Wort<br />

'arm' vermeiden."<br />

"Ok, ich versuche, darauf zu achten, es in Zukunft 'Suppenküche' zu nennen. Das mit der 'Armut'<br />

leuchtet ein, denn irgendwie will keiner so richtig wahrhaben, dass es in Deutschland arme Leute gibt.<br />

'Grundsicherungsempfänger' ist ja auch so ein Wortungetüm, um das Wort 'Armut' zu umgehen."<br />

"Mein Vater hat übrigens angedeutet, dass er vielleicht eine Arbeitsstelle für dich hat. Sie suchen<br />

nämlich dringend flexible Computerspezialisten, die sich schnell in die Computeranlagen der zu<br />

betreuenden Firmen einarbeiten können. Sowas kannst du doch, oder?"<br />

"Das kann ich wohl schon. Aber ein Job in der Firma deines Vaters? Der ist doch jetzt in einer<br />

Insolvenzverwaltungsfirma. Tote Firmen ausweiden?"<br />

"Was du jetzt machst, ist doch noch viel schlimmer. Verwaiste Wohnungen entrümpeln."<br />

"Um genau zu sein, ist es zur Zeit noch krasser. Ich transportiere Leichen zum Friedhof."<br />

"Du machst was? Tote transportieren? Aber du bist doch kein Bestattungsunternehmen."<br />

"Das habe ich auch am Anfang gedacht. Aber es gibt soviele Tote, die darauf warten unter die<br />

Erde zu kommen, dass jeder mit anpacken muss."<br />

"Das leuchtet ein, aber die Vorstellung finde ich sehr gruselig. Zu dem Job nochmal: Was hältst du<br />

denn davon? Nach sowas hast du doch eigentlich gesucht, oder?"<br />

"Eigentlich schon."<br />

"Es geht auch nicht nur um das Aufsammeln der Scherben, sondern oft genug gelingt es ja, die<br />

insolvente Firma wieder in Schwung zu bringen. Das ist eigentlich sogar das Hauptanliegen der Firma<br />

meines Vaters."<br />

"Das Angebot ist zweifellos sehr gut, aber es kommt etwas überraschend. Da muss ich erst ein<br />

paar Tage drüber nachdenken."<br />

Man konnte Johanna ansehen, dass sie am liebsten noch weitere Argumente für den Job beim<br />

Insolvenzverwalter aufgeführt hätte, aber sie hielt sich zurück. Statt<strong>des</strong>sen sagte sie: "Wie läuft denn<br />

das mit der Bergung der Toten? Magst du davon erzählen?".<br />

Obwohl Leichents<strong>org</strong>ung kein erfreuliches Thema war, erzählte Jens davon, wie das so lief in den<br />

Wohnungen und auf dem neuen Friedhof. Auch von Frau Wagner erzählte er, was Johanna viele<br />

Laute <strong>des</strong> Erstaunens entlockte. Es sah hinreissend aus, wie sie ihn dabei aus Vollmondaugen ansah.<br />

Danach spielte ein Lied, das Johanna anscheinend besonders mochte, denn sie wies ihn extra<br />

darauf hin. Jens nutzte die Gelegenheit, um über das Jobangebot nachzudenken. Eigentlich war es ja<br />

genau das, was er jahrelang vergeblich gesucht hatte. Es war genau so, wie viele immer klagten: nur<br />

mit Vitamin-B, guten Beziehungen, bekam man heutzutage noch anspruchsvolle Jobs. Aber in einer<br />

Insolvenzverwaltungsfirma? Das war aber nicht das eigentliche Problem, denn wie Johanna schon<br />

festgestellt hatte, scheute er sich nichtmal davor, zu entrümpeln und sogar Leichen zu ents<strong>org</strong>en.<br />

Er hatte das diffuse Gefühl, dass es um mehr ging, als um einen Job. Was wurde ihm hier<br />

eigentlich angeboten? Johanna war im heiratsfähigen Alter, was ihm erst seit kurzem bewusst war.<br />

Herr Trautmann war schon relativ alt und hatte der Gefahr seines To<strong>des</strong> bestimmt mit Schrecken ins<br />

Auge blicken müssen, als ihm klar wurde, wie knapp er davongekommen war, sich mit der Grippe


anzustecken. Also brauchte er einen Ersatzernährer für den Fall, dass er als Familienernährer<br />

ausfallen würde. Und als Sahnehäubchen wurde Jens eine entzückende junge Frau angeboten, die<br />

nicht nur hübsch, sondern auch intelligent, charmant und liebevoll war. Sogar schweigen konnte man<br />

mit ihr zusammen, was sie ihm gerade bewies.<br />

Aber in dieser Familie würde er sich wohl kaum wohlfühlen können. Es war nicht nur diese<br />

begeisterte Ausübung religiöser Rituale, sondern noch mehr die Steifheit eines Patrizierhaushalts, die<br />

ihn abschreckten. Er kam zwar selbst aus einer Akademikerfamilie, und hatte auch gelernt, mit Messer<br />

und Gabel zu essen, aber bei ihnen zuhause, war es viel lockerer zugegangen. Eigentlich war es sehr<br />

schön mit seinen Eltern gewesen.<br />

Ein Schwung Trauer drohte ihn gerade zu überspülen, als das Lied wechselte und Johanna fragte:<br />

"Hat dir das Lied gefallen?".<br />

"Ja, hat es. Es war sehr - gefühlvoll."<br />

Johanna stand auf und ging zum Fenster. "Ich mag gefühlvolle Musik.", sagte sie. "Schau mal da<br />

draussen, hinter den Bäumen, siehst du, da steht das Gartenhaus, wie wir es nennen, aber es ist ein<br />

vollständiges Haus."<br />

Jens stand auf und folgte ihrem zeigenden Finger. Das Haus, von dem sie sprach, stand hinter<br />

einer Gruppe Apfelbäume, durch deren winterkahle Äste man Sprossenfenster mit Fensterläden und<br />

ein Reeddach erkennen konnte. Die rote Farbe der Wände deutete darauf hin, dass das Haus<br />

verklinkert war. Ein romantischer Häusertraum, Realität geworden.<br />

"Wenn ich später mehr Platz brauche, kann ich mir das ausbauen lassen."<br />

"Nicht schlecht. Ich bin beeindruckt.", sagte Jens. In ihm rotierte es. Konnte das alles wahr sein,<br />

oder hatte er das Ganze missverstanden? Er musste hier raus, um einen klaren Kopf zu bekommen.<br />

"Du siehst nachdenklich aus. Denkst du über das Angebot von meinem Vater nach?"<br />

"Ja, das tu ich. Bei meinen momentanen Jobs könnte ich auch jederzeit wieder aussteigen, aber<br />

bei der Art von Arbeitsplatz, die dein Vater anbietet, sollte man sich längerfristig verpflichten und das<br />

will gut überlegt sein. Es kann eine Weile dauern, bis ich fertig überlegt habe, denn ich habe zur Zeit<br />

auch sehr viel zu tun."<br />

"Das sehe ich ein."<br />

"Ich sollte mich allmählich auf den Heimweg machen, denn ich fahre lieber bei Tageslicht als im<br />

Dunkeln."<br />

"Stimmt. Es wird ja bald dunkel. Ich bringe dich noch nach unten."<br />

Jens verabschiedete sich höflich von der restlichen Familie und dann stand er mit Johanna im<br />

Windfang und wusste nicht auf welche Weise er sich angemessen von Johanna verabschieden<br />

konnte, ohne ungewollt Dinge zu versprechen, die er vielleicht nicht halten konnte, aber auch ohne<br />

unhöflich kühl zu wirken.<br />

Nach einer unentschlossenen Sekunde ergriff Johanna die Initiative und drückte ihn kurz<br />

umarmend an sich, wie es auch im Gemeindezentrum bei manchen üblich war.<br />

Ihm war fast schwindelig, als er sein Fahrrad aus dem Hauseingang schob und aufstieg. Doch die<br />

klirrend kalte Luft fuhr ihm belebend durch die Glieder und er gab sich erstmal dem Spüren <strong>des</strong><br />

Fahrtwin<strong>des</strong> hin.<br />

Doch das Angebot der Trautmanns ließ ihn einfach nicht in Ruhe. Hatte er das richtig verstanden?<br />

Obwohl es nicht klar ausgesprochen worden war, lag die Richtung, in die das Angebot zielte, auf der<br />

Hand. Auch die Art, wie Johanna ihn angesehen hatte, als sie über das Nachdenken sprachen, war<br />

eindeutig gewesen.<br />

Und dann sollte er die Dynastie fortführen und brave, betende Erben zeugen?<br />

Noch beim Einschlafen gingen ihm Bilder durch den Kopf, wie er im Anzug m<strong>org</strong>ens zur Arbeit<br />

ging, immer im strengen Blickwinkel <strong>des</strong> Schwiegervaters. Zuhause mischte sich womöglich Frau<br />

Trautmann in die angemessene Erziehung der kleinen Erben ein und erstickte jede kleinste<br />

Unbefangenheit im Kern.<br />

Im Traum irrte er durch das umfangreich renovierte und erweiterte Gartenhaus und suchte sein<br />

Fahrrad.


Kapitel 20<br />

Den ganzen Sonntag über verfolgten Jens die Gedanken über Johanna und das Angebot ihres<br />

Vaters. Auch das Fernsehprogramm konnte ihn nicht richtig ablenken. Nur die Tatsache, dass bald<br />

Weihnachten war, prägte sich ihm ein, denn er war sehr überrascht, als es ihm klar wurde. Vor lauter<br />

Krise und Epidemie hatte er das Fortschreiten <strong>des</strong> Jahres völlig übersehen. Im Fernsehstudio<br />

brannten demonstrativ zwei Kerzen, also musste heute der zweite Advent sein. Dunkel erinnerte er<br />

sich, dass bei den Trautmanns eine Kerze in einem Kranz gebrannt hatte, aber das war ihm bei all<br />

den anderen Eindrücken nicht weiter aufgefallen.<br />

Die Nachrichten waren jedoch wenig weihnachtlich, denn noch immer wütete die Grippe weltweit<br />

und forderte Millionen von Menschenleben. Das war jedoch keine Neuigkeit und daher zog Johanna in<br />

ihrem Kuschelpulli durch seinen Kopf. Die Tatsache, dass sie volljährig war, bewirkte, dass Jens sich<br />

fühlte, als hätte er sie neu kennengelernt. Sein inneres Anstandsmodul, das ihm verbot, sich an zu<br />

junge Mädchen ranzumachen, funktionierte wohl ausgesprochen gut. Aber dass sie ihm jetzt gleich als<br />

Ehefrau angeboten wurde, ließ ihn auch zurückschrecken. Eines war auf jeden Fall klar: Für ein nettes<br />

unverbindliches Abenteuer war sie nicht zu haben. Bisher war er noch nie auf die Idee gekommen zu<br />

heiraten. Seine Freundinnen hatten ihn damit auch glücklicherweise verschont. Johanna hatte zwar<br />

auch nicht gesagt "heirate mich", aber das Thema hing eindeutig in der Luft.<br />

Johanna war aber eigentlich gar nicht das Problem, denn obwohl er sie nicht gleich heiraten wollte,<br />

käme sie als feste Freundin durchaus in Frage. Das Problem war eher ihre Familie, denn obwohl alle<br />

nett gewesen waren, fand er die Steifheit, die im Hause Trautmann herrschte unerträglich. Ob sie im<br />

Alltag vielleicht lockerer wären? Dazu müsste er sie besser kennenlernen, aber ein erweitertes<br />

Kennenlernen käme einer Annahme <strong>des</strong> Angebotes ziemlich nahe.<br />

Und der Job? Eigentlich wäre der angebotene Job auf alle Fälle besser als Leichen einsammeln.<br />

Und auch Entrümpeln oder Baguettes aufbacken waren nicht seine Traumbeschäftigungen. Dass es<br />

um eine Insolvenzverwaltungsfirma ging, war natürlich nicht so angenehm, aber bestimmt war das zur<br />

Zeit eine der sichersten Branchen. Und wie Johanna schon gesagt hatte, ging es ja möglicherweise<br />

um den Wiederaufbau von Firmen, die gestrauchelt waren. Vor drei Jahren hätte er so einen Job<br />

bestimmt ohne Zögern angenommen und zur Feier <strong>des</strong> Tages einen Champagner bes<strong>org</strong>t. Aber er<br />

konnte wohl schlecht den Job annehmen und die Familie Trautmann dann links liegenlassen.<br />

Wahrscheinlich wäre er auch gar kein geeigneter Schwiegersohn für das Ehepaar Trautmann,<br />

denn bestimmt könnte er nicht deren Erwartungen in puncto Angepasstheit, steifes Benehmen und<br />

Moral erfüllen. Er sah sich schon mit Sonja durch den Garten jagen und beim ersten Wonnequieker<br />

der Kleinen würde die Mutter auf der Matte stehen und streng dreinblicken ob solch ungebührlichen<br />

Verhaltens.<br />

Einer Entscheidung kam Jens trotz aller Überlegungen nicht näher, und so war er ganz froh, als<br />

Achim ihn am nächsten M<strong>org</strong>en zur Arbeit abholte. Das Leicheneinsammeln erschien ihm plötzlich wie<br />

eine vertraute, einfache Welt ohne grosse Entscheidungskonflikte.<br />

Auf den Straßen waren schlagartig wieder viel mehr Fussgänger unterwegs als in den letzten<br />

Tagen. Die meisten trugen einen Mundschutz oder hatten ein Stück Stoff um ihre untere<br />

Gesichtshälfte gewickelt. Vor einem Supermarkt, an dem sie vorbeifuhren, hatte sich eine lange<br />

Schlange gebildet. An einem Stand davor wurden Schutzmasken verkauft, die anscheinend jeder<br />

tragen musste, der den Laden betreten wollte.<br />

"Wie sie alle wieder aus ihren Löchern kriechen.", stellte Achim fest.<br />

"Sie brauchen wohl ganz dringend wieder Nahrungsnachschub. Und bestimmt sind inzwischen<br />

auch schon wieder einige gesund, so wie wir."<br />

"Und die, die es noch nicht erwischt hat, brauchen ja auch was zu essen. Ob das wohl gutgeht?"<br />

"Immerhin tragen die meisten Mundschutz. Aber ich denke auch, wenn die Leute jetzt wieder<br />

mutiger werden, gibt es bestimmt noch eine zweite Ansteckungswelle. Hoffen wir dass es nicht so<br />

schlimm wird."<br />

"Dein Wort in Gottes Gehörgang."<br />

Im Laufe <strong>des</strong> Tages kamen sie in ein Haus, in dem sie auch schon letzte Woche jemanden<br />

abgeholt hatten. Als sie an der betreffenden Tür vorbeigingen, sahen sie, dass ihr Siegel<br />

aufgebrochen und die Wohnungstür angelehnt war. Voller Argwohn öffneten sie die Tür vollständig


und warfen einen Blick ins Innere. Dort war alles durcheinandergeworfen und dort, wo in der<br />

Vorwoche noch teure Antiquitäten gestanden hatten, gähnte Leere. In den einzelnen Zimern sah es<br />

ähnlich aus.<br />

"Plünderer?", fragte Jens in den Raum.<br />

Achim nickte grimmig, griff nach seinem Handy und rief bei Herrn Lorenz an. Nach kurzen<br />

Gespräch legte er auf und wandte sich an Jens.<br />

"Der Lorenz schickt uns jetzt ein Team hinterher, das schon mal die wertvollsten Gegenstände<br />

sichern soll. Die will er dann für den obligatorischen Monat in der neuen Halle lagern, falls sich Erben<br />

melden. Das kann noch lustig werden. Immer wenn wir in einem Haus fertig sind, sollen wir ihn<br />

anrufen, damit er jemanden mobilisiert, hinter uns aufzuräumen. Ein anderes der Leichenteams hat<br />

auch schon Plünderungen gemeldet."<br />

"Wir sind aber viel schneller mit dem Leicheneinpacken, als der schnellste Entrümpler."<br />

"Ja klar, darum wird er ja auch mehrere Teams hinter uns her schicken. Wie gut, dass inzwischen<br />

wieder mehr Mitarbeiter gesund sind. Letzte Woche hätte es noch das totale Chaos gegeben."<br />

Als sie den Toten verstaut hatten, kam schon der Wagen der Kollegen und Achim übergab den<br />

Schlüssel und das Siegel für die Wohnung. Achim rief nochmal bei Herr Lorenz an und meldete, dass<br />

sie die nächste Wohnung in Angriff nehmen würden. Dieses Procedere wiederholte sich Wohnung für<br />

Wohnung, doch beim fünften Mal hatte Herr Lorenz kein Team mehr, das er ihnen hinterherschicken<br />

konnte. Also mussten sie warten, bis das erste Team soweit war, denn sie mussten ja Schlüssel und<br />

Siegel übergeben.<br />

In der Wartezeit sammelten sie schon mal die Dokumente aus den Schubladen im Schreibtisch<br />

und trugen elektrische Geräte und ein paar edle Möbel nach unten, um die Wartezeit abzukürzen. Als<br />

die Kollegen ankamen, mussten sie das Bergungsgut nur aufladen und konnten gleich mit zur<br />

nächsten Wohnung fahren.<br />

Den ganzen Tag über ging es so weiter. Vier Wohnungen wurden von den anderen Teams geleert,<br />

die fünfte räumten sie selber aus.<br />

In einem der Häuser kamen ihnen zwei junge Männer entgegen, die mit Möbeln beladen die<br />

Treppe runtergingen. Ob das Kollegen einer anderen Entrümplungsfirma waren? Zwei Stockwerke<br />

höher sah Jens jedoch an einer offenstehenden Wohnungstür ein zerrissenes Siegel. Jens und Achim<br />

wechselten einen kurzen Blick, machten dann kehrt und sprangen die Treppe hinunter.<br />

Sie erwischten die beiden Plünderer gerade noch im Erdgeschoss, wo sie eilig der Haustür<br />

zustrebten. Einen der beiden packte Achim am Kragen. Der ließ sein Möbelstück fallen und wollte sich<br />

gerade umdrehen, als Achim sein Handgelenk ergriff und ihm schmerzhaft den Arm umdrehte.<br />

In der Zwischenzeit hatte der andere Plünderer, der vorausging, die Situation erkannt, warf sein<br />

Möbelstück auch auf den Boden und trat die Flucht an.<br />

Jens hechtete an Achim und <strong>des</strong>sen Gegner vorbei und nahm die Verfolgung auf. Der Plünderer<br />

war schnell. Schon war er auf der Straße und wandte sich nach links. Jens musste noch dem<br />

Möbelstück ausweichen, bevor auch er die Straße erreichte und den Flüchtenden in etwa zehn Meter<br />

Entfernung rennen sah. So schnell er konnte, rannte er hinterher.<br />

Er war nur noch zwei Meter hinter dem Plünderer, als dieser plötzlich zwischen zwei parkenden<br />

Autos durchflitzte und zur anderen Straßenseite floh. Dadurch verlor Jens wieder ein paar Meter und<br />

strengte sich an zu beschleunigen. Der Andere hatte wohl erkannt, dass er Jens auf gerader Strecke<br />

unterlegen war und nutzte gleich die nächste Abbiegung, um einen weiteren Haken zu schlagen.<br />

Doch Jens kam ihm wieder näher. Schritt für Schritt holte er einige Zentimeter auf und zwei<br />

Häuserblocks weiter war er bis auf einen Meter an den Anderen herangekommen.<br />

Noch etwas schneller - ja - fast - noch einen grossen Schritt - und zugreifen.<br />

Der Andere hatte Jens Kommen jedoch gespürt und sprang im letzten Moment zur Seite, sodass<br />

Jens ins Leere griff. Er hechtete ihm hinterher, erwischte die Beine <strong>des</strong> Anderen und brachte ihn zu<br />

Fall.<br />

Der Gegner rappelte sich schnell wieder auf, doch Jens hielt weiter seine Beine umklammert.<br />

Einen Moment lang sah er die Faust <strong>des</strong> Gegners auf sich zukommen, dann sah er nur noch Sterne<br />

und sein rechtes Auge schien zu explodieren. Ein Schlag nach dem anderen trommelte auf sein<br />

Gesicht ein, doch Jens ließ den Anderen nicht los. Ganz im Gegenteil, denn er umfasste die Beine


<strong>des</strong> Anderen noch fester und zerrte daran, bis sein Gegner das Gleichgewicht verlor und auf dem<br />

Boden landete.<br />

Er warf sich auf den Plünderer, damit dieser nicht wieder aufstehen konnte. Verknäuelt wälzten<br />

sich beide auf dem Boden, bis der Gegner wieder zu einen Schlag ausholen wollte. Doch diesmal<br />

hatte Jens eine freie Hand, also ergriff er den Arm <strong>des</strong> Gegner und es gelang ihm, den Arm so zu<br />

verdrehen, dass der Plünderer lammfromm wurde. Er blökte wie ein Lamm, das Angst vor der<br />

Schlachtbank hat, als Jens ihn zum Aufstehen zwang und in Richtung Tatort schob. Der Plünderer<br />

wehrte sich so gut er konnte, doch sein Arm tat ihm offensichtlich so weh, dass er auf grössere<br />

Befreiungsversuche verzichtete.<br />

Für den Weg, den sie vorher in Sekunden genommen hatten, brauchten sie auf dem Rückweg<br />

mehrere Minuten, bis sie endlich bei Achim und seinem Delinquenten angekommen waren. Diesen<br />

hatte Achim inzwischen fachgerecht verschnürt und im Lieferwagen angebunden.<br />

"Haste ihn doch noch erwischt. Ohje, wie siehst du denn aus? Der hat dirs aber nicht leicht<br />

gemacht.", rief Achim sobald er Jens mit seinem Opfer sah.<br />

Während Achim Jens beim Fesseln half, berichtete er, dass er schon die Polizei angerufen hatte.<br />

Die hatten ihm jedoch gesagt, dass sie wegen Überlastung niemanden schicken konnten, um die<br />

Verbrecher abzuholen. Also würden sie sie selbst zum Polizeirevier bringen müssen.<br />

Achim erklärte seinen Schlachtplan: "Wir warten jetzt noch, bis der Entrümplungstrupp für diese<br />

Wohnung kommt, dann holen wir schnell noch die Leiche, für die wir hergekommen sind und fahren<br />

dann zur Polizei."<br />

Die beiden Plünderer schienen sich im Innern <strong>des</strong> Lieferwagens neben all den Leichen ziemlich<br />

unwohl zu fühlen. Doch das geschah ihnen ganz recht, fand Jens. Er bewachte die Verbrecher,<br />

während Achim nach dem Auto der beiden suchte. Der gesuchte Lieferwagen stand nur wenige Meter<br />

hinter ihrem eigenen Wagen und enthielt massenhaft teure Kleinmöbel und Elektrogeräte.<br />

Nachdem die staunenden Kollegen gekommen und der Tote geb<strong>org</strong>en war, machten Achim und<br />

Jens sich auf den Weg zur Polizei. Jens blieb hinten bei den Gefangenen, um zu verhindern, dass sie<br />

irgendetwas anstellten. Die Arme gefesselt und die Füsse mit einer schulterbreiten Schnur verbunden,<br />

schoben Jens und Achim die widerstrebenden Verbrecher schließlich in das Polizeirevier.<br />

Dort wurden sie von einem älteren Beamten und einer jüngeren Assistentin empfangen. Alle<br />

anderen Polizisten <strong>des</strong> Reviers waren anscheinend unterwegs. Vielleicht auch auf Plündererjagd.<br />

"Die haben sie aber gründlich verschnürt.", sagte der Beamte schmunzelnd. "Sind Sie die<br />

Entrümpler, die vorhin angerufen haben."<br />

"Ja, wir wollen Ihnen diese Plünderer abliefern.", sagte Achim nicht ohne Stolz.<br />

"Ok, dann bringen wir die Gefangegen erstmal in ein Verlies.", zwinkerte der Beamte ihnen zu.<br />

Der Plünderer, der sich mit Jens geschlagen hatte, riss die Augen auf und wurde blass im Gesicht.<br />

Anscheinend hatte er das Zwinkern nicht gesehen. Das "Verlies" erwies sich jedoch als normale<br />

Gefängniszelle und die beiden machten nicht den Eindruck, als wären sie das erste Mal mit so einer<br />

Situation konfrontiert. Nachdem ihnen die Fesseln abgenommen worden waren, rieben sie ihre<br />

schmerzenden Handgelenke und starrten Achim und Jens finster an. Anschließend mussten Achim<br />

und Jens die Ereignisse zu Protokoll geben. Jens hatte das Glück von der freundlichen Polizistin<br />

befragt zu werden.<br />

Vor der Befragung bot sie ihm noch einen Gang zum Waschbecken an, um sein lädiertes Gesicht<br />

reinigen. Ein Blick in den Spiegel bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen. Vor dem Waschen sah<br />

er aus, wie in einem Horrorfilm und nach dem Waschen fand er immernoch vier Stellen, aus denen<br />

Blut sickerte.<br />

Die Polizistin tupfte ihm Jod auf die Wunden und verpflasterte ihn fachgerecht. Bei einem<br />

belebenden Kaffee berichtete Jens ihr schließlich, was geschehen war.<br />

Als er von der Flucht <strong>des</strong> einen Plünderers und der Verfolgungsjagd erzählte, nickte sie<br />

anerkennend und sagte: "Der Knabe ist uns wohlbekannt. Meistens kommt er aber davon, weil er so<br />

wieselflink ist. Sie müssen ordentlich schnell sein, wenn Sie ihn erwischt haben.".<br />

Jens freute sich sehr über das Lob, denn immerhin kam es von einem Profi. Bis das ganze<br />

Protokoll getippt, gelesen und unterschrieben war, war ein gute Stunde vergangen. Durch die Fenster<br />

konnte man sehen, dass es schon dämmerte.


"Auf, wir machen noch eine Runde, um unsere Entrümplerteams noch einmal mit Arbeit zu<br />

vers<strong>org</strong>en und dann machen wir Schluss für heute. Der Friedhof hat auch nicht endlos geöffnet.",<br />

schlug Achim vor.<br />

"Aber wir haben erst ganze wenig Tote geb<strong>org</strong>en. Eigentlich sollten wir ja doppelt soviel schaffen."<br />

"Tja, Pech. Die Plünderer sind uns halt ernsthaft in die Quere gekommen. Was solls? Die Toten<br />

werden schon brav bis m<strong>org</strong>en warten."<br />

"Da hast du auch wieder recht. Also auf in den Kampf."<br />

Als sie endlich beim Friedhof ankamen, war dieser von Flutlichtern erleuchtet und für die späte<br />

Stunde herrschte reger Betrieb. Alle, die sie trafen, schimpften über Plünderer. Die Plünderungen<br />

waren wie eine neue Seuche über die Stadt hereingebrochen. Viele, die erfuhren, woher Jens seine<br />

deutlich sichtbaren Blessuren hatte, schlugen ihm anerkennend auf die Schultern. Dabei hatte Achim<br />

seinen Kanditaten doch viel fachgerechter festgenommen, dachte sich Jens. Aber Achim konnte man<br />

seinen Kampf eben nicht so deutlich ansehen.


Kapitel 21<br />

Am nächsten M<strong>org</strong>en konnte Jens die Augen kaum öffnen. Nur ein schmaler Schlitz war bereit<br />

aufzugehen und der auch nur mit Mühe. Er ging, mehr tastend als sehend, ins Bad und sah einen<br />

völlig Fremden im Spiegel. Die Augen waren so dick zugeschwollen, dass er aussah wie ein Chinese<br />

und seine Gesichtsfarbe schwankte zwischen lila und blau mit einigen rosa Inseln. Mit kaltem Wasser<br />

versuchte er seine Augen zu kühlen, doch das brachte in der kurzen Zeit kaum etwas.<br />

Hatte er nicht noch einen Kühlakku im Kühlschrank? Er ging in die Küche und tatsächlich fand er<br />

im Eisfach einen Kühlakku, der schon lange auf seinen Einsatz wartete, was man an der dicken<br />

Eisschicht drumherum deutlich erkennen konnte. Im letzten Sommer hatte Jens leider kaum<br />

Gelegenheit für Picknicks gehabt. Hauptsache der Akku war kalt und blieb auch eine Weile so. Jens<br />

hielt sich den Akku abwechselnd an die Augen während er sich mehr oder weniger einhändig anzog.<br />

Kaum war er fertig angezogen, klingelte es auch schon und Achim stand in der Tür. Er konnte sich<br />

ein Grinsen nicht verkneifen, als er Jens ins Gesicht schaute.<br />

Inzwischen war Jens gar nicht mehr so überzeugt davon, dass es eine gute Idee gewesen war,<br />

den Plünderer zu verfolgen. In der späteren Anerkennung hatte er sich zwar gesonnt, aber insgesamt<br />

hatten sie viel Zeit verloren und jetzt konnte er nur mit Mühe seine Augen offenhalten. Damit<br />

wenigstens das bald wieder besser ging, nahm er den Kühlakku mit zur Arbeit und drückte ihn<br />

während der Fahrt immer wieder auf seine Augen.<br />

Herr Lorenz hatte zwei weitere Entrümplungsteams <strong>org</strong>anisiert, sodass sie selber keine<br />

Entrümplungsrunden mehr einlegen mussten. Ohne Plünderer hätten sie mit sieben Teams Leichen<br />

bergen können, dann wären in weniger als einem Tag soviele Tote vers<strong>org</strong>t, wie Jens und Achim in<br />

einer Woche schaffen konnten. Es schien grotesk, wieviel Schaden ein paar Plünderer anrichten<br />

konnten. Was wäre geschehen, wenn Frau Wagner eine Woche länger hätte warten müssen?<br />

Bis zum Abend hatten sie immerhin wieder die gewünschte Anzahl Tote geb<strong>org</strong>en und zum<br />

Friedhof überführt. Auch an den folgenden Tagen kamen sie gut voran.<br />

Am Samstag war Jens heilfroh, frei zu haben und sich ausruhen zu dürfen. Der Leichenjob war<br />

nicht nur körperlich anstrengend, sondern zerrte auch am Nervenkostüm, auch wenn die täglichen<br />

Beerdigungsrituale tatsächlich halfen, die Arbeit auszuhalten.<br />

Jens hatte es sich gerade auf dem Sofa bequem gemacht und dämmerte einem Nickerchen<br />

entgegen, als das Telefon klingelte.<br />

"Hallo, hier ist Johanna. Wäre es ok, wenn ich vorbeikomme?"<br />

"Hallo Johanna. Zur Zeit bin ich eigentlich nicht anguckbar für junge Damen."<br />

"Oh, was ist dir denn passiert?"<br />

"Nix Besonders, ich hab mich nur mit einem Plünderer geprügelt, und der hat mein Gesicht grün<br />

und blau geschlagen."<br />

"Oh je, du Ärmster. Das stört mich gar nicht, wenn du optisch nicht auf der Höhe bist. Ich hab eine<br />

gute Heparinsalbe da, die hilft beim abschwellen. Bis gleich?"<br />

"Ok dann, bis gleich."<br />

Jens sprang schnell unter die Dusche und räumte anschließend ein bisschen auf. Er fühlte sich<br />

innerlich gar nicht bereit für einen Besuch von Johanna. Was sollte er ihr sagen? Denn von einer<br />

Entscheidung war er meilenweit entfernt. Und wie er aussah? Das konnte man doch keiner hübschen<br />

jungen Frau zumuten.<br />

Schon nach kurzer Zeit klingelte es und Johanna stand pizzabeladen in der Tür. Die Pizza duftete<br />

so lecker und die junge Frau lächelte so erfrischend, dass Jens seine Zweifel beiseite schob und<br />

Johanna herzlich begrüsste.<br />

Während sie die Pizza aßen, unterhielten sie sich über unverfängliche Themen, wie die Ereignisse<br />

der Woche. Nachdem der erste Hunger gestillt war, zog Johanna eine Tube aus ihrer voluminösen<br />

Handtasche. Die Tube enthielt ein durchsichtiges Gel, das Johanna mit zarten Strichen auf seinem<br />

geschwollenen Gesicht verteilte. Das Gel kühlte sofort, was sich sehr angenehm anfühlte.<br />

"Der Plünderer hat ja ordentlich auf dich eingedroschen. Hast du ihn erwischt?"


"Ja, wenigstens das. Ich hab ihn halt mit beiden Armen festgehalten, darum hatte er freie Hand für<br />

die Schläge. Aber jetzt sitzt er."<br />

"Sehr gut. Ich habe das mit den Plünderern im Fersehen gesehen. Das ist ja echt schrecklich, dass<br />

die das ganze Unheil noch verschlimmern. Als wären die Zustände nicht schon schlimm genug."<br />

"Ja wirklich. Die Menschheit ist schon erschreckend ungezähmt."<br />

"Schau mal, hier hab ich was für dich gemacht."<br />

Johanna hatte die Tube wieder verstaut und zog etwas Dunkelblaues aus ihrer Tasche. Das<br />

flauschige Knäuel entfaltete sich zu einem Pullover, den sie voller Stolz hochhielt, sodass er ihn sehen<br />

konnte. Dann hielt sie ihn ihm vor die Brust und seufzte: "Passt, wahrscheinlich. Probier doch mal<br />

an.".<br />

Jens wusste gar nicht so recht, wie ihm geschah, aber er folgte widerstandslos ihren Worten und<br />

schlüpfte in den Pullover, der wie angegossen passte. Die Wolle war besonders weich, obwohl sie gar<br />

keine langen Haare hatte, sondern eher sachlich aussah. Jens strich sich über Arme und Bauch und<br />

konnte kaum genug kriegen von dem weichen Kuschelgefühl.<br />

"Steh mal auf.", wies Johanna ihn an.<br />

Folgsam stand er auf und zupfte an dem Pullover, bis er perfekt saß. Johanna nickte sehr<br />

zufrieden. Jens betrachtete die Details <strong>des</strong> Pullis. Er war mit einem Zopfmuster gestrickt und hatte<br />

einen offenen Kragen, <strong>des</strong>sen Enden locker auf die Schultern fielen. Obwohl er so weich war, wirkte<br />

der Pulli sportlich und männlich. So einen schönen Pulli hatte Jens noch nie besessen. Was hatte sie<br />

gesagt? Sie hatte ihn gemacht? Das war anscheinend kein abgelegter Pullover von ihrem Vater, dazu<br />

fühlte er sich auch zu neu an.<br />

"Du hast ihn selbst gemacht?"<br />

"Ja, ich habe ihn gestrickt?"<br />

"Für mich?"<br />

"Extra für dich. Darum passt er ja auch so gut."<br />

"Aber das ist doch irre viel Arbeit."<br />

"Eine Weile sitzt man da schon dran, aber in den letzten Wochen hatte ich auch viel Zeit."<br />

"Ich bin sprachlos. Aber warum denn für mich und nicht für dich oder deine Familie?"<br />

"Uns habe ich alle schon bestrickt und ich hatte Langeweile. Und es hat mir Freude bereitet, dir<br />

etwas zu stricken", dabei stahl sich ein Glitzern in ihre Augen.<br />

Jens war ganz verlegen und wusste nicht so recht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Noch<br />

nie hatte jemand ihm einen Pulli gestrickt. Er hobe die Arme und drehte sich im Kreis, als ob er dann<br />

den Pullover von allen Seiten betrachten könne. Dann ging er auf Johanna zu und drückte sie an sich,<br />

"Vielen Dank" sagend.<br />

Er setzte sich wieder und studierte das Zopfmuster, das den Ärmel entlang lief.<br />

"Sowas ist doch bestimmt sehr kompliziert zu stricken."<br />

"Für Anfänger ist das nichts, aber ich kann es inzwischen fast mit geschlossenen Augen."<br />

Bestimmt wäre Johanna eine sehr geeignete Ehefrau, so geschickt, wie sie war. Jens fand es<br />

äußerst merkwürdig, bei einer Frau, die er noch nicht einmal geküsste hatte, über ihre Qualitäten als<br />

Ehefrau nachzudenken. Aber er wollte sie nicht küssen, solange wahrscheinlich war, dass er ihr<br />

Angebot ablehnen würde, denn das wäre gemein gewesen.<br />

"Wahrscheinlich bist du noch am Nachdenken, was das Jobangebot meines Vaters angeht.", traf<br />

Johanna fast genau das Thema, über das Jens sich gerade Gedanken machte.<br />

"Ja, das ist richtig. Nachgedacht habe ich schon viel, aber ich bin einer Entscheidung noch keinen<br />

Millimeter näher gekommen."<br />

"Wo liegt denn das Hauptproblem? Weil meine Eltern so spießig sind?"<br />

"Spießig nicht unbedingt. Damit verbinde ich kleinbürgerlichen Geist. Vielleicht eher steif oder<br />

wohlerzogen."


Johanna kicherte. "Wohlerzogen klingt lustig in dem Zusammenhang. Du bist doch eigentlich auch<br />

sehr wohlerzogen."<br />

"Na ja, vielleicht benehme ich mich nicht grob daneben. Aber würde sich dein Vater von einem<br />

Plünderer grün und blau schlagen lassen?"<br />

"In jungen Jahren wahrscheinlich schon, wenn es um eine gerechte Sache gegangen wäre. Und<br />

ein bisschen davon steckt bestimmt noch in ihm, denn kürzlich hat er sich mit seinem Chef angelegt,<br />

weil dieser eine Firma verramschen wollte und mein Vater die Firma für sanierungsfähig hielt."<br />

"Hm."<br />

"Mir geht das steife Getue auch oft auf den Wecker. Bestimmt steckt davon auch ein guter Teil in<br />

mir, weil ich damit aufgewachsen bin. Ich wünsche mir aber oft, dass es lockerer bei uns wäre. Darum<br />

freue ich mich auch schon darauf, eines Tages das Gartenhaus zu beziehen."<br />

"Bei uns war es lockerer.", entfuhr es Jens und schon in dem Moment, als er es ausgesprochen<br />

hatte, fand er die Bemerkung völlig unpassend.<br />

Doch Johanna schien sich nicht daran zu stören: "Das kann ich mir gut vorstellen. Ich glaube, ich<br />

hätte deine Eltern gerne kennengelernt."<br />

Jens wusste nichts darauf zu sagen. Statt<strong>des</strong>sen streckte er sich zu seiner Musikanlage und<br />

schaltete sie ein. Johanna begann im Takt zur Musik mit den Knien zu wippen. Seinen Eltern hätte<br />

eine Frau wie Johanna bestimmt sehr gut als Schwiegertochter gefallen. Aber er wollte noch nicht<br />

heiraten.<br />

"Oder hast du Angst, dass du mich gleich heiraten musst, wenn du den Job annimmst?", traf<br />

Johanna mal wieder ins Schwarze.<br />

"So ähnlich. Ich fühle mich noch gar nicht bereit zum Heiraten."<br />

"Sollst du ja auch gar nicht. Zumin<strong>des</strong>t nicht überstürzt. In solchen Zeiten sollte man zwar vielleicht<br />

pragmatischer sein, als in guten Zeiten, aber unüberlegt zu heiraten ist unvernünftig."<br />

"Aber es geht im Endeffekt ums Heiraten, oder?"<br />

"Wenn du und ich das wollen, warum nicht? Aber das hat keine Eile. Auch das Jobangebot hat<br />

keine Eile, denn jetzt kommen sowieso erst mal die Feiertage. Da wird erst im nächsten Jahr über<br />

neue Mitarbeiter nachgedacht."<br />

"Dann hab ich ja noch Zeit zum Nachdenken.", sagte Jens und lächelte dabei etwas gequält.<br />

"Und auch wenn du den Job annimmst, ist das noch lange keine Heiratsverpflichtung, denn die<br />

brauchen dort ja wirklich jemanden für die Computer und es ist sehr schwierig, leistungsbereite junge<br />

Leute zu finden, die sich mit den ganzen Tücken auskennen. Man glaubt es kaum, wo doch soviel<br />

über die grassierende Arbeitslosigkeit geklagt wird. Aber es ist tatsächlich fast unmöglich, jemand zu<br />

finden, der bereit ist anzupacken."<br />

"Merkwürdig; finde ich auch. Aber ich kann das durchaus nachvollziehen. Meine ehemaligen<br />

Studienkollegen fühlen sich in ihrem rundumvers<strong>org</strong>ten Containerleben anscheinend wohler als beim<br />

harten Kampf ums Überleben. Und so ganz fremd ist mir der Gedanke auch nicht. Manchmal frage ich<br />

mich auch, warum ich mich so abrackere."<br />

"Das fragt sich bestimmt jeder ab und zu mal."<br />

"Ja, stimmt. Das gehört wohl dazu."<br />

"Aber oft arbeitest du doch auch ganz gerne, oder?"<br />

"Ja, klar, meistens schon ganz gerne."<br />

"Mal was anderes: Weihnachten hast du bestimmt noch nichts vor?"<br />

"Ja. Ich hab noch nichts vor."<br />

"Hast du denn Lust, uns Weihnachten zu besuchen?"<br />

"Ja, ähem, Weihnachten? Bei euch? - Warum eigentlich nicht? Ich hab ja sowieso noch nichts<br />

anderes vor."<br />

"Prima, da freue ich mich. Am besten wäre es, wenn du um halb vier kommst. Dann haben wir in<br />

Ruhe Zeit für alles."


"Halb vier lässt sich wohl machen."<br />

"Ich glaube, ich sollte mal wieder los, bevor es dunkel wird."<br />

"Oh ja, da habe ich ja gar nicht drauf geachtet. Kommst du denn sicher heim?"<br />

"Ja, ich bin nämlich mit dem Fahrrad da und das geht ja eigentlich recht flott, wie du ja auch schon<br />

weisst."<br />

"Stimmt, mit dem Fahrrad kommt man ganz gut voran, seit die Straßen leerer sind."<br />

Johanna erhob sich vom Sofa und sammelte ihre Sachen ein. Diesmal drückte sie Jens schon fast<br />

wie selbstverständlich an sich und anschließend gab sie ihm einen kurzen Kuss auf den Mund, bevor<br />

Jens auch nur wusste, wie ihm geschah. Der Kuss schmeckte gut und Jens hätte am liebsten mehr<br />

davon gekostet, aber auf der anderen Seite war dieser kleine Kuss schon mehr als genug.<br />

Schon war Johanna aus der Tür und winkte ihm zum Abschied zu, während sie die Treppenstufen<br />

runterstieg.<br />

Jens ließ sich auf sein Sofa fallen und schüttelte den Kopf. Was war da eigentlich vor sich<br />

gegangen? Ohne richtig zu wissen, was er tat, hatte er zugesagt, Weihnachten mit den Trautmanns<br />

zu verbringen. Und als er seinen Verstand eingeschaltet hatte, war es zu spät gewesen, um einen<br />

Rückzieher zu machen. Da hatte ihn die Johanna ganz schön eingewickelt. Im wahrsten Sinn <strong>des</strong><br />

Wortes, wie ihm bei einem Blick auf seine bezopften Ärmel klarwurde.<br />

Den Pulli wollte er am liebsten gar nicht mehr ausziehen, so angenehm fühlte er sich an, aber<br />

genau das war irgendwie auch das Problem mit dem Pullover. So ein Geschenk konnte man einfach<br />

nicht ablehnen ohne grob verletzend zu sein, aber wenn man es annahm, bildete es eine starke<br />

Verbindung zwischen Schenkender und Beschenktem.<br />

Irgendwie hatte Johanna einen Zauber über ihn geworfen. Der Pulli roch nach ihr und Jens<br />

kuschelte sich hinein mit der Vorstellung im Kopf, wie er ihr durch die Haare fuhr.<br />

Sie bot ihm eine Sicherheit, die er nicht mehr gekannt hatte, seit er von zuhause ausgezogen war.<br />

Aber diese Sicherheit forderte die Freiheit, die er jetzt genoss. War er bereit, seine Freiheit<br />

aufzugeben?


Kapitel 22<br />

Das Handy klingelte, als Jens gerade damit beschäfigt war, seine verbliebenen gelb-braunen<br />

Flecken im Gesicht zu begutachten. Er hastete ins Wohnzimmer und griff nach dem Handy, das ihm<br />

vor lauter Eile fast aus der Hand rutschte.<br />

"Hallo, ist dort Jens Markert? Hier spricht Frau Wagner.", sagte eine unbekannte Stimme in<br />

kraftlosem aber singendem Tonfall.<br />

"Frau Wagner? Aber .... ja ... geht es Ihnen wieder besser?"<br />

"Danke der Nachfrage junger Mann. Ich bin wohl überm Berg, sagen die Ärzte."<br />

"Das ist ja wunderbar."<br />

"Ich wollte mich bei Ihnen für Ihre grossherzige Tat bedanken."<br />

"Das war doch selbstverständlich."<br />

"Nicht so bescheiden, junger Mann, das war alles andere als selbstverständlich. Der Arzt hat mir<br />

Besuch erlaubt und ich würde meinen Retter gerne kennenlernen. Hätten Sie Lust, mich zu<br />

besuchen?"<br />

"Gerne, ich würde mich auch freuen, Sie auf dem Weg der Besserung zu erleben. Heute<br />

Nachmittag hätte ich Zeit, passt das bei Ihnen?"<br />

"Ja, wunderbar. Ich freue mich schon sehr auf Sie."<br />

Jens war schon sehr neugierig darauf, was für ein Mensch Frau Wagner in ansprechbarem<br />

Zustand war. Ihre Telefonstimme klang sehr sympathisch. Zurück im Bad betrachtete er sich zweifelnd<br />

im Spiegel. Er sah immernoch aus wie ein Schläger. Eigentlich kein geeignetes Aussehen, um eine<br />

alte Dame kennenzulernen. Aber das konnte er jetzt leider auch nicht ändern, und freie Nachmittage<br />

waren schließlich ein seltenes Gut.<br />

Als er schließlich vor dem Altersheim stand, fiel ihm Silke ein, denn mit ihr hatte er einmal<br />

herkommen wollen. Richtig ernst war es ihm damals damit nicht gewesen, aber da es immer<br />

interessant gewesen war, Silke in Aktion zu erleben, hatte er durchaus damit geliebäugelt, den<br />

Besuch in die Tat umzusetzen. Jetzt stand er hier und Silke war tot.<br />

Das Gebäude sah von aussen fast genauso aus wie die Hochhäuser in der Nachbarschaft. Vor<br />

dem Eingangsbereich war jedoch eine einstöckige Halle angebaut worden, durch die man das Heim<br />

betreten konnte. Drinnen sah es aus wie in einer Hotelrezeption mit der Atmosphäre eines<br />

Krankenhauses. Zwei Sanitäter eilten mit einer Trage an ihm vorbei, eine junge Frau fuhr einen alten<br />

Mann im Rollstuhl nach draussen und andere wimmelten ohne erkennbaren Zweck durch die Halle.<br />

Jens trat an den Tresen der Rezeption.<br />

"Guten Tag, ich möchte gerne Frau Wagner besuchen."<br />

"Können Sie versichern, dass Sie keine Grippeinfektion in sich tragen?"<br />

"Ja, ich bin schon seit Wochen wieder gesund."<br />

"Ok, dann unterschreiben Sie hier. Und nehmen Sie diese Maske: ist hier Pflicht, um sicher zu<br />

gehen."<br />

Jens zog die Schutzmaske über Nase und Mund. Inzwischen war er es schon gewohnt, durch<br />

einen Filter zu atmen, daher störte es ihn nicht allzu sehr. Ausserdem verbarg sie einen Teil seiner<br />

blauen Flecken.<br />

"Frau Wagner sagten Sie. Ah ja, hier hab ichs. Frau Wagner: erst kürzlich hier eingeliefert<br />

worden?"<br />

"Ja, erst vor einer Woche."<br />

"Nehmen Sie den rechten Aufgang zum Pflegeheim und fahren Sie in den fünften Stock. Dort<br />

zweimal links, Zimmer 509."<br />

"Danke."<br />

Jens orientierte sich, um zu sehen, was mit "rechtem Aufgang" gemeint war. Am Ende der Halle<br />

gab es zwei Aufgänge, wahrscheinlich die ursprünglichen Haustüren, über denen Schilder mit den


Aufschriften "Wohnheim" und "Pflegeheim" hingen. Das war es wohl, was die Dame an der Rezeption<br />

gemeint hatte. Jens ging durch die Tür, die zum Pflegeheim führte und kam in einen Aufzugvorraum.<br />

Der Aufzug brachte ihn in den fünften Stock, wo er sich nach links wandte und einen Gang vorfand.<br />

Man konnte die ursprüngliche Funktion als Mietshaus mit Wohnungen noch deutlich erkennen, doch<br />

die Wohnungstüren waren durch Glastüren ersetzt worden und es roch nach Desinfektionsmittel und<br />

Krankheit.<br />

Kaum hatte er den kahlen Gang betreten, rollte eine Art Stahlkegel mit Kopf und Armen an ihm<br />

vorbei. Die Frontseite <strong>des</strong> Kopfes ähnelte einem runden Bildschirm, auf dem ein stilisiertes Gesicht<br />

freundlich lächelte. Das Gesicht erinnerte Jens stark an die kleinen Smilies, die ihm im Internet ständig<br />

entgegengrinsten. Bevor er sich das merkwürdige Rollgerät genauer anschauen konnte, war es schon<br />

hinter der Glastür und in einem Zimmer der rechten "Wohnung" verschwunden.<br />

Frau Wagners Zimmer sollte sich laut Rezeptionistin links befinden, also ging Jens an zwei<br />

Glastüren vorbei und betrat die linke "Wohnung". An der dritten Tür der rechten Seite hing ein Schild<br />

mit der Nummer 509. Darunter sah Jens ein flaches Anzeigegerät mit einer elektronischen<br />

Beschriftung "Frau Wagner".<br />

Hier war er richtig. Jens klopfte an die Tür und öffnete sie, als er ein heiseres "Herein" hörte. Das<br />

Zimmer war, ähnlich wie das ganze Altenheim, eine ungewohnte Mischung aus schlichtem<br />

Privatzimmer und Krankenhaus. In einem normal hohen Bett, das jedoch einen Galgen hatte, von dem<br />

ein Triangelgriff hing, saß eine weisshaarige Dame, bekleidet mit einem rosafarbenen Bettjäckchen<br />

unter dem der Kragen eines Rüschennachthemds hervorlugte. Jens hätte sie nicht wiedererkannt,<br />

wenn er nicht gewusst hätte, wer sie war.<br />

"Oh, Sie sind bestimmt Herr Markert. Herzlich willkommen.", sagte sie und ihre graublauen Augen<br />

funkelten ihn fröhlich an.<br />

"Guten Tag. Ja, ich bin Jens Markert. Wie schön Sie so munter zu sehen, Frau Wagner.", sagte er<br />

und schüttelte ihre ausgestreckte Hand.<br />

Fast hatte er Angst, die Hand zu zerbrechen, so schmal und knochig war sie, aber Frau Wagner<br />

drückte überraschend kräftig zu, was stark im Widerspruch zu ihrer ausgezehrten körperlichen<br />

Erscheinung stand. Wenn man von den blitzenden Augen absah, wirkte sie wie halb durchsichtig und<br />

ihre Hautfarbe war fast so weiss wie ihr Kopfkissenbezug.<br />

"Nehmen Sie Platz, dort steht ein Stuhl."<br />

Jens ergriff den angebotenen Stuhl und setzte sich an ihr Bett. Zuerst wusste er nicht so recht, was<br />

man in so einer Situation passenderweise sagt, aber Frau Wagner hatte keine solche Scheu.<br />

"Ich möchte Ihnen ganz herzlich für die Rettung meines Lebens danken."<br />

"Das habe ich sehr gern getan. Es tut mir nur leid, dass wir für Ihren Mann zu spät gekommen<br />

sind."<br />

"Ja, darüber bin ich auch sehr traurig. Aber heute will ich mich freuen, dass ich noch lebe und dass<br />

ich Sie kennenlernen darf. Ich erinnere mich dunkel an Sie, aber damals waren Sie nicht so<br />

schüchtern.", ein Schmunzeln glitt über ihr Gesicht. "Aber ich kann das schon verstehen, dass Ihnen<br />

ein Besuch bei einer alten Tante wie mir, in so einem Altersheim etwas ungeheuer ist. Mir ist es hier<br />

auch nicht so recht geheuer und ich werde auch bald wieder nach Hause gehen."<br />

"Werden Sie hier denn gut vers<strong>org</strong>t?"<br />

"Keine S<strong>org</strong>e, besser hätte ich es wohl kaum treffen können."<br />

"Aber hier sind doch soviele gestorben. Dabei wirkt hier eigentlich alles sehr sauber und<br />

ordentlich."<br />

"Die vielen Toten waren wohl eine Verkettung unglücklicher Ereignisse. Da wurde der hundertste<br />

Geburtstag einer Bewohnerin gefeiert mit den meisten der Bewohner und einigen Verwandten von<br />

Außen. Min<strong>des</strong>tens einer der Feiernden hat dabei die Grippe verbreitet. Dann gab es hier zwei<br />

Wochen lang keine Grippemittel und das Unheil war perfekt. Mein Glück, denn sonst hätte ich hier<br />

wohl keinen Platz gefunden."<br />

"Ich war auch sehr froh, als sich herausstellte, dass hier noch Platz ist."<br />

"Vermutlich ist es hier sehr viel bequemer als in den überfüllten Krankenhäusern. Sie haben auch<br />

sehr interessante Geräte. Hier zum Beispiel, dieses weiche Armband, das ich trage: das ist ein


Messgerät, mit dem ständig Herzschlag und Temperatur gemessen und an die Zentrale gefunkt<br />

werden. Das erspart mir und den Schwestern das lästige Fiebermessen."<br />

"Wie praktisch."<br />

"Find ich auch. Noch besser ist aber Teddy, mein Gesprächspartner für langweilige Stunden.<br />

Teddy, begrüss unseren Gast."<br />

Sie blickte auffordernd zu einem Plüschteddy, der neben ihr auf dem Nachtisch sass.<br />

"Guten Tag, unbekannter Freund. Wie schön, dass Sie Heidelinde besuchen.", fing der Teddy<br />

plötzlich an zu sprechen.<br />

"Guten Tag. Mein Name ist Jens, Teddy."<br />

"Jens, gut das werde ich mir merken. Heidelinde, du klingst heute sehr fröhlich. Geht es dir<br />

besser?"<br />

"Mir geht es heute hervorragend Teddy, danke der Nachfrage."<br />

"Das liegt bestimmt daran, dass du heute Besuch hast. Sogar Herrenbesuch, nicht schlecht.",<br />

dabei schloss der Teddy kurz ein Auge, sodass es aussah, als würde er zwinkern.<br />

"Ist er nicht niedlich?", freute sich Frau Wagner. "Teddy, du darfst jetzt wieder ruhig sein."<br />

"Er ist fantastisch. Was kann er alles?"<br />

"Vor allem kann er sich unterhalten, denn das ist seine Hauptaufgabe. Aber er registriert auch, ob<br />

alles in Ordnung ist und wenn er etwas außergewöhnliches sieht oder hört, meldet er es an die<br />

Zentrale und die schickt bei Bedarf eine Schwester."<br />

"Draussen habe ich auch ein seltsames Gerät gesehen, das durch den Gang rollte."<br />

"Das war bestimmt einer der Pflegeroboter. Die helfen beim Umbetten, Baden und anderen<br />

körperlich anstrengenden Tätigkeiten. Das erspart den Schwestern Rückenschmerzen und sie haben<br />

mehr Zeit für die fachlichen Arbeiten."<br />

"Ist das nicht merkwürdig, von lauter Maschinen gepflegt zu werden?"<br />

"Am Anfang war es schon merkwürdig, aber da habe ich mich schnell dran gewöhnt. Es ist auf alle<br />

Fälle besser als ganz alleingelassen zu sein und es ist auch viel angenehmer als gestresste<br />

Schwestern, denen man deutlich anmerkt, dass man ihnen eine Last ist. Die Roboter sind nie<br />

gestresst und haben immer Geduld mit einem. Obwohl jetzt ja eine schlimme Grippeepidemie wütet,<br />

sind sogar die Schwestern hier ziemlich gelassen, das liegt bestimmt an ihren tapferen Helfern."<br />

"Aber in der Nachbarschaft wohnen zigtausend Arbeitslose. Könnten die nicht hier arbeiten?"<br />

"Das wurde wohl immer wieder versucht, auch in anderen Einrichtungen dieser Art, und sie<br />

versuchen es immer noch hin und wieder. Ab und zu wird mal jemand aus der Nachbarschaft hier<br />

Pflegeschülerin und manche statten Besuche ab, um sich etwas Bürgergeld zu verdienen. Aber schon<br />

einfache Arbeiten, wie Betten machen oder Nachttöpfe leeren überfordert die meisten der Nachbarn.<br />

Sie haben wohl keine Lust auf solche niederen Tätigkeiten und dadurch richten sie oft mehr Schaden<br />

an, als dass sie Nutzen bringen."<br />

"Sind die Roboter nicht viel zu teuer?"<br />

"Das habe ich auch gefragt, denn ich habe mich sehr gewundert, in einem solchen Altersheim für<br />

Arme, soviel moderne Technik vorzufinden. Inzwischen sind diese Roboter wohl durchaus bezahlbar,<br />

die Pflegeroboter kosten weniger als ein Kleinwagen und die Teddies nur halb soviel wie ein schlichter<br />

Fernseher. Und sie arbeiten rund um die Uhr, außer wenn es nachts ruhig ist, dann laden sie sich auf.<br />

Sind aber auch dann sofort einsatzbereit, wenn sie gebraucht werden. Ein einziger Pflegeroboter<br />

ersetzt auf die Weise etwa fünf menschliche Pfleger, wenn man Urlaub und Wochenenden<br />

berücksichtigt. Ausserdem brauchen sie keinen geheizten Aufenthaltsraum, haben keine weiten<br />

Anfahrtswege und kriegen keine Grippe."<br />

"Klingt eigentlich alles sehr einleuchtend, aber es scheint mir trotzdem sonderbar. Den ganzen Tag<br />

mit Maschinen sprechen und sich von ihnen pflegen lassen."<br />

"Die Vorteile sind so gross, dass mir das sonderbare Gefühl bald vergangen ist. Es sind ja auch<br />

noch menschliche Schwestern da und die sind meistens sehr viel freundlicher, als ich das aus dem<br />

Altersheim von einer alten Freundin kannte. Und das Allerbeste ist eigentlich, dass man nicht das<br />

Gefühl hat, einem Menschen zur Last zu fallen, wenn man gebadet wird. Es ist schon schwer, solche


Hilfe anzunehmen, wenn sie mit Freude gewährt wird, doch wenn man weiss, das die Helfende davon<br />

Rückenschmerzen bekommt und ihr sowieso schon alles zuviel ist, fühlt man sich einfach grässlich.<br />

Wenn der Roboter mich ins Bad trägt, fühle ich mich statt<strong>des</strong>sen wie eine junge Braut, die über die<br />

Schwelle getragen wird."<br />

"Faszinierend."<br />

"Finde ich auch. Wahrscheinlich werde ich mir so einen Teddy anschaffen, wenn ich wieder<br />

zuhause bin. Und wenn ich mal nicht mehr alleine klarkomme, kommt noch ein Pflegeroboter dazu,<br />

denn ich möchte solange wie möglich zuhause leben."<br />

"Das kann ich gut verstehen, dass Sie lieber zuhause leben wollen. Wissen Sie schon, wann Sie<br />

wieder gesund genug sind?"<br />

"Der Arzt sagt, dass es vielleicht in zwei Wochen soweit ist, aber nur, wenn ich es dann zuhause<br />

ruhig angehen lasse."<br />

"Wie sind Sie eigentlich zu meiner Telefonnummer gekommen?"<br />

"Ich habe einen Pfleger gefragt, der zuerst meinte, keine Zeit für die Recherche zu haben, aber als<br />

ich dem Altersheim eine grössere Spende in Aussicht gestellt habe, ging das recht flott.", sie<br />

schmunzelte spitzbübisch und wirkte Jahrzehnte jünger als vorher.<br />

"Wären Sie bereit, mir zu erzählen, wie Sie mich gefunden haben?", fragte Frau Wagner nach<br />

einer Weile.<br />

"Ja, gerne.", sagte Jens und erzählte ihr die ganze Geschichte.<br />

"Ist das eigentlich Ihr Beruf, Tote zum Friedhof zu bringen?"<br />

"Nein, normalerweise nicht. Das mach ich nur, weil es gerade nötig ist. Sonst arbeite ich in einem<br />

Bistro und seit einer Weile in einer Entrümplungsfirma. Das hat sich so ergeben. Eigentlich bin ich ja<br />

Informatiker."<br />

"Oh, Informatiker. Das ist ja ziemlich weit weg von Ihrer jetzigen Tätigkeit. Finden Sie keine Arbeit<br />

als Informatiker?"<br />

"Nein, das heisst bisher nicht. Kürzlich habe ich ein Angebot bekommen."<br />

"Aber?"<br />

"Es ist bei einer Insolvenzverwaltungsfirma. Aber das ist auch nicht das eigentliche Problem, denn<br />

vielleicht ist so eine Insolvenzverwaltungsfirma ja auch eine Herausforderung. Auf jeden Fall wäre es<br />

recht sicher."<br />

"Und was ist das eigentliche Problem?"<br />

"So merkwürdig das klingt: eine wunderschöne junge Frau und eine steife Familie."<br />

Jens fragte sich, wie er sich in die Situation gebracht hatte, über derart persönliche Dinge zu<br />

sprechen. Irgendwie war es leicht, mit Frau Wagner warm zu werden. Obwohl sie sich in einem kahlen<br />

Krankenzimmer befanden und er Frau Wagner kaum kannte, fühlte er sich sehr wohl in ihrer Nähe<br />

und irgendwie vertraut, als würde er sie schon aus seiner Kindheit kennen.<br />

"Hm, das klingt kompliziert. Wie hängen junge Frau, steife Familie und Arbeitsstelle zusammen?"<br />

Da er schon den Anfang gemacht hatte, erzählte Jens Frau Wagner von Johanna und ihrer<br />

Familie. Er erzählte wie liebevoll und aufgeweckt Johanna war, wie er in Gegenwart der Eltern fast die<br />

Luft angehalten hatte, vor lauter gutem Benehmen, wie eng er sich fühlte, bei dem Gedanken, Herrn<br />

Trautmann einen Job zu verdanken, wie verlockend das Haus im Garten hinter den Apfelbäumen auf<br />

den Ausbau wartete und wie ratlos er war.<br />

"Und dann hat sie Ihnen diesen Pullover gestrickt?", fragte Frau Wagner.<br />

"Stimmt. Woher wissen Sie das?"<br />

"Der Pullover sieht aus wie sehr s<strong>org</strong>fältig selbstgestrickt, und er wirkt neu. Diese Johanna setzt ja<br />

einiges ein, um Sie zu kriegen.", ein anerkennen<strong>des</strong> Lächeln begleitete Frau Wagners Nicken. Sie<br />

bewegte den Kopf langsam hin und her, als wollte sie damit etwas abwiegen.<br />

"Und was wollen Sie selbst von Ihrem Leben?"


Jens zögerte, denn das war eine schwierige Frage für ihn. "In letzter Zeit habe ich das irgendwie<br />

aus den Augen verloren, weil das, was ich wollte, nicht geklappt hat. Früher wollte ich immer Erfinder<br />

werden."<br />

"Erfinder, das klingt sehr interessant. Und was hat Sie dann zur Informatik gebracht?"<br />

"Alle waren der Meinung, dass Informatik für jemand mit meinen Fähigkeiten der<br />

zukunftsträchtigste Beruf ist. Doch während ich noch studiert habe, sind die meisten Programmierer-<br />

Arbeitsplätze in den Osten abgewandert. Und dann hatte es sich mit der Zukunftsträchtigkeit."<br />

"Mein lieber Junge, ich habe den Eindruck, dass Sie sich zwar tapfer durch diese schwierige Zeit<br />

schlagen, aber Sie lassen sich von anderen rumschubsen, wie es denen nur passt."<br />

"Hm - ich fürchte, Sie haben Recht."<br />

"Fragen Sie sich gründlich, was Sie selbst vom Leben wollen, bevor Sie sich langfristig binden."<br />

"Ja, das sollte ich wohl tun."<br />

Einerseits war Jens fast die Luft weggeblieben, so sehr hatten ihn Frau Wagners Worte ins Mark<br />

getroffen. Andererseits fühlte er sich aber immer noch sehr wohl in ihrer Nähe, als wäre sie seine<br />

Grossmutter.<br />

"Ich glaube, das muss ich jetzt erstmal verdauen. Wenn Sie mögen, besuche ich Sie gerne mal<br />

wieder, wenn ich Zeit habe."<br />

"Darüber würde ich mich sehr freuen. Ich gebe Ihnen noch meine Nummer von zuhause, damit Sie<br />

mich auch dort erreichen können."<br />

Nachdem Jens sich die Nummer notiert hatte, widerstand er dem seltsamen Impuls Frau Wagner<br />

zu umarmen und schüttelte statt<strong>des</strong>sen noch einmal ihre zerbrechliche Hand.


Kapitel 23<br />

Rumschubsen! Liess er sich wirklich rumschubsen? Bei genauer Betrachtung musste Jens Frau<br />

Wagner in Gedanken immer wieder rechtgeben, so sehr er auch versuchte, sich vom Gegenteil zu<br />

überzeugen. Aber wenn man ständig S<strong>org</strong>en um seine Existenzgrundlage hat, ist es auch nicht so<br />

einfach, nur zu tun, wozu man sich berufen fühlt.<br />

Ausserdem musste er sich eingestehen, dass es ihm ein grosses Anliegen war, es möglichst vielen<br />

Leuten recht zu machen. Andere sollten zufrieden mit ihm sein und ihn mögen. Leistung um geliebt zu<br />

werden. Je tiefer er sich damit auseinandersetzte, <strong>des</strong>to grausiger erschien er sich selbst.<br />

Auf der anderen Seite war es für das Zusammenleben ja auch ganz hilfreich, wenn man<br />

aufeinander einging.<br />

Vor lauter Nachdenken drehte sich Jens schon der Kopf.<br />

Am Montagm<strong>org</strong>en war er daher wieder einmal froh, als Achim ihn abholte, um sich den wartenden<br />

Toten zu widmen. Das war nun wirklich keine Arbeit, die man gerne machte, aber Jens dachte sich,<br />

dass sie so wichtig war, dass er sie möglicherweise auch mit weniger oder ohne Bezahlung machen<br />

würde, wenn für seinen Lebensunterhalt ges<strong>org</strong>t wäre.<br />

Der Rhythmus mit den anderen Teams spielte sich wieder ein und abends trafen sich alle in der<br />

Kneipe. Jens ertappte sich dabei, dass er sich ausgesprochen wohlfühlte; vielleicht war er sogar<br />

glücklich. Auf jeden Fall ging es ihm hier, in dieser verrauchten Kneipe, unter lauter rauhen Kerlen,<br />

besser, als wenn er an seine Zukunft in einem gutbezahlten Job dachte.<br />

Die Gedanken an die anstehende Entscheidung und das Gespräch mit Frau Wagner durchzogen<br />

die ganzen nächsten Tage und ließen ihm nur kurze Ruhepausen. Sogar von den Problemen der<br />

Nachgrippezeit wurde er durch seine kreisenden Gedanken abgelenkt. Die langen Schlangen vor den<br />

wenigen Supermärkten gehörten inzwischen schon zum gewohnten Stadtbild, genau wie die<br />

Tankstellenschlangen.<br />

Beim Anblick einer solchen Schlange fiel Jens plötzlich ein, dass er ja Weihnachtsgeschenke für<br />

Familie Trautmann brauchen würde. Bei diesem Gedanken wurde ihm fast übel. Was schenkte man<br />

solchen Leuten? Wie sollte er bei all der Arbeit die Geschenke kaufen und was konnte man zur Zeit<br />

überhaupt kaufen?<br />

Wichtig schien ihm, dass seine Geschenke nicht zu vielversprechend waren, denn er wusste ja<br />

noch gar nicht, wie er zu der Sache stand. Also vielleicht eine Flasche guten Rotweins für Herrn<br />

Trautmann und edle Pralinen für die Gattin. Irgendwie schien es Jens pervers, über edle Pralinen<br />

nachzudenken, während andere Leute kaum genug zum Sattwerden hatten.<br />

Mittwochabend blieb er nur so lange in der Kneipe, bis er aufgegessen hatte, denn er wollte in<br />

seiner Garage nach dem Rechten sehen. Diese Garage war der winzige Teil seines Lebens, der<br />

einem Erfinder wohl am nächsten kam und selbst hier standen immer noch ungezählte kaputte Geräte<br />

von Herrn Lorenz in den Regalen. Obwohl es kalt war, blieb Jens, bis er fünf der Geräte repariert<br />

hatte, denn inzwischen war er wieder gut abgehärtet und die Arbeit brachte seine Lebensgeister in<br />

Schwung. Mit einem sehr zufriedenen Gefühl im Bauch ging er anschließend wieder zur Kneipe, um<br />

sich von Achim heimfahren zu lassen.<br />

Je näher der Samstag kam, <strong>des</strong>to mehr grauste Jens vor dem bevorstehenden Einkaufsabenteuer.<br />

In der Innenstadt war er schon seit Monaten nicht mehr gewesen. Doch alles Grausen half nichts, viel<br />

zu schnell war Samstagm<strong>org</strong>en und Jens musste sich in das Weihnachtseinkauf-in-letzer-Minute-<br />

Gewühl stürzen.<br />

Unterwegs musste Jens mal wieder eine Tankstellenschlange umfahren, doch diesmal stoppte er,<br />

denn er sah Bennie, der gerade mit einem der wartenden Autofahrer am Ende der Schlange<br />

verhandelte. In der Hand hielt Bennie eine Flasche mit einer gelblichen Flüssigkeit und neben ihm<br />

stand ein Wägelchen, das weitere Flaschen und Kanister enthielt.<br />

"Hallo Bennie. Nett dich mal wieder zu treffen."<br />

"Einen Moment noch, gleich habe ich Zeit für dich." rief Bennie ihm zu und widmete sich wieder<br />

seinen Verhandlungen.<br />

Der Mann im Auto nickte nach kurzer Zeit, übergab ein paar Scheine und Bennie ging zum<br />

hinteren Ende <strong>des</strong> Autos und öffnete den Tankdeckel. Anschließend zückte er einen Trichter und goss


den Inhalt der Flasche in den Tank. Eine zweite und dritte Flasche folgten. Der Tankdeckel wurde<br />

wieder geschlossen und der Autofahrer scherte aus der Schlange aus und nahm Fahrt auf.<br />

"So, jetzt hab ich mir ein Päuschen verdient. Wer was von mir will, kann ja auf mich zukommen.",<br />

sagte Bennie, nachdem er sich zu Jens gesellt hatte.<br />

"Was machst du hier eigentlich?"<br />

"Wie siehts denn aus? Benzin verkaufen, natürlich. Bringt zur Zeit deutlich mehr als die<br />

Taxifahrerei."<br />

"In Flaschen?"<br />

"Ja, für die Sparsamen. Kostet schließlich auch genug, um es literweise zu verkaufen. Ein guter<br />

Wein kostet nix dagegen."<br />

"Echt krass diese motorisierte Welt. Was bin ich froh, dass ich damit kaum was zu tun hab."<br />

"Da haste wirklich Glück. Aber man muss nur flexibel sein, dann kommt man auch in der heutigen<br />

Autowelt einigermaßen durch."<br />

"Erklär doch mal, wie das funktioniert, dein Flaschenbenzin-Geschäft."<br />

"Tanken muss ich ja sowieso für mein Taxi. Unglücklicherweise habe ich einen alten Benziner und<br />

nicht so schicke Gas- oder Wasserstoff-Wagen, wie die meisten anderen Taxifahrer. Darum hat mich<br />

die Benzinknappheit auch härter getroffen als die anderen. Richtig gut haben es nur die Velotaxis, die<br />

mit Pedalkraft betrieben werden. Denn auch die Alternativ-Treibstoffe sind deutlich teurer geworden,<br />

aber nicht in dem Maße wie echtes Benzin. Auch die Warteschlangen sind bei denen erheblich kürzer.<br />

Dieser Vorteil schwindet aber, weil fast alle Neuwagen mit alternativen Technologien fahren, wodurch<br />

deren Treibstoffschlangen wachsen. Jetzt in dem ganzen Grippechaos werden auch kaum noch neue<br />

Gas- und Wasserstoff-Zapfstellen eröffnet."<br />

"Ist das Erdgas nicht auch knapp?"<br />

"Jein. In den USA ist es inzwischen sehr knapp, aber wir haben angeblich gute Verträge mit<br />

Russland und solange die liefern kann nur unser erhöhter Bedarf für Engpässe s<strong>org</strong>en. Aber genau<br />

der macht schon einige Probleme, darum halte ich Erdgas-Autos auch nur für eine vorübergehende<br />

Lösung."<br />

"Und was hat es mit den Wasserstoff-Autos auf sich?"<br />

"Man braucht viel Strom, um den Wasserstoff herzustellen. Strom ist ja auch teurer geworden und<br />

an den ganzen Stromausfällen sieht man auch, dass es nicht gerade zuviel Strom gibt. Dabei haben<br />

sie die Atom- und Kohlekraftwerke nichtmal ausrangiert, wie sie eigentlich vorhatten. Wenn du mich<br />

fragst: Ich glaube nicht, dass jemals wieder soviele Autos rumfahren werden wie noch letztes Jahr."<br />

"Damit liegst du wohl richtig. Für uns Fahrradfahrer ist das sogar ganz angenehm. Und wie bist du<br />

zu dem Benzinverkaufen gekommen?"<br />

"Mit meinem alten Benziner bin ich kaum noch wettbewerbsfähig, weil ich entweder weniger<br />

verdiene oder teurer sein muss als die Konkurrenz. Und trotzdem musste ich dauernd tanken, um<br />

wenigstens fahrbereit zu sein. Also stand ich Tag für Tag in diesen elenden Schlangen rum, und habe<br />

mitgekriegt, welche Dramen sich da teilweise abgespielt haben. Für Geschäftsleute kann es nämlich<br />

sehr tragisch sein, zwei Stunden in einer Schlange warten zu müssen. Die richtigen Bonzen haben<br />

natürlich Hilfskräfte, die das für sie übernehmen, aber es gibt genug, die beim Warten fast einen<br />

Herzinfarkt bekommen."<br />

"Das kann ich mir gut vorstellen."<br />

"Tja, und dann fiel mir ein Film über Nigeria ein, den ich in meiner Jugend mal gesehen habe. Da<br />

haben die ärmeren Leute Benzin in Flaschen verkauft, an Ständen am Straßenrand oder als fliegende<br />

Händler. Also hab ich mir einen klappbaren Handwagen und Kanister gekauft und nach dem Tanken<br />

in der Nähe geparkt und mit dem Handwagen voller Benzin das hintere Ende der Warteschlange<br />

bedient. Kostet natürlich mehr bei mir, schließlich hab ich ja auch den Warteaufwand."<br />

"Deinem Grinsen zufolge, verdienst bei der Tour nicht schlecht."<br />

"So ist es. Etwa dreimal soviel, wie mit dem reinen Taxifahren. Ab und zu kommt sogar mal jemand<br />

und will mit dem Taxi gefahren werden. Dann pack ich meinen Handwagen schnell ein und fahre den<br />

Kunden."


"Nicht schlecht. Scheint mir zwar ein komischer Job zu sein, Benzin in Flaschen zu verkaufen, aber<br />

wenns Geld bringt..."<br />

"Willste nen Job? Zu zweit könnten wir bestimmt dreimal soviel Umsatz machen. Ich warte in der<br />

Schlange und du verkaufst das Benzin. Dann bist du deine Gelds<strong>org</strong>en los."<br />

"Danke für das großzügige Angebot. Aber Arbeit habe ich eigentlich mehr als genug."<br />

"Was machste denn zur Zeit? Das Bistro hat ja geschlossen, wie ich letzte Woche zu meinem<br />

Bedauern feststellen musste."<br />

"Ja, das hat momentan noch zu, aber ich hoffe, Ricardo berappelt sich bald wieder. Schon seit<br />

einiger Zeit arbeite ich bei einem Entrümpler: bringt auch gut Knete. Tja, und seit der Grippewelle<br />

bring ich Leichen zum Friedhof."<br />

"Graus. Und da wagst du es, meinen Benzinhandel als komisch zu bezeichnen? Leichentransport<br />

ist ja wirklich kein Stück besser."<br />

"Stimmt schon. Aber irgendjemand muss die Toten ja aus ihren Wohnungen holen. Dauert<br />

bestimmt auch nicht mehr lange. Vielleicht krieg ich demnächst einen Programmierer-Job."<br />

"Du Glückspilz. Wie kommts?"<br />

"Connections. Erinnerst du dich, dass ich bei dieser Armenspeisung geholfen hab? Daher hab ich<br />

die Verbindung zu dem Jobanbieter."<br />

"Wenn ich du wäre, würde ich vor lauter Luftsprüngen gar nicht mehr auf den Boden kommen.<br />

Aber du siehst gar nicht nach Luftsprüngen aus."<br />

"Die Sache hat einen Haken."<br />

"Dacht ich's mir doch. Und der wäre?"<br />

"Der Arbeitsgeber ist ein Insolvenzverwalter und ich befürchte eine steife Umgebung."<br />

"Wenns weiter nichts ist. Besser als Leichentransport ist das allemal. Und wenn man's genau<br />

nimmt: auch besser als Benzinhandel."<br />

"Wahrscheinlich hast du recht. Ich muss weiter, Weihnachtseinkäufe. Man sieht sich."<br />

"Jo, bis denne mal."<br />

Jens fuhr weiter Richtung Innenstadt. In der Fussgängerzone angekommen, stieg er ab und schob<br />

sein Fahrrad durch die Menschenmassen, die, wie befürchtet, den Weg verstopften. Fast alle trugen<br />

Gesichtsmasken, was die außergewöhnliche Situation deutlich machte. Die meisten Geschäfte waren<br />

geschlossen, viele davon dauerhaft, und der Menschenstrom schob sich hastig daran vorbei, um vor<br />

den wenigen geöffneten Läden Trauben zu bilden.<br />

Vom einzigen geöffneten Kaufhaus erhoffte sich Jens die beste Einkaufsmöglichkeit, daher parkte<br />

er sein Fahrrad in der Nähe und schloss sich der Menschentraube an, die nach drinnen drängte. Nach<br />

etwa einer Viertelstunde hatte Jens sich endlich bis zum Eingang v<strong>org</strong>earbeitet, aber von den ersten<br />

Waren war er noch meterweit entfernt.<br />

Zuerst strebte er in Richtung Delikatessenabteilung, um Wein und Pralinen zu kaufen. Die Preise,<br />

die er beim langsamen Vorwärtsschieben zu sehen bekam, erschienen ihm exorbitant. Aber die Leute<br />

kauften, als wäre es das letzte, das sie kaufen würden. Auch der Wein, den er schließlich ergatterte,<br />

kostete dreimal soviel, wie er es von gutem Wein in Erinnerung hatte. Mit Pralinenpreisen kannte er<br />

sich nicht aus, daher wusste er nicht, ob sie auch teurer geworden waren.<br />

Suchend schaute er sich um, ob er in dieser Abteilung auch gleich Geschenke für Sonja und<br />

Johanna finden könnte, aber für Johanna war eine Süssigkeit einfach zu popelig, wo sie ihm doch<br />

einen ganzen Pullover gestrickt hatte und für Sonja ließ sich bestimmt auch etwas Lustiges in der<br />

Spielwarenabteilung finden.<br />

Vor dem Barbiepuppen-Regal blieb er schließlich stehen, entschied sich aber gegen den Kauf<br />

einer Barbiepuppe, denn möglicherweise hatte Sonja schon zehn Stück davon. Auch die<br />

Rüschenkleider für Barbies ließ er liegen, denn vielleicht hatte Sonja ja auch gar keine solche<br />

Langbeinpuppe. Ob es vielleicht besser ein pädagogisch wertvolles Spielzeug sein sollte? Aber davon<br />

bekam sie bestimmt schon genug von ihren Eltern.<br />

Sein Blick fiel auf ein sagenhaft kitschiges rosa Pony mit langer Mähne, die man offensichtlich mit<br />

dem beiliegenden Kamm striegeln sollte. Ein spitzbübisches Grinsen stahl sich über Jens Gesicht.


Wahrscheinlich würde dieses Kitschmonster der kleinen Sonja sehr gut gefallen, und den Eltern würde<br />

es deutlich zeigen, dass er wohl kein so geeigneter Schwiegersohn war. Der Gedanke kam ihm albern<br />

vor, kaum hatte er ihn gedacht, aber das kleine rosa Pony reizte ihn dennoch, also arbeitete er sich<br />

zur Kasse vor und bezahlte.<br />

Nun kam das Schwierigste: ein Geschenk für Johanna. Egal, was er fand, neben dem Pullover<br />

würde es verblassen und wenn das Geschenk zu aufwendig war, würde es einem Versprechen<br />

gleichkommen, von dem Jens noch nicht wusste, ob er es geben wollte. Neben den Spielwaren fand<br />

er die Buchabteilung, wo er eine Weile durch die Bildbände stöberte. "Licht in dunklen Tagen" stand<br />

auf einem drauf, mit wunderbaren Naturbildern, aber sowas konnte man ja eher zu einer Beerdigung<br />

verschenken als zu Weihnachten für eine junge Frau.<br />

Nach einer Weile fand er ein Buch mit dem Titel "Wintermärchen", das auch sehr schöne Bilder<br />

hatte und voller heiterer Wintergeschichten steckte. So ein Buch war zwar irgendwie banal, aber es<br />

gefiel ihm und er wollte mit seinem Geschenk schließlich keine besondere Bedeutung verbinden.<br />

Nachdem auch dieses Geschenk bezahlt war, ging er auf dem Weg nach draussen noch in der<br />

Weihnachtsabteilung vorbei und erstand Geschenkpapier.<br />

Neben der Kasse standen dicke honigfarbene Kerzen mit einem dezenten Reliefmuster. Es roch<br />

schwach nach Bienenwachs und ein Schild versprach "Mit Bienenwachsbeimischung". Reines<br />

Bienenwachs war inzwischen wohl unbezahlbar, denn selbst die angebotenen Misch-Kerzen waren<br />

schon sehr teuer. Jens wurde aber den Gedanken an Frau Wagner nicht los, als er die Kerzen<br />

betrachtete, und er entschied sich, eine zu kaufen.<br />

Vollgepackt mit den ganzen Geschenken kämpfte er sich zum Ausgang durch und war sehr froh,<br />

als er endlich sein Fahrrad erreicht hatte. Durch eine schmale Seitenstrasse entfloh er dem Gedränge<br />

und fuhr auf dem schnellsten Weg nach Hause.<br />

Dort erwartete ihn ein Anruf von Ricardo.


Kapitel 24<br />

Ricardo wollte das Bistro wieder eröffnen und bat um einen Rückruf. Jens entledigte sich erst<br />

seiner Einkäufe und machte es sich dann auf dem Sofa bequem, bevor er den Anruf erwiderte.<br />

"Na, wieder unter den Lebenden?"<br />

"Ja, einigermaßen. Du auch, habe ich von Tina gehört."<br />

"Stimmt. Ich bin schon länger wieder auf den Beinen. Du willst jetzt wohl wieder das Bistro<br />

aufmachen?"<br />

"Wird höchste Zeit. Wann kannst du kommen?"<br />

"Du hasts aber eilig. Ich komme gerade von anstrengenden Weihnachtseinkäufen, da brauch ich<br />

erst ein Päuschen. In einer guten Stunde könnte ich da sein."<br />

"Ok, das reicht. Erstmal setzen wir uns gemütlich hin und überlegen, wie es weitergehen soll.<br />

Eröffnet wird erst heute abend."<br />

"Alles klar, bis dann."<br />

Schon wieder hatte er sich rumschubsen lassen, dachte Jens, als er das Handy weglegte. Aber er<br />

hätte Ricardo ja auch nicht einfach hängenlassen können, nur weil er sich auf einen faulen<br />

Nachmittag gefreut hatte. Also machte er sich nach einer kurzen Pause wieder auf den Weg und traf<br />

einen blassen Ricardo kaffeetrinkend an einem der Bistrotische an.<br />

"Hol dir auch n Kaffee und setz dich dann her.", sagte Ricardo zur Begrüssung.<br />

Als Jens mit der Tasse in der Hand Platz nahm, fuhr Ricardo fort: "Schön, dass du so schnell<br />

kommen konntest. Das ist leider nicht bei allen der Fall. Tina ist noch in Quarantäne und muss dort<br />

wohl noch ne Weile bleiben, weil denen die Grippetabletten ausgegangen sind. Mit ihr können wir also<br />

erstmal nicht rechnen".<br />

"Wie hast du es dir dann v<strong>org</strong>estellt?"<br />

"Meine Freundin hilft, denn die Schule, wo sie Lehrerin ist, hat jetzt Ferien. Und von dir erhoffe ich<br />

mir soviel Einsatz wie möglich. Am besten täglich mittags und abends."<br />

"Soviel wird nicht gehen. Ich arbeite jetzt schon ganztags bei einer Entrümpler-Firma. Da geht es<br />

höchstens abends am Wochenende und maximal dreimal die Woche."<br />

"Na ja, ich konnte wohl auch kaum erwarten, dass du untätig wartest, bis ich wieder auftauche.<br />

Also dann nur abends fünf Mal in der Woche."<br />

"Ok."<br />

"Unser grösstes Problem ist zur Zeit, dass die ganzen Lieferanten entweder geschlossen haben<br />

oder keine Ware mehr haben. Ich hab schon überall rumtelefoniert. Vielleicht müssen wir uns mit<br />

Lebensmitteln aus dem Supermarkt behelfen."<br />

"In den Supermärkten darf man inzwischen meistens nur noch haushaltsübliche Mengen kaufen.<br />

Ausserdem kriegen mich heute keine zehn Pferde mehr in einen Supermarkt rein."<br />

"Das klingt ja gar nicht gut. Aber ich werde mein Glück mal versuchen gehen. Was bleibt mir denn<br />

anderes übrig?"<br />

"Stimmt. Ich werde in der Zwischenzeit in der Kneipe nachfragen, in der ich in letzter Zeit immer<br />

mein Aben<strong>des</strong>sen gegessen habe, wo die ihre Zutaten kaufen. Vielleicht haben die ja einen guten<br />

Tipp."<br />

"Ok, tu das. Jetzt ist es sogar schon soweit, dass du in anderen Kneipen isst.", seufzte Ricardo.<br />

"Ich hab abends eben Hunger, wenn ich vom Entrümpeln komme.". Das Thema<br />

Leichenents<strong>org</strong>ung und noch mehr seinen potentiellen neuen Job wollte Jens Ricardo erstmal<br />

ersparen. Er sah so schon ziemlich überfordert aus.<br />

Jens schwang sich auf sein Fahrrad und fuhr zu seiner Stammkneipe. Am Wochenende war er dort<br />

noch nie gewesen. Es schien ihm leerer als sonst, aber es war auch erst später Nachmittag und noch<br />

keine Zeit für den Abendansturm. Die inzwischen vertraute Kellnerin saß auf einem der Barhocker und<br />

rauchte eine Zigarette. Jens ging direkt auf sie zu und fragte sie nach ihrem Lieferanten.


"Wo ist denn dieses Bistro, von dem du sprichst?", fragte sie skeptisch.<br />

"Etwa vier bis fünf Kilometer entfernt. Nicht weit von der Innenstadt."<br />

"Na gut, das ist weit genug weg. Du hast Glück, denn in zehn Minuten wird Olivier zu seiner<br />

Samstagsrunde vorbeikommen, dann kannst du mit ihm sprechen. Vielleicht ist er ja bereit, euch zu<br />

beliefern. Bisher hatte er immer leckere Sachen im Angebot und man munkelt von ganz besonderen<br />

Bezugsquellen."<br />

"Gut, dann bring mir doch ein Bier, damit ich in der Wartezeit nicht verdurste."<br />

Das Bier war noch nicht mal zu einem Drittel geleert, als ein schnauzbärtiger Mann mit<br />

Baskenmütze den Raum betrat. Er trug schwere Gemüsekisten und stellte sie auf den Tresen. Zur<br />

Kellnerin sagte er mit leicht französischem Akzent, wie entzückend sie mal wieder aussah.<br />

Nachdem die Kellnerin ihm einige Scheine in die Hand gedrückt hatte, sagte sie: "Olivier, das hier<br />

ist Jens. Er möchte Waren von dir kaufen."<br />

Jens beeilte sich "Guten Tag" zu sagen und wartete auf eine Reaktion.<br />

"Was möchtest du von mir 'aben?"<br />

"Alles, was man für die Wiedereröffnung eines Bistros braucht. Vor allem brauchen wir einen<br />

zuverlässigen neuen Lieferanten."<br />

"Dann bist du bei mir genau richtig. Ich nehme an, dein Bistro ist woanders. Du kannst erst einen<br />

Blick auf das Angebot werfen und dann fahren wir zu deinem Bistro."<br />

"Ein Blick auf das Angebot wäre wunderbar. Und dann fahr ich mit dem Fahrrad hinterher."<br />

"Wenn das so ist, kann ich ja auch noch die letzten beiden anderen Kunden kurz beliefern, denn<br />

dann habe ich Zeit für dich. Komm jetzt erstmal mit, ob dir überhaupt gefällt, was ich zu bieten habe."<br />

Jens war überzeugt, ein Grinsen beim letzten Satz mitzuhören, doch die Miene von Olivier blieb<br />

ungerührt. Jens folgte Olivier nach draussen zu seinem Lieferwagen, der mit einem grossen Schriftzug<br />

"Oliviers Spezialitäten" beschriftet war.<br />

Auf der rechten Seite stapelten sich Kisten mit Obst und Gemüse. Die Stirnwand wurde von einem<br />

überdimensionalen Kühlschrank eingenommen, der alle Arten von Fleisch, Wurst und Käse enthielt,<br />

wie man durch eine Glasscheibe sehen konnte. Links stand ein Regal, das mit Trockenwaren und<br />

Dosen gefüllt war. Es sah fast aus wie in einem kleinen Tante-Emma-Laden, mit dem Unterschied,<br />

dass die meisten Packungen grösser als für den Haushaltsbedarf üblich waren. Olivier nannte Jens<br />

ein paar der Preise, die Jens durchaus moderat fand.<br />

"Sehr gut, ich bin beeindruckt."<br />

"Ok, dann gib mir die Adresse. In einer halben Stunde bin ich bei euch."<br />

Als die Adresse aufgeschrieben war, rief Jens kurz bei Ricardo an, um ihn von einem qualvollen<br />

Supermarktbesuch abzuhalten. Ricardo war sehr froh darüber, denn er hatte noch zwei Drittel der<br />

Schlange vor sich, um den Supermarkt überhaupt betreten zu können.<br />

Im Bistro angekommen, kochte Jens eine frische Kanne Kaffee, um Olivier etwas anbieten zu<br />

können. Als Ricardo kam, berichtete er ihm von ihrem neuen Lieferanten. Kaum war der Kaffee fertig,<br />

betrat Olivier schwungvoll das Bistro.<br />

"Monsieurs. Ich wünsche einen angenehmen Tag."<br />

"Möchtest du einen Kaffee?", bot Jens ihm an.<br />

Olivier hob die Nase und schnupperte ausgiebig. "Uiih, dieses abscheuliche, drogenversetzte,<br />

synthetische Gebräu. Da sollte ich euch doch gleich mein Alternativprodukt vorstellen, damit wir eine<br />

vernünftige Grundlage für ein Gespräch haben."<br />

Er winkte Jens und Ricardo herbei, mit ihm zum Lieferwagen zu kommen. Ricardo schien<br />

beeindruckt von der Auswahl, die Oliviers mobiler Laden bot. Olivier griff nach einem Glas mit der<br />

Beschriftung "Lecker-Kaffee", <strong>des</strong>sen Etikett wie selbstgemacht aussah.<br />

"Lasst uns jetzt einen guten Kaffee kochen.", sagte er und folgte Jens in die enge Küche. Jens<br />

nahm eine frische Kanne und bereitete die Maschine soweit vor, dass Olivier nur noch das Pulver<br />

hineinschütten musste.


"Von Hand gebrüht ist er natürlich besser, aber zur Not geht es auch so.", sagte Olivier und häufte<br />

eine ordentliche Menge in die Filtertüte.<br />

"Was ist so schlecht an unserem Kaffee und an deinem Kaffee soviel besser?"<br />

"Dieses Regierungszeug ist vollständig künstlich und versetzt mit Drogen, die einen ohne Murren<br />

unentwegt arbeiten lassen. Natürlich alles im legalen Rahmen, aber der ist in diesem Fall schon sehr<br />

weit gezogen. Ich lass mich einfach nicht gerne fremdbestimmen."<br />

"Im Ernst. Voller Drogen?"<br />

"Genau. Unser Kaffee hingegen wird uns einmal im Jahr von uns bekannten Anbauern geliefert<br />

und hier in der Nähe wird er in einer kleinen Kaffeerösterei geröstet und teilweise gemahlen. Diese<br />

spezielle Sorte hier, hat noch einen Hauch Kakoaroma, natürlich auch von uns bekannten Lieferanten,<br />

denn diese Geschmacksrichtung ist zur Zeit äusserst populär. Die Wirkung ist selbstverständlich auch<br />

anregend, aber durch natürliche Pflanzenwirkstoffe und dadurch milder und nachhaltiger."<br />

"Dann lassen wir uns mal überraschen."<br />

Der Kaffee hielt mehr als sein Versprechen. Obwohl Jens den synthetischen Power-Kaffee bisher<br />

als sehr schmackhaft empfunden hatte, war er ganz entzückt, wie das Kaffeearoma seine<br />

Geschmacksnerven streichelte. Der Lecker-Kaffee schmeckte voller und gleichzeitig leichter als der<br />

andere.<br />

"Ach ja, und hier noch das Glas. Ist ein Mehrweg-Glas, das heisst, wir nehmen es wieder zurück<br />

zur Wiederverwendung. Der Kaffee ist ein Geschenk <strong>des</strong> Hauses."<br />

"Machst du einen auf fairen Dritte-Welt-Handel oder Bio oder so?", fragte Ricardo, als sie an einem<br />

der Bistrotische Platz genommen hatten.<br />

"Nein, zumin<strong>des</strong>t nicht im engeren Sinne, obwohl ich auch einige offizielle Bioprodukte führe. Wollt<br />

ihr die kurze oder die lange Version hören?"<br />

"Die lange."<br />

"Vor etwa zwanzig Jahren fing alles mit Krabben an. Damals war ich Koch und Einkäufer in einem<br />

gehobenen Restaurant mit französischer Küche und stand mal wieder im Grossmarkt und wollte<br />

Krabben kaufen. Kurz vorher hatte ich auf einem Wochenendausflug Krabben direkt vom Kutter<br />

gegessen und sehr genossen. Die Krabben im Grossmarkt hingegen rochen muffig und ich fand<br />

nirgendwo welche, die mir zusagten.<br />

So fragte ich denn einen der Händler, was denn mit den Krabben los sei. Er sagte mir, dass das<br />

doch ganz normal sei, bei Krabben, die aus Marokko kommen würden. Als ich ihn darauf hinwies,<br />

dass auf dem Schild Nordsee-Krabben stand, erklärte er mir, dass die Krabben von der Nordsee erst<br />

nach Marokko zum billig Pulen und dann wieder zurück nach Europa verschifft würden.<br />

Ich konnte es kaum fassen, vor allem, als er mir erklärte, dass dieses Verfahren billiger sei, als in<br />

Deutschland pulen zu lassen. Manche Krabben würden auch in Polen gepult, aber die würden öfters<br />

Ärger mit der Gewerkschaft machen.<br />

An meinem nächsten freien Tag machte ich mich auf die Suche nach einem Anbieter, der ohne<br />

diesen weiten Umweg auskam. Die Suche dauerte erheblich länger als erwartet, aber nach mehreren<br />

Wochen fand ich schließlich einen kleinen Anbieter in Cuxhaven, der mit einer Pulmaschine arbeitete<br />

und dadurch zu Preisen liefern konnte, die im erträglichen Maße über denen der Reisekrabben lagen.<br />

Später entstanden in Ostfriesland dann noch mehrere Firmen, die mit Maschinen vorpulen ließen und<br />

Menschen übernahmen die Endkontrolle und das Nachpulen.<br />

Auf diese Weise entstanden durch die Hilfe der Maschinen neue Arbeitsplätze, die zwar nicht sehr<br />

gut bezahlt waren, aber auch nicht mit den Billiglöhnen in Marokko konkurrieren mussten. Diese vor<br />

Ort gepulten Krabben waren natürlich viel frischer und erst so kam man in den wahren<br />

Krabbengenuss.<br />

Nach einer Weile <strong>org</strong>anisierte ich Krabbenlieferungen für mehrere Restaurants hier im Umkreis<br />

und belieferte nebenher einen Stand am Grossmarkt.<br />

Durch die Krabben war ich aufmerksam geworden und achtete mehr darauf, wo ein Produkt<br />

angebaut worden und was danach mit ihm geschehen war, bevor es im Grossmarkt landete.<br />

Dabei erfuhr ich, dass in unserer Nähe fast alles außer Bananen angebaut wird oder angebaut<br />

werden könnte.


Also machte ich mir zur Grundregel, alles Frische nach Möglichkeit von lokalen Produzenten zu<br />

beziehen.<br />

Diese Leidenschaft machte sich selbstständig und nach einer Weile gab ich meinen Kochjob auf<br />

und wurde hauptberuflicher Einkäufer auf eigene Rechnung. Um Abnehmer brauchte ich mir keine<br />

S<strong>org</strong>en machen, denn die besseren Restaurants freuten sich über meinen Lieferservice. Später<br />

kamen auch noch Bio- und Delikatessenläden dazu. Die Suche nach geeigneten Bauern war immer<br />

wieder spannend. Viele mussten auch ermuntert werden, weil sie vor lauter EU-Subventionen ein<br />

Scheuklappendenken entwickelt hatten.<br />

Inzwischen fahren alle unsere Lieferwagen mit Pflanzenöl, das von unseren Bauern in der Nähe<br />

angebaut wird und dadurch haben wir weder Liefer- noch Transportprobleme. Durch die ölbedingten<br />

Preissteigerungen sind wir sogar fast schon billig geworden, im Vergleich zu allen Anbietern, deren<br />

Essen erstmal weite Reisen antreten muss. Seit letztem Jahr ist die Nachfrage auf das Doppelte<br />

angestiegen."<br />

"Nicht schlecht. Aber woher hast du denn dann Tomaten im Winter? Ich habe gesehen, dass du<br />

ziemlich akzeptable Exemplare kistenweise im Angebot hast."<br />

"Stimmt. Die solltet ihr probieren. Ein Bauer in Ostfriesland hat sich die Methoden der Holländer<br />

abgeschaut und in grosse Treibhäuser investiert. Als das im Sommer anfing Profit abzuwerfen, hat er<br />

drei Windkraftwerke auf seinen Kuhweiden bauen lassen. Damit konnte er dann die Treibhäuser im<br />

Winter beleuchten und heizen. Für eventuelle Flauten hat er mehrere Speichersysteme mit Batterien<br />

und Wasserstoff und normalerweise fällt noch reichlich Strom ab, der ins Netz gespeist wird. Diese<br />

Idee haben seitdem viele Bauern aufgegriffen."<br />

"Aber das reicht doch nie für die Unmassen von Tomatensosse, die überall verbraucht werden."<br />

"Gut erkannt. Die hiesige Produktion macht nur Sinn für frische Tomaten. Die Soßen werden gleich<br />

nach Ernte in Italien und Spanien gekocht und dann in einem Schwung per Schiff geliefert. Das ist auf<br />

die Menge umgerechnet relativ energieschonend. Hier lagern sie dann in meinen Lagerhäusern, die<br />

teilweise unterirdisch liegen, um mit natürlicher Kühlung auszukommen."<br />

"Und die hiesigen Bauern haben alle Windkraftanlagen?"<br />

"Die reicheren wohl und die anderen haben meistens Anteile an gemeindeeigenen Windkrafträdern<br />

oder verdienen an der Vermietung ihrer Kuhweide. Viele Tierhalter produzieren auch Methan mit<br />

Biogas-Anlagen. Damit kann man auch wunderbar heizen, kochen, fahren und alles was das Herz<br />

begehrt."<br />

"Das ist die Lösung.", entfuhr es Jens.<br />

"Die Lösung für was?"<br />

"Für all die Probleme, die wir haben, mal abgesehen von der Grippe."<br />

"Schön wärs. Die Sache hat zwei Haken."<br />

"Und die wären?"<br />

"Haken eins: ich habe zwanzig Jahre dafür gebraucht, um all das aufzubauen. Und die Installation<br />

mancher Anlage zog sich Jahre hin, bis mal alles eingespielt war. In diesen zwanzig Jahren waren die<br />

meisten Rohstoffe billig wie nie zuvor. Jetzt sind die Rohstoffe nicht nur teuer, sondern auch knapp<br />

und teilweise schlicht nicht lieferbar. Da hilft der beste Wille und die grössten Geldmengen nicht, die<br />

nötige Infrastruktur in kurzer Zeit aufzubauen. Bis das flächendeckend aufgebaut werden kann, dauert<br />

es im günstigen Fall fünfzig Jahre, wenn nichts Ernsthaftes dazwischen kommt.<br />

Haken zwei: selbst wenn die ganze Infrastruktur auf regionale Verteilung mit alternativen<br />

Treibstoffen umgestellt ist, dann reicht es nicht für alle. Wir können zwar genug produzieren, dass alle<br />

satt werden, wohlgemerkt im günstigsten Fall, wenn genug Dünger aus Biomasse und Kohle<br />

produziert wird und die Bauern genug Treibstoff für ihre Landmaschinen haben. Aber wir haben nicht<br />

genug Fläche, um genug Biodiesel für alle zu produzieren und die Flächen für Windkraftnutzung sind<br />

auch schon fast alle ausgenutzt. Das Problem der Wohnraumheizung ist auch noch nicht gelöst und<br />

Tomaten im Winter kann es auf keinen Fall für alle geben. Obwohl die Bevölkerung in Mitteleuropa<br />

stark abnimmt, sind wir immer noch zuviele. Oder wir müssen unsere Transportierwut auf das<br />

allernotwendigste beschränken. Noch erheblich weniger als jetzt schon gezwungenermaßen."<br />

"Das klingt leider einleuchtend. Aber wir haben jetzt ja wohl das Glück von dir kaufen zu können."<br />

"Genau, dafür sind wir hier. Kommt, und sucht in Ruhe aus."


Kapitel 25<br />

Beim Schneiden der Tomaten stellte sich Jens später ein grosses Gewächshaus vor, in dem die<br />

Tomaten bis zur Decke wuchsen, geheizt von mehreren Windrädern, die in schwindelnder Höhe ihre<br />

Kreise zogen. Diese Vorstellung faszinierte ihn. Über Olivier und seine Bauern würde er bestimmt<br />

noch oft nachdenken, denn sie boten neue Perspektiven.<br />

Oliviers Bemerkungen über den Power-Kaffee hatten Jens irritiert und er fragte sich, inwieweit die<br />

Äusserungen der Wahrheit entsprachen. Ähnliches hatte er selbst ja auch schon zur Verpflegung der<br />

Grundsicherungsempfänger gemutmaßt und dass der Kaffee besonders viel Schwung gab, war ihm<br />

auch bewusst gewesen. Aber die Art, wie Olivier darüber gesprochen hatte, ließ den Kaffee in einem<br />

anderen Licht erscheinen.<br />

"Hast du eigentlich diesen Power-Kaffee gekauft?", fragte Jens, als Ricardo kurz in die Küche kam.<br />

"Nein, ich dachte, das wäre Tina gewesen."<br />

"Die wars auch nicht, denn sie dachte, du hättest ihn gekauft."<br />

"Wer hat ihn den dann gekauft?"<br />

"Ob Olivier vielleicht Recht hat mit der Bezeichnung Regierungszeug?"<br />

"Klingt schon sehr nach Verschwörungstheorie. Aber der neue Kaffee ist sowieso besser; wir<br />

brauchen den Power-Kaffee ja einfach nicht mehr trinken, wenn er uns suspekt ist."<br />

"Recht hast du."<br />

Das Bistro war nur mäßig besucht, denn wahrscheinlich hatte es sich noch nicht<br />

herumgesprochen, dass es wieder geöffnet hatte. Am nächsten Tag war schon mehr los und Jens<br />

hatte sowieso gute Laune, weil er sich einen Nachmittag in seiner Werkstatt-Garage gegönnt hatte.<br />

Weihnachten näherte sich mit Riesenschritten und Jens war gar nicht wohl bei dem Gedanken. Nur<br />

noch einen Tag lang Tote bergen und dann würde er mit Familie Trautmann eine freudlose heile Welt<br />

feiern. Die Geschenke hatte er inzwischen eingepackt, sie standen auf einer Kommode und blickten<br />

ihn drohend an. Am liebsten hätte er abgesagt, aber diese Blöße wollte er sich nicht geben.<br />

Pünktlich um halb vier stand Jens frisch geduscht vor der Tür der Trautmanns. Der Wachtposten<br />

hatte ihn diesmal problemlos durchgelassen. Jens zögerte zu klingeln, aber nach einem kurzen<br />

Moment gab er sich einen Ruck, denn zurück konnte er jetzt wohl kaum noch. Ob er heute wohl eine<br />

Entscheidung treffen musste?<br />

Als hätte sie schon in den Startlöchern gestanden, öffnete Johanna in Win<strong>des</strong>eile die Tür. Sie<br />

drückte ihn kurz an sich und gab ihm einen Kuss auf den Mund. Jens fand, dass sie von Mal zu Mal<br />

bezaubernder aussah. Sie gingen ins Esszimmer, wo ein Adventskranz mit vier brennenden Kerzen<br />

auf dem Tisch prangte. Diesmal gab es nach einer höflichen Begrüssung Mohnkuchen, der Frau<br />

Trautmann sehr gut gelungen war. Mit den Gebeten am Anfang hatte Jens diesmal schon gerechnet,<br />

darum erschreckten sie ihn nicht mehr.<br />

Sonja wirkte sehr aufgeregt, bestimmt wegen der kommenden Geschenke, aber sie versuchte<br />

auch immer wieder Jens in ein Gespräch zu verwickeln. Anscheinend war ein junger Mann etwas<br />

Seltenes in diesem Haus. Jens war sehr froh über Sonjas Geplapper, denn das lockerte die Stimmung<br />

deutlich auf und Jens fühlte sich im Gespräch mit ihr freier als mit ihren Eltern. Der strenge Blick, den<br />

Herr Trautmann Sonja immer zuwarf, wenn sie drohte zu fröhlich zu werden, verhinderte jedoch eine<br />

unbeschwerte Unterhaltung mit Sonja, denn sie erbravte immer schlagartig, wenn die optische Rüge<br />

sie traf.<br />

Die Perfektion im Hause Trautmann war Jens geradezu unheimlich. Jede Bewegung, die Herr oder<br />

Frau Trautmann machten, schien einem festgelegten Muster zu folgen, dem sie zu jeder Zeit treu<br />

ergeben waren. Das Messer zum Kuchenschneiden wurde nach Gebrauch exakt auf eine Serviette<br />

gelegt, die extra für diesen Zweck bereitlag, alle Kuchenstücke waren auf den Millimeter gleich gross,<br />

jede Kaffeetasse wurde genau bis zu einem bestimmten Punkt gefüllt, nicht zu hoch, damit keinerlei<br />

Gefahr <strong>des</strong> Überschwappens bestand und je<strong>des</strong> Führen der Gabel zum Mund fand mit der Präzision<br />

eines Uhrwerkes statt.<br />

Besonders erstaunlich fand Jens jedoch, wie Frau Trautmann es schaffte, beim Verteilen der<br />

großen Sahneportionen knausrig zu wirken. Jeder der üppig gefüllten Löffel schien beim zaghaften


Positionieren auf dem Teller zu sagen: "Eigentlich wäre ich gar nicht so gross. Das ist alles nur<br />

Tarnung. Zuviel Sahne ist lasterhaft.". Dennoch landeten neben jedem Kuchenstück vier dieser Löffel,<br />

eine Menge, die auch für Jens nur mit Mühe zu bewältigen war.<br />

Er war froh, als die Kaffeetafel aufgehoben wurde. Familie Trautmann strömte in den Hausflur und<br />

jeder griff nach seinem Mantel. Als Jens Johanna fragend ansah, sagte sie: "Jetzt gehen wir in die<br />

Kirche.". Jens brummte eine Antwort, die man als "alles klar" interpretieren konnte und nahm auch<br />

seine Jacke vom Kleiderbügel.<br />

Draussen war es inzwischen dunkel geworden, doch die Straßenbeleuchtung, vereinzelte<br />

leuchtende Weihnachtsbäume in Gärten und geschmückte Fenster tauchten die Straße in ein warmes<br />

Licht. Nur wenige Menschen waren unterwegs, aber je näher sie der Kirche kamen, <strong>des</strong>to häufiger<br />

begegneten ihnen Leute, die alle dem Klang der Kirchenglocken zustrebten. Die Kirche war ein<br />

schmuckloses Gebäude mit einem überdimensionalen, asymetrischen Dach. Über dem Eingangstor<br />

war jedoch ein leuchtender Weihnachtsstern angebracht, um dem feierlichen Anlass gerecht zu<br />

werden.<br />

Vor dem Betreten der Kirche musste jeder einen Mundschutz aufsetzen, was für Jens kein<br />

Problem war, weil er inzwischen immer eine Maske in seiner Jackentasche mitführte. Drinnen<br />

angekommen, fiel sofort ein hoher Weihnachtsbaum mit elektrischen Kerzen ins Auge, der neben dem<br />

Altar stand. Die schlichten Holzbänke nahm Jens erst anschließend wahr. Johanna drückte ihm ein<br />

kleines Buch in die Hand und flüsterte ihm "Gesangsbuch" ins Ohr. Dann nahmen sie in einer der<br />

Sitzreihen Platz und warteten, bis der Gottesdienst losging.<br />

Jens fand die Umgebung und Stimmung sehr befremdlich, doch das wunderte ihn nicht, weil er<br />

Gottesdienste nur aus dem Fernsehen kannte. Dass die Trautmanns zu Weihnachten in die Kirche<br />

gehen würde, hätte er sich eigentlich denken können, aber die Gewohnheiten von religiösen Leuten<br />

waren ihm so fremd, dass er nicht auf die Idee gekommen war. Immerhin war der riesige Raum<br />

beheizt, sodass keiner frieren musste. Dadurch war die Atmosphäre wenigstens nicht frostig.<br />

Langsam füllten sich die Reihen und vereinzeltes Husten mischte sich mit dem allgegenwärtigen<br />

Geflüster, das erst verebbte, als die Tür mit einem schabenden Geräusch geschlossen wurde. Der<br />

kurze Moment der Stille wurde von einer getragenen Orgelmelodie abgelöst. Beim Altar hatte sich<br />

inzwischen ein Pastor eingefunden, der schon in seiner Eröffnungsrede von schweren Zeiten und<br />

neuer Hoffnung durch Christi Geburt sprach.<br />

Neben Johanna zu sitzen war der einzige Lichtblick für Jens in dieser ernsthaften Gesellschaft.<br />

Sonja saß auf seiner anderen Seite und zappelte unruhig auf der harten Bank, von strengen<br />

mütterlichen Blicken immer wieder zur Ruhe gemahnt. Als nächstes blätterten alle in den<br />

Gesangsbüchern und sangen ein Weihnachtslied, das durch die langsame Geschwindigkeit, in der es<br />

gesungen wurde, kaum wieder zu erkennen war. Jede Silbe tropfte zäh und unentschlossen aus der<br />

Orgel und manche der Gemeindemitglieder hinkten dem noch hinterher, wodurch das Lied zu einem<br />

Brei verschwamm. Eigentlich ging es im Lied darum, dass das Herz fröhlich springen sollte, aber Jens<br />

empfand es eher als schleppenden Trott.<br />

Ein Chor trat auf und sang etwas erträglicher als die Gemeinde, danach kam der Pastor wieder zu<br />

Wort. Was er zu sagen hatte, klang in Jens Ohren eigentlich ganz vernünftig und man konnte spüren,<br />

wieviel Mühe er darauf verwandt hatte, möglichst viel Zuversicht in seine Sätze einfließen zu lassen.<br />

Die salbungsvolle Sprechweise wirkte jedoch einschläfernd auf Jens, der allmählich in einen Tagtraum<br />

abdriftete. Ein weiteres Lied der Gemeinde schreckte ihn wieder auf, aber eher durch die Lautstärke,<br />

als durch den Schwung.<br />

Unterdrücktes Kichern kündigte einen Kinderchor an, der sich nur mühsam formierte. Als endlich<br />

alle an der v<strong>org</strong>esehenen Stelle standen, sangen sie: "Am Tannenbaum die Lichter brennen".<br />

Plötzlich erlosch die Christbaumbeleuchtung und die Kirche lag im Dunkeln. Einige hohe Stimmen<br />

kreischten auf; das Lied endete abrupt. Nur zwei Kerzen auf dem Altar spendeten noch Licht. Ihre<br />

Flammen schnitten tiefe Schatten in das Relief <strong>des</strong> toten Jesus am Kreuz, der sich dadurch zu<br />

bewegen schien. Unheimlich.<br />

Der Pastor rief: "Lasst uns beten.", und stimmte ein Vaterunser an. Die Gemeinde folgte ihm willig<br />

und schnell war die Ruhe wieder hergestellt. Anschließend tuschelte der Betreuer der Kinder mit<br />

seinen Anbefohlenen und verteilte Kerzen mit Papphaltern an je<strong>des</strong> der Kinder. Als alle Kerzen<br />

angezündet waren, wirkte das Licht schon wieder heimeliger. Die Kinder verteilten sich in der ganzen<br />

Kirche, sodass überall wenigstens ein kleiner Lichtschimmer zu sehen war. Die kleine<br />

Kerzenprozession wirkte fast wie einstudiert.


Obwohl man viele beunruhigte Gesichter sehen konnte, ging der Gottesdienst weiter, als wäre<br />

nichts geschehen. Stromausfälle waren schließlich auch nichts besonderes mehr, aber man sah den<br />

Menschen an, dass sie sich ein Weihnachten ohne Stromausfälle und Katastrophen gewünscht<br />

hatten. Allmählich wurde es deutlich kühler, aber die Nähe von Johanna und Sonja s<strong>org</strong>te für eine<br />

ausreichende Grundwärme.<br />

Irgendwann war der Gottesdienst zu Ende und die Gemeinde strebte dem Ausgang zu, der von<br />

vier Kerzenkindern beleuchtet wurde. Draussen erwartete sie kein weihnachtlicher Glanz, sondern<br />

tiefe Dunkelheit. Der Himmel war bedeckt, sodass man nicht mal Sternenlicht sehen konnte. Einige<br />

Wohnungsfenster leuchteten zwar schwach flackernd, aber das reichte nur aus, um erkennen zu<br />

können, wo Häuser standen. Jens holte seine kleine Taschenlampe aus der Jacke und schaltete sie<br />

ein, was den Trautmanns beruhigtes Gemurmel entlockte.<br />

Im Schein der Taschenlampe gingen sie langsam nach Hause.<br />

"Wie gut, dass die Kinder sowieso eine Szene mit Kerzen darstellen sollten. Dadurch hat das doch<br />

ganz gut geklappt, nicht wahr?", sagte Johanna zu Jens.<br />

"Stimmt, nach dem ersten Gewusel wirkte es fast professionell."<br />

"Wie hats dir denn gefallen?"<br />

"Etwas ungewohnt, aber sie bieten wenigstens ein abwechslungsreiches Programm, das einen<br />

immer wieder aufweckt."<br />

In den Augenwinkeln sah Jens, wie das Gesicht von Herrn Trautmann kurz zur Maske erstarrte.<br />

"Mir hat die Predigt sehr gut gefallen. Hat genau zur Situation gepasst.", fuhr Johanna<br />

unbeeindruckt fort. Vermutlich hatte sie das Missfallen ihres Vaters nicht wahrgenommen.<br />

"Die Predigt, war das als der Pastor ziemlich lange am Stück geredet hat?"<br />

"Ja, als er ausführlich über die schwierige Situation der Welt und die Hoffnung gesprochen hat."<br />

"Das klang recht gut durchdacht. Und wenn man auch in Notzeiten einen Strohhalm zum<br />

Anklammern hat, ist das ja auch sehr praktisch. Auf jeden Fall besser als verzweifeln und sich in das<br />

tiefe Loch fallen zu lassen."<br />

Johanna nickte und den Rest <strong>des</strong> Weges schwiegen sie. Bei den Trautmanns angekommen,<br />

wurden schnell der Adventskranz und alle vorhandenen Kerzen im Esszimmer entzündet. Frau<br />

Trautmann sagte: "Aus dem Karpfen wird wohl nichts, wenn der Strom nicht bald wiederkommt.".<br />

"Das macht nichts. Dann essen wir einfach Kekse.", freute sich Sonja.<br />

"Na gut, dann essen wir eben Kekse zu Abend. Schließlich ist heute Weihnachten. Ich kann aber<br />

auch belegte Schnitten machen."<br />

"Belegte Schnitten wären später bestimmt ganz sinnvoll.", mischte Herr Trautmann sich ein. "Jetzt<br />

sollten wir uns auf die Bescherung vorbereiten."<br />

Herr Trautmann verschwand im Wohnzimmer. Jens holte seinen Rucksack aus dem Windfang und<br />

schaute Johanna fragend an.<br />

"Jetzt müssen wir etwa eine halbe Stunde warten, in der wir hoch gehen können. Aber Sonja<br />

sollten wir mitnehmen, damit sie vor Ungeduld nicht umkommt."<br />

Zu dritt sassen sie dann in Johannas schwach beleuchtetem Zimmer und Sonja diskutierte eifrig<br />

den Stromausfall in der Kirche. Jens war das ganz lieb, denn er hätte sowieso nicht gewusst, worüber<br />

er sprechen sollte. Nebenher dachte er an Olivier und seine Bauern. Die saßen bestimmt nicht im<br />

Dunkeln, gut ausgerüstet, wie sie waren.<br />

Nach einer Weile schickte Johanna Sonja zum Flöte holen in ihr Zimmer. Sie selbst holte eine<br />

ziemlich grosse Flöte aus einem Kasten und steckte sie zusammen.<br />

"Hausmusik.", sagte sie, als Jens sie fragend anblickte.<br />

Kurz darauf klingelte ein Glöckchen und Sonja wurde ganz hibbelig. Johanna nahm sie an der<br />

Hand und gemessenen Schrittes gingen die Drei die Treppe herunter zum Wohnzimmer, <strong>des</strong>sen Tür<br />

jetzt offen stand. Ein Weihnachtsbaum mit hunderten von echten Kerzen tauchte das Zimmer in<br />

wahrhaft feierliches Licht.


Im Gegensatz zu den lamettaüberhängten Weihnachtsbäumen, die in allen Farben ihren Kitsch<br />

versprühten, fand Jens diesen Weihnachtsbaum ästhetisch. Lametta fehlte völlig, statt<strong>des</strong>sen gab es<br />

viel selbstgebastelten Schmuck in den Farben rot und strohgold. Zusammen mit den honigfarbenen<br />

Kerzen und deren lebendige Flammen wirkte der Baum einfach schön. Dafür hatte sich das Warten<br />

gelohnt.<br />

Herr Trautmann setzte sich auf einen der Sessel und bedeutete Jens, seinem Beispiel zu folgen.<br />

Frau Trautmann setzte sich an ein Klavier und die beiden Töchter stellten sich vor dem<br />

Weihnachtsbaum auf. Sonja hatte eine Flöte, die genau passend zu ihrer Körpergrösse kleiner war,<br />

als die von Johanna. Die Mutter zählte kurz bis drei, dann fing das erste Weihnachtslied an, von Frau<br />

Trautmanns glockenhellem Sopran gesungen, Sonja spielte die Melodie und Johanna eine zweite<br />

Stimme. Das Klavier gab den zarten Flötentönen etwas Fülle.<br />

Nach dem dritten Lied stand Herr Traumtmann auf und nickte Jens zu, der das als Aufforderung<br />

verstand, seinerseits aufzustehen. Diesmal wurde "Oh, du Fröhliche" gesungen und auch Herr<br />

Traumtann stimmte in den Gesang mit ein. Jens verstand, dass dies wohl der Höhepunkt <strong>des</strong><br />

Konzertes mit gemeinsamem Singen war, und brummte die Melodie mit, denn den Text hatte er<br />

vergessen.<br />

Mit kaum verhohlener Hast legte Sonja anschließend ihre Flöte zur Seite und kniete sich vor den<br />

Weihnachtsbaum, unter dem die Geschenke lagen. Nachdem der Vater mit einem Blick seine<br />

Erlaubnis erteilt hatte, griff sie nach dem ersten Paket, auf dem "Sonja" stand.<br />

Jetzt war offensichtlich der Moment gekommen, um die Geschenke zu verteilen. Jens fischte seine<br />

Päckchen aus dem Rucksack, ärgerte sich etwas darüber, wie zerknittert die Verpackung teilweise<br />

aussah und stellte die Pakete auf den Couchtisch. Wie übergab man die jetzt ohne ins Fettnäpfchen<br />

zu treten? "Ladies first", fiel Jens ein, daher nahm er erst die Pralinen und gab sie Frau Trautmann.<br />

"Für Sie!", sagte er, "Ich hoffe, Sie können etwas damit anfangen.". Die Bemerkungen "Ich wusste<br />

nicht, was Ihnen gefällt." und "Es ist nur eine Kleinigkeit." verkniff er sich, denn obwohl er so dachte,<br />

hielt er solche Sätze für hohle Phrasen.<br />

Die Flasche Wein überreichte Jens Herrn Trautmann und dann ging er zu Sonja, um ihr das<br />

Päckchen mit dem Pony zu geben. Sonja ließ sofort von der Betrachtung ihres neuen<br />

Gesellschaftsspiels ab und stürzte sich auf Jens Geschenk. Man sah ihr an, dass sie am liebsten die<br />

Verpackung zerfetzt hätte, so eilig war es ihr zu sehen, was Jens ihr mitgebracht hatte. Statt<strong>des</strong>sen<br />

entfernte sie umsichtig die Tesafilm-Streifen, warf das so s<strong>org</strong>sam bewahrte Geschenkpapier dann<br />

aber achtlos zur Seite. Beim Anblick <strong>des</strong> rosafarbenen Kämmponies brach sie in lautes<br />

Triumphgeheul aus, das den Tannenbaum zum Zittern brachte. Beim Jubeln sprang sie hoch in die<br />

Luft, dann fiel sie Jens um den Hals und bedeckte ihn mit Küssen. Trotz der lautstarken<br />

Freudenäusserungen hörte Jens deutlich, wie die Eltern die Luft anhielten und erst nach längerer Zeit<br />

wieder vorsichtig ausatmeten. Aber Sonjas Herz hatte er wohl ein für alle Mal erobert.<br />

Inzwischen hatte auch Frau Trautmann ihre Pralinen ausgepackt und bedankte sich höflich bei<br />

Jens. Man konnte ihrer Nasenspitze ansehen, dass es ihr mit den Pralinen ging, wie vorher mit der<br />

Sahne. Aber sie überwand ihre Skrupel, öffnete die Packung, fischte mit spitzen Fingern eine Praline<br />

raus und bot die Schachtel allen anderen an. Auch Herr Trautmann bedankte sich höflich und stellte<br />

die Flasche Rotwein auf den Couchtisch.<br />

Bei der Übergabe seines Geschenkes an Johanna konnte Jens sich ein "ich wusste nicht, was dir<br />

gefällt." nicht verkneifen, denn bei Johanna lag ihm etwas daran, dass sie sein Geschenk nicht nur<br />

höflich entgegennahm und er war sich sehr unsicher, ob er ihren Geschmack getroffen hatte. Ihre<br />

Augen leuchteten jedoch auf, als sie in dem geschenkten Buch blätterte.<br />

"Das hast du sehr gut getroffen. Ich lese sehr gerne Märchen und Wintermärchen passen ja<br />

besonders gut. Und die schönen Bilder auf jeder Seite sind wunderbar."<br />

Ein dicker Kuss landete auf Jens Backe. Dann gab Johanna auch ihm ein Geschenk, das sich als<br />

Schal entpuppte, der genau zu Jens neuem Pullover passte, den Jens zur Feier <strong>des</strong> Tages natürlich<br />

angezogen hatte. Jens wickelte sich den Schal um den Hals und küsste zurück.<br />

Dann kam Sonja schon aufgeregt angesprungen, um Jens zu beschenken. Sie hatte ihm zwei<br />

Topflappen gehäkelt, die farblich auf Schal und Pullover abgestimmt waren, aber aus anderem<br />

Material bestanden. Jens lobte sie für ihre fleissige Arbeit und erklärte, dass er die Topflappen beim<br />

Kochen sehr gut gebrauchen können würde, was der Wahrheit entsprach.


Herr Trautmann übergab Jens ein flaches Päckchen in CD-Größe und sagte: "Von uns beiden.".<br />

Jens dankte ihm höflich und entpackte das Geschenk. Es war ein Weltatlas in der neuesten Version<br />

mit vielen Film- und Fotobeiträgen aus allen Ländern der Erde.<br />

"Danke! Das gefällt mir wirklich sehr gut, denn ich habe nur eine uralte Atlas-Version und einen<br />

Atlas kann man immer gut gebrauchen."<br />

Weitere familieninterne Geschenke wurden ausgetauscht und nach einer Weile verschwand Frau<br />

Trautmann in der Küche, um sich den Schnitten zu widmen. Jens ließ sich unter<strong>des</strong>sen ein paar der<br />

selbstgebackenen Kekse schmecken, nachdem der grosse Keksteller freigegeben worden war. Bei<br />

den Keksen hatte Frau Trautmann wieder einmal ihr Backtalent bewiesen. Als Jens sich einen mit<br />

Zuckerguss verzierten Keks nahm, kam Sonja auf ihn zu und erklärte stolz, dass sie die ganzen<br />

Verzierungen selbst gemacht hatte. Auch bei den anderen Keksen hatte sie mitgeholfen, wie sie<br />

berichtete. Jens nickte anerkennend mit vollem Mund, woraufhin sie sich wieder dem Kämmen ihres<br />

Ponies widmete.<br />

Jens setzte sich neben Johanna, die in dem Märchenbuch blätterte. Es schien ihr tatsächlich zu<br />

gefallen. Obwohl er so dicht neben ihr saß, fühlte er sich viel weiter von ihr weg, als wenn sie in seiner<br />

Wohnung auf einem anderen Sessel saß. Das lag bestimmt an dem feierlichen Anlass und der<br />

familiären Beobachtung.<br />

Bald rief Frau Trautmann sie zum Essen und stellte eine Platte mit festlich belegten Broten auf den<br />

Tisch im Esszimmer. Herr Trautmann löschte einen Teil der Weihnachtsbaumkerzen und ließ die Tür<br />

zum Wohnzimmer offen, wohl um einen Blick auf die weiterhin brennenden Kerzen werfen zu können.<br />

Nach einem kurzen Gebet langten alle herzhaft zu.<br />

"Möchten Sie einen Cognac?", fragte Herr Trautmann Jens, nachdem der Hunger gestillt war.<br />

"Ja, gerne."<br />

"In meinem Arbeitszimmer."<br />

Herr Trautmann stand auf und ging voran ins Arbeitszimmer. Jens folgte ihm und dachte sich, dass<br />

jetzt wohl der offizielle Teil <strong>des</strong> Abends dran kam. Das Arbeitszimmer war ein Muster an<br />

Aufgeräumtheit und wenn die Bücher nicht so echt gewirkt hätten, hätte es sich gut als Vorlage für<br />

einen Möbelkatalog geeignet. Der Cognac roch sehr edel und schmeckte auch so, sodass Jens sich<br />

nicht wunderte, als Herr Trautmann von den Vorzügen seines Anbaugebietes sprach.<br />

"Wie stehen Sie eigentlich zu meiner Tochter Johanna?", fragte Herr Trautmann, sobald sie ein<br />

paar Schlucke getrunken hatten.<br />

"Wir sind befreundet. Ob mehr daraus entsteht, wird die Zeit zeigen. Auf jeden Fall ist Johanna<br />

eine tolle Frau."<br />

"So sehe ich das auch.", Jens glaubte eine Spur Vaterstolz bei Herr Trautmann durchzuspüren.<br />

"Sind Sie eigentlich Christ?", folgte die nächste Frage. Herr Trautmann hielt sich wohl nicht gerne<br />

lange mit Smalltalk auf.<br />

"Wenn Sie wissen wollen, ob ich getauft bin, dann lautet die Antwort: Ja. Aber ansonsten weiss ich<br />

das nicht so recht. Ich bemühe mich, ein anständiger Mensch zu sein."<br />

"Nun ja, lieber das Herz auf dem rechten Fleck, als ein frommer Heuchler."<br />

Eigentlich war Herr Trautmann gar nicht so übel, dachte Jens. Auf jeden Fall war er kein<br />

Unmensch und ein fanatischer Christ schien er auch nicht zu sein, sonst säße Jens wohl auch gar<br />

nicht in seinem Arbeitszimmer.<br />

"Meine Tochter hat Ihnen erzählt, dass ich möglicherweise eine Arbeitsstelle für Sie hätte. Haben<br />

Sie darüber nachgedacht?"<br />

"Ja, ich habe viel darüber nachgedacht, aber ich bin noch zu keinem Entschluss gekommen."<br />

"Was hält Sie ab?"<br />

"Meine aktuellen Jobs sind eigentlich gar nicht so schlecht, wenn sie auch nicht meiner<br />

Qualifikation entsprechen. Ob mir das Insolvenzgeschäft liegt, kann ich noch nicht beurteilen und die<br />

Verquickung mit dem Privaten macht die Entscheidung nicht leichter."<br />

"Sie meinen, wegen Johanna? Das kann ich nachvollziehen. Wir brauchen aber auch<br />

Computerfachleute unabhängig von ihrer Freundschaft mit Johanna."


"Das hat Johanna auch schon gesagt."<br />

"Wie wäre es mit einer dreimonatigen Probezeit, in der Sie jederzeit kündigen könen? Dann<br />

können Sie feststellen, ob Ihnen die Arbeit liegt."<br />

"Ich sollte es wohl wenigstens probieren. Gut, mit einer Probezeit bin ich einverstanden."<br />

"Sehr gut, dann können Sie am zweiten Januar zu mir ins Büro kommen; dort besprechen wir dann<br />

alles Weitere."<br />

Herr Trautmann schenkte eine weitere Runde Cognac ein und hob sein Glas zu einem<br />

symbolischen Anstoss in der Luft. Jens grüsste zurück und schweigend tranken sie den edlen<br />

Tropfen. Anschließend durfte er noch für eine Weile mit Johanna in ihr Zimmer gehen. Sonja war<br />

inzwischen ins Bett gebracht worden.<br />

Kaum hatte sich Johannas Zimmertür geschlossen fragte sie: "Und?".<br />

"Ja, ich habe mich auf eine Probezeit eingelassen."<br />

"Wunderbar, das freut mich.", sie nutzte die Gelegenheit, um Jens freudig zu umarmen.


Kapitel 26<br />

Was habe ich da nur getan, fragte sich Jens, sobald er auf seinem Fahrrad saß und durch die<br />

dunkle Stadt nach Hause fuhr. Die kalte Luft brachte schlagartig seine Skepsis zurück. Oben in<br />

Johannas Zimmer hatte sich die Entscheidung für eine Probezeit noch gut angefühlt. Vielleicht war es<br />

auch eher Johannas Freude gewesen, die sich gut angefühlt hatte.<br />

Jetzt musste er seinen Entrümpler-Job kündigen. Herr Lorenz würde bestimmt nicht sehr erfreut<br />

sein, denn bisher schien er mit Jens immer sehr zufrieden zu sein. Ob er wohl die Garage behalten<br />

konnte? Vielleicht würde er ja auch bald wieder zurückkommen. So sehr sein Verstand sagte, dass<br />

das Jobangebot seine langersehnte Chance war, so sehr sträubte sich sein Gefühl immer noch<br />

dagegen. Dabei waren ihm sogar die Argumente gegen den Insolvenzjob ausgegangen, es war nur<br />

noch ein zusammenziehen<strong>des</strong> Rumoren im Bauch, wenn er daran dachte.<br />

In der Nacht träumte er von einer Krawatte, die ihn zu erwürgen drohte und wachte<br />

schweissgebadet auf. Im nächsten Traum erschien Johanna gerade noch rechtzeitig, um die<br />

aggressive Krawatte in einen weichen Schal zu verwandeln. Der Rest <strong>des</strong> Traumes war eindeutig<br />

erotisch.<br />

Am nächsten M<strong>org</strong>en floss der Strom endlich wieder, was Jens nutzte, um den neuen Weltatlas<br />

auszuprobieren. Er bot eine erheblich genauere Darstellung bei den Karten als seine alte Version.<br />

Man konnte jetzt weltweit bis auf Dorfebene Geländeeigenheiten sehen, genau, wie er es sich schon<br />

immer gewünscht hatte. Beim Anblick vieler Gegenden musste er daran denken, dass dort jetzt<br />

Massen von Menschen starben. Aus Afrika hatte er längere Zeit nichts gehört und selbst die<br />

Neuigkeiten aus den USA waren sehr spärlich. Die Nachrichten wurden immernoch von der<br />

Grippeepidemie beherrscht, was ja nicht hieß, dass die weltweiten Ölkrise-Dramen aufgehört hatten.<br />

Es war wohl überall noch schlimmer geworden.<br />

Er schalt sich einen Idioten, dass er so sehr an seinem neuen Job zweifelte. Da bekam er einen<br />

der wohl weltweit sichersten Jobs angeboten und er zierte sich wie eine Jungfrau. Das bisschen<br />

Steifheit der Trautmann-Eltern würde er wohl aushalten können und er musste ja auch nicht mit ihnen<br />

zusammenleben. Für ein Stück Kuchen aus Frau Trautmanns Küche lohnte es sich durchaus, sich<br />

eine Stunde lang gut zu benehmen.<br />

Gegen Mittag fiel sein Blick auf die s<strong>org</strong>fältig eingepackte Kerze für Frau Wagner. Eigentlich<br />

könnte er Frau Wagner besuchen, dachte er sich. Die würde sich bestimmt sehr über einen<br />

Weihnachtsbesuch freuen und er hätte eine gute Ablenkung von den kreisenden Gedanken.<br />

Beim Anruf im Altersheim wurde ihm mitgeteilt, dass Frau Wagner schon wieder zuhause sei. Also<br />

suchte er die Nummer raus, die er sich bei seinem letzten Besuch notiert hatte und versuchte es aufs<br />

Neue.<br />

"Ja, hier Wagner."<br />

"Hallo, hier ist Jens Markert. Würden Sie sich über einen Besuch freuen?"<br />

"Oh ja, das ist eine wunderbare Idee. Kommen Sie nur."<br />

Jens schwang sich auf sein Fahrrad und fuhr zu der Wohnung, die er von Frau Wagners Rettung<br />

kannte. Frau Wagner sah diesmal erheblich besser aus, als bei seinem Besuch im Altersheim. Ihre<br />

Haut hatte wieder Farbe, was ihre weissen Haare im Kontrast leuchten ließ. Sie wirkte zwar noch<br />

etwas wackelig auf den Beinen, aber das hing möglicherweise auch mit ihrem Alter zusammen.<br />

Sie führte ihn in ihr Wohnzimmer, wo Jens zuerst die Kerze vor einem Foto ihres Mannes auffiel.<br />

Beide standen dezent auf einer Kommode, doch sie beherrschten den Raum.<br />

"Fröhliche Weihnachten.", sagte Jens und überreichte Frau Wagner die verpackte Kerze.<br />

"Oh, das ist aber eine Überraschung. Ein Weihnachtsgeschenk für mich!", Frau Wagner packte das<br />

Geschenk vorsichtig aus. "Eine Kerze! Wie schön und praktisch. Gestern abend hätte ich gut noch<br />

eine Kerze gebrauchen können."<br />

Sie holte aus einem Schrank einen geeigneten Kerzenständer, zündete die Kerze an der<br />

Kerzenflamme ihres Mannes an und stellte Kerzenständer und Kerze auf den Wohnzimmertisch, wo<br />

auch schon eine Kaffeekanne dampfte.<br />

"Seit wann sind Sie eigentlich wieder zuhause?", fragte Jens.


"Einen Tag vor Weihnachten habe ich so gedrängelt, dass sie mich heim gelassen haben. Sie<br />

wollten es mir zwar ausreden, weil sie mich Weihnachten nicht gerne allein verbringen lassen wollten,<br />

aber ich habe das anders gesehen, denn mir ging es darum, Weihnachten zuhause zu feiern, egal ob<br />

allein oder nicht. Und jetzt bin ich ja auch gar nicht allein.", sie warf Jens einen verschmitzten Blick zu.<br />

Bevor sie sich hinsetzte, ging sie noch zum Ofen, der das Zimmer auf gemütlichen Temperaturen<br />

hielt, öffnete die Klappe und schüttete aus einem metallenen Gefäß runde Kohlenstücke in den Ofen.<br />

Dann schloss sie den Ofen wieder und sagte "So!".<br />

"Woher haben Sie denn Kohle?"<br />

"Ich bin schon seit zehn Jahren guter Kunde beim hiesigen Kohlenhändler, darum lässt er mich<br />

jetzt nicht hängen, obwohl es ihm nicht leicht fällt, genügend Kohle für mich zu reservieren. Es gibt ja<br />

angeblich kaum noch Importkohle. Nicht nur, dass sie teurer geworden ist als die heimische Kohle,<br />

sondern man kann sie gar nicht kaufen, weil sie dort gebraucht wird, wo sie abgebaut wird. Die<br />

deutschen Bergwerke kommen natürlich gar nicht hinterher, weil soviele geschlossen worden sind."<br />

"Vor einer Weile habe ich mich auch mal umgehört, wo man Kohle zum Heizen kaufen kann, und<br />

überall hieß es, dass sie restlos ausverkauft war."<br />

"Ich könnte ja mal mit meinem Händler sprechen, vielleicht lässt sich da was machen."<br />

"Das wäre gut, denn bald wird mir das Brennholz vom Entrümpeln fehlen und der Heizölvorrat<br />

unseres Hausbesitzers reicht nur, um Frost zu verhindern."<br />

"Sie haben also zugesagt?"<br />

"Wie? - Oh ja, stimmt, ich habe mich auf eine Probezeit eingelassen."<br />

"Und wie fühlt sich das an?"<br />

"Sehr gemischt, aber das vorherrschende Gefühl ist, gleich wieder wegzurennen. Dabei sind diese<br />

Trautmanns eigentlich ganz in Ordnung. Aber irgendetwas beengt bei denen die Lebendigkeit. Nun ja,<br />

der Job findet ja auch nicht bei denen zuhause statt."<br />

"Und was ist mit der jungen Frau?"<br />

"Johanna? Die ist schon sehr süß und sie wächst mir immer mehr ans Herz. Wahrscheinlich habe<br />

ich hauptsächlich <strong>des</strong>halb zugesagt. Sie hat sich auch sehr gefreut, als sie davon hörte, aber das<br />

macht es für mich eher noch schwieriger mit dem Job."<br />

"Das kann ich gut nachvollziehen. Es wird Ihnen wohl nichts anderes übrig bleiben, als es<br />

auszuprobieren, jetzt wo das mit der Probezeit entschieden ist."<br />

"Da haben Sie Recht. Ich frage mich nur, warum sich mir beim Gedanken an den Job, den ich noch<br />

nicht einmal kenne, der Magen herumdreht, obwohl es objektiv betrachtet eigentlich die beste Chance<br />

meines Lebens ist."<br />

"Vielleicht hat das etwas mit der Lebendigkeit zu tun. Vielleicht auch damit, dass Sie sich ihre beste<br />

Chance anders v<strong>org</strong>estellt hatten."<br />

"Das könnte es sein. Meine beste Chance habe ich mir wohl ganz anders v<strong>org</strong>estellt, wenn ich<br />

auch gar nicht weiss, wie. Aber in eine so wohlerzogene Familie einzuheiraten, war bestimmt nicht<br />

meine Vorstellung davon."<br />

"Noch ist es ja nur eine Probezeit. Schauen Sie es sich in Ruhe an."<br />

"Ja, werde ich."<br />

"Leider habe ich gar kein Weihnachtsgeschenk für Sie, denn seit ich wieder hier bin, habe ich das<br />

Haus noch nicht verlassen."<br />

"Das ist völlig in Ordnung, damit hätte ich auch nicht gerechnet. Wie sieht es denn mit<br />

Nahrungsmitteln für Sie aus?"<br />

"Das wird schon irgendwie gehen. Haltbare Vorräte hatte ich sowieso noch im Schrank und ein<br />

netter Pfleger hat mir ein paar frische Sachen gekauft, als ich heimgefahren bin."<br />

"Ab und zu könnte ich Ihnen vielleicht auch was mitbringen, wenn ich selbst einkaufen gehe. In<br />

meinem Fahrradanhänger ist genug Platz."<br />

"Das wage ich ja kaum anzunehmen, aber praktisch wäre es durchaus. Haben Sie überhaupt<br />

genug Zeit zum Einkaufen, wenn Sie soviel arbeiten?"


"Sehr viel Zeit bleibt nicht, da haben Sie recht, aber bisher hat es immer noch irgendwie geklappt.".<br />

Warum fiel ihm jetzt plötzlich Olivier ein? An Privatleute würde der wohl bestimmt nicht liefern. Ausser<br />

vielleicht, wenn man grössere Mengen abnahm. Oder vielleicht, wenn man bei der Lieferung im Bistro<br />

gleich auch den Privateinkauf miterledigte. Da würde er wohl bei Gelegenheit mal nachfragen.<br />

Jens Blick fiel immer wieder auf das Foto von Herrn Wagner. Ihn hatte er vor wenigen Wochen in<br />

einen Sack gesteckt. Jetzt wirkte das beleuchtete Bild fast, als wäre er anwesend. Auch Frau Wagner<br />

schaute ihren Mann immer wieder an.<br />

"Vermissen Sie ihn sehr?", fragte Jens schließlich.<br />

"Ja, ganz enorm. Aber eigentlich sollte ich dankbar sein, denn ich durfte ihn zehn Jahre länger<br />

genießen als eigentlich zu erwarten war."<br />

"Wie das?"<br />

"Vor zehn Jahren hatte er eine seltene Form von Darmkrebs; darum sind wir hierher gezogen,<br />

denn hier gab es einen Spezialisten für diese Krebsform. Dieser Arzt hat meinen Mann wieder<br />

erfolgreich zusammengeflickt und wir haben je<strong>des</strong> der letzten Jahre wie ein Zusatzgeschenk<br />

genossen. Darum kann ich es jetzt akzeptieren, dass er gestorben ist, auch wenn es schwer fällt."<br />

"Was war er für ein Mensch?"<br />

"Sie hätten sich bestimmt gut verstanden, denn er war Maschinenbauer aus Leidenschaft. Wenn er<br />

einen Schraubenzieher in der Hand hielt, war er glücklich. Aber er war auch ein sehr liebevoller<br />

Gefährte und man konnte viele verrückte Ideen in die Tat umsetzen."<br />

Jens fühlte die Liebe, die die Ehe der Wagners erfüllt hatte und musste wieder an den Mann<br />

denken, den sie eilig in einen Sack gesteckt hatten. Wenn sie nun einen Tag früher gekommen<br />

wären? Er spürte, wie sich seine Kehle zusammenkrampfte.<br />

"Sie hätten es auch nicht verhindern können.", sagte Frau Wagner, als hätte sie Jens Gedanken<br />

gehört. "Er war schon länger tot, als Sie kamen. Ich habe es gemerkt, als er plötzlich nicht mehr lebte,<br />

aber mir fehlte die Kraft, etwas zu unternehmen. Danach erinnere ich mich noch an zwei Tage, aber<br />

es dauerte vermutlich einige Tage länger, bis Sie kamen."<br />

"Solange?"<br />

"Ja, vermutlich. Da sieht man mal wieder, was für ein zähes Luder ich bin. Dabei hatte ich<br />

eigentlich fest damit gerechnet zu sterben, als ich so neben ihm lag."<br />

"Ich hatte auch damit gerechnet zu sterben, als es mich erwischt hatte. Und irgendwann bin ich<br />

dann wieder aufgewacht und alles war grässlich."<br />

"Oh, Sie waren auch krank?"<br />

"Ja, darum kann ich auch ungefährdet Tote bergen. Diese Grippe kann mich nicht mehr erwischen,<br />

da muss schon eine andere daherkommen."<br />

"Das erklärt auch, warum Sie so gut wussten, was man tun kann, um einem Grippeopfer das<br />

Überleben zu erleichtern. Als Sie mir auf den Rücken geklopft haben, das war, als würde mit jedem<br />

Schlag ein Stück Lunge befreit."<br />

"Eigentlich wusste ich gar nicht so recht, was ich tun sollte, aber die eigene Erinnerung hat dann<br />

tatsächlich geholfen."<br />

"Da habe ich ja Glück gehabt."<br />

Kurz bevor es dunkel wurde, verabschiedete sich Jens und fuhr wieder nach Hause.<br />

Am übernächsten Tag ging es zum vorletzten Mal zum Leicheneinsammeln. Nach Feierabend ließ<br />

sich Jens bei Herrn Lorenz absetzen, um zu kündigen. Wie befürchtet, war Herr Lorenz gar nicht<br />

begeistert von der Kündigung, aber Jens durfte die Garage weiterhin mieten und Herr Lorenz brachte<br />

seine Hoffnung zum Ausdruck, dass es Jens in seinem neuen Job nicht gefallen und er bald wieder<br />

zurückkommen würde. Dabei blies Herr Lorenz viele ärgerliche Rauchwölkchen in die Luft.<br />

Anschließend ging Jens zur Kneipe, um Achim die Neuigkeiten zu erzählen. Achim schien zuerst<br />

entsetzt, doch dann gratulierte er Jens und sie stießen ihre Biergläser zur Feier <strong>des</strong> Tages mehrmals<br />

aneinander.<br />

Samstag wollte Jens endlich mal wieder einkaufen gehen, doch alle Supermärkte hatten<br />

geschlossen, sogar der Automatensupermarkt. Warum das so war, war leider nicht in Erfahrung zu


ingen. Am Abend im Bistro kam glücklicherweise Olivier mit seinem Lieferwagen und Jens fragte<br />

ihn, ob er auch an Privatmenschen verkaufen würde.<br />

Es dauerte eine Weile, bis Jens ihn überredet hatte, doch dann durfte er sich aussuchen was er<br />

wollte. Das war wirklich eine sehr angenehme Art einzukaufen. Die Einkäufe für sich und Frau Wagner<br />

verstaute Jens während der Arbeit in der kalten Speisekammer. Anschließend nahm er sie mit nach<br />

Hause und am Sonntag brachte er der überaus entzückten Frau Wagner ihren Anteil. Sie nötigte ihn,<br />

über den Einkaufspreis hinaus, Geld von ihr anzunehmen.<br />

Silvester rief Johanna an und fragte, ob er schon etwas vorhabe zum Jahreswechsel. Jens<br />

verneinte, denn er hatte bisher kaum wahrgenommen, dass Silvester war. Nach grossem Trubel war<br />

ihm auch nicht zumute. Daher lud er Johanna gerne zu sich ein, als sie erzählte, dass sie ihren Eltern<br />

einen freien Silvester-Abend abgetrotzt hatte.<br />

Als sie in der Tür stand, wurde Jens bewusst, dass er sie schon vermisst hatte. Diesmal hatte sie<br />

außer zwei Pizzen auch eine Flasche Sekt dabei. Das gemeinsame Pizzaessen aus den Kartons war<br />

schon fast ein vertrautes Ritual geworden.<br />

Sie unterhielten sich darüber, dass eine zweite Grippewelle über das Land schwappte, weil die<br />

bisher nicht Infizierten nach und nach ihre Schutzmaßnahmen gelockert hatten. Ausserdem reichte die<br />

Produktion der Grippemedikamente bei weitem nicht aus, um alle zu vers<strong>org</strong>en. Auch bei den<br />

Trautmanns wurden die Grippemittel allmählich knapp, daher war Johanna sehr froh, das ihr bei Jens<br />

keine Ansteckung drohte.<br />

Dann erzählte Jens ihr von Olivier und seinen Bauern. Johanna war begeistert davon, wie diese<br />

Bauern frühzeitig begriffen hatten, dass die weiten Transportwege auf Dauer nicht funktionieren<br />

würden und ihre eigenen Lösungen dafür erarbeitet hatten.<br />

So sprachen Sie über Gott und die Welt, nur Jens neuen Job erwähnten sie mit keiner Silbe.<br />

Später stand Johanna auf, um die leeren Pappschachteln in den Müll zu werfen. Anschließend<br />

setzte sie sich neben Jens aufs Sofa, sodass er ihren warmen Schenkel deutlich spürte. Es fiel ihm<br />

nicht leicht, beherrscht zu bleiben.<br />

"Hältst du mich eigentlich für eine brave Jungfrau? Wenn ja, dann lass dir gesagt sein, dass ich<br />

das nicht bin. Und die Pille nehm ich auch.", sagte Johanna und gab ihm einen Kuss.<br />

Jens fühlte sich völlig überrumpelt, denn er hatte sie tatsächlich für eine brave Jungfrau gehalten.<br />

Er ließ es geschehen, als Johanna langsam seine Lippen ableckte und als sie fordernder wurde,<br />

öffnete er seinen Mund. Doch nachdem er sie erstmal geschmeckt hatte, kannte er kein Halten mehr<br />

und erwiderte den Kuss mit voller Leidenschaft. Als sich herausstellte, dass der Kuss unendlich lang<br />

dauern würde, setzte sich Johanna rittlings auf ihn, denn so mussten sie sich nicht so verdrehen, um<br />

sich nahe zu sein. Jens umfasste zärtlich Johannas Hüften und gab sich wieder ihren Küssen hin. In<br />

ihm loderte ein Feuer, das ihn fast um den Verstand brachte.<br />

Johanna schob ihre kühle Hand unter seinen Pullover und streichelte seinen brennenden<br />

Oberkörper. Als sie über seine Brust strich, durchfuhr ihn ein Schauder, der durch seinen ganzen<br />

Rücken aufstieg. Nun wagte er auch seinerseits, mit seinen Händen auf Entdeckungstour zu gehen.<br />

Unter ihrem Pullover war sie heiss, als hätte sie Fieber. Ihre Brüste waren fest, und als er sie berührte,<br />

konnte er spüren, wie sich ihre Brustwarzen erwartungsvoll aufrichteten. Johanna wölbte sich ihm<br />

entgegen und intensivierte das Spiel ihrer Zunge.<br />

Stundenlang genossen sie es, sich gegenseitig zu erkunden und auf den Wellen ihrer Erregung auf<br />

und ab zu gleiten. Jeder Kuss schmeckte süßer als der vorhergehende und jede Berührung ließ neue<br />

Schauer emporsteigen.<br />

Irgendwann zerrte Johanna auffordernd an Jens Pullover und er half ihr beim Ausziehen. Dann<br />

zogen sie gemeinsam Johannas Pullover und T-Shirt aus. Jens lehnte sich zurück, um Johanna zu<br />

betrachten. Über einer schmalen Taille reckten sich kleine, knackige Brüste mit ihren rosafarbenen<br />

Näschen keck in den Himmel, bei deren Anblick Jens nicht widerstehen konnte, sie zu berühren.<br />

Johanna schmiegte sich küssend an ihn und ihre Haut an seiner Haut zu spüren, elektrisierte ihn am<br />

ganzen Körper. Er löste sich von ihren Lippen und glitt mit tausend kleinen Küssen an ihrem Hals<br />

entlang, vorbei an ihren Schultern, bis er endlich bei den Brustwarzen angekommen war. Johanna<br />

gurrte, als er über die immer härter werdenden Knospen leckte.<br />

"Ich halte es nicht mehr aus. Ich will dich ganz!", seufzte Johanna, stand auf und zog sich ihre<br />

restlichen Kleidungsstücke aus. Sie ergriff Jens Hand und zog ihn mit einem erstaunlich kräftigen


Ruck auf die Beine. Dann öffnete sie geschickt seinen Hosenknopf und zog am Reissverschluss, doch<br />

beim Rest musste er ihr helfen, was er gerne tat.<br />

Dann standen sie nackt voreinander. Johanna sah aus wie ein lebendig gewordener Männertraum,<br />

mit allen Kurven an genau den richtigen Stellen, dabei gertenschlank und durchtrainiert. Er umfasste<br />

ihr Gesicht, wühlte beim Küssen in ihren Haaren und fuhr mit seinen Händen langsam über ihren<br />

Körper, hin zu ihren wohlgerundeten Pobacken, dann hielt er sie fest und schob sie zum Sofa, auf das<br />

er sie langsam gleiten ließ. Er bedeckte sie mit Küssen, bis er bei dem verheissungsvollem Dreieck<br />

aus Kringellocken angekommen war. Ihre Oberschenkel zitterten, als er sich allmählich bis zu deren<br />

Innenseite vorküsste.<br />

Sie stiess einen kleinen Schrei aus, als er endlich ihre pulsierende Knospe mit seiner Zunge<br />

berührte. Danach war sie nicht mehr zu halten. Mit rauer Stimme rief sie "Komm!" und zog ihn an den<br />

Schultern nach oben. Ihre leicht gespreizten Schenkel öffneten sich weit und sie ließ ihn mit einem<br />

lauten Stöhnen in sich gleiten.<br />

Er fing an, sich langsam in ihr zu bewegen, ihre Tiefe zu erkunden. Die ganze Zeit über küssten sie<br />

sich wie besessen und Jens vermeinte, vollständig mit Johanna zu verschmelzen. Die Langsamkeit<br />

ihrer Hüftbewegungen ließ sich nur eine Weile aufrechterhalten; irgendwann übernahm die Woge der<br />

Erregung die Kontrolle und sie fanden einen Rhythmus, der sie immer weiter den Berg hinauftrieb.<br />

Als die ersten Silvesterkracher explodierten, hielt Jens es für Explosionen in seinem Innern.<br />

Johanna stöhnte intensiver, ihre Laute gingen in Schreie über und als sich ihr Becken ihm<br />

entgegendrängte, stieg eine Eruption in ihm auf, die ihn minutenlang durchschüttelte und ihn zitternd<br />

zurückließ. Johanna gurrte und suchte seinen Mund, nachdem sie wieder zu Atem gekommen waren.<br />

So blieben sie liegen, bis die Kälte sie einholte und Johanna kichernd nach ihrem Pullover tastete.<br />

Kaum waren sie wieder angezogen, öffnete Jens die wartende Sektflasche und sie tranken auf ein<br />

frohes neues Jahr.<br />

Die Gläser leerten sich nur langsam, denn jetzt wo das Eis gebrochen war, konnten Jens und<br />

Johanna die Hände kaum noch voneinander lassen und sie versanken auch immer wieder<br />

minutenlang in leidenschaftliche Küsse.<br />

"Wenn du willst, übernachte ich hier.", schlug Johanna vor, als Jens die Gläser nachfüllte.<br />

"Ja, bleib hier.", bat Jens.<br />

Später legten sie sich ins Bett und kaum hatte sich die Decke um sie gehüllt, fielen sie wieder<br />

übereinander her.


Kapitel 27<br />

Er hasste den Job von der ersten Stunde an. Dabei gab es eigentlich gar keinen sachlichen Grund<br />

dafür. Aber vielleicht waren auch schon die traurigen Mitarbeiter der insolventen Firmen Grund genug,<br />

den Job zu hassen. Die Leute sahen aus, als würde an der nächsten Ecke der Henker auf sie warten,<br />

was vielleicht gar nicht so weit hergeholt war, denn viele würden in wenigen Monaten in Containern<br />

hausen und mit Power-Riegeln abgefüttert werden.<br />

Die Blicke, die sie Jens zuwarfen, gaben ihm das Gefühl, als wäre er dafür verantwortlich, dass sie<br />

ihren Job verloren hatten. Jens wurde nur bei den schwierigen Fällen eingesetzt, wo es niemanden<br />

mehr gab, der sich mit den Firmencomputern auskannte. Die eigentliche Arbeit war leicht für Jens,<br />

denn meistens musste er nur die Computer einschalten und fünf Minuten suchen, bis er die benötigten<br />

Dateien gefunden hatte. Das Aufbereiten der Daten, damit die Insolvenzfirma etwas damit anfangen<br />

konnte, dauerte zwar länger, war aber eine reine Fleissarbeit und erforderte kaum Denkkraft.<br />

In den drei Tagen, die schon hinter ihm lagen, hatte er sechs Pleitefirmen von innen gesehen und<br />

war bei den meisten entsetzt, wie schlampig dort gearbeitet worden war. Mahnungen an säumige<br />

Kunden gab es kaum, häufig wurde nicht mal kontrolliert, welche Kunden überhaupt bezahlt hatten.<br />

Möglicherweise wären diese Firmen auch in besseren Zeiten pleite gegangen.<br />

Einer seiner Kollegen erklärte ihm, dass die fehlenden Mahnungen früher für die meisten<br />

insolventen Firmen typisch gewesen waren, inzwischen würden aber auch viele Firmen mit<br />

ordentlicher Abwicklung insolvent werden. Aber bei diesen Firmen gäbe es meistens noch jemanden,<br />

der die Computer bedienen könne, sodass Jens sie kaum kennenlernen würde. Neu sei vor allem die<br />

Menge der Firmen, die betreut werden mussten. Momentan betreute die Insolvenzfirma ein Vielfaches<br />

der Firmen wie vor einem Jahr, daher musste Jens auch so schnell von einem Einsatzort zum<br />

nächsten wandern.<br />

Der Gedanke an Johanna, die ihn inzwischen noch zweimal besucht hatte, tröstete ihn immer<br />

wieder etwas über die Weltuntergangsstimmung in den insovlenten Firmen hinweg. Aber nur wegen<br />

Johanna fühlte er sich auch gezwungen, es wenigstens zu versuchen, sich in dem Job einzuleben.<br />

Eines Abends wurde im Fernsehen ein neues Ein-Liter Auto v<strong>org</strong>estellt, das ab sofort lieferbar war.<br />

Das Auto, wenn man denn bereit war, es als Auto zu bezeichnen, war ein langestreckter Zweisitzer,<br />

der etwa so breit wirkte, wie Jens Fahrradanhänger. Vorne konnte der Fahrer halbwegs bequem<br />

sitzen und hinten gab es einen kleinen Sitz für Kinder oder schlanke Personen. Im Kofferraum hatte<br />

eine Getränkekiste Platz, bei umgeklapptem Rücksitz entsprechend mehr. Der Motor tankte Diesel<br />

oder Pflanzenöl und schaffte bis zu fünfzig Stundenkilometer. Um es leicht zu halten und aufgrund <strong>des</strong><br />

Stahlmangels bestand die Karosserie aus einer neuartigen synthetischen Substanz, die zu grossen<br />

Teilen aus Biomasse bestand. Mit seinem einzelnen Vorderrad erinnerte der Wagen stark an<br />

asiatische Rikshaws. Daher erhielt er schon innerhalb der Sendung den Spitznamen "TukTuk", obwohl<br />

er eigentlich "Eco" hiess.<br />

Am nächsten Tag sah Jens auf dem Weg zur Arbeit schon ein quietschgrünes TukTuk auf der<br />

Straße, nach einer Woche waren die täglich zahlreicher werdenden Gefährte bereits ein gewohnter<br />

Anblick.<br />

Sogar seine neue Firma schaffte sich so schnell wie möglich ein TukTuk an. Wahrscheinlich hatten<br />

sie schon vorher eins bestellt, denn um die wenigen lieferbaren Exemplare entbrannte bald ein harter<br />

Kampf. Obwohl die Produktion auf Hochtouren lief und alte Benzinschlucker als Rohstoffquelle genutzt<br />

wurden, schnellten die Lieferfristen nach wenigen Tagen auf ein halbes Jahr hoch. Die Medien<br />

jubelten und bezeichneten den TukTuk bereits als kleines Wirtschaftswunder.<br />

Weil Jens durch seine kurzen Einsätze immer viel von einer Firma zur nächsten fahren musste,<br />

kam er in den Genuss, den Rücksitz <strong>des</strong> TukTuks auszuprobieren. Obwohl er schlank war, fühlte er<br />

sich auf den Fahrten immer wie ein Affe auf dem Schleifstein, denn seine Beine waren zu lang, um im<br />

Fussraum ausreichend Platz zu haben. Seinem Kollegen am Steuer ging es etwas besser.<br />

Nach wenigen Fahrten wurde ihm klar, dass er mit seinem Fahrrad kaum langsamer war und er<br />

entschloss sich, nur noch bei sehr schlechtem Wetter im TukTuk mitzufahren. Immerhin war sein<br />

Fahrrad ja sogar ein Null-Liter Fortbewegungsmittel.<br />

Das Wochenende stellte Jens vor einige Probleme, denn er hätte die Zeit am liebsten mit Johanna<br />

im Bett verbracht, die diesen Wunsch auch teilte. Aber er wollte Ricardo nicht hängenlassen und das<br />

bedeutete, dass er Samstag abend arbeiten musste. Johanna reagierte sehr pragmatisch und


verkündete, dass sie bereit wäre, Jens Wohnung zu putzen, während er im Bistro war. Jens gefiel<br />

diese Idee einerseits sehr gut, denn vor lauter Arbeit war er in letzter Zeit kaum zum Saubermachen<br />

gekommen, aber andererseits scheute er sich auch, das Angebot anzunehmen. Da Johanna jedoch<br />

energisch auf ihrem Vorhaben bestand, ließ er sie gewähren.<br />

Olivier brachte ihm diesmal Informationsmaterial über einige seiner befreundeten Bauernhöfe mit,<br />

wo vor allem die Selbstvers<strong>org</strong>ung mit Energie ausführlich erklärt wurde. In den Kochpausen blätterte<br />

Jens je<strong>des</strong>mal interessiert in den Unterlagen und beschloss, einige der Höfe mal zu besuchen, falls<br />

sich die Gelegenheit dazu ergeben würde.<br />

Als Jens nach Hause kam, erkannte er seine Wohnung kaum wieder, so sauber blitzte sie. Er<br />

zeigte Johanna mit grosser Leidenschaft, was er von dieser heldenhaften Aktion hielt.<br />

In der nächsten Woche wurde in den Medien die Grundsteinlegung eines emissionsfreien<br />

Kohlekraftwerkes gefeiert. Dieser Kraftwerkstyp hatte sich schon in der Türkei bewährt und stellte die<br />

Zukunft der umweltfreundlichen Kohlenutzung dar. Dass es viele Jahre dauern würde, bis das neue<br />

Kraftwerk einsatzbereit war, und dass auch Kohle durch Förderengpässe knapp war, wurde nur am<br />

Rande erwähnt, so sehr war den Medien daran gelegen, der Katastrophenstimmung nach der<br />

Grippeepidemie etwas entgegenzusetzen. Dass die Grippe wieder heftig aufgeflammt war, wurde<br />

daher auch eher unter ferner liefen behandelt.<br />

Jede freie Minute, in der Jens allein war, verbrachte er damit, Oliviers Unterlagen durchzulesen<br />

und sich im Internet zusätzliche Informationen zu bes<strong>org</strong>en. Mehr und mehr war er davon überzeugt,<br />

dass diese Leute auf dem richtigen Weg waren und dass er hier Antworten auf die Energiekrise finden<br />

konnte, selbst wenn es keine schnelle, einfache Lösung für Alle war.<br />

Ende Januar fällte er eine Entscheidung und führte anschließend ein längeres Telefonat mit<br />

Bennie.<br />

Johanna hatte an diesem Wochenende keine Zeit, weil sie zu einem Verwandtenbesuch<br />

eingeladen war und auf Wunsch ihrer Eltern auch den Sonntag mit ihren verbringen sollte. Dabei hätte<br />

Jens gerne mit Johanna über seine Entscheidung gesprochen. Das würde er dann wohl Anfang der<br />

nächsten Woche nachholen müssen.<br />

Am Sonntag fuhr er wie immer in den letzten Wochen zu Frau Wagner, die er inzwischen Heide<br />

nannte, um ihr die Einkäufe zu bringen. Er freute sich auch auf ein Gespräch mit ihr, doch auf der<br />

Fahrt war er so in seinen Gedanken verloren, dass er sich kaum auf den Weg konzentrieren konnte<br />

und fast an ihrem Haus vorbeigefahren wäre.<br />

"Ich werde den Job aufgeben.", verkündete Jens, als sie es sich im Wohnzimmer gemütlich<br />

gemacht hatten.<br />

"Damit hatte ich fast gerechnet. Und weisst du schon, was du statt<strong>des</strong>sen machen willst?"<br />

"Da sind mehrere landwirtschaftliche Betriebe, die mit neuen Energien und lokalem Vertrieb<br />

arbeiten. Das reizt mich sehr, denn darin sehe ich Möglichkeiten für die Zukunft. Wahrscheinlich<br />

werde ich mich dort bewerben. Für irgendetwas können die mich bestimmt gebrauchen."<br />

"Klingt ja sehr interessant. Und was wird mit Johanna?"<br />

"Johanna muss eben akzeptieren, dass ich nicht mit toten Firmen, sondern mit lebendigem<br />

Gemüse arbeite, aber da sehe ich kein sehr grosses Problem, denn zwischen uns muss das ja gar<br />

nichts ändern. Dennoch grause ich mich davor, es ihr zu erklären."<br />

"Das kann ich gut verstehen, dass das kein einfacher Gang wird. Aber du willst mit ihr<br />

zusammenbleiben?"<br />

"So, wie es sich jetzt anfühlt: ja. Ich hoffe sie macht ihre Liebe nicht von meiner Arbeitsstelle<br />

abhängig, aber ich glaube nicht, dass sie so denkt."<br />

"Ich hätte auch noch ein Angebot, aber davon wollte ich dir nicht erzählen, solange du den<br />

Computer-Arbeitsplatz ausprobierst."<br />

"Ein Angebot?"<br />

"Ja. Ich habe dir ja erzählt, dass wir erst seit zehn Jahren hier leben. Vorher haben wir in<br />

Süddeutschland auf einem Hof gelebt, mit Ackerland und Wald. Wie du weisst, ist mein einziger Sohn<br />

mit fünfundvierzig kinderlos gestorben, aber der hatte sowieso kein Interesse, auf dem Land zu leben.<br />

Also steht unser Hof seit zehn Jahren leer, denn wir haben es nicht übers Herz gebracht, ihn zu<br />

verkaufen. Ein Nachbar schaut nach dem Rechten, damit nichts verfällt, aber es ist einfach schade,


den Hof herrenlos leerstehen zu lassen. Wenn du möchtest, würde ich dir den Hof schenken, mit<br />

etwas Startkapital für den Anfang."<br />

"Einen Hof? Schenken? Ich glaube, ich verstehe überhaupt nichts."<br />

"Doch, doch, du hast schon richtig verstanden. Ich will dir meinen Hof schenken."<br />

"Aber das ist doch viel zu wertvoll."<br />

"Ein Hof ist nur wertvoll, wenn er genutzt wird und für mich wäre es die grösste Freude, zu wissen,<br />

dass der Hof von jemandem bewirtschaftet wird, denn ich kenne und gern mag."<br />

"Das leuchtet ein. Aber wie kommt es, dass du einen Hof hast? Ich hätte dich nicht für eine Bäuerin<br />

gehalten."<br />

"Eine richtige Bäuerin war ich auch nie, bestenfalls eine kleine Möchtegern-Bäuerin. In den<br />

Siebzigern hatten wir ein schmuckes Haus am Stadtrand von Stuttgart und mein Mann hat sehr gut<br />

mit seinem Maschinenbau verdient. Oft war er als Berater unterwegs, sogar im Ausland bei<br />

schwierigen Großprojekten. Wenn er auf Reisen war, vermisste ich ihn zwar immer, aber unsere<br />

Konten füllten sich zusehens.<br />

Dann kam die damalige Ölkrise und erste Bioläden entstanden. Wir waren fasziniert von den<br />

neuen Ideen, ähnlich wie du jetzt, und wollten nicht nur reden, sondern Nägeln mit Köpfen machen.<br />

Unser Sohn war damals gerade mit der Schule fertig und wollte sowieso woanders studieren, also<br />

waren wir diesbezüglich frei, etwas Neues auszuprobieren. Da mein Mann mit seinen Reisen nicht<br />

darauf angewiesen war, in Stuttgart zu wohnen, waren wir auch in dieser Hinsicht ungebunden. Wir<br />

rechneten aus, dass er in drei Monaten pro Jahr soviel verdienen könnte, dass wir uns um unseren<br />

Lebensunterhalt keine S<strong>org</strong>en machen mussten.<br />

Zusammen mit dem Erlös vom Verkauf unseres Hauses hatten wir genug Geld, um uns einen<br />

schönen Hof zu kaufen und dann mit biologischen und althergebrachten Anbaumethoden zu<br />

experimentieren. Die Suche dauerte eine Weile, doch dann fanden wir einen traumhaften Hof südlich<br />

von Freiburg, direkt dort, wo die Rheinebene in die Vorhügel <strong>des</strong> Schwarzwal<strong>des</strong> übergeht. In der<br />

Nachbarschaft liegt ein winziges Dorf mit etwa zwanzig anderen Häusern und Höfen. Die<br />

Dorfbewohner sind meistens freundlich, vor allem, wenn sie sehen, dass man sich Mühe mit dem<br />

Land gibt.<br />

Fast dreissig Jahre lang haben wir dann unseren grossen Garten bestellt, ein paar Flaschen Wein<br />

von unserem kleinen Weinberg gewonnen, zeitweilig Ziegen gehalten und Ziegenkäse hergestellt.<br />

Unsere Überschüsse haben wir in einem Hofladen und einigen Bioläden verkauft. Allerdings hatten wir<br />

keine grosse Mengen, denn es ging uns mehr um die Naturverbundenheit als um große Ernten.<br />

Mein Mann hat einen Teil <strong>des</strong> Stalles zu einer Werkstatt umgebaut und dort Oldtimer hergerichtet.<br />

Bald hatte er viele begeisterte Oldtimer-Liebhaber als Kunden und im Laufe der Jahre war es dann<br />

gar nicht mehr nötig, Berateraufträge im Ausland anzunehmen. Im Alter haben wir es dann ruhiger<br />

angehen lassen und jetzt war ich schon seit zwei Jahren nicht mal mehr zu Besuch auf unserem Hof.<br />

Aber unser Nachbar sagt, dass das Meiste noch ziemlich gut in Schuss ist."<br />

"Erstaunlich. Und diesen Traumhof willst du mir schenken?"<br />

"Genau. Willst du ein paar Bilder sehen?"<br />

"Gerne."<br />

Heide stand auf und holte ein dickes Fotoalbum aus dem Regal. Auf den ersten Fotos sah man<br />

eine Frau um die vierzig, die aber noch sehr jugendlich wirkte, was vielleicht auch an dem langen<br />

hippieartigen Kleid lag, das sie trug. Sie stand mit einem tatkräftig aussehenden Mann vor einem<br />

weissgestrichenen Haus mit üppigen Blumenkästen an den Fenstern, in denen aber nicht die üblichen<br />

Geranien, sondern eine Vielzahl anderer Pflanzen wuchsen, die Jens von sonstigen Blumenkästen<br />

eher nicht bekannt waren.<br />

Später sah man Heide in praktischen Arbeitshosen mit einer Mistgabel in der Hand, Heide inmitten<br />

einer kleinen Ziegenherde, ihren Mann stolz vor einem polierten Oldtimer und immer wieder den<br />

Garten zu allen Jahreszeiten.<br />

"Hier sieht man eines unserer Felder auf der Ebene. Ausser dem Garten haben wir noch drei<br />

Hektar Ackerland, das in den letzten Jahren brach lag, weil der Bauer, der es gepachtet hatte, zu alt<br />

geworden ist, um es zu bewirtschaften. Jetzt zieht einmal im Jahr eine Schafherde über die wilden<br />

Wiesen, damit das Land wenigstens für irgendetwas genutzt wird."


Jens sah mehrere Bilder von Feldern, die geschützt von wilden Hecken oder Baumreihen in der<br />

Sonne lagen.<br />

"Das hier ist der Wald. Vier Hektar, am Nordhang <strong>des</strong> Hügels, wo der Weinanbau nicht lohnt. Und<br />

dieser Weinberg hier ist wohl der Grund, warum wir den Hof relativ günstig bekommen haben; er ist<br />

nämlich zu klein. In dieser Gegend dreht sich alles um den Wein und entsprechend waren Höfe mit<br />

grossen Weinbergen sehr viel begehrter als unser Hof. Uns war das jedoch ganz recht, denn wir<br />

wollten sowieso keine Winzer werden, zumin<strong>des</strong>t nicht als Hauptbeschäftigung. Unsere paar Reben<br />

haben völlig für unseren Eigenbedarf und ein paar Verkäufe ausgereicht."<br />

Fasziniert betrachtete Jens ein Bild nach dem anderen und fragte sich, ob er gerade träumte.<br />

Unauffälig kniff er sich ins Bein: er war wach.<br />

"Siehst du dort das kleine Becken vor dem Baum? Das war eigentlich das Allerbeste: unsere<br />

warme Quelle. Sie ist zwar nur 32 Grad warm, aber das reicht völlig aus, um auch im Winter darin zu<br />

baden. Wir haben sie entdeckt, als wir ein Staubecken für unseren Bach bauten, um mit einem<br />

Wasserrad Strom zu gewinnen. Das Bachwasser war ab einer bestimmten Stelle wärmer als weiter<br />

oben und nach ausgiebiger Suche haben wir dann die Quelle entdeckt. Viel zu klein für kommerzielle<br />

Nutzung, was wir sowieso nicht gewollt hätten, aber ausreichend, um ein kleines Tauchbecken zu<br />

füllen. Das haben wir dann auch gebaut. Direkt vor der Eiche, was dem ganzen Bereich ein ganz<br />

besonderes Flair gibt."<br />

"Ich kann es noch gar nicht fassen. Dort könnte ich leben?"<br />

"Ja, könntest du, vorausgesetzt du willst."<br />

"Das ist weitaus mehr, als ich je erhofft hatte. Das fühlt sich auch ganz stark nach der besten<br />

Chance meines Lebens an, völlig anders als der Computer-Job. Mir kribbeln die Hände und mir ist fast<br />

schwindelig. Wahrscheinlich muss ich das erstmal verdauen, bevor ich es richtig begreife. Und was ist<br />

der Haken daran?"<br />

"Ein echter Haken ist mir nicht bekannt. Aber das Landleben ist sehr anstrengend, vor allem wenn<br />

man aus der Stadt kommt. Der Rücken wird dir wehtun, bis du den Moment verfluchst, in dem du aufs<br />

Land gezogen bist, die Blasen werden dir von den Händen fallen, bis du Schwielen gebildet hast, aber<br />

ich würde es wieder machen, wenn ich nochmal jung wäre."<br />

"Aber Süddeutschland ist weit weg. Dann müsste ich Johanna wohl verlassen. Das würde mir im<br />

Moment gar nicht leicht fallen. Aber dieser Hof - das klingt einfach phantastisch."<br />

"Mit Johanna musst du das natürlich klären. Vielleicht kommt sie ja sogar mit."<br />

"Ich weiss nicht. Soweit weg von ihrer Familie bestimmt nicht."<br />

"Um das zu wissen, wirst du sie fragen müssen. Kommt mein Angebot denn für dich in Frage?"<br />

"In Frage kommt es auf alle Fälle. Ich werde ernsthaft darüber nachdenken. Das Angebot ist<br />

eigentlich zu gut, um es abzulehnen. Es ist so gut, dass ich mir erstmal klar werden muss, was es<br />

überhaupt bedeutet. Wahrscheinlich muss man da sehr viel lernen, bis man den Bogen raus hat. Kann<br />

man das als Laie lernen?"<br />

"Ja, wir haben es ja auch gelernt. Manches aus Büchern, anderes aus Gesprächen mit den<br />

Nachbarn oder anderen Biobauern, aber am wichtigsten war die eigene Erfahrung."<br />

"Also gut: Ich lasse mir das gründlich durch den Kopf gehen, aber ich kann jetzt schon sagen, dass<br />

ich sehr in Versuchung bin anzunehmen."


Kapitel 28<br />

Die ganze Welt stand Kopf. Es war aber auch einfach unfassbar. In allen Fernsehkanälen und auf<br />

allen Titelseiten gab es nur noch ein Thema: "Tokyo, Osaka und Kobe von Tsunami zerstört -<br />

Millionen Tote.".<br />

Ursache <strong>des</strong> Unglücks war eine gewaltige Flutwelle, ausgelöst durch eine Rutschung am<br />

Meeresboden. Der Abbau <strong>des</strong> Methanhydrats hatte die Stabilität <strong>des</strong> Meeresbodens so sehr<br />

geschwächt, dass ein großer Teil <strong>des</strong> Kontinentalhangs in einem Schwung in Richtung Tiefsee<br />

gerutscht war. Dieser unterseeische Erdrutsch hatte den Tsunami ausgelöst, der mit großer<br />

Geschwindigkeit auf die Ostküste Japans zuraste und sich in Küstennähe bis zu dreißig Meter über<br />

dem normalen Meeresspiegel aufbäumte.<br />

Damit überwanden die Wassermassen mühelos die Tsunami-Schutzmauern, die überall in<br />

Küstennähe installiert waren und knallten fast ungebremst in die küstennahen Metropolen und<br />

kleineren Orte. Das Wasser warf die erdbebensicheren Hochhäuser um, als wären es Kegel. Häuser,<br />

die zuerst standhielten, wurden von ihren stürzenden Nachbarn mitgerissen und alle Menschen, die<br />

sich darin aufhielten, ertranken oder wurden von Trümmern erschlagen.<br />

Weil viele Strände und Straßen in Japan fortwährend von Kameras gefilmt wurden, die ihre Bilder<br />

direkt ins Internet einspeisten, konnte man die Flutwelle aus unzählichen Blickwinkeln herannahen<br />

sehen. Man hatte auch überaus plastische Eindrücke davon, wie die Welle durch die Straßen raste<br />

und alles unter sich begrub. Die Filmsequenzen dauerten immer solange, bis die Kameras selbst<br />

Opfer <strong>des</strong> Wassers wurden, sodass man immer wieder den Eindruck hatte, der Tsunami würde direkt<br />

auf einen zukommen.<br />

Besonders oft wurde eine Szene gezeigt, in der eine Schar kleiner Kinder mit ihrer Kindergärtnerin<br />

am Strand gespielt und den herannahenden Tsunami erst im letzten Moment entdeckt hatte. So spät,<br />

dass keiner eine Chance hatte, zu entkommen. Die Woge fegte über sie hinweg, als wären die Kinder<br />

Ameisen.<br />

Gerüchte sprachen von zwanzig Millionen Toten und ebensovielen Verletzten, was aber nur eine<br />

grobe Schätzung sein konnte, denn das Ausmaß der Schäden war unüberblickbar. Einzig Kyoto war<br />

unter den Metropolen teilweise ungeschoren davongekommen, aber auch dort gab es so grosse<br />

Schäden, dass die Hilfskräfte schon durch die Probleme in der eigenen Stadt überfordert waren. Das<br />

ganze Land stand unter Schock.<br />

Auch Jens war schwer erschüttert von den Ereignissen. Dabei hätte er eigentlich gedacht, dass er<br />

inzwischen schon an Katastrophen-Nachrichten gewöhnt war, aber dass ganze Millionenstädte auf<br />

einen Schlag von der Erdoberfläche gewischt wurden, übertraf alle bisherigen Schrecknisse.<br />

Da stand er nun vor der wichtigsten Entscheidung seines Lebens und ein Ereignis am anderen<br />

Ende <strong>des</strong> Globus brachte alle Gedankengänge durcheinander. Schon m<strong>org</strong>ens vor der Arbeit hatte er<br />

die ersten Nachrichten aus Japan gesehen, war dann aber ganz normal zur Arbeit gefahren. Dort war<br />

an Arbeiten kaum zu denken, denn je<strong>des</strong> Gespräch drehte sich um den Tsunami. Der Fernseher im<br />

Sekreteriat lief im Dauerbetrieb und die Termine bei den insolventen Firmen waren kurzerhand<br />

abgesagt worden.<br />

Es war schlimmer als damals am elften September, als das World Trade Center zerstört worden<br />

war. Weltweit starrte jeder, der nicht gerade selber in einer bedrohlichen Situation steckte, fassungslos<br />

auf die Bildschirme, wo die Woge immer und immer wieder über Japan hereinbrach. Niemand konnte<br />

sich das Ausmaß der Katastrophe wirklich vorstellen; was es bedeutete, wenn die drei wichtigsten<br />

Städte eines Lan<strong>des</strong> zusammen mit ganzen Landstrichen untergehen.<br />

Schon bald meldeten sich die üblichen Experten im Fernsehen, um über die Ursache der<br />

Katastrophe zu referieren. Man konnte ihnen ihr Entsetzen deutlich anmerken, auch denen, die schon<br />

vor Monaten vor dem Methanhydrat-Abbau durch Sprengung gewarnt hatten. Sie waren sich alle<br />

einig, dass die Sprengungen unverantwortlich gewesen waren, denn niemand hatte voraussagen<br />

können, wieviel Destabilisierung der Meeresboden aushalten würde. Selbst der behutsame Abbau<br />

ohne Sprengungen war aufgrund der potentiellen Risiken umstritten. Der Schock über das Schicksal<br />

sovieler unschuldiger Menschen milderte jedoch die Schärfe der Expertenaussagen.<br />

In den USA wurde das vergleichbare Methanyhydrat-Projekt sofort abgebrochen, um der<br />

amerikanischen Ostküste ein ähnliches Schicksal wie Japan zu ersparen. Der Präsident der<br />

Vereinigten Staaten hielt eine Beileidsrede und drückte sein Bedauern darüber aus, dass ihnen die


Möglichkeiten für Hilfsmaßnahmen fehlten. Aus Europa und Australien wurden Flugzeuge mit<br />

Katastrophenhilfe geschickt, doch auch diese war nur spärlich, weil die Energiekrise selbst dort alle<br />

Kräfte band. Wann die Hilfe den Katastrophenort erreichen würde, war unklar, denn der Tokyoter<br />

Flughafen war natürlich auch zerstört.<br />

Ein Fernsehsender aus Kyoto war die einzig verbliebene öffentliche Verbindung von Japan zum<br />

Rest der Welt. Zuerst sendeten sie Augenzeugenberichte aus den zerstörten Gebieten Kyotos, dann<br />

konnte man auch die Trümmer Osakas und Kobes sehen, in denen verzweifelte Menschen nach<br />

Angehörigen und ihren Habseligkeiten suchten. Aktuelle Bilder aus Tokyo kamen deutlich später, weil<br />

die Reporter erst dorthin fahren mussten. Völlig unklar war, wo und von wem die Millionen Verletzten<br />

vers<strong>org</strong>t werden konnten und wo die Obdachlosen die nächste Nacht verbringen sollten. Hilfskräfte<br />

und Freiwillige aus allen nicht betroffenen Regionen Japans waren auf dem Weg in die<br />

Krisenregionen und Obdachlose wurden mit Bussen in Orte der Westküste gebracht, aber tausenden<br />

von Hilfsmöglichkeiten standen viele Millionen Opfer entgegen.<br />

Gegen Mittag war abzusehen, dass innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden<br />

voraussichtlich eine weitere Million der bisher überlebenden Opfer sterben würden, mit zerschlagenen<br />

Gliedmaßen in den Trümmern liegend, auf Rettung hoffend, die nicht kommen würde, und schließlich<br />

vom Frost eingeholt. Inzwischen war in Japan tiefste Winternacht. Die Meteorologen rechneten mit<br />

Temperaturen von bis zu minus zehn Grad.<br />

Zu wissen, dass da, zwar weit weg, so viele Menschen in fürchterlicher Not waren und keine<br />

helfende Hand hatten, erfüllte Jens mit einem ganzen Cocktail von miesen Gefühlen. Sein Kaffee<br />

schmeckte nicht, auf das Mittagessen hatte er gar keinen Appetit und er konnte deutlich sehen, dass<br />

es seinen Kollegen genauso ging. Seinen Kollegen, die wohl nur noch wenige Tage seine Kollegen<br />

sein würden. Die Entscheidung, bei der Insolvenzfirma aufzuhören, kam Jens aufeinmal so hohl und<br />

unbedeutend vor.<br />

Sogar auf der Toilette verfolgte Jens das Bild von den Kindern, die vom Tsunami erschlagen<br />

worden waren. Hatte es keine Warnung gegeben oder hatten sie die Warnung nicht gehört?<br />

Später erfuhr er, dass es durchaus eine halbe Stunde vor Eintreffen der Flutwelle eine akustische<br />

Warnung an den Küsten und umfassende Warnungen in allen Fernsehkanälen und Radios gegeben<br />

hatte. Dort, wo die Kinder gespielt hatten, war die Warnsirene möglicherweise ausgefallen gewesen,<br />

aber das ließ sich kaum nachträglich überprüfen. In den Städten hatte die Warnung nicht viel<br />

gebracht, denn in einer halben Stunde kann man nicht mehrere Millionen Menschen evakuieren. Auf<br />

den Straßen ins Lan<strong>des</strong>innere hatten sich sofort Staus gebildet, aber dennoch war es einigen<br />

gelungen, aus Ortsteilen entkommen, die jetzt eine einzige Trümmerwüste waren. Diese Flüchtlinge<br />

wurden besonders häufig von den Fernsehsprechern interviewt, wohl weil sie zeigten, dass nicht alles<br />

hoffnungslos war.<br />

Nach Feierabend saß Jens unentschlossen auf seinem Sofa vor dem Fernseher und konnte sich<br />

nicht von den Bildern losreissen. Inzwischen wurde auch eine besonders beeindruckende Sequenz<br />

von umstürzenden Hochhäusern aus dem Zentrum Tokyos immer wieder gezeigt. Die omnipräsenten<br />

Kameras hatten eine Fülle von Szenen eingefangen, die alles bisher Gesehene in den Schatten<br />

stellte. Dagegen verblassten die Bilder aus dem notleidenden Lagos und sogar das einstürzende<br />

World Trade Center zu schwachen Schatten.<br />

Eigentlich hatte er geplant, jetzt mit Johanna über seine Entscheidungen zu reden, aber an einem<br />

solchen Tag konnte man wohl kaum mit diesen völlig anderen Themen ankommen. Seine<br />

Überlegungen wurden vom Klingeln <strong>des</strong> Telefons unterbrochen. Johanna war dran und fragte, ob sie<br />

kommen dürfe, denn zuhause würde ihr die Decke auf den Kopf fallen. Jens hieß sie natürlich gerne<br />

willkommen.<br />

"Ist es nicht schrecklich?", fragte Johanna, kaum hatte sie Jens Wohnung betreten.<br />

"Ja, grauenvoll."<br />

"Als ob es auf der Welt nicht schon schlimm genug wäre."<br />

"Ich kann es auch kaum fassen. Von so einer schlimmen Katastrophe habe ich vorher noch nie<br />

gehört."<br />

"Und dabei hätte es nicht passieren müssen. Wenn sie nur nicht so unvorsichtig den Meeresboden<br />

gesprengt hätten."<br />

"Anscheinend machen sich die Menschen die schlimmsten Katastrophen immer selbst. Die Ölkrise<br />

ist ja auch menschgemacht. Wir hätten das Öl eben nicht so blind verschleudern dürfen."


"Mach doch mal den Fernseher aus. Ich kann die Bilder schon nicht mehr sehen. Am liebsten<br />

würde ich auf andere Gedanken kommen."<br />

"Hm, ich wüsste da schon etwas, um dich auf andere Gedanken zu bringen."<br />

"Oh, das ist ein nettes Angebot, aber ich glaube, für Vergnügungen habe ich den Kopf heute zu<br />

voll mit Unglück."<br />

"Das meinte ich auch gar nicht, obwohl es natürlich auch keine schlechte Idee wäre. Bist du dir<br />

sicher, dass du auf andere Gedanken kommen willst, selbst wenn sie dir vielleicht gar nicht gefallen?"<br />

"Du machst es aber spannend. Jetzt will ich natürlich unbedingt wissen, was du zu berichten hast."<br />

"Also gut. Du sitzt bequem?"<br />

"Ja."<br />

"Das erste ist, dass ich den Job in der Firma deines Vaters nicht weitermachen werde."<br />

"Damit habe ich schon fast gerechnet, den Andeutungen zufolge, die du manchmal gemacht hast.<br />

Was ist denn der Hauptgrund dafür?"<br />

"Einerseits die traurigen Mitarbeiter der insolventen Firmen. Das ist schlimmer als tote Grippeopfer.<br />

Und es hat mich eigentlich auch gar nicht herausgefordert. An der Informatik reizt mich das<br />

Programmieren, also das Neuentwickeln von nützlichen Programmen. Aber bei den Pleitefirmen muss<br />

ich nur ein paar Dateien aus dem Chaos fischen; das ist so ähnlich, wie im Müll von anderen Leuten<br />

stöbern und das liegt mir auf Dauer nicht."<br />

"Das leuchtet ein. Na ja, ich mag dich auch ohne lukrativen Job. Obwohl mein Vater bestimmt<br />

traurig sein wird, denn er hat erwähnt, dass sie ziemlich zufrieden mit dir sind."<br />

"Dafür schaffe ich Abhilfe, denn ich habe einen Studienfreund, der an dem Job sehr interessiert ist.<br />

Ich habe schon mit ihm gesprochen und er wäre jederzeit bereit anzufangen."<br />

"Dann ist ja eigentlich alles geregelt - wenn dein Freund seine Sache genauso gut macht wie du.<br />

Was macht der denn jetzt? Hochhäuser putzen?"<br />

"Er verkauft Benzin in Flaschen und ist bestimmt so gut wie ich. Sein Vorteil ist auch, dass er nicht<br />

so leidenschaftlich gerne programmiert, sondern lieber in unbekannten Systemen rumstöbert."<br />

"Das klingt doch eigentlich ganz gut. Damit wird mein Vater wohl leben können. Gehst du dann<br />

wieder zurück zur Entrümplungsfirma?"<br />

"Tja, das ist die zweite Sache. Ich habe gestern einen Bauernhof in Süddeutschland geschenkt<br />

bekommen, mit Quelle und allen Schikanen."<br />

"Einen Bauernhof? Geschenkt bekommen? Du scherzt."<br />

"Soweit ich es überblicke, ist es kein Scherz, sondern ernst gemeint. Ich habe sogar schon Bilder<br />

von dem Hof gesehen. Sieht toll aus."<br />

"Und wer schenkt dir einfach so einen Hof?"<br />

"Frau Wagner, von der ich dir schon erzählt habe. Sie hat früher diesen Hof bewirtschaftet, bevor<br />

ihr Mann krank wurde und sie hergezogen sind."<br />

"Das ist ja phantastisch."<br />

"Finde ich auch."<br />

"Aber - was wird aus uns?"<br />

"Wenn du willst, kannst du gerne mitkommen. Das wäre mir sogar das Allerliebste. Aber ich hätte<br />

auch Verständnis, wenn du bei deiner Familie bleiben willst."<br />

Jens hatte sich vor diesem Moment gegraust und ihm war jetzt auch gar nicht wohl bei der Sache.<br />

Was wäre, wenn sie hierbleiben würde? Das würde ihm wahrscheinlich sehr weh tun. Aber wenn sie<br />

mitkäme, würde ihn vermutlich ein schlechtes Gewissen plagen, weil er sie ihrer Familie<br />

weggenommen hätte.<br />

"Der reinste Seymour-Traum.", sagte Johanna versonnen. "Schwierig, schwierig, die Entscheidung,<br />

aber enorm verlockend."<br />

Jens hielt die Luft an, ohne es zu merken.


"Meine Eltern sind erwachsen und können für sich selbst s<strong>org</strong>en. Und Sonja kann uns ja in den<br />

Ferien besuchen. Ich muss das machen. Wusstest du, dass ich seit vielen Jahren heimlich von<br />

Selbstvers<strong>org</strong>er-Höfen träume?"<br />

"Oh, das ist mir neu. Du kommst also mit?"<br />

"Ja, ich komme mit."<br />

Jens fiel ein schwerer Stein vom Herzen. Er umarmte Johanna stürmisch und gab ihr einen dicken<br />

Kuss.<br />

"Kennst du eigentlich die Selbstvers<strong>org</strong>er-Bücher von Seymour? Die habe ich schon mit zehn<br />

immer wieder gelesen und von dem Hof geträumt, den ich aufbauen würde."<br />

"Diese Bücher kenne ich bisher nicht, aber es klingt so, als wären die sehr interessant."<br />

"Ja, ich sollte sie dir ausleihen. Oder nein, die werde ich jetzt bestimmt dringend selbst brauchen.<br />

Du solltest sie dir gleich m<strong>org</strong>en kaufen."<br />

"Weisst du was? Wenn du mitkommst, könnten wir eigentlich auch heiraten, denn dann hängen wir<br />

sowieso auf Gedeih und Verderb zusammen. Vielleicht würde das auch deine Eltern besänftigen."<br />

"War das jetzt etwa ein Heiratsantrag?"<br />

"Äh - ja. Das war wohl zu unromantisch.", Jens kniete sich vor Johanna auf den Boden und fragte:<br />

"Johanna, willst du meine Frau werden?"<br />

"Ja, ich will!", Johanna versuchte feierlich dreinzublicken, doch dann brach sie in Kichern aus.<br />

"Oh, warte, ich bin doch ein alter Esel. Ich habe sogar etwas für dich.", Jens sprang auf und kramte<br />

in seinen Schubladen. Dann kam er zurück mit einem Ring, den er sich vor Jahren gekauft aber nie<br />

getragen hatte, denn der Ring war ihm zu klein und außerdem trug er sowieso nie Ringe.<br />

"Ein Opal! Der ist ja wunderschön. Für mich?"<br />

"Ja, für dich. Mein Verlobungsgeschenk.", Jens steckte ihr den Ring auf den Finger und er passte<br />

wie angegossen.<br />

"Der Stein ist wirklich ganz besonders. Wie er schimmert; in allen Farben der Welt."<br />

"Mir hat er auch so gut gefallen, darum habe ich ihn vor langer Zeit gekauft."<br />

Johanna strahlte übers ganze Gesicht und warf sich Jens in die Arme. Dann hielt sie plötzlich inne<br />

und sagte: "Wir sollten es heute noch meinen Eltern sagen, sonst traue ich mich ihnen nicht unter<br />

Augen."<br />

"Heute noch?"<br />

"Ja, es ist noch vor zehn und ich wüsste echt nicht, wie ich auch nur eine Stunde zuhause<br />

verbringen könnte, ohne ihnen so entscheidene Neuigkeiten zu sagen. Ich würde bestimmt platzen.<br />

Bitte!"<br />

"Ok, dann sollten wir das gleich in Angriff nehmen. Mel<strong>des</strong>t du uns an?"


Kapitel 29<br />

Johannas Eltern trugen die Neuigkeiten mit erstaunlich viel Fassung. Herr Trautmann räumte sogar<br />

ein, dass er zwar versucht hatte, Johanna durch den Job für Jens ans Elternhaus zu binden, aber<br />

dass er fast schon mit dem Scheitern dieses Versuches gerechnet hatte.<br />

Die geplante Heirat wirkte geradezu Wunder bei der Argumentation, vor allem bei Frau Trautmann,<br />

deren Augen sich vor Entsetzen geweitet hatten, als Johanna verkündete, dass sie wegziehen würde.<br />

Beim Thema Hochzeit schlug die Stimmung um, und Frau Trautmann wandte sich der Festplanung<br />

zu. Glücklicherweise waren alle einverstanden, die Hochzeit im kleinen Rahmen zu feiern, weil ein<br />

rauschen<strong>des</strong> Fest in diesen schwierigen Zeiten unpassend wäre. In Frau Trautmanns Augen konnte<br />

man jedoch schon die vielen Kuchen erahnen, die sie für diese Gelegenheit backen würde.<br />

Als alles geklärt war, spendierte Herr Trautmann einen Cognac und sie tranken auf das Wohl <strong>des</strong><br />

jungen Paares. An Details über den Hof war Herr Trautmann sehr interessiert, was sich durch eine<br />

Vielzahl von Fragen äusserte. Jens hatte den Eindruck, dass es für Johannas Vater einen<br />

wesentlichen Unterschied machte, ob sein künftiger Schwiegersohn ein mittelloser Entrümpler oder<br />

Hofbesitzer war. Das konnte Jens jedoch gut nachvollziehen, denn er ahnte, dass er vermutlich<br />

ähnlich denken würde. Schließlich will man seine Tochter ja in einer möglichst sicheren Umgebung<br />

wissen.<br />

Nach dem Gespräch fuhr Johanna wieder mit zu Jens, denn die beiden frisch Verlobten wollten<br />

gerne den Rest <strong>des</strong> Abends miteinander verbringen. Jens öffnete eine Flasche Sekt, die er kürzlich<br />

bei Olivier erstanden hatte, um für eventuelle Feiern gerüstet zu sein. Diese Gelegenheit hatte sich<br />

schneller ergeben als erwartet. Olivier hatte erzählt, dass der Winzer, der den Sekt hergestellt hatte,<br />

ein persönlicher Freund von ihm sei und im Kaiserstuhl wohnte. Ganz in der Nähe ihres zukünftigen<br />

Selbstvers<strong>org</strong>er-Hofes.<br />

"Weisst du, was ich schon immer gerne machen wollte?", fragte Johanna, als sie<br />

zusammengekuschelt im Bett lagen und sich von der körperlichen Bestätigung ihres<br />

Heiratsversprechens erholten.<br />

"Nein, weiss ich nicht, aber du wirst es mir bestimmt erzählen."<br />

"Kleidung aus selbstgemachten Stoffen. Mit Milchschafen für Milch und Wolle, einem Hanffeld für<br />

Hanfkleidung, Spinnrad, Webrahmen und dann nähen."<br />

"Klingt interessant."<br />

"Ist es auch. Vor allem, weil ich schon längere Zeit damit rechne, dass wir ernsthafte<br />

Lieferprobleme mit Baumwolle bekommen werden. Die armen Bauern in den Baumwollanbau-Ländern<br />

haben kein Geld mehr für die teuer gewordenen Schädlingsbekämpfungsmittel und der Transport ist<br />

auch fast unbezahlbar geworden. Jetzt brauchen sich die Schädlinge nur noch kräftig vermehren, was<br />

bei den ganzen Monokulturen bestimmt bald passiert und die ganze Welt muss in Lumpen oder<br />

Synthetics rumrennen, wobei die synthetischen Stoffe durch das fehlende Öl ja auch immer teurer<br />

werden."<br />

"Soweit hatte ich bisher noch gar nicht gedacht, aber das leuchtet ein. Ohne Baumwollnachschub<br />

sieht es echt schlecht aus mit Kleidern und Textilien aller Art."<br />

"Genau, und dagegen will ich was unternehmen."<br />

"Da wirst du aber viel zu tun haben, wenn du die ganze Welt mit Baumwollersatz-Stoffen vers<strong>org</strong>en<br />

willst."<br />

"Du Witzbold. Erstmal mach ich das natürlich für uns und wenn was übrig bleibt, können wir die<br />

Sachen auch verkaufen. Aber billig werden die bestimmt nicht, denn das Spinnen und Weben macht<br />

irre viel Arbeit; habe ich schon mal ausprobiert."<br />

"Wenn wir zuviel Milch von den Schafen haben, können wir auch Schafskäse daraus machen."<br />

"Brot backen fällt mir grad noch ein."<br />

"Vielleicht ein paar Hühner."<br />

"Und Marmelade kochen."<br />

So warfen sie sich gegenseitig noch viele Ideen zu, bis sie müde wurden und einschliefen.


Den Tsunami in Japan hatten sie völlig vergessen.<br />

Am nächsten M<strong>org</strong>en fiel er ihnen jedoch schlagartig wieder ein, als sie daran dachten, warum<br />

Jens ausschlafen durfte und sie schalteten den Fernseher ein, um die neuesten Nachrichten zu<br />

erfahren.<br />

Die Katastrophe hatte jetzt auch die restliche Welt ereilt, denn die Energiepreise waren fast überall<br />

auf das Dreifache hochgeschnellt. Dabei war es egal, ob es sich um Erdöl, Erdgas, Kohle oder Strom<br />

handelte. Ausserdem waren die Börsenkurse zusammengebrochen. Die Börsen hatten inzwischen<br />

den Handel eingestellt, um weiteren Kursverfall zu verhindern. Das geschäftliche Leben war<br />

weitgehend zum Stillstand gekommen.<br />

In Japan selbst liefen die Rettungsmaßnahmen quälend langsam, obwohl fast alle überlebenden<br />

Japaner, die dazu in der Lage waren, als Freiwillige mithalfen. Man konnte sehen, wie sie allenorts wie<br />

Ameisen durch die Trümmer wimmelten. Für die Bergung von Verletzten in den Innenstädten waren<br />

sie jedoch zu langsam, denn sie hatten sich erst in die Randbezirke der Städte v<strong>org</strong>earbeitet.<br />

Überall sah man lange Reihen von geb<strong>org</strong>enen Toten, doch aufgrund <strong>des</strong> starken Frostes war es<br />

kaum möglich, Gräber zu graben und für die massenhafte Verbrennung fehlte Treibstoff. Die Kälte war<br />

nur in sofern vorteilhaft, als Seuchen dadurch weitgehend verhindert wurden.<br />

"Da sieht man mal Leichensammenln im grossen Stil und ich dachte schon, bei uns sei das eine<br />

grosse Aktion. Was bin ich froh, dass ich dort nicht mitmachen muss.", entfuhr <strong>des</strong> Jens beim Anblick<br />

der vielen Toten.<br />

"Immerhin hast du hier mitgemacht. Das hätte wohl auch nicht jeder."<br />

"Mir blieb auch kaum was anderes übrig, wenn ich meinen Job behalten wollte. Das zählt eigentlich<br />

nicht so richtig."<br />

"Ich bin innerlich total zerissen. Einerseits schieres Entsetzen über das, was da passiert ist, so<br />

dass es mir den Magen zusammenzieht. Andererseits enorme Freude über unseren Bauernhof, so<br />

dass ich pausenlos jubeln könnte."<br />

"So ähnlich geht es mir auch. Lass uns erstmal frühstücken, dann wird es vielleicht etwas besser."<br />

Nachmittags besuchten sie zusammen Heide Wagner, um ihr von der Entscheidung zu berichten,<br />

den Hof gemeinsam anzunehmen. Heide war sehr glücklich darüber, vor allem auch, weil Johanna<br />

sich entschlossen hatte, mitzumachen. Die beiden Frauen schienen sich auf Anhieb gut zu verstehen.<br />

Heide holte einen kleinen Stapel Papiere aus einer Schublade. Sie nannte einen Betrag für das<br />

Startkapitel, der Jens nach Luft schnappen ließ.<br />

"Das ist ja irre viel. Damit kann man ja ein ganzes Haus kaufen."<br />

"Aber nur ein kleines Haus.", schmunzelte Heide. "Glaub mir, ihr werdet es brauchen, denn soweit<br />

ich es mitbekommen habe, sind alle Rohstoffe sehr viel teurer geworden und für euren Ausbau werdet<br />

ihr Rohstoffe brauchen, viele Rohstoffe. Auch Saatgut und Jungtiere kosten Geld. Wahrscheinlich wird<br />

das Geld knapp werden; zuviel ist es bestimmt nicht."<br />

"Wenn du davon überzeugt bist, will ich mich nicht weiter sträuben."<br />

"Die Sache hat nur einen Haken: Wenn ich dir das Geld und den Hof einfach schenke oder wir es<br />

als Erbe deklarieren, müsstest du ein Vermögen an Steuern bezahlen."<br />

"Vielleicht könnten wir es als Darlehen ausgeben."<br />

"Das werden wir teilweise sowieso machen, um die Beträge kleiner zu halten. Die preiswerteste<br />

Dauerlösung wäre jedoch, wenn ich dich adoptieren würde."<br />

"Adoptieren? Aber ich bin doch schon erwachsen."<br />

"Das spielt bei Adoptionen keine Rolle. Das wäre ein kurzer schmerzloser Akt bei einem Notar und<br />

du wür<strong>des</strong>t Hundertausende sparen. Wir wären dann Mutter und Sohn. Wür<strong>des</strong>t du das wollen?"<br />

"Eigentlich habe ich ja einen Mutterplatz frei und du einen Platz für einen Sohn. Warum eigentlich<br />

nicht? Wahrscheinlich beinhaltet so eine Adoption auch, dass ich mich nach Kräften um dich<br />

kümmere, wenn du alt wirst. Aber das würde ich wohl sowieso tun, wenn es vom Süden aus auch<br />

schwer wird."


"Sowas Nettes habe ich aber lange nicht gehört: wenn du alt wirst. Dabei bin ich jetzt doch schon<br />

uralt. Keine S<strong>org</strong>e! Meistens komme ich ganz gut alleine klar und ich habe auch noch genug Geld<br />

übrig, um mir Pfleger leisten zu können."<br />

So war es also beschlossen. Anschließend wälzten sie noch Fotoalben und Grundrisspläne, um<br />

sich einen besseren Eindruck über den Hof zu verschaffen. Johannas Augen wurden immer grösser.<br />

Sie erkannte einige Elemente, die Jens bisher gar nicht aufgefallen waren, als besonders nützlich. Da<br />

war zum Beispiel noch eine kalte Quelle auf der anderen Seite <strong>des</strong> Baches, die der<br />

Wasservers<strong>org</strong>ung diente. Auch die kleine Molkerei und die anderen Nebengebäude versetzten<br />

Johanna in Entzücken. Beim Anblick <strong>des</strong> Platzes mit der warmen Quelle fing sie an zu summen und<br />

sich hin und her zu wiegen, als würde die Freude es ihr unmöglich machen, still zu sitzen.<br />

"Ich fühle mich wie im Märchen. Das kann doch alles kaum Realität sein. Und der Rest der Welt,<br />

ganz weit weg, ist im Grauen der Vernichtung erstarrt. Die normale Welt hat sich wohl in Luft<br />

aufgelöst.", sagte Johanna, als sie wieder Worte für ihre Gefühle fand.<br />

Später, nachdem Johanna wieder bei ihrer Familie war und Jens in seiner Wohnung saß, rief er<br />

Andreas an, um ihm den Job im Bistro anzubieten.<br />

"Sorry, den Job kann ich nicht annehmen, denn dann würde ich sofort aus der Grundsicherung<br />

rausfallen und fürs Leben würde mir der Verdienst dann nicht reichen.", antworte Andreas, als Jens<br />

ihm die Rahmenbedingungen <strong>des</strong> Bistrojobs erklärt hatte.<br />

"Schade, und für Thomas sieht es bestimmt genauso aus, oder?"<br />

"Thomas wird nie mehr arbeiten, denn der ist an der Grippe gestorben."<br />

"Oh, das wusste ich nicht. Sorry, das tut mir leid."<br />

"Muss dir nicht leid tun. Ich hab mich schon daran gewöhnt, dass hier viele gestorben sind. Selbst<br />

habe ich Glück gehabt und bin mit einer leichten Lungenentzündung davongekommen."<br />

"Lungenentzündung habe ich auch gehabt, aber das scheint mir inzwischen schon ewig lange her.<br />

Nun gut, wenn du den Job nicht willst, muss mein Chef eben jemand anders finden."<br />

Ricardo war nicht begeistert über Jens Kündigung, aber er war zuversichtlich, innerhalb eines<br />

Monats jemanden als Ersatz finden zu können.<br />

Als Jens endlich zur Ruhe kam, auf seinem Bett lag und die Decke betrachtet, fühlte er sich wie im<br />

Märchen, genau so, wie Johanna es beschrieben hatte. Innerhalb von zwei Tagen hatte er nicht nur<br />

eine zukünftige Ehefrau, sondern auch eine neue Mutter bekommen, war vom mittellosen Hilfsarbeiter<br />

zum vermögenden Hofbesitzer aufgestiegen und das alles, während woanders die Welt zu Bruch ging.<br />

Ein Gefühl von Scham brannte sich durch seine Freude, aber wenn er daran dachte, dass es grobe<br />

Undankbarkeit wäre, wenn er sich jetzt nicht freuen würde, ließ die Scham allmählich wieder nach.<br />

Ob es richtig war, sich von Heide adoptieren zu lassen? Wie eine Grossmutter hatte er sie sowieso<br />

schon empfunden, auch unabhängig von dem Hof. Irgendwie tat es gut, eine Vertraute der älteren<br />

Generation zu haben, das hatte er bei seinen Besuchen gemerkt. Heide war ja auch nicht irgendeine<br />

alte Frau, sondern eine besonders herzliche und interessante Dame. Also war die Adoption wohl die<br />

richtige Entscheidung.<br />

Um alles zu regeln, hatten Jens und Johanna sich für einen Monat entschieden. Sie würden also<br />

Anfang März in Richtung Süden fahren, um rechtzeitig zur Aussaat dort zu sein.<br />

Vielleicht wäre es sinnvoll, in der Zeit bis dahin einige von Oliviers Bauern zu besuchen, um einen<br />

lebendigen Eindruck von den ganzen Möglichkeiten zu bekommen, dachte sich Jens.


Kapitel 30<br />

An einem sonnigen Februartag, der schon den Frühling erahnen ließ, fuhren Jens und Johanna auf<br />

ihren Fahrrädern zu einigen der nahegelegenen Bauernhöfe, die mit Olivier kooperierten.<br />

Einer der Bauernhöfe gefiel Jens und Johanna besonders gut, vor allem wegen der Vielfalt, die<br />

dieser Hof bot. Der Bauer hatte nur ein kleines Windrad für den Eigenbedarf und ansonsten eine<br />

grosse Biogas-Anlage, die mithilfe von Druck und Hitze sogar flüssigen Treibstoff produzierte, den<br />

man als Dieselersatz nehmen konnte. In dieser Anlage verarbeitete der Bauer alle Pflanzenreste, die<br />

anfielen, und den Kot der Tiere <strong>des</strong> Hofes. Als Abfall entstand ein hochwertiger Dünger, mit dem der<br />

Bauer seine Felder düngte. Von jeder Tierart gab es nur wenige, dafür waren viele Arten auf dem Hof<br />

heimisch: Kühe, Schweine, Ziegen, Schafe, Hühner, Hasen und Gänse. Die Erzeugnisse dieser Tiere<br />

wurden, soweit möglich, direkt auf dem Hof verarbeitet.<br />

Auf einem anderen Hof konnten sie beheizte Gewächshäuser bewundern, die an Fabrikhallen<br />

erinnerten, so gross waren sie. In diesen Hallen gediehen tatsächlich Tomaten, wie Olivier schon am<br />

Anfang berichtet hatte. Auch Gurken, Zucchini, Paprika und Salat wurden in diesem künstlich<br />

erzeugen Sommerwetter angebaut. Eiffelturmhohe Windräder erzeugten Licht und Wärme, die in den<br />

Gewächshäusern gebraucht wurden.<br />

Voller neuer Eindrücke kehrten sie am Abend heim und der eigene Hof begann in den Köpfen<br />

Gestalt anzunehmen.<br />

Die Adoption verlief tatsächlich so schmerzlos, wie Heide versprochen hatte, doch empfand Jens<br />

die Zeremonie beim Notar als äußerst langatmig. Bei der gleichen Gelegenheit wurde Jens auch der<br />

Hof übertragen und die Zahlung <strong>des</strong> Startkapitals auf sein Konto veranlasst.<br />

Für wenige Tage hiess Jens nun "Jens Wagner".<br />

Jens und Heide feierten die späte Geburt ihrer Mutter-Sohn-Beziehung in einem teuren<br />

Restaurant, von dem Jens bisher gar nicht gewusst hatte. Einerseits fühlte sich Jens sehr wohl damit,<br />

aber andererseits fühlte es sich auch immer mal wieder sehr merkwürdig an, durch eine simple<br />

Unterschrift plötzlich eine neue Mutter zu haben. Ihr gemeinsames Grippeerlebnis half jedoch, dass es<br />

sich stimmig anfühlte, als würde das Entreissen aus den Klauen <strong>des</strong> To<strong>des</strong> die Geburtserfahrung<br />

ersetzen.<br />

Hei<strong>des</strong> Humor trug stark dazu bei, dass der Abend zu einem richtigen Fest wurde, voller Lachen<br />

und angeregten Gesprächen. Immer mal wieder ging Jens auch seine richtige Mutter durch den Kopf<br />

und ihm wurde klar, dass Heide keineswegs ihren Platz einnehmen wollte und würde. Seine Mutter<br />

würde ihren Platz in seinem Herzen nicht verlieren, soviel stand fest. Denn Heide eroberte einen<br />

anderen Platz in seinem Herzen, als stünden im Hintergrund freie Herzplätze in Warteposition, um<br />

aktiv zu werden, sobald sie gebraucht würden.<br />

Aber wenn Jens die Wahl gehabt hätte, sich eine Mutter auszusuchen, hätte er sich bestimmt<br />

gerne eine Frau wie Heide ausgesucht. Trotz der weissen Haare und tiefen Runzeln versprühte sie<br />

soviel jugendlichen Charme, dass er immer wieder vergass, dass sie schon über achtzig war.<br />

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug, weil es soviel vorzubereiten galt, dass Jens kaum zum<br />

Nachdenken kam. Seine Wohnung wollte Bennie übernehmen, der sich freute, fünf Quadratmeter<br />

mehr für weniger Geld zu bekommen. Die meisten seiner Besitztümer würde Jens zurücklassen, denn<br />

der Transport durch ganz Deutschland wäre teurer als eine Neuanschaffung gewesen. Fürs erste<br />

mussten wohl die Möbel reichen, die laut Heide im Wohnhaus <strong>des</strong> Hofes standen. Ein paar wenige<br />

Umzugskisten mit seinem Computer und seinen Lieblingsbüchern ließ er sich mit einem<br />

Sammeltransport nachschicken. In der letzten Woche besuchte er auch nochmal all seine Freunde,<br />

die er wahrscheinlich lange nicht mehr sehen würde.<br />

Die Hochzeit fand am letzten Tag vor der Abreise statt und diente gleichzeitig als Abschiedsfest.<br />

Bennie war als Trauzeuge eingeladen und Heide kam in ihrer neuen Mutterrolle. Die zweite<br />

Trauzeugin war eine Schulfreundin von Johanna, die Jens bisher nicht gekannt hatte. Nach der<br />

stan<strong>des</strong>amtlichen Trauung fand eine kirchliche Trauung im privaten Rahmen statt, denn Johannas<br />

Eltern hatten ihre guten Beziehungen zur Gemeinde spielen lassen und einen extra Trauungstermin<br />

innerhalb der Woche ermöglicht.<br />

Obwohl Jens mit kirchlichen Dingen nicht viel im Sinn hatte, durchrieselte ihn beim<br />

Heiratsversprechen eine Gänsehaut.


Johanna sah in ihrem Brautkleid wirklich bezaubernd aus. Jens war ganz erstaunt, welchen<br />

Aufwand sie für ein so kleines Fest getrieben hatte, aber er sagte sich, dass man die Bedeutung einer<br />

Hochzeit wohl besser nicht an der Anzahl der Gäste festmachen sollte. Als er Johanna nach den<br />

Zeremonien auf ihr Brautkleid ansprach und erwähnte, dass es ja eigentlich schade sei, dass sie es<br />

nur dieses eine Mal anziehen würde, lachte sie und erklärte ihm, dass ihr Kleid modular aufgebaut sei<br />

und dass sie Teile davon durchaus später noch tragen würde, z.B. die Bluse, das Jäckchen und den<br />

engen Rock, den man unter dem weiten Tüll nur erahnen konnte.<br />

Weil er keinen Namen weitergeben wollte, an den er sich selbst noch gar nicht gewöhnt hatte,<br />

nahm er Johannas Nachnamen an und so hiess Jens jetzt "Jens Trautmann".<br />

Wie zu erwarten, gab es viel zuviele Torten und auch das abendliche Buffet hätte für ein Vielfaches<br />

von Gästen gereicht. Frau Trautmann war emsig darauf bedacht, es allen Gästen recht zu machen<br />

und wirkte fast aufgekratzt. Johanna vertraute Jens in einem ruhigen Moment an, dass ihre Mutter<br />

täglich stundenlang geweint hatte, seit ihr Wegziehen feststand. Auch Sonja war sehr unglücklich<br />

gewesen, als sie es erfuhr und ließ sich nur mit dem Versprechen trösten, dass sie in den<br />

Sommerferien zu Besuch kommen dürfe.<br />

Am nächsten M<strong>org</strong>en stand die ganze Familie Trautmann auf dem Bahnsteig und sogar Heide<br />

hatte die frühe Stunde nicht gescheut und war zum Abschiednehmen gekommen. Der Abschied<br />

zwischen Johanna und ihrer Familie verlief tränenreich, aber Jens schüttelte ihnen nur sachlich die<br />

Hände und spürte eine deutliche Distanz außer bei Sonja, die am liebsten sofort mitgefahren wäre.<br />

Heide strahlte übers ganze Gesicht und verabschiedete sich sehr herzlich vom frisch getrauten<br />

Ehepaar.<br />

Jens war froh als es Zeit wurde, ihre Habseligkeiten im Zug zu verstauen. Sie hatten sich für die<br />

erste Klasse entschieden, denn nur dort konnte man mit Platzkarten auch erwarten, tatsächlich einen<br />

Sitzplatz vorzufinden. Die zweite Klasse war meistens so überfüllt, dass man sich selbst mit Platzkarte<br />

kaum zu seinem Sitz vorarbeiten konnte, obwohl die Züge deutlich länger waren als vor der Ölkrise.<br />

Außerdem war die teure Fahrradmitnahme nur noch in Verbindung mit einem Erste Klasse Ticket<br />

möglich und Jens wollte unbedingt sein Fahrrad mitnehmen, um beweglich zu sein. Das hatte auch<br />

Johanna überzeugt, ihr eigenes Fahrrad mitzunehmen.<br />

Als Jens die Massen sah, die sich in die Waggons der zweiten Klasse quetschten, war er sehr froh<br />

über die Entscheidung für die teureren Fahrkarten, zumal die Eltern Trautmann es sich nicht hatten<br />

nehmen lassen, die Zugfahrt zu bezahlen. Auch ein zusätzliches Startkapital hatte Johanna auf ihrem<br />

Konto v<strong>org</strong>efunden, wenn es auch deutlich weniger war, als das Vermögen, das Jens von Heide<br />

bekommen hatte.<br />

Gut gelaunt saßen Jens und Johanna schließlich auf ihren Plätzen und fuhren ihrem neuen Leben<br />

entgegen, nicht ahnend, was alles auf sie zukommen würde.<br />

Unterwegs sahen sie beeindruckende Windparks, die sich über ganze Landstriche erstreckten. Auf<br />

ihrem Landausflug hatten sie zwar auch schon viele Windräder gesehen, aber dass es solche Mengen<br />

davon gab, erstaunte sie dennoch.<br />

Erst nach etwa zwei Stunden Fahrtzeit wurden die Windparks allmählich seltener, doch sie blieben<br />

ein ständiger Begleiter auf der Reise. Je weiter sie nach Süden kamen, <strong>des</strong>to häufiger standen die<br />

gigantischen Drehflügel auch still und warteten auf Wind.<br />

Gegen Mittag erreichten sie Frankfurt, wo sie eine halbe Stunde Aufenthalt hatten. Diese Zeit<br />

wollten Jens und Johanna nutzen, um sich etwas die Füsse zu vertreten und einen Kaffee zu trinken.<br />

Ihr Gepäck vertrauten sie einem älteren Ehepaar an, das mit ihnen im gleichen Abteil saß und sehr<br />

seriös wirkte.<br />

Der Bahnhof war eine einzige Baustelle. Ein großer Teil <strong>des</strong> Gebäudekomplexes war vollständig<br />

abgesperrt und vor Blicken geschützt, doch ein Blick zur Hallendecke offenbarte ein nur notdürtig<br />

geflicktes Loch, <strong>des</strong>sen Grösse kleineren Bahnhöfen als vollständiges Dach gereicht hätte.<br />

"Ob das noch Schäden von dem Terroranschlag vor drei Jahren sind?", fragte Johanna.<br />

"Sieht fast so aus. Schau mal, hier der Pfeiler hat auch ordentlich was abbekommen, obwohl er<br />

außerhalb <strong>des</strong> gesperrten Gebietes ist."<br />

"Dann brauchen die aber echt lange zum Reparieren."<br />

"Denen fehlt wohl das Geld und vielleicht auch das Baumaterial. Rohstoffe sind doch überall<br />

knapp."


"Ich finde es unheimlich hier. Wenn ich mir vorstelle, wieviele Leute hier damals gestorben sind<br />

und welch grauenvolle Verletzungen es gab, genau hier, wo wir jetzt langgehen, dann wird mir fast<br />

schlecht."<br />

"Ja, irgendwie ist es unheimlich.", Jens legte den Arm beschützend um seine Frau.<br />

"Am liebsten würde ich wieder zurück in den Zug, zur Not auch ohne Kaffee."<br />

"Ok, dann lass uns wieder zurückgehen."<br />

Johanna kuschelte sich an Jens und engumschlungen gingen sie zurück in ihr Abteil. Dort wartete<br />

ein üppiges Proviantpaket auf sie, von dem sie auch noch ihren Sitznachbarn etwas abgeben<br />

konnten. Johanna erzählte schmunzelnd, wie sie ihre Mutter davon abgehalten hatte, ihnen einen<br />

ganzen Wochenvorrat einzupacken.<br />

Südlich von Frankfurt sahen sie immer häufiger Dächer mit Solaranlagen. Hier und da standen<br />

außerhalb der Städte sogar ganze Felder voll davon. Das waren wohl die legendären Solarkraftwerke,<br />

von denen Jens bisher nur aus Fernsehen und Internet wusste.<br />

So wie die Windräder im Verlauf ihrer Reise weniger geworden waren, steigerte sich die Nutzung<br />

der Sonnenenergie. Auf manchen Dächern konnte man sogar beide Typen von Solaranlagen sehen:<br />

die bläulich schimmernden Photovoltaik-Anlagen, um Strom zu erzeugen und die Sonnenkollektoren,<br />

mit denen man Wasser erwärmen konnte.<br />

Beide Arten von Solaranlagen wollte Jens auch unbedingt für seinen Hof haben. Er hatte zwar von<br />

Lieferengpässen aufgrund der Materialknappheit gehört und außerdem waren die Komponenten<br />

wieder teurer geworden, weil auch die Energie zur Herstellung der Anlagen teurer geworden war, wie<br />

überall auf der Welt. Jens hoffte, dass die zusätzliche Energieverteuerung durch den Japan-Tsunami<br />

wieder nachlassen würde, denn sonst würde sein Vermögen wahrscheinlich weniger weit reichen, als<br />

er sich am Anfang v<strong>org</strong>estellt hatte.<br />

In Freiburg mussten sie umsteigen und als sie endlich an ihrem Zielbahnhof ankamen, war es<br />

schon lange stockdunkel. Herr Wiedemann, der Nachbar, hatte zwar angeboten, sie vom Bahnhof<br />

abzuholen, aber die Fahrräder hätten nicht in sein Auto gepasst und bei den aktuellen Benzinpreisen<br />

wäre eine solche Fahrt auch ein grosses Opfer gewesen. Statt<strong>des</strong>sen hatte Herr Wiedemann sich<br />

bereit erklärt, das Wohnhaus vorzuheizen und sie dort zu empfangen.<br />

Johanna und Jens packten also ihr Gepäck in Jens Fahrradanhänger, schalteten ihre Dynamos an<br />

und fuhren durch die Nacht ihrem neuen Zuhause entgegen. Nach einer knappen halben Stunde<br />

erreichten sie ihr Dorf. Das Ortsschild "Eichingen" bewies, dass sie hier richtig waren. Ob sie hier wohl<br />

Freunde finden würden?<br />

Nur noch wenige hundert Meter und sie standen im geöffneten Hofeingang ihres Hofes, über dem<br />

ein Stück Stoff mit der Aufschrift "Willkommen" prangte. Eines der dunkel aufragenden Häuser, die<br />

den Hof umstanden, leuchtete einladend aus seinen Fenstern.


Kapitel 31<br />

"Das ist ja alles riesig hier. Soviele große Gebäude.", staunte Johanna.<br />

"Ich hab mir auch alles eine Dimension kleiner v<strong>org</strong>estellt. Aber es ist ja gar nicht schlecht, wenn<br />

wir soviele Gebäude haben, dann können wir uns wenigstens ordentlich austoben."<br />

"Lass uns reingehen."<br />

Sie stellten ihre Fahrräder vor dem Wohnhaus ab und erklommen die kleine Treppe zum Windfang.<br />

Von drinnen kam ihnen schon jemand entgegen; durch die Milchglasscheibe der Haustür konnten sie<br />

eine grosse Gestalt erahnen, die sich mit kraftvollen Bewegungen näherte. Als er die Tür von innen<br />

öffnete, konnten sie erkennen, dass Herr Wiedemann wirklich gross war, sogar Jens musste deutlich<br />

zu ihm aufblicken. Sein leicht angegrautes Haar und sein lebendiger Gesichtsausdruck ließen ihn<br />

deutlich jünger erscheinen, als über siebzig, wie Heide ihnen mitgeteilt hatte.<br />

"Herzlich willkommen daheim."<br />

Herr Wiedemann schüttelte den beiden Neuankömmlingen kräftig die Hände und bat sie ins Innere.<br />

Ein langer Gang verlief bis zur Hinterseite <strong>des</strong> Hauses und eine Treppe führte ins Obergeschoss. Sie<br />

ließen die Treppe links liegen und gingen durch eine Tür, die dahinter zum Vorschein kam. Ihr Blick<br />

fiel auf einen Esstisch, an dem eine ganze Großfamilie mitsamt Knechten Platz gehabt hätte. Der<br />

Tisch wurde durch drei Kerzen beleuchtet und aus einem Topf stieg herzhaft duftender Dampf.<br />

Erst als sie den Raum vollständig betreten hatten, sahen sie, dass sie sich in einer Wohnküche<br />

befanden, die sich von der Vorder- bis zur Rückseite <strong>des</strong> Hauses erstreckte.<br />

"Das ist ja der reinste Saal.", rief Johanna.<br />

Herr Wiedemann erklärte etwas in unverständlichem Dialekt.<br />

"Entschuldigung, ich verstehe Ihr Schwäbisch nicht."<br />

"Mir schwätzet allemannisch. D'Frau Wagner, die hot schäbisch gschwätzt."<br />

"Tut mir leid, das wusste ich nicht. Auch allemannisch verstehe ich kaum."<br />

"Ich werds mit Hochdeutsch versuchen, bis Sie sich daran gewöhnt haben."<br />

"Danke schön. Das ist hier ja wirklich wunderschön. Und wie es duftet."<br />

"Setzen Sie sich nur hin und greifen Sie zu. Bestimmt sind Sie hungrig von der Reise."<br />

"Oh ja, und wie!", meldete sich Jens zu Wort und nahm Platz.<br />

Als auch Johanna saß, schöpfte Herr Wiedemann große Portionen Eintopf auf ihre Teller und<br />

schnitt dicke Scheiben frisch duften<strong>des</strong> Brot von einem runden Laib. Zu trinken gab es einen süffigen<br />

Weisswein, der von Herrn Wiedemanns eigenem Weinberg stammte. Die nahrhafte Suppe mit ihrer<br />

Würstchen-Einlage war genau das Richtige nach der anstrengenden Reise. Herr Wiedemann erzählte<br />

ihnen unter<strong>des</strong>sen von Erlebnissen, die er in dieser Küche schon gehabt hatte. Anscheinend war er<br />

bei Heide und ihrem Mann ein und aus gegangen. Erst jetzt erfuhren Jens und Johanna, dass hier<br />

außer dem Ehepaar Wagner zeitweise erheblich mehr Menschen gelebt hatten, vor allem in den<br />

idealistischen Anfangsjahren. Teilweise war es wohl auch ziemlich amüsant zugegangen, vor allem<br />

aus der Sicht eines Winzers, der hier aufgewachsen war.<br />

Jens fragte sich, ob später auch über ihre Anfangsjahre lustige Geschichten erzählt werden<br />

würden. Bestimmt würden sie viele typische Stadtmenschen-Fehler machen, bis sie sich mal<br />

eingewöhnt hatten.<br />

Nicht weit vom Esstisch brannte ein munteres Feuer in einem alten Küchenofen. Zwischendrin<br />

stand Herr Wiedemann auf, um Holz nachzulegen. Dabei erklärte er, was es bei diesem Ofen zu<br />

beachten gab. Jens schien es, als müsse man sich um das Feuer in diesem Ofen ständig kümmern,<br />

weil der Feuerraum so klein war. Nun ja, mit Ofenfeuern kannte er sich ja inzwischen schon etwas<br />

aus, da würde er sich wohl auch mit diesem anfreunden.<br />

Nachdem der erste Hunger gestillt war, hielt Johanna es nicht länger aus und ging durch den<br />

ganzen Raum bis zur eigentlichen Küche, die sich am anderen Ende befand. Beim Öffnen der<br />

Schränke stieß sie Laute <strong>des</strong> Entzückens aus.


"Welch eine Küche! Hier hat man wirklich Platz zum Arbeiten. Und überall noch zusätzliche<br />

Arbeitsflächen. Wie geschaffen für das große Einkochen."<br />

Sie öffnete eine Tür, die sich neben der Kücheneinrichtung befand. "Oh, hier gehts nach draußen<br />

und in noch ein Haus. Und was ist wohl hinter dieser Tür? Eine Speisekammer, und was für eine. Da<br />

kann man Nahrung für eine ganze Kompanie unterbringen. Traumhaft!"<br />

"Wollen Sie den Rest <strong>des</strong> Hauses sehen?", bot Herr Wiedemann an.<br />

"Gerne, wenn ich anschließend noch etwas von diesem leckeren Eintopf bekomme.", sagte Jens.<br />

"Da wird sich meine Frau aber freuen, dass es Ihnen schmeckt."<br />

Mit Kerzen bewaffnet erkundeten sie ihr neues Zuhause. Im Erdgeschoss gab es ein kleines Bad,<br />

ein Wohnzimmer und einen Raum voller Bücher, in die sich Jens und Johanna am liebsten gleich<br />

festgelesen hätten. "Das grosse Buch vom Leben auf dem Lande" stand dort, zusammen mit<br />

mehreren anderen Büchern von Seymour und haufenweise weiteren Büchern zum Thema<br />

Landwirtschaft.<br />

"Genau die Bücher, die wir brauchen. Da haben wir aber Glück gehabt.", strahlte Johanna.<br />

Im Obergeschoss gab es über dem Wohnzimmer ein Schlafzimmer, das für eine ganze Familie<br />

gereicht hätte. Ausserdem gab es noch ein großes Badezimmer und drei weitere Räume. Im<br />

Anschluss an den Gang, der zu den hinteren Zimmern führte, befand sich eine Tür, die in eine Halle<br />

führte, die genug Platz für eine ganze Wohnung bot, aber nicht ausgebaut war. Über der Treppe zum<br />

Obergeschoss ging noch eine Treppe ins zweite Obergeschoss, doch dort befand sich laut Herrn<br />

Wiedemann nur Gerümpel.<br />

Als sie wieder unten angekommen waren, verabschiedete sich Herr Wiedemann und kündigte an,<br />

am nächsten Vormittag wieder zu kommen. Jens nahm sich noch eine Portion Eintopf und Johanna<br />

sprang durch das Haus wie eine übermütige Gazelle. Immer wieder rief sie Jens neue Entdeckungen<br />

zu.<br />

Schließlich setzte sie sich verschwitzt und aufgekratzt auf das leere Ende <strong>des</strong> Tisches und<br />

betrachtete Jens, wie er gerade die letzten Bissen seines Eintopfes verzehrte. Sie angelte nach der<br />

Weinflasche und schenkte beiden die Gläser voll. Beim Anstoßen lächelte sie Jens so verführerisch<br />

an, dass er nicht widerstehen konnte und sie küsste. Ihre Küsse endeten darin, dass sie sich auf dem<br />

freien Ende <strong>des</strong> stabilen Tisches leidenschaftlich liebten.<br />

Anschließend brachte Johanna das Geschirr in die Küchenecke und erprobte mit Jens Hilfe ihre<br />

hausfraulichen Fähigkeiten. Aus dem Wasserhahn kam zwar Wasser, aber nur kaltes. Kichernd<br />

transportierte Johanna heisses Wasser aus dem Wassergefäss im Küchenofen zur Spüle und<br />

säuberte ihr Geschirr ordnungsgemäß. Dann waren beide so müde, dass sie beschlossen, das<br />

Schlafzimmer auszuprobieren. Dort war es zwar sehr kühl, aber die dicken Decken und ihre Körper<br />

wärmten die Betten schnell auf.<br />

M<strong>org</strong>ens schien das Sonnenlicht freundlich in ihr Schlafzimmer und weckte sie auf. Jens gab<br />

Johanna einen verschlafenen Kuss, stieg aus dem Bett und ging ans Fenster. Der Ausblick war<br />

phantastisch. Man konnte gerade eben über das Dach <strong>des</strong> gegenüberliegenden Gebäu<strong>des</strong> blicken<br />

und dahinter öffnete sich der Blick auf die weite Ebene <strong>des</strong> Oberrheintals. Ganz weit hinten sah Jens<br />

einen wolkenverhangenden Bergstreifen, der die Ebene begrenzte.<br />

"Komm her Johanna, das musst du sehen. Ich glaube, man kann bis nach Frankreich schauen."<br />

"Oh, das sieht ja wirklich toll aus. Guck mal dort, das schmale Glitzern, ob das wohl der Rhein ist?"<br />

"Könnte sein, der muss ja hier irgendwo sein und die Stelle wäre richtig. Und dahinten die Berge,<br />

das sind wohl die Vogesen."<br />

Nachdem sie sich sattgesehen hatten, zogen sie sich an und liefen durchs Haus. Im Licht <strong>des</strong><br />

Tages sah alles wieder ganz anders aus, weil man jetzt die Räume auf einen Blick sehen konnte,<br />

ohne die Ecken einzeln mit der Kerze ausleuchten zu müssen. Das Wohnhaus wirkte noch größer als<br />

am Abend zuvor.<br />

Noch vor dem Frühstück gingen Jens und Johanna auf Entdeckungstour. Über Eck vom<br />

Wohnhaus in Küchennähe fanden sie ein Gebäude mit einem Raum, der an eine Waschküche<br />

erinnerte, aber vermutlich eine alte Molkerei war, denn daneben befanden sich zwei Ställe, deren<br />

Einrichtungsreste an Kuhställe denken ließen. Gegenüber vom Wohnhaus waren ursprünglich wohl<br />

auch Ställe gewesen, doch davon konnte man nichts mehr sehen. Direkt am Hofeingang war


statt<strong>des</strong>sen eine Doppelgarage und daneben eine Werkstatt, in die Jens sich am liebsten sofort<br />

vergraben hätte. Werkzeuge vom Feinsten hingen dort s<strong>org</strong>fältig aufgereiht, als wollte der Handwerker<br />

sogleich wiederkommen. Jens sah eines der Bilder von Hei<strong>des</strong> Mann vor seinem inneren Auge und<br />

konnte sich lebhaft vorstellen, wie er in dieser Werkstatt gearbeitet hatte. Der dritte Raum dieses<br />

Gebäu<strong>des</strong> war leer, bis auf drei alte Fahrräder, die an einer Wand lehnten.<br />

Auf der vierten Seite <strong>des</strong> Hofes stand eine wuchtige Scheune, die fast so hoch wie das Haupthaus<br />

war. Das Innere war fast leer; nur ein altmodischer Traktor mit Anhänger stand darin. Johannas<br />

Stimme hallte wie in einer Kirche, als sie Jens aufforderte von der Untersuchung <strong>des</strong> Traktors<br />

abzulassen, um sich den Rest <strong>des</strong> Grundstücks anzusehen.<br />

Hand in Hand eilten sie durch Zwischenraum der Häuser in den Garten. Ein Weg führte an einer<br />

Wiese vorbei, bis zu einer kleinen Brücke. Linkerhand stand ein grosses Gewächshaus am Rand<br />

eines zugewucherten Gelän<strong>des</strong>, das wohl der Gemüsegarten sein sollte. Auf dem Landstück hätte ein<br />

ganzes Haus samt Garten grosszügig Platz gehabt.<br />

Der Kiesweg knirschte unter ihren Füssen, als sie zur Brücke gingen. Ein Bach durchschnitt die<br />

Wiese in zwei Teile. Zur linken Seite stieg das Gelände an, ein Wasserfall speiste den Bachlauf und<br />

dort war auch endlich das Wasserrad, über das sich Jens schon soviele Gedanken gemacht hatte. Es<br />

stand still und war teilweise von Pflanzen überwuchert. Jens betrachtete das Wasserrad gründlich,<br />

entfernte ein paar der Pflanzen und glich seine Vorstellung im Kopf der Realität an. Vieles hing davon<br />

ab, dass er dieses kleine Kraftwerk wieder zum Funktionieren brachte. In erster Linie, ob es notwendig<br />

war, Kunde der hiesigen Stromgesellschaft zu werden.<br />

Unter einem kleinen Wasserrad hatte er sich allerdings etwas anderes v<strong>org</strong>estellt. Dieses hier war<br />

so gross, dass er die Arme über den Kopf heben musste, um an die Nabe <strong>des</strong> Ra<strong>des</strong> zu reichen.<br />

"Komm mal, du alter Techniker. Hier ist ein See und die berühmte warme Quelle."<br />

Jens riss sich von der Betrachtung <strong>des</strong> Wasserra<strong>des</strong> los und folgte Johanna auf das Plateau<br />

dahinter. Der Teich war groß genug, um darin schwimmen zu können, sogar ein Ba<strong>des</strong>teg mit kleinem<br />

Sprungbrett führte ins Wasser. Ein in Stein gefasstes Rinnsaal ergoss sich neben dem Steg in den<br />

Teich. Jens hielt seine Hand hinein und tatsächlich: das Wasser war warm. Johanna hockte neben<br />

einem Steinrondell, das eine dunkle Wasserfläche umfasste. Vergnügt spritzte sie Jens warmes<br />

Wasser entgegen, als er sich näherte. Das Becken war voller Laub, daher verlockte es nicht zum<br />

hineinspringen, aber Jens konnte sich vorstellen, welche herrliche Möglichkeiten sich boten, wenn es<br />

erstmal gereinigt war.<br />

Rund um die warme Quelle stand eine kreisrunde Steinbank, die dazu einlud, sich niederzulassen.<br />

Mit dem Teich im Rücken sah Jens über die Quelle hinweg die alte Eiche, die er schon auf den Fotos<br />

bewundert hatte. Inzwischen war sie noch deutlich größer geworden. Das wäre der optimale Platz für<br />

Feen, um sich im Mondschein zu tummeln, dachte sich Jens. So wie Johanna am Wasser kniete,<br />

hätte sie mit ihrer schmalen hochgewachsenen Gestalt eine wunderbare Feenkönigin abgegeben. Als<br />

hätte sie seine Gedanken geahnt, erhob sich Johanna anmutig und umtanzte die Quelle ausgelassen.<br />

Der Platz um die Quelle war wie eine kleine Welt für sich. Die Grundstücksmauer, die das gesamte<br />

Grundstück umfasste, war durch mannigfaltiges Gebüsch fast unsichtbar, obwohl noch keine Blätter<br />

wuchsen. Auch die Wiese war nur zu erahnen, weil der Hang nach unten mit wildem Buschwerk<br />

bewachsen war. In der anderen Richtung wuchsen Bäume den steilen Hang empor, sodass es wie ein<br />

Waldrand wirkte. Der Bach sprang über viele steinige Stufen in den Teich. Dort oben musste auch die<br />

kalte Quelle sein, von der sie ihr Wasser bezogen. Jens sah eine schmale Treppe, die auf der<br />

anderen Seite <strong>des</strong> Teiches bergan führte.<br />

Schließlich wurden sie hungrig und machten sich auf den Rückweg. Von der Brücke aus sahen sie<br />

hinter der Scheune noch ein breites Stück Wiese mit stattlichen Obstbäumen. Hier würden sich<br />

Johannas geplante Milchschafe bestimmt wohlfühlen.<br />

Johanna pries ihre weitblickende Mutter, als sie ihre Proviantreste und die Packung Kaffee<br />

auspackte, die Frau Trautmann ihr aufgenötigt hatte. Jens reinigte inzwischen den Ofen und entfachte<br />

ein Feuer. Obwohl das Feuer schnell brannte, würde es lange dauern, bis sie Wasser zum Kochen<br />

gebracht hatten. Johanna war in<strong>des</strong> zuversichtlich genug, um den Gasherd auszuprobieren - er<br />

funktionierte.<br />

"Das ist bestimmt ein Service von Herrn Wiedemann. Ich frage mich sowieso, wieviel Arbeit er hier<br />

reingesteckt hat, denn hier sieht kaum etwas aus, als hätte es zehn Jahre leergestanden."


"Heide hat so etwas angedeutet, dass er hier als eine Art Hausmeister fungiert hat, bezahlt<br />

natürlich. Ob ihm dieses Einkommen wohl fehlen wird, jetzt wo wir hier sind?"<br />

"Bestimmt fehlt ihm das. Aber wir werden ihn wohl noch oft genug brauchen, und dann sollten wir<br />

ihm auch etwas zahlen. Schließlich sind wir wohlhabende Leute."<br />

Johanna grinste und setzte einen Topf mit Wasser auf. In der Wartezeit bis es kochte, untersuchte<br />

sie alle Schubladen und Schränke. Aus ihren wohligen Grunz- und Staunlauten schloss Jens, dass die<br />

Küche alles bot, was man brauchte, um gut zu kochen. Er hatte sich inzwischen in dem büroartigen<br />

Bücherzimmer einige Blatt Papier <strong>org</strong>anisiert, um aufzuschreiben, was es alles zu tun gab. Bis<br />

Johanna mit dem Kaffee zum Tisch kam, hatte Jens schon ein ganzes Blatt vollgeschrieben.<br />

"Es gibt unendlich viel zu tun, und am besten alles heute. Da fällt die Wahl wirklich schwer."<br />

"Das glaube ich gern. Herr Wiedemann wollte auch noch kommen. Aber m<strong>org</strong>en wird wohl auch<br />

noch Zeit sein, um weiter zu machen. Zeig mal, was du alles notiert hast."<br />

"Hier. Für besonders wichtig halte ich das Einkaufen und das Wasserrad, damit wir Strom haben."<br />

"Ja, und mit den ersten Gartenarbeiten sollten wir auch nicht allzulange warten."<br />

Während sie noch überlegten, klingelte es und Herr Wiedemann stand vor der Tür. In den Händen<br />

hielt er eine geheimnisvolle Schachtel.<br />

"Haben Sie eine gute erste Nacht verbracht?"<br />

"Ja danke, wunderbar. Und der Blick, den man m<strong>org</strong>ens aus dem Fenster hat, der ist auch ganz<br />

phantastisch."<br />

"Wir haben uns inzwischen das Meiste angeschaut. Sie haben den Hof wirklich gut in Schuss<br />

gehalten."<br />

"Wie ich sehe, kommen Sie gut klar. Sogar das Kaffeekochen hat geklappt."<br />

Bei einer weiteren Kaffeerunde stellten Jens und Johanna Herrn Wiedemann alle Fragen, die in<br />

der Zwischenzeit aufgetaucht waren. Mit dem Wasserrad kannte er sich leider nicht aus; er wusste nur<br />

noch, dass es in der letzten Zeit vor dem Wegzug der Wagners Ärger gemacht hatte und jetzt<br />

stillgelegt war. Ansonsten schien er ihnen aber wie die reinste Enzyklopädie <strong>des</strong> Landlebens.<br />

"Haben Sie Tipps, wie wir das Umgraben <strong>des</strong> Gemüsegartens möglichst schnell schaffen können?"<br />

"Von Hand schaffen Sie das nie, den ganzen Gemüsegarten umzugraben. Da wären Sie bis zum<br />

Hochsommer beschäftigt und würden nichts anderes schaffen. Das sind ja schließlich bald tausend<br />

Quadratmeter. Leider habe ich gerade keinen Treibstoff für meinen Traktor, sonst würde ich Ihnen das<br />

einfach mal durchzackern."<br />

"Einen alten Traktor haben wir sogar auch. Wieviel Diesel schluckt denn so ein Traktor?"<br />

"Das hängt von der Größe ab und was Sie damit anfangen. Bei kleinen und normalen Traktoren<br />

reicht das von zwei bis zwölf Liter pro Stunde. Grosse Maschinen brauchen noch erheblich mehr."<br />

"Zwei Liter gehen ja noch, aber zwölf sind schon ziemlich happig. Mal sehen, ob wir Diesel<br />

auftreiben können. Gibt es in der Nähe eine gute Tankstelle?"<br />

"Dort, wo Sie mit dem Zug angekommen sind, gibt es in der Nähe <strong>des</strong> Ortseinganges eine<br />

Tankstelle. Aber die haben nicht immer Diesel; Benzin gibt es aber noch seltener. In der Gegend<br />

finden Sie auch andere Geschäfte."<br />

Zum Abschied übergab Herr Wiedemann ihnen die Schachtel, die er mitgebracht hatte. Sie enthielt<br />

Samentütchen, die noch vom letzten Jahr übrig waren und die Herr Wiedemann entbehren konnte.<br />

Johanna begutachtete die Tütchen, wie die Edelsteine eines Schmuckstücks. In wenigen Minuten<br />

hatte sie mehrere Stapel gebildet, nachdem sie die jeweiligen Anbaugeheimnisse durch Drehen und<br />

Wenden der Tütchen entschlüsselt hatte.<br />

Vor dem Einkaufen am Nachmittag nahm sich Jens das Wasserrad vor und Johanna wollte sich<br />

schon mal dem Gemüsegarten widmen, weil sie mit der ersten Aussaat nicht abwarten wollte, bis die<br />

Frage mit dem Trecker geklärt war.<br />

Das Entfernen der Pflanzen vom Wasserrad erwies sich als harte Arbeit. Während<strong>des</strong>sen konnte<br />

Jens auch erkennen, dass das Wasserrad dadurch stillgelegt war, dass die Wasserrinne über das Rad<br />

hinausragte und sich so als freier Wasserfall ergoss. Diese Rinne würde er später nach hinten


schieben müssen. Ihm taten schon die Arme weh, als er sich allmählich zu den Feinheiten<br />

vorarbeitete. Die nächsten Arbeitsschritte gingen ihm durch den Kopf, als er Johanna kommen hörte.<br />

"Das Essen ist fertig. Ich habe uns mal die Reste <strong>des</strong> Eintopfes von gestern warm gemacht."<br />

"Sehr gute Idee, mir knurrt schon der Magen. Wie liefs bei dir?"<br />

"Sehr weit bin ich noch nicht gekommen, aber ich glaube, ich habe einen Kräutergarten in der<br />

Nähe <strong>des</strong> Kücheneingangs entdeckt. Da spriessen ein paar kleine Schnittlauchspiesse, dann habe ich<br />

Thymian gerochen, der auch schon etwas austreibt, aber auch viele Brennesseln. Da werde ich mich<br />

wohl mehrmals gründlich vertiefen müssen, bis ich weiss, was hingehört und was Unkraut ist.<br />

Außerdem habe ich Gartenwerkzeuge gefunden. Und du hast schon die meisten Pflanzen entfernt,<br />

wie ich gesehen habe."<br />

Der Eintopf schmeckte nach der Arbeit an der frischen Luft fast noch besser als am Abend zuvor.<br />

Johanna blätterte nebenher in einem Buch über Gemüseanbau und war kaum ansprechbar, was Jens<br />

aber ganz recht war, denn er dachte über den Aufbau <strong>des</strong> Wasserra<strong>des</strong> nach. Kaum hatten sie fertig<br />

gegessen, brachen sie zu ihrem Einkauf auf.<br />

Die Tankstelle war tatsächlich leicht zu finden, hatte aber leider kein Diesel. Ganz in der Nähe gab<br />

es jedoch, wie erhofft, ein Einkaufszentrum im typischen Grüne-Wiese-Stil. Das Angebot <strong>des</strong><br />

Supermarktes war sogar reichhaltiger als zuletzt in den Supermärkten <strong>des</strong> Nordens. Über die Hälfte<br />

der Regale war mit Waren gefüllt und Jens und Johanna fanden das meiste, von dem, was sie<br />

brauchten. Die Preise schienen aber noch happiger als in ihrer alten Heimat.<br />

Ganz entzückt blieb Johanna eine Weile vor einem Samenregal stehen. Jens konnte ihr ansehen,<br />

wie sie anhand <strong>des</strong> Angebotes ihren Gartenplan erweiterte. Dabei sah sie so hinreissend aus, dass er<br />

nicht widerstehen konnte, ihr einen Kuss auf die Wange zu hauchen, bevor er im unteren Teil <strong>des</strong><br />

Regals nach einer Tüte dicke Bohnen griff.<br />

"Soviel ich weiss, muss man die auch sehr früh säen."<br />

"Oh ja, stimmt. Die hatte ich noch gar nicht entdeckt. Sehr gut."<br />

Als Johanna mit ihrer Beute zufrieden war, hatte Jens den Eindruck, dass sie zur Not ohne weitere<br />

Samenkäufe gut übers erste Gartenjahr kommen würden, wenn nicht gar länger. Ein ordentlicher<br />

Samenvorrat war aber bestimmt nicht verkehrt und im Vergleich zu vielen anderen Dingen einfach und<br />

preiswert zu beschaffen.<br />

Schwer beladen fuhren sie anschließend nach Hause. Zusätzlich zu Jens Anhänger, in dem sich<br />

der grösste Teil der Einkäufe befand, hatte Johanna noch einen Korb und Satteltaschen auf ihr<br />

Fahrrad geschnallt, aber es war abzusehen, dass sie auch bald einen Anhänger brauchen würde.<br />

Später kämpfte Jens mit den eingerosteten Stellen <strong>des</strong> Wasserra<strong>des</strong>. Mit gründlichem Schleifen<br />

und Ölen gelang es ihm jedoch nach geraumer Zeit, das Rad in Drehung zu versetzen. Als nächstes<br />

war die Justierung der Wasserrinne dran, die auch an einigen wichtigen Stellen unter Rost litt. Beim<br />

Entrümpeln war er nie so ins Schwitzen gekommen wie jetzt, dabei war es in der Nähe <strong>des</strong><br />

sprühenden Wassers durchaus frisch.<br />

Irgendwann löste sich jedoch die letzte verklemmte Stelle und die Rinne glitt zurück, bis der<br />

Wasserfall auf das Wasserrad traf. Die Schaufel <strong>des</strong> Ra<strong>des</strong> füllte sich mit Wasser und ganz<br />

allmählich, wie eine alte Dampflok, setzte sich das Rad in Bewegung. Jens fixierte die Rinne in der<br />

jetzigen Stellung und ging zum Generator. Die Welle drehte sich zwar, aber die Stromanzeige zeigte<br />

nichts an. Auch sein Messgerät, das Jens vorsichtshalber mitgebracht hatte, meldete keine Spannung.<br />

Die Sonne war inzwischen untergegangen und kühle Dämmerung zog herauf. Ob er es wohl noch<br />

schaffen würde, sie an diesem Abend mit elektrischem Licht zu vers<strong>org</strong>en?<br />

Er würde den Generator aufschrauben müssen, um feststellen zu können, was nicht in Ordnung<br />

war. Sicherheitshalber sollte er vorher das Wasserrad wieder stillegen, was aber glücklicherweise sehr<br />

viel schneller ging, als es in Bewegung zu setzen.<br />

Als er das Gehäuse <strong>des</strong> Generators öffnete, drückte er in Gedanken die Daumen, dass das<br />

Versagen <strong>des</strong> Generators mit dem häufigsten Problem bei Elektromotoren zusammenhing, das<br />

glücklicherweise leicht zu beheben war.<br />

Eigentlich reichte das Licht schon nicht mehr aus, um die Einzelheiten zu erkennen, aber Jens<br />

dachte sich, dass er das Innere von elektrischen Geräten so gut kennen müsste, dass er sich auch in<br />

der Dämmerung zurecht fand.


Da, die Spulen, unverkennbar. Und hier die Kohlebürsten - abgenutzt, wie erhofft - stark abgenutzt.<br />

Das dürfte es sein. Da reicht nachschieben auch nur vorübergehend, auf Dauer helfen da nur Neue.<br />

Nach der Reparatur hoffte Jens, dass die abgenutzten Kohlebürsten das einzige Problem <strong>des</strong><br />

Generators waren und im letzten Tageslicht brachte er alles wieder in Arbeitsstellung.<br />

Das Rad füllte sich erneut, setzte sich in Bewegung und am Generator leuchtete ein Lämpchen<br />

auf. Die Anzeige meldete Stromproduktion, wie erhofft.


Kapitel 32<br />

Johanna humpelte ihm schon entgegen, als Jens in Richtung Haus ging.<br />

"Hast du dich verletzt?", fragte er schon von weitem.<br />

"Verletzt nicht, aber ich bin wohl ziemlich verweichlicht. Mir tut jeder Knochen weh, vor allem am<br />

Rücken."<br />

"Ich fands auch ziemlich anstrengend, aber jetzt läuft der Generator."<br />

"Prima, ich habe mich schon gefragt, ob du es heute noch schaffst."<br />

"Und du, bist du zufrieden, mit dem was du geschafft hast."<br />

"Ja, komm doch grad mit, dann zeig ich es dir. Wir können dann hinten bei der Küche reingehen."<br />

"Ok."<br />

"Guck, hier hinter dem vermeintlichen Kräuterbeet habe ich umgegraben und gesät. Man sieht<br />

natürlich noch nichts wachsen. Aber da sollen bald Radieschen, Möhren und dicke Bohnen spriessen.<br />

Die umgegrabene Ecke ist leider winzig im Vergleich zum ganzen Garten."<br />

"Das macht doch nichts. Immerhin kann da jetzt schon mal Gemüse wachsen. Und Platz, dass der<br />

Trecker reinfahren kann, ohne dein Beet zu zerstören, hast du auch gelassen. M<strong>org</strong>en versuche ich<br />

Sprit zu bekommen, dann geht das bestimmt ruckzuck."<br />

Um das Innere <strong>des</strong> Sicherungskastens genau sehen zu können, brauchte Jens eine Kerze, so<br />

dunkel war es inzwischen geworden. Die Sicherungen waren jedoch schnell aktiviert und Johanna<br />

schaltete testweise das Licht in der Küche ein. Es leuchtete. An seinem tiefen Seufzen erkannte Jens,<br />

unter welcher Anspannung er gestanden hatte. Zwar war er sich sicher, dass er ein Stromsystem zum<br />

Laufen bringen konnte, auch wenn es Probleme gab, aber im ungünstigen Fall hätte es ihn<br />

wochenlang beschäftigen können. Immerhin war das Haus zehn Jahre lang unbenutzt gewesen.<br />

Ganz erleichtert übernahm er freiwillig das Kochen, denn Johanna wirkte sehr angeschlagen. Sie<br />

verschwand im Bad, um sich eine kalte Dusche zu gönnen. Aus ihrem Kreischen schloss Jens, dass<br />

sie sich tatsächlich unters kalte Wasser getraut hatte. Schaudernd und mit einem Handtuch um den<br />

Kopf gewickelt erschien sie zehn Minuten später in der Küche.<br />

Jens konnte sie vor lauter Zähneklappern kaum verstehen, als sie sagte: "Das mit dem<br />

Haarewaschen war wohl ein Fehler. Ich habe den Schaum kaum rausgekriegt. Für den Körper allein<br />

war das Wasser in Ordnung."<br />

"Du Arme! Der Ofen wird bestimmt bald warm. Das Problem mit den Haaren werde ich wohl<br />

weniger haben, weil meine so kurz sind."<br />

"Geh du ruhig auch duschen. Ich übernehme den Herd."<br />

Jens gewann neuen Respekt vor seiner Gefährtin, als ihn der kalte Strahl der Dusche traf. Vor<br />

allem auf der Kopfhaut hatte die Kälte eine fast erschlagende Wirkung. Selber auch zähneklappernd<br />

betrat er nach kurzer Zeit wieder die Küche, wo inzwischen die Spaghettis auf dem Tisch standen.<br />

"Warmes Wasser sollten wir auch bald in Angriff nehmen. Aber ich fürchte, das wird was<br />

Längeres."<br />

"Wenn wir eine Zwischenlösung für die Haare finden, halte ich das kalte Duschen auch ne Weile<br />

aus. Es wird ja bestimmt auch bald wärmer."<br />

"Stimmt, jetzt kommt bald der Sommer. Warmes Wasser für die Haare können wir dir ja zur Not<br />

erstmal auf dem Ofen kochen."<br />

"Auch für die Wäsche brauchen wir bald eine Lösung. Wir haben ja kaum Klamotten dabei. Wieviel<br />

Strom haben wir jetzt eigentlich?"<br />

"Zur Zeit sind es knapp zwei Kilowatt. Das reicht für Stromsparlampen, den Kühlschrank und ab<br />

und zu mein Notebook. Für eine Waschmaschine reicht das nicht andeutungsweise. Aber irgendwo<br />

müsste es grosse Akkus geben, die Strom zwischenspeichern. Wenn ich die zum Laufen bringe,<br />

müsste es auch ab und zu für eine Waschmaschine reichen."


"Wir bräuchten auch dringend Frühkartoffeln zum Stecken und am besten Mist oder schwarze<br />

Folie. Für die Frühkartoffeln ist es schon ziemlich spät laut Buch."<br />

"M<strong>org</strong>en vormittag will ich mal in der Stadt nach Treibstoff suchen. Da halte ich dann auch die<br />

Augen offen, ob ich Kartoffeln zum Stecken finde."<br />

Nach dem Essen telefonierten sie lange mit Heide, die nach dem gestrigen kurzen Anruf schon<br />

ganz neugierig war, wie es ihnen am ersten Tag ergangen war. Über das funktionierende Wasserrad<br />

freute sie sich sehr und sie hatte auch viele Tipps zu den Akkus, dem Garten und der Beschaffung der<br />

benötigten Dinge.<br />

Am nächsten M<strong>org</strong>en erwachten sie ausgeruht aber muskelkatergeplagt. Nach einem kurzen<br />

Frühstück verschwand Johanna im Gewächshaus und Jens nahm sich den Trecker vor, der, trotz<br />

seines hohen Alters, einen sehr gepflegten Eindruck machte. Wahrscheinlich würde es sich lohnen,<br />

Treibstoff für ihn zu bes<strong>org</strong>en. Leider waren keine Treibstoffreste mehr im Tank; Herr Wagner hatte<br />

wohl sichergehen wollen und daher nichts leicht Entzündliches in seiner Scheune zurückgelassen.<br />

An jeder Ecke begegnete ihm Herr Wagner in seinen Hinterlassenschaften und allmählich begann<br />

Jens, ihn liebzugewinnen, obwohl er ihn gar nicht gekannt hatte. Welch ein Jammer, dass er<br />

gestorben war; sie hätten bestimmt wunderbar fachsimpeln können und Herr Wagner hätte wohl lauter<br />

Antworten auf Jens mannigfaltige Fragen gehabt.<br />

Unterwegs hielt Jens kurz vor der Bun<strong>des</strong>traße für einen Moment an, denn ihm war klar geworden,<br />

dass sie schon mehrmals an ihrem Feld vorbeigekommen waren, ohne es zu beachten. Im Vergleich<br />

zu den meisten anderen Feldern wirkten ihre drei Hektar sehr klein und inmitten der Buschumrandung<br />

sah es aus wie ein vergessenes Stückchen Land. Als Jens sich jedoch vorstellte, wieviel man<br />

umgraben müsste, um dem Feld Herr zu werden, erschien es ihm plötzlich riesengross. Er fragte sich,<br />

wie die Bauern mit den grossen Feldern es wohl schafften, all ihre Felder rechtzeitig zu pflügen, wo es<br />

doch kaum Diesel gab. Das würde er Herrn Wiedemann fragen müssen.<br />

An der schon bekannten Tankstelle gab es wieder kein Diesel, die nächste Tankstelle hatte<br />

geschlossen und eine dritte Tankstelle war kaum noch als solche zu erkennen. Im anderen Städtchen,<br />

ganz in der Nähe, fand Jens auch keinen Treibstoff für seinen Trecker. Jetzt konnte er<br />

nachempfinden, wie es den Autofahrern in seiner Stadt immer gegangen war. Immerhin hatte er für<br />

die Fortbewegung sein Fahrrad.<br />

In einer Postfiliale, die auf dem Weg lag, bes<strong>org</strong>te sich Jens Telefonbücher von der Umgebung, um<br />

leichter herausfinden zu können, wo sie die tausend Dinge bekommen könnten, die ihnen für einen<br />

echten Selbstvers<strong>org</strong>erhof noch fehlten.<br />

Saatkartoffeln fand Jens trotz intensiver Suche nicht; selbst in der umfangreichen Gartenabteilung<br />

eines Baumarktes gab es keine, aber immerhin ergatterte er dort eine stabile schwarze Folie zu einem<br />

horrenden Preis und drei Benzinkanister aus Metall. Um nicht ganz ohne Kartoffeln heimzukommen,<br />

eilte er noch einmal in den Supermarkt und kaufte zwei Säckchen dünnschalige Kartoffeln, die zwar<br />

aussahen wie Frühkartoffeln, aber bestimmt keine waren, denn sonst hätte es wohl draufgestanden.<br />

Bei der Auswahl der Beutel achtete er darauf, dass die Kartoffeln schon etwas eingeschrumpelt und<br />

eher klein waren.<br />

Zurück zuhause traf er Johanna im Gewächshaus an. Vor ihr standen etliche frisch gefüllte<br />

Blumentöpfe. Als er sah, wie zügig Johanna arbeitete, schien ihm die Anzahl der Töpfe jedoch gering<br />

für die lange Zeit, die er fort gewesen war. Das Rätsel löste sich jedoch schnell, denn Johanna<br />

erzählte, dass sie bei den Wiedemanns gewesen war.<br />

"Dort habe ich endlich auch Frau Wiedemann kennengelernt. Sie kann nicht mehr gut laufen und<br />

benutzt eine Gehhilfe, darum hat sie uns wohl auch noch nicht besucht. Aber sie ist sehr nett und hat<br />

mich ordentlich mit Ratschlägen eingedeckt. Ausserdem hat sie mir ein paar Frühkartoffeln für die<br />

Aussaat gegeben, die sie aus alter Gewohnheit im Keller überwintert hatte, obwohl sie gar keine<br />

Kartoffeln mehr anbaut. Viele sinds nicht, aber für uns könnte es reichen."<br />

"Ich hab in meiner Verzweiflung noch Kartoffeln aus dem Supermarkt geholt, aber ich glaube, das<br />

sind keine Frühkartoffeln."<br />

"Vielleicht ist das ganz praktisch. Dann sind zuerst die Frühkartoffeln reif und etwas später die<br />

anderen. Aber den Hauptanbau der Kartoffeln sollten wir professioneller anpacken."<br />

Nach einem kurzen Imbiss widmete sich Jens dem Umgraben <strong>des</strong> Gemüsebeetes, damit nicht<br />

alles an Johanna hängenblieb. Die vielen zarten Löwenzahnblätter waren ihm fast zu schade zum<br />

Umgraben, daher schnitt er eine Schüssel voll Rosetten dicht am Boden ab. Das würde einen


leckeren Abendsalat geben und stellte zugleich die erste Ernte aus dem eigenen Garten dar. Dann<br />

grub er, bis sein Rücken anfing zu schmerzen. Die steinig-sandige Erde ließ sich zwar gut umgraben,<br />

aber es war mühsam, die Pflanzen mit ihrem Wurzelgeflecht zu entfernen. Vor allem die kleinen<br />

Brennesseln zeichneten sich durch lange Wurzeln aus.<br />

Anschließend suchte er im Telefonbuch nach Solarfirmen, denn er wollte sich möglichst zügig auf<br />

die Suche nach einer geeigneten Solaranlage machen. Er war überrascht, wieviele Solaranbieter er in<br />

der Gegend fand. Hier war wohl ein Zentrum der Solartechnologie. Kein Wunder bei der vielen Sonne,<br />

die dem Südwesten nachgesagt wurde.<br />

"Leider können wir zur Zeit nichts liefern und wir wissen auch nicht, wann es wieder möglich sein<br />

wird.", bekam Jens bei der ersten Firma zu hören, die er anrief. Die Absagen der anderen Firmen<br />

klangen ähnlich. Auch seine Anfragen nach Sonnenkollektoren zur Warmwasserbereitung wurden<br />

ablehnend beantwortet.<br />

Zuletzt versuchte er es bei einer richtigen Solarfabrik in Freiburg, bei denen zwar extra vermerkt<br />

war, dass sie nicht an Endabnehmer verkauften, aber er wollte wissen, warum es nirgendwo<br />

Solaranlagen zu kaufen gab.<br />

"Momentan geht unsere gesamte Produktion gezwungenermaßen in Regierungsprojekte. Wir<br />

dürfen die Privatwirtschaft zur Zeit nicht beliefern."<br />

"Wird sich das bald wieder ändern?"<br />

"Hoffentlich, denn wir warten ungeduldig darauf, dass die Herstellung der modernen dünnen Zellen<br />

endlich in die Massenproduktion geht. Dann kostet eine Zelle nur noch ein Zehntel der Energie und<br />

wird auch entsprechend billiger. Wenn es soweit ist, müssten wir innerhalb von einigen Monaten<br />

wieder lieferfähig sein. An der Umstellung der Produktion wird mit Hochdruck gearbeitet, wurde uns<br />

gesagt."<br />

"Vielen Dank, jetzt weiss ich wenigstens, woran ich bin."<br />

Jens war ziemlich frustriert, dass sich die Beschaffung einer Solaranlage als so schwierig erwies.<br />

Er hatte sich schon darauf gefreut, sich mit lauter eigenen Energiequellen selbst vers<strong>org</strong>en zu können.<br />

Dabei hatte er sogar genug Geld für die gewünschten Anschaffungen. Wer war schon in so einer<br />

glücklichen Lage?<br />

Der Garten rief und so grub sich Jens den Ärger vom Leib. Als es dunkelte, hatte er genug<br />

Beetfläche erobert, um nicht nur die Frühkartoffeln stecken, sondern auch noch Pastinaken,<br />

Schnittsalat und Erbsen säen zu können. Johanna hatte inzwischen ihre Topfaussaat beendet und<br />

einige der Töpfe in die Küche getragen. Dort empfing sie Jens mit einem warmen Essen und einem<br />

Löwenzahnsalat.<br />

Abgesehen von den Beschaffungsproblemen waren sie eigentlich recht zufrieden, mit dem was sie<br />

in den ersten beiden Tagen schon geschafft hatten. Immerhin war der Startschuss für das<br />

Gemüsewachstum schon vollbracht.<br />

Im Laufe der nächsten Tage machte Jens sich mit dem Wassersystem <strong>des</strong> Hofes vertraut, das<br />

zuverlässig von der kalten Quelle bis ins Haus sprudelte. Die Akkus im Keller schienen irreparabel,<br />

also würden sie Ersatz brauchen. Aber auch hier klagten alle Anbieter über Lieferprobleme. Immerhin<br />

fand er im Keller ein Lager mit Baumaterial aller Art. Für Wasserinstallationen gab es Kupfer- und<br />

Plastikrohre, verschieden breite Holzbretter waren s<strong>org</strong>fältig aufgestapelt, Dämmplatten aus Styropor<br />

standen an der Wand, fast wie in einem kleinen Baumarkt.<br />

Aus Stahlstangen, Blechen, Brettern und zwei Fahrrad-Vorderrädern, die in dem kleinen Stall an<br />

der Wand hingen, baute er einen Fahrradanhänger für Johanna, die sich sehr darüber freute.<br />

Zusammen konnten sie jetzt mehr transportieren, als in einem Auto-Kofferraum.<br />

Jeden Tag rief Jens bei der Tankstelle an, ob es inzwischen wieder Diesel gab, aber er wurde Tag<br />

für Tag enttäuscht. Das von Hand umgegrabene Stück Garten wuchs zwar täglich, aber im Vergleich<br />

zur unbearbeiteten Fläche war es immernoch winzig. Tag für Tag schmerzten ihm und Johanna die<br />

Rücken und sie fielen abends totmüde ins Bett.<br />

Eines Abends überlegten sie, ob sie sich vielleicht ein Arbeitspferd anschaffen sollten, wenn die<br />

Treibstoffbeschaffung so schwierig war. Schnell wurde ihnen jedoch klar, dass sie wohl zwei Pferde<br />

brauchen würden, bei allem, was es zu tun gab und als sie lasen, wieviel Anbaufläche man brauchte,<br />

um ein Pferd zu sättigen, entschieden sie sich lieber gegen Arbeitspferde.


Als Jens mal wieder die umständliche Prozedur in Angriff nahm, Johanna die Haare mit<br />

ofengewärmtem Wasser zu waschen, reifte in ihm eine Idee, wie er wenigstens das<br />

Warmwasserproblem in den Griff bekommen könnte.


Kapitel 33<br />

Zuerst nahm sich Jens die warme Quelle vor, denn es schien ihm unsinnig, immer kalt zu duschen,<br />

wenn massenhaft warmes Wasser auf dem Grundstück frei verfügbar war. Heide hatte ihm verraten,<br />

dass es eine Umleitungsmöglichkeit für das Quellwasser gab und am Boden <strong>des</strong> Beckens ein<br />

Abflussloch, das das Wasser an den Fuss <strong>des</strong> Hanges leitete. So konnte man das Becken leeren und<br />

reinigen.<br />

Die eingrosteten Mechanismen zur Beckenleerung widersetzten sich hartnäckig seinen<br />

Bemühungen, sie zu lockern. Er brauchte einen halben Tag, bis das Becken endlich entleert war.<br />

Dann stieg er hinein und stand bis über die Knie im Schlamm, sodass ihm auch seine Gummistiefel<br />

nichts nützten. Gegen Abend war das Tauchbecken endlich sauber genug, um das Wasser wieder<br />

zurückkehren zu lassen.<br />

Das anschließende Bad, zu dem er auch Johanna holte, war herrlich und ihre Muskeln lockerten<br />

sich spürbar beim Treiben im warmen Wasser. Doch der Rückweg war weit und kalt, sodass sie sich<br />

entschieden, Bademäntel für diesen Zweck anzuschaffen.<br />

Für das Haarewaschen war die warme Quelle jedoch keine Lösung, denn Seifenstoffe sollten nicht<br />

in ihr klares Quell- und Bachwasser gelangen. Selbst biologisch abbaubare Mittel wollten sie ihrem<br />

Bach nicht zumuten.<br />

Eine Leitung von der Quelle zum Haus wäre eine gute Lösung, aber soviele Leitungsrohre lagen<br />

nicht einmal in Herrn Wagners Material-Lager. Vielleicht könnte Jens irgendwann genügend Leitungen<br />

auftreiben, aber für den Anfang schwebte ihm eine andere Lösung vor.<br />

Das bisherige Öl-Zentralheizungssystem wollte er funktionstüchtig lassen, denn möglicherweise<br />

würden sie später ja selber Heizöl anbauen. In den grossen Boiler wollte er jedoch v<strong>org</strong>ewärmtes<br />

Wasser laufen lassen, das dann von der vorhandenen Technik im Haus verteilt würde.<br />

Mehrere Ofenrohrstücke schweisste er so zusammen, dass die heisse Abluft <strong>des</strong> Küchenofens<br />

durch vier Röhren aufsteigen konnte. Wie gut, dass Herr Wagner ihm eine fast volle Flasche mit<br />

Schweissgas zurückgelassen hatte. Später würde er sich um Nachschub kümmern müssen. Rund um<br />

die Ofenrohrerweiterung montierte er einen passenden Kessel, der das Wasser zum Aufheizen<br />

aufnehmen sollte. Zu- und Abfluss <strong>des</strong> kalten und warmen Wassers regelte eine Pumpe, die ihre Kraft<br />

aus der Hitze <strong>des</strong> Wassers bezog.<br />

Bis das System so lief wie gewünscht, verging eine ganze Woche wie im Flug. Erschwert wurde<br />

die Aufgabe dadurch, dass der Küchenofen nicht die einzige Aufwärmstelle für warmes Wasser<br />

bleiben sollte, sondern nur eine von vielen Möglichkeiten.<br />

Als das warme Wasser das erste Mal ausreichte, um Johanna die Haare zu waschen, feierten sie<br />

ein kleines Fest mit einem von Herrn Wiedemanns leckeren Weinen.<br />

Beim Betrachten der Weinflasche wurde Jens mit einem Schlag bewusst, dass sie ihren Weinberg<br />

und den kleinen Wald, der ihnen gehörte, noch gar nicht angeschaut hatten. Auch im Garten waren<br />

sie nicht viel weitergekommen und inzwischen drängte die Zeit für die restliche Bearbeitung <strong>des</strong><br />

Bodens. Die wochenlange Umgraberei von Hand würde auch mit einem Schlag überflüssige<br />

Zeitverschwendung werden, sobald sie ihren Trecker einsatzbereit hatten.<br />

Aus der Freude über das warme Wasser wurde S<strong>org</strong>e, ob sie in der richtigen Reihenfolge<br />

v<strong>org</strong>ingen und ob sie alles schaffen würden, was wichtig für das Leben als Selbstvers<strong>org</strong>er war.<br />

Am nächsten Tag kaufte Jens daher mit schlechtem Gewissen fünf Liter Pflanzenöl im Supermarkt,<br />

um seinen Trecker damit zu betreiben. Eigentlich fand er Öl, das sich zum Essen eignete, viel zu<br />

schade, um es in einen Motor zu kippen. Vielleicht würde ihnen genau dieses Öl im Winter zum<br />

Kochen fehlen, oder jemand anders. Doch schließlich überwand er seine skeptischen Gedanken mit<br />

der Überlegung, dass sie ohne das Öl im Trecker auch nicht in der Lage waren, neue Energieträger<br />

anzubauen und dann würde ihnen noch viel mehr fehlen. Um sein Gewissen vollständig zu beruhigen,<br />

schwor er sich, zumin<strong>des</strong>t auf einem Teil ihrer drei Hektar Raps und Sonnenblumen anzubauen.<br />

S<strong>org</strong>fältig füllte er das Pflanzenöl in den Tank <strong>des</strong> Treckers, überprüfte nochmal das Schmieröl,<br />

den Reifenluftdruck, den Ladezustand der Batterie und ließ vorsichtig den Motor an. Zuerst jammerte<br />

nur die Batterie, ohne dass der Motor sich rührte, doch beim dritten Versuch hörte Jens endlich das<br />

erhoffte sonore Knattern. Johanna stand dabei und klatschte vor Begeisterung, als sich der Trecker<br />

langsam in Bewegung setzte.


Einen Trecker hatte Jens noch nie gefahren und auch seine letzte Autofahrt lag Jahre zurück, doch<br />

er fühlte sich auf Fahrzeugen generell wohl und daher gelang es ihm auch mit Leichtigkeit, den<br />

Traktor aus der Scheune zu lenken und eine Testrunde im Hof zu drehen. Anschließend fuhr er ihn<br />

zurück in die Scheune, um den Pflug zu befestigen.<br />

Mit dem Pflug hintendran fühlte sich das Fahren gleich etwas anders an. Es schepperte<br />

ohrenbetäubend, als er damit den Kiesweg entlangfuhr und zum Gemüsebeet einbog. Dort ließ er den<br />

Pflug hinab und fuhr langsam wieder an. Der Unterschied zum vorherigen Fahren war enorm, denn er<br />

brauchte eine Menge Fingerspitzengefühl, um die richtige Geschwindigkeit zu treffen, damit der Pflug<br />

wirksam seine Arbeit tat.<br />

Als Jens den Bogen endlich raus hatte, war die erste Bahn schon fertig gepflügt und er musste<br />

wenden. Wieder am vorderen Ende und bei der begeisterten Johanna angekommen, fühlte sich Jens<br />

schon wie ein erfahrener Pflüger. Nach nur einer knappen Stunde war das gesamte Gemüsebeet<br />

umgegraben. Weil noch genügend Öl im Tank war, wiederholte Jens die ganze Prozedur mit einer<br />

Egge, damit die Erde feinkörniger wurde.<br />

Wenn er nicht solche Skrupel wegen der Verwendung von essbarem Öl gehabt hätte, wäre Jens<br />

am liebsten gleich nochmal in den Supermarkt gefahren, um mit grösseren Ölmengen bewaffnet das<br />

grosse Feld in Angriff zu nehmen, soviel Spass machte ihm das Pflügen mit dem Trecker. Das<br />

Ergebnis war auch wirklich beeindruckend. Das Stück Beet, das sie in wochenlanger Handarbeit<br />

freigelegt hatten, erschien wie ein schlechter Witz im Vergleich zur Fläche, für die er jetzt nur eine<br />

gute Stunde gebraucht hatte.<br />

Sehr zufrieden fuhr Jens wieder zurück in die Scheune und reinigte Pflug und Egge. Hoffentlich<br />

gab es bald richtigen Diesel in ausreichender Menge für das ganze Feld.<br />

Freude bereitete ihnen auch das kleine Beet, das Johanna gleich am ersten Tag angesät hatte,<br />

denn dort spriessten inzwischen kleine Radieschen-Blätter. Auch der Schnittsalat hatte schon sein<br />

Keime nach oben geschickt. Im Gewächshaus und in der Küche hatten auch schon einige der<br />

Tomaten- und Gurkenpflanzen gekeimt. Die Kresse, die Johanna in einer Schale in der Küche zog,<br />

konnte sogar schon geerntet werden.<br />

Der Höhepunkt jeden Tages war zweifellos das Bad in der warmen Quelle. Trotz Johannas<br />

Befürchtungen wegen kommender Baumwollknappheit, hatte sie kuschelige Bademäntel in der Stadt<br />

gefunden und so zogen sie abends nach der Arbeit in Ba<strong>des</strong>chlappen und Bademantel zu ihrer<br />

Quelle, um die schmerzenden Muskeln zu lockern und den Schweiss vom Körper zu waschen.<br />

Irgenwie fühlte es sich dadurch an, als wären sie im Camping-Urlaub. Von der Warmwasser-<br />

Vorrichtung machten sie <strong>des</strong>halb auch nur ab und zu Gebrauch, aber es war ein gutes Gefühl, auch<br />

im Haus warmes Wasser zu haben.<br />

Nach dem Baden gab es jetzt zum Essen immer einen Salat mit Wildkräuter aus dem Garten. Auch<br />

Kräuterquark machten sie oft, denn es gab ihnen eine erste Ahnung von Selbstvers<strong>org</strong>ung.<br />

Während Jens den Abend nutzte, um einen Anbauplan für Garten und Feld auszutüfteln, vertiefte<br />

sich Johanna in ein Buch über die Schafhaltung. Von Herrn Wiedemann hatte sie nämlich die<br />

Telefonnummer <strong>des</strong> Schäfers bekommen, der in den letzten Jahren hin und wieder mit seiner<br />

Schafherde ihr brachliegen<strong>des</strong> Feld begrast hatte. Der Schäfer konnte ihr zwar keine Milchschafe<br />

anbieten, aber er erklärte ihr, dass auch normale Schafe Milch gaben, wenn sie Lämmer hatten,<br />

allerdings nur die Hälfte von Milchschafen.<br />

So hatten sie vereinbart, dass Johanna von ihm ein Mutterschaf samt Lamm kaufen würde und er<br />

würde sich umhören, ob es in erreichbarer Nähe Milchschafe gab. Am nächsten Tag wollte der<br />

Schäfer mit seinen Schafen erst ihrem unbeackertem Feld einen Besuch abstatten und ihnen<br />

anschließend auf dem Weg zu neuen Weidegründen die beiden Schafe vorbeibringen. Vorher<br />

mussten Jens und Johanna noch den Zaun reparieren, der die Wiese vom restlichen Garten trennte.<br />

Bei der Zaunreparatur klemmte sich Johanna den Mittelfinger so stark, dass sie ihn anschließend<br />

kaum benutzen konnte, sodass sich die Arbeit am Zaun etwas verzögerte. Sie ärgerte sich sehr über<br />

die Verletzung, weil sie für alle Tätigkeiten ihre beiden Hände brauchte und nicht ausfallen wollte. Die<br />

Vorfreude auf die Schafe ließ sie die Schmerzen jedoch bald wieder vergessen. Von Stunde zu<br />

Stunde wurde sie unruhiger und Jens war sehr froh, als der Zaun endlich fertig war, denn er<br />

befürchtete, dass sie sich sonst womöglich nochmal verletzen würde. Spätestens für die geplanten<br />

Ziegen würde er auch einen Stall bauen müssen, am besten einen transportablen, damit die Tiere mit<br />

ihren Ställen die Weide wechseln konnten.


Endlich hörte man von ferne ein mehrstimmiges Blöken, das langsam näherkam. Johanna eilte<br />

zum Hofeingang und Jens folgte ihr gemessenen Schrittes. Die ersten Schafe waren schon um die<br />

Ecke der Straße gebogen und zogen jetzt am Hof von Familie Wiedemann vorbei. Nur wenige<br />

Minuten später erreichten sie Johanna und Jens, die den Schäfer herzlich begrüssten. Der Schäfer<br />

verzog sein wettergegerbtes Gesicht zu einem Lächeln, als er sich auf dem Hof umschaute.<br />

Anscheinend war er zufrieden damit, eines seiner Schafe bei ihnen zu lassen.<br />

Jens hatte ihn kaum verstanden, aber Johanna schien keine Schwierigkeiten mit seinem<br />

ausgeprägten Dialekt zu haben. Seine Sprache klang fast wie schweizerdeutsch und ihr Klang gefiel<br />

Jens eigentlich gut. Er hatte etwas uriges.<br />

Die Schafe drängten sich um den Schäfer und füllten nach und nach den Hof. Eines davon hielt der<br />

Schäfer fest, als es an ihm vorbeigehen wollte. Neben ihm stakste ein winzigkleines Lamm tapfer<br />

durch die unbekannte Welt.<br />

"Das hier ist Lizzie, Ihr Schaf, wie versprochen mit Lamm. Wenn das Lamm grösser ist, können Sie<br />

es ja mal mit Melken versuchen. Letztes Jahr hat Lizzie außer ihren Zwillingen noch ein verwaistes<br />

Lamm durchgefüttert. Darum habe ich sie ausgesucht."<br />

Johanna kniete nieder und begrüsste Schaf und Lamm mit Gurrlauten. Das wollige Schaf<br />

betrachtete sie aufmerksam und ließ sich nach einer Weile dazu herab, an ihrer ausgestreckten Hand<br />

zu schnobern.<br />

"Ich sehe schon, Sie werden sich gut verstehen. Hier habe ich Ihnen noch Wolle vom letzten Jahr<br />

mitgebracht, damit Sie schon welche haben. Von der diesjährigen Schur können Sie dann soviel<br />

bekommen, wie Sie brauchen."<br />

Der Schäfer übergab Johanna einen voluminösen Sack und Johanna kramte ihre kleine Geldbörse<br />

aus der Hosentasche, um die Schafe und die Wolle zu bezahlen. Jens versuchte unter<strong>des</strong>sen, das<br />

Schaf in Richtung Wiese zu manövrieren, was ihm kaum gelang. Erst als der Schäfer einen seiner<br />

Hunde anwies, die restliche Herde zurückzuhalten und das verkaufte Schaf energisch zur Wiese<br />

dirigierte, setzte es sich langsam in Bewegung. Das Lamm hoppelte fröhlich hinter ihm her. Auf der<br />

saftigen Wiese angekommen, begann das Schaf sofort zu grasen. Der Schäfer strich im noch einmal<br />

kurz übers Fell und ging dann wieder zu seinen anderen Schafen, während Jens das reparierte Gatter<br />

verschloss.<br />

"Wollen Sie noch einen Kaffee?", fragte Johanna den Schäfer.<br />

"Gerne, aber hier draussen, damit ich meine Herde nicht aus dem Blick verliere."<br />

Jens holte einen kleinen Tisch und Klappstühle aus der Molkerei und stellte sie vor der Haustür<br />

auf. Der Schäfer nahm Platz und zündete sich eine Pfeife an. Nach kurzer Zeit erschien Johanna mit<br />

einem Tablett, auf dem sich außer Kaffee auch Kekse befanden. Von Schafen umwimmelt ließen sie<br />

sich den Kaffee schmecken und plauderten über die Schafhaltung und Johannas Pläne zur<br />

Kleiderproduktion.<br />

Der ganze Hof war voller Schafe und nochmal soviele drängten sich auf der Straße, die<br />

glücklicherweise so wenig befahren war, dass dies kein Problem darstellte. Jens war erstaunt, wie gut<br />

die Hunde die Schafe auf einem gewissen Abstand zum Tisch hielten und auch verhinderten, dass sie<br />

sich auf der Straße zu weit entfernten. Einen Hund würden sie wahrscheinlich auch bald brauchen,<br />

wenn auch nicht um ihre zwei Schäfchen im Zaun zu halten.<br />

Als der Schäfer mit seiner Herde weitergezogen war, gingen Johanna und Jens nochmal zu ihrer<br />

Neuerwerbung, um zu sehen, ob es ihnen gut ging. Das Lamm stand zwischen den Beinen der Mutter<br />

und schien kräftig zu saugen, während das Muttertier ungerührt weiter graste.<br />

"Wie hast du den Schäfer eigentlich so gut verstanden? Ich habe immer nur das eine oder andere<br />

Wort aufgeschnappt.", fragte Jens.<br />

"Alles habe ich auch nicht verstanden, aber ich habe ja bei Frau Wiedemann schon öfters geübt.<br />

Dir ist es wohl gar nicht aufgefallen, dass ich letzte Woche mehrmals bei ihr zu Besuch war. Sie ist<br />

eine wahre Kennerin <strong>des</strong> Landlebens und spricht breitestes allemannisch."<br />

"Du warst bei Frau Wiedemann zu Besuch? Das habe ich in der Tat gar nicht mitbekommen, vor<br />

lauter Installationsarbeiten."<br />

"Ich habs dir ja auch gar nicht gesagt, weil du so vertieft warst. Aber jetzt wo wir Schützlinge<br />

haben, sollten wir wohl immer verabreden, wer zuständig fürs Aufpassen ist."


"Stimmt. Wir haben jetzt ja Familie."<br />

"Irgendwann möchte ich auch mal Kinder hier aufwachsen sehen."<br />

"Kinder möchte ich auch gerne - später. Jetzt sollten wir erstmal das Landleben kennenlernen."<br />

"Ja, das denke ich auch. Darum habe ich mir ja auch noch eine Jahresration Pille verschreiben<br />

lassen, bevor wir abgefahren sind. Jetzt brauchen wir unsere ganze Kraft für den Hof."


Kapitel 34<br />

Am nächsten Tag nahmen Johanna und Jens sich endlich mal Zeit, um ihren Weinberg und den<br />

Wald kennenzulernen. Der Weinberg war direkt über ihrem Grundstück und wenn sie bei ihrer warmen<br />

Quelle über die Mauer geklettert wären, hätten sie direkt dav<strong>org</strong>estanden.<br />

Von den benachbarten Weinbergen unterschied sich ihr eigener durch teilweise mannshohes<br />

Gestrüpp, das zwischen den Weinreben wucherte. Das Stück war wirklich nicht gross, gerade mal vier<br />

Reihen breit und etwa fünfzig Meter lang. Von den anderen Weinbergen war es durch eine Stufe<br />

getrennt, sodass verständlich wurde, warum ihre paar Reben ein eigenes Flurstück darstellten. Die<br />

Anzahl der Trauben würde aber wohl mehr sein, als sie jemals in einem Jahr essen konnten.<br />

Wahrscheinlich war es sinnvoll, Versuche mit eigener Weinherstellung zu starten, wenn es soweit war.<br />

Das Waldstück lag hinter der Hügelkuppe und war etwas grösser als ihr Feld im Tal. Man konnte<br />

kaum ins Innere <strong>des</strong> Wal<strong>des</strong> vordringen, weil sich das Gebüsch überall breit gemacht hatte. Hier<br />

wartete noch viel Arbeit auf Jens. Er dachte auch an ihren Holzstapel über der Molkerei, der<br />

inzwischen schon sichtbar geschrumpft war, obwohl gar kein Winter war. Die richtige Zeit um das Holz<br />

für den nächsten Winter zu schlagen, hatten sie eigentlich schon verpasst. Ob er das jetzt noch<br />

nachholen konnte und sollte? Aber dann würde ihm die Zeit für den Anbau fehlen. Es war einfach<br />

vertrackt: egal war man machte; etwas anderes Wichtiges blieb liegen.<br />

Am nächsten M<strong>org</strong>en war es endlich soweit: Herr Wiedemann rief an und sagte, dass er erfahren<br />

habe, dass die Tankstelle Diesel führte. Jens packte sofort die Kanister in seinen Anhänger und fuhr<br />

los. An der Tankstelle hatte sich schon eine Schlange gebildet, die vorwiegend aus Bauern bestand.<br />

Viele waren mit Geländewagen angereist und Jens dachte an die Benzinmengen, die die Autos allein<br />

auf der Fahrt zur Tankstelle verfahren haben mussten.<br />

Im Angebot war nur Diesel, von dem maximal fünfzig Liter ausschließlich an Landwirte abgegeben<br />

wurde.<br />

Herr Wiedemann war schon kurz vor Jens angekommen und wartete zwei Plätze weiter vorne. Die<br />

Wartenden standen teilweise in Gruppen zusammen und unterhielten sich, was Herrn Wiedemann die<br />

Gelegenheit gab, Jens mit einigen von ihnen bekanntzumachen. Die meisten waren hauptsächlich<br />

Winzer, hatten aber auch Felder im Tal, ähnlich wie Jens. Nur mühsam konnte Jens den<br />

dialektreichen Gesprächen folgen, aber das Wesentliche verstand er, teilweise auch, weil Herr<br />

Wiedemann schwierige Passagen für ihn dolmetschte.<br />

Für seinen Weinberg wurde Jens mit massenhaft guten Ratschlägen eingedeckt und als er<br />

berichtete, was er alles auf seinen drei Hektar Feld anbauen wollte, schüttelten die Bauern den Kopf<br />

angesichts der Vielfalt. Auf lumpigen drei Hektar hätten sie bestimmt nur eine einzige Feldfrucht<br />

angebaut. Sie verrieten ihm jedoch, dass sie kleinere Mengen Saatgut meistens bei der Raiffeisen<br />

kaufen würden, einem Markt für Landwirte, von dem Jens bisher noch nichts gewusst hatte.<br />

Insgesamt hatte Jens aber den Eindruck, dass sich die meist älteren Bauern freuten, dass ein<br />

junger Mann das Wagnis Landwirtschaft auf sich nahm. Dafür verziehen sie ihm anscheinend sogar<br />

sein Hochdeutsch, denn das Wort "g'schwollen", das er hin und wieder von den Umstehenden<br />

aufschnappte, die untereinander sprachen, klang nicht unfreundlich, sondern eher wie die<br />

Beschreibung einer merkwürdigen Eigenart.<br />

Bevor er hergezogen war, hätte er sich nicht träumen lassen, wie verbreitet ein ausgeprägter<br />

Dialekt bei der Landbevölkerung im Süden war. Er hatte immer gedacht, dass Dialekte kurz vor dem<br />

Aussterben standen. Aber fast keiner der Leute, die er bisher kennengelernt hatte, sprach<br />

hochdeutsch, nur in der Stadt sprachen einige eine Mischung, die er recht gut verstehen konnte. Unter<br />

den Bauern fühlte er sich jedoch fast wie ein Ausländer, wenn auch freundlich aufgenommen.<br />

Das allgemeine Gespräch drehte sich um die Dieselrationierung und die damit verbundenen<br />

Probleme. Jens hatte den Eindruck, dass die Existenz vieler Bauern dadurch auf dem Spiel stand. Die<br />

Felder konnten nicht rechtzeitig bearbeitet werden, sodass Aussaat, Pflege oder Ernte zu spät kamen,<br />

was zu Ernteausfällen führte. Gleichzeitig hatten sich die Kosten für den Treibstoff vervielfacht.<br />

Eigentlich hatte Jens ja gehofft, dass die Benzinpreise eine Weile nach der Japan-Katastrophe wieder<br />

etwas sinken würden; das war bisher jedoch noch nicht geschehen.<br />

Einer der Bauern sprach Jens auf seinen Fahrradanhänger an und meinte, dass das wohl eine<br />

sinvolle Methode sei, um Diesel zu kaufen, denn er selber wüsste nicht, wie er beim nächsten Mal


seinen Geländewagen in Bewegung setzen sollte, weil <strong>des</strong>sen Tank fast leer war. Das Gespräch<br />

endete damit, dass der Bauer einen selbstgebauten Anhänger bei Jens bestellte.<br />

In der restlichen Wartezeit kaufte Jens noch vier Plastikkanister, damit er auch Platz für die<br />

möglichen fünfzig Liter hatte. Als er endlich dran kam, gab es jedoch Probleme, weil er keinen<br />

offiziellen Nachweis erbringen konnte, dass er Landwirt war und dem Tankstellenbesitzer angeblich<br />

unbekannt war. Dabei hatte er doch seit Wochen täglich angerufen und war auch oft vorbeigefahren<br />

und kannte den Tankstellenbesitzer seinerseits inzwischen recht gut.<br />

Erst als Herr Wiedemann ein gutes Wort für ihn einlegte und auch mehrere andere Bauern sich für<br />

ihn einsetzten, durfte er seine Kanister füllen und dem Kassierer ein kleinen Vermögen dafür zahlen.<br />

Auf dem Rückweg fing es an zu regnen und bis Jens zuhause war, schüttete es wie aus Kübeln.<br />

Jetzt, wo er endlich genügend Treibstoff für seinen Trecker hatte, machte ihm das Wetter einen Strich<br />

durch die Rechnung, denn bei durchweichtem Boden konnte man nicht richtig pflügen und so musste<br />

er warten, bis der Boden nach dem Regen wieder getrocknet war.<br />

Völlig durchgeweicht stand Jens schließlich in der Küche und war froh, dass er eine warme Dusche<br />

nehmen konnte und dass Johanna den Ofen angeworfen hatte. Eine Tasse heisse Schokolade<br />

wärmte ihn schließlich auch von innen wieder auf. An Regen hatte er irgendwie gar nicht mehr<br />

gedacht, denn seit sie hier waren hatte es höchstens mal nachts ein wenig vom Himmel getröpfelt.<br />

Sonst hatte immer die Sonne geschienen.<br />

Da hatte er nun soviel zu tun, dass er sich am liebsten in drei geteilt hätte, um alles zu schaffen<br />

und nun hielt ihn der Regen im Haus. Wenigstens konnte er mit dem Anhänger-Auftrag anfangen; das<br />

schien ihm wie eine tröstliche Alternative. Also ging Jens in den Keller, um sich das benötigte Material<br />

zu holen und widmete sich dann in seiner Werkstatt dem Zusammenbauen. Die Räder würde der<br />

Kunde selber mitbringen, zusammen mit weiteren defekten Fahrrädern, die Jens anschließend<br />

ausschlachten konnte. Auf diese Weise kam Jens zu neuen Materialien. An einem ruhigen Tag würde<br />

er auch mal auskunschaften müssen, wo es hier Schrotthändler gab, denn wenn er öfter Aufträge<br />

bekommen würde, bräuchte er regelmäßige Materialquellen.<br />

Auch am nächsten Tag regnete es, als hätte sich der Wettergott gegen seine Pflügepläne<br />

verschworen. Da der Anhänger inzwischen fertig war, hatte Jens Zeit für ein anderes Projekt, das er<br />

zwar aktuell nicht für sehr dringend hielt, ihm aber am Herzen lag. Aus dem Keller holte er ein altes<br />

Fenster und mehrere dünne Kupferstangen. Stundenlang beschäftigte er sich damit, die Kupferrohre<br />

bei sanfter Hitze zieharmonikaartig zu biegen und zusammenzulöten.<br />

Johanna widmete sich unter<strong>des</strong>sen ihrer Schafwolle, die sie in einer grossen Wanne wusch und<br />

neben dem warmen Ofen zum Trocknen ausbreitete. Als Jens zum Mittagessen ins Haus kam, wehte<br />

ihm schon am Eingang der Wollgeruch entgegen und in der Küche hing der feuchtwarme Duft wie<br />

Nebel in der Luft. Vom Küchenfenster aus schaute Johanna immer mal wieder nach den Schafen,<br />

denen es trotz Regen gut zu gehen schien.<br />

Am Abend erhielt Jens von Bennie eine Email, in der Bennie ihm genau erklärte, wie er seine<br />

Akkus vielleicht doch noch reparieren könnte. Um den Kontakt nicht ganz zu verlieren, hatte Jens ab<br />

und zu eine Email an Bennie geschrieben und von ihren Erlebnissen berichtet. Dass Bennie ihm mit<br />

Tipps bei seiner Hofarbeit helfen könnte, damit hatte Jens jedoch nicht gerechnet. Er bedankte sich<br />

herzlich für den Ratschlag und eilte trotz der späten Stunde in den Keller, um sich anzusehen, ob die<br />

Akkus so beschaffen waren, wie Bennie beschrieben hatte. Tatsächlich, man konnte die Akkus öffnen<br />

und die darin befindlichen Platten herausnehmen. Das wäre eine gute Beschäftigung, wenn es am<br />

nächsten Tag nochmal regnen würde.<br />

Zwar schien am nächsten Tag die Sonne, doch die Erde war noch so durchweicht, dass an Pflügen<br />

nicht zu denken war. Daher schleppte Jens die Akkus in seine Werkstatt, ließ die Säure durch einen<br />

Filter laufen und schliff die korrodierten Platten ab. Während<strong>des</strong>sen nutzte Johanna den<br />

Sonnenschein, um ihre verdreckten Klamotten von Hand zu waschen und auf dem Hof zu trocknen.<br />

Jens hoffte, dass dies das letzte Mal sein würde, dass sie auf Handwäsche angewiesen war. Eine<br />

brauchbar aussehende Waschmaschine wartete im Keller nur auf genügend Strom, um tätig zu<br />

werden. Diese Gedanken beflügelten ihn bei der Schleifarbeit, die ihm dadurch leichter von der Hand<br />

ging.<br />

Sobald der erste Akku fertig war, trug Jens ihn zurück in den Keller und schloss ihn an. Seine<br />

Freude war gross, als er sah, dass die Ladeanzeige sich bewegte. Auch der Wechselrichter, mit dem<br />

der Strom aus den Akkus in Wechselstrom verwandelt wurde, schien zu funktionieren. Also würde es<br />

sich lohnen, auch die anderen Platten abzuschleifen.


Völlig unerwartet stürzte Johanna in die Werkstatt und rief: "Alle kleinen Pflanzen sind weg. Die<br />

ganzen Radieschen und der Salat."<br />

Jens nahm die entsetzte Johanna in den Arm und ging mit ihr in den Garten. Tatsächlich, all die<br />

kleinen Keimlinge, die ihre Beete geziert hatten, waren verschwunden. Statt<strong>des</strong>sen konnte man an<br />

einigen Stellen glitzernde Schleimspuren sehen.<br />

"Schnecken!", sagte er.<br />

"Oh, wie können sie nur. Die Pflänzchen waren doch noch so klein."<br />

"Das schmeckt den Schnecken bestimmt besonders gut. Tja, dann müssen wir eben was gegen<br />

die Schnecken unternehmen."<br />

"Ja, das sollten wir. Ich werde mich gleich mal informieren, was man da tun kann."<br />

Voller Kampfgeist ging Johanna in die Bibliothek, um herauszufinden, wie man den Schnecken zu<br />

Leibe rücken konnte und Jens ging zurück in die Werkstatt.<br />

Gegen Abend hatte er alle Akkus angeschlossen und alle schienen zu funktionieren. Wenn nichts<br />

dazwischenkam, würde sich über Nacht mehr als genug Strom angesammelt haben, um damit<br />

Wäsche waschen zu können.<br />

Am besten wäre es natürlich, wenn man den Strom, der nach voller Aufladung der Batterien noch<br />

übrig blieb, nutzen könnte, um noch mehr Wasser aufzuheizen. Im Kopf stellte Jens schon einen Plan<br />

zusammen, wie er solch eine Vorrichtung bauen konnte und welche Teile er dafür benötigte.<br />

Aber als nächstes war erstmal das Pflügen <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> dran, denn der nächste Tag war wieder<br />

sonnig und die Erde schien Jens sehr geeignet zum Pflügen. Erst als er mit seinem Trecker auf die<br />

Straße einbog, wurde ihm bewusst, dass er ihn noch gar nicht angemeldet hatte. Er wusste nicht mal,<br />

ob es einen Kraftfahrzeugbrief für den Trecker gab.<br />

Diese Erkenntnis fuhr ihm durch alle Glieder und er überlegte kurz, ob er seine Pflügeaktion<br />

abbrechen sollte. Aber er entschied sich, das Risiko einzugehen und ohne Nummernschild zu seinem<br />

Feld zu fahren. Immerhin war es nur eine kleine Dorfstraße, die er benutzen wollte. Aufatmen konnte<br />

er aber erst, als er unbehelligt auf seinem Feld ankam.<br />

Das Pflügen machte wieder genausoviel Spass wie auf dem Gemüsebeet, doch die Strecken<br />

waren deutlich länger und als Jens bei der zweiten Hälfte ankam, war der Reiz <strong>des</strong> Neuen schon<br />

verflogen und die Arbeit wurde etwas eintönig. Wie musste es da erst den Bauern gehen, deren<br />

Felder zehnmal so gross waren?


Kapitel 35<br />

Schon der erste Sonnenstrahl weckte Jens auf, denn er hatte unruhig geschlafen und die ganze<br />

Nacht davon geträumt, wie er Unmengen von Saatgut auf seinem Feld verteilte.<br />

Das Saatgut würde er jedoch erst kaufen müssen, und für den Raiffeisen-Markt war es noch viel zu<br />

früh, daher zog Jens sich leise an, um Johanna nicht zu wecken, und ging in den Gemüsegarten, um<br />

dort Salat und Radieschen nachzusäen.<br />

Johanna hatte überall im Garten Bierfallen verteilt, um die Schnecken zu bekämpfen. Jens hatte<br />

jedoch den Eindruck, als würden die Bierfallen die Schnecken eher anlocken und unterwegs nahmen<br />

sie auch noch alles Grünzeug mit, das sich ihnen in den Weg stellte. Die neu gekeimten Radieschen<br />

waren nämlich auch schon alle angefressen und die Schnecken tummelten sich um die Fallen, als<br />

würden sie eine Party feiern.<br />

Angewidert holte Jens einen Eimer und sammelte alle erreichbaren Schnecken ein. Danach hatte<br />

er einen Eimer voller sich windender Glibbergeschöpfe und wusste nicht so recht, was er damit<br />

anfangen sollte. Ertränken? Aussetzen? Erstechen? Keine der Lösungen gefiel ihm. In den Mengen,<br />

die er im Eimer hatte, wollte er sie aber nichtmal seiner Wiese zumuten, daher goss er den Eimer voll<br />

Wasser und hoffte, dass die Schnecken schnell sterben würden. Für dieses Problem würden sie noch<br />

eine bessere Lösung finden müssen.<br />

Nachdem er die Schnecken zum Tod verurteilt hatte, nahm er die Samentütchen und ergänzte die<br />

kahlgefressenen Reihen. Nachdenklich betrachtete er die kleinen Tüten, die den Samen schon so<br />

reichlich enthielten.<br />

Für sein Feld würde er ganze Säcke mit Saatgut brauchen, obwohl er das Feld in dreissig<br />

Parzellen à tausend Quadratmeter unterteilen würde. Schon eine solche Parzelle brauchte zwanzig<br />

Kilo Getrei<strong>des</strong>amen, wenn seine schriftlichen Informationen stimmten. Dann würde er mehrmals zur<br />

Raiffeisen fahren müssen, denn die gesamte Menge würde beim besten Willen nicht in seinen<br />

Anhänger passen.<br />

Endlich wurde es Zeit für den Sameneinkauf. Johanna hatte sich beim Frühstücksgespräch sehr<br />

über Jens Schneckenaktion gefreut, wollte aber mit dem Eimer der sterbenden Übeltäter am liebsten<br />

nichts zu tun haben.<br />

Als Jens vor dem Raiffeisen-Markt stand, wunderte er sich, dass der ihm nicht schon bei einer<br />

seiner früheren Fahrten aufgefallen war, aber er hatte wohl nicht richtig darauf geachtet, außerdem<br />

hatte er bei dem Wort "Raiffeisen" bisher immer nur an Banken gedacht.<br />

Gerade als er den Laden betreten wollte, traf er Herrn Wiedemann, der anscheinend auch gerade<br />

Material einkaufen wollte. Weil Jens sich nicht sicher war, ob sein Feldplan gut war und er Herrn<br />

Wiedemann als Kenner der Landwirtschaft schätzte, bat er ihn um ein paar Minuten und zeigte ihm<br />

seinen Plan.<br />

"Tja, junger Mann, das ist zwar sehr schön aufgezeichnet, aber so wird das nichts. Wenn das mein<br />

Feld wäre, und ich unbedingt auf so einem kleinen Feld die ganze Palette anbauen wollte, würde ich<br />

es anders machen."<br />

"Wie würden Sie es denn machen?"<br />

"Erstmal würde ich den Gang in der Mitte weglassen, denn der verschwendet nur Platz. Die<br />

einzelnen Parzellen würde ich grösser machen, vielleicht je vier auf einen Hektar. Also jeweils einen<br />

M<strong>org</strong>en mit fünfundzwanzig Metern Breite und hundert Meter Länge. Dann haben sie insgesamt zwölf<br />

kleine Felder, das ist schon mehr als genug."<br />

"Stimmt eigentlich. Dreissig schienen mir auch sehr viel, aber schon Beete mit tausend<br />

Quadratmeter sind eigentlich sehr groß."<br />

"Sie müssen von der Vorstellung der Beete loskommen. Beete haben Sie in Ihrem Garten, hier<br />

geht es um Felder. Und bestimmt wollen Sie auch eher einen auf natürlich machen, so wie die<br />

Wagners, oder wollen Sie Kunstdünger verwenden?"<br />

"Nein, auf Kunstdünger wollen wir eigentlich verzichten."<br />

"Macht heutzutage auch Sinn. Man zahlt sich in den letzten Jahren ja halbtot an dem Zeug und es<br />

wird ständig teurer. Also gut, ohne Kunstdünger sollten Sie Vierfelderwirtschaft betreiben und ein


Viertel immer brach liegen lassen, beziehungsweise Wiesensamen säen. Dort können Sie dann auch<br />

ihre Schafe weiden lassen, oder was Sie sich sonst noch für Tiere anschaffen wollen."<br />

"Und die vier Feldarten müssen dann je<strong>des</strong> Jahr durchrotieren?"<br />

"Ja, so könnte man das beschreiben. Auf die erste Gruppe pflanzt man Leguminosen, also<br />

beispielsweise Hülsenfrüchte, auf die zweite Gruppe Getreide aller Art und die dritte Gruppe wird mit<br />

Wurzelpflanzen belegt, zum Beispiel Kartoffeln und Rüben."<br />

"Das klingt eigentlich gut und überschaubar."<br />

"Ist es auch, Sie werden sehen. Mir fällt grad noch ein: wollen Sie vielleicht Bienen? Die könnten<br />

ihr Feld gut abrunden und die Pflanzen bestäuben. Ausserdem hätten Sie Honig und Wachs. Ein<br />

Bekannter von mir will nämlich seine drei Bienenvölker abschaffen, weil er zu alt für die Imkerei wird.<br />

Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen diese Bienen vermitteln."<br />

"Das würde mir sehr gut gefallen. Ja, bitte, fragen Sie ihren Bekannten."<br />

"Jetzt sollten wir einkaufen gehen, solange es noch was gibt."<br />

Sie betraten das Geschäft und Jens kam es vor wie ein Gartencenter oder Baumarkt. Ob er hier<br />

wohl seine Getrei<strong>des</strong>amen bekommen würde? In der Samenabteilung sah er zuerst nur die bekannten<br />

kleinen Samentüten für den Hobbygarten. Bei genauerem Hinsehen entdeckte er jedoch auch<br />

grössere Tüten und kleine Säcke mit Samen für Gras, Gelbsenf und ähnliches. Jens packte einen fünf<br />

Kilo Sack Wiesensamen in seinen Einkaufswagen. Dann sah er Saatkartoffeln, die in handlichen<br />

Beuteln angeboten und als mittelfrühe Sorte beschrieben wurden. Unsicher, wieviel er brauchen<br />

würde, nahm er erstmal zwei Beutel und erhöhte dann auf drei, was wahrscheinlich immernoch zu<br />

wenig war.<br />

Getrei<strong>des</strong>amen konnte Jens jedoch nicht entdecken. Er fragte eine Verkäuferin, die lachte und ihm<br />

erklärte, dass es für ernsthaften landwirtschaftlichen Bedarf zehn Kilometer entfernt ein Raiffeisen<br />

Agrar-Lager gab.<br />

"Dort bekommen Sie die Samen in grossen Mengen. Normalerweise gehen die aber eher<br />

doppelzentnerweise als kiloweise weg. Aber warten Sie, vielleicht haben wir noch einen irregeleiteten<br />

Sack Weizensaat im Lager, kommen Sie einfach mal mit."<br />

Sie führte Jens durch unzählige Gänge in ein Lager, in dem sich Gartengeräte stapelten. In einer<br />

Ecke lagen mehrere Säcke übereinandergestapelt.<br />

"Ja, hier, der dritte von oben, das ist der Weizen."<br />

"Und was ist in den anderen Säcken?"<br />

"Schauen wir mal. Die oberen beiden sind Sojabohnen und unten liegt noch Hafer."<br />

"Ich glaub, ich nehme die alle vier, dann habe ich schon mal eine Grundausstattung."<br />

"Ok, passen die in Ihr Auto?"<br />

"Ich bin mit Fahrrad und Anhänger da. Wahrscheinlich muss ich mehrmals fahren. Kann ich einen<br />

Teil solange hier liegen lassen?"<br />

"Ja klar, wenn Sie bezahlt haben und bis heute abend alles abholen, dann geht das."<br />

"Danke."<br />

Die Verkäuferin kramte einen Block aus ihrem Kittel und schrieb einige Zeilen, während Jens sich<br />

bemühte, den obersten Sack auf seinen Wagen zu hieven. Unwillkürlich musste er an die Toten<br />

denken, die er noch vor kurzer Zeit aus ihren Wohnungen getragen hatte. Der Sack war ähnlich<br />

unhandlich.<br />

Jens bezahlte und packte zwei der Säcke und den Kleinkram in seinen Anhänger. Kaum wollte er<br />

losfahren, traf er Herrn Wiedemann wieder.<br />

"Haben Sie alles bekommen?"<br />

"Nicht so ganz, für das Meiste muss ich wohl in das Agrarlager fahren, das zehn Kilometer entfernt<br />

ist."<br />

"Und das wollen Sie mit Ihrem Fahrrad erledigen? Wie oft wollen Sie da fahren?"


"Das habe ich mich auch schon gefragt. Die Verkäuferin fand meine kleinen Mengen sogar lustig.<br />

Dabei sind das doch wirklich grosse Mengen Saatgut."<br />

"Für ihre Minifelder wird es wohl reichen, aber für richtige Felder braucht man das Saatgut<br />

tonnenweise."<br />

"Genau das hat auch die Verkäuferin gesagt."<br />

"Die vom Agrar-Lager liefern die Säcke auch, wenn Sie einen Aufpreis zahlen. Es ist also gar nicht<br />

nötig, mit dem Fahrrad zu fahren. Kann aber dauern, denn die haben auch nur selten Sprit. Und diese<br />

beiden Säcke hier, wollen Sie jetzt per Pedale heimbringen?"<br />

"Nicht nur diese beiden. Drinnen warten noch zwei Säcke, die ich anschließend abhole."<br />

"Da haben Sie sich ja was v<strong>org</strong>enommen. Also zwei Säcke könnte ich bei mir noch unterbringen,<br />

aber vier passen nicht mehr in mein Auto."<br />

"Das wäre natürlich toll, wenn Sie zwei Säcke mitnehmen würden, am besten diese hier und ich<br />

nehme dann die Getrei<strong>des</strong>äcke. Ich beteilige mich auch an den Spritkosten."<br />

Als Jens schließlich mit seinem Fahrrad losstrampelte und Herrn Wiedemanns Auto nachblickte,<br />

war er sehr froh über die bequeme Lösung. Denn schon die eine Tour mit über hundert Kilo auf dem<br />

Anhänger würde seine ganze Kraft erfordern. Langsam dämmerte ihm, dass auch die Aussaat in<br />

Arbeit ausarten würde, bei den großen Mengen, die er anbauen wollte. Bisher war ihm Säen immer<br />

wie ein harmloses Freizeitvergnügen erschienen.<br />

Keuchend bog er nach geraumer Zeit auf die schmale Straße ein, die zum Dorf und zu seinem<br />

Feld führte. Er lud die beiden Säcke ab und versteckte sie vorübergehend an einer trockenen Stelle<br />

unter den Büschen. Dann fuhr er hoch ins Dorf, um sich den beiden Sojasäcken zu widmen. Herr<br />

Wiedemann hatte sie schon in Jens Hof abgeladen, was Jens bewies, wie kräftig Herr Wiedemann<br />

trotz seines hohen Alters noch war. Jens gab ihm eine großzügige Summe für die Fahrtkosten, was<br />

Herrn Wiedemann zu freuen schien.<br />

"Ich kann Ihnen gerne öfters mal etwas transportieren. Gemeinsam genutzt lohnen sich die teuren<br />

Fahrten eher."<br />

"Das ist eine hervorragende Idee. Meistens komme ich ja gut mit dem Fahrrad klar, aber es gibt<br />

Gelegenheiten, bei denen es nicht ausreicht."<br />

Herr Wiedemann sagte zwar nichts weiter, aber Jens spürte, dass die finanzielle Belastung durch<br />

die hohen Treibstoffkosten schwer auf <strong>des</strong>sen Schultern lastete.<br />

Johanna staunte über die beiden Säcke mit Sojabohnen.<br />

"Kann man die hier überhaupt anbauen?"<br />

"Wenn es ein warmer Sommer wird, wahrscheinlich schon. Aber ich konnte einfach nicht<br />

widerstehen, die Säcke mitzunehmen. Einen Teil werde ich vielleicht sogar ansäen, um es<br />

auszuprobieren. Aber man könnte sie ja auch einfach essen oder aufheben, falls man mal nicht genug<br />

andere Eiweissquellen hat."<br />

"Ja, das leuchtet ein. Dann räumen wir die Säcke wohl am besten in den Keller oder in die<br />

Speisekammer."<br />

Gemeinsam schleppten sie die Säcke in den Keller, wo sie erstmal gut untergebracht waren. Jens<br />

schwang sich wieder auf sein Fahrrad, um endlich mit dem Aussäen anzufangen.<br />

Er schritt die Parzellen mit fünfunzwanzig Metern Breite ab, wie Herr Wiedemann es ihm<br />

v<strong>org</strong>eschlagen hatte und steckte jeweils einen Stock an die Grenzen. Dann zerrte er den Weizensack<br />

zum zweiten Feld und fing an, die Körner möglichst regelmässig zu verstreuen. Dabei übte er die<br />

schwingende Armbewegung, die er manchmal in alten Filmen gesehen hatte, wenn Bauern von Hand<br />

säten. Als er endlich am anderen Ende ankam, waren noch etwa zehn Kilo Weizen übrig, aber anstatt<br />

sie noch auf dem Feld zu verteilen, beschloss er, den Rest aufzuheben, denn immerhin ergab das<br />

auch etliche Laibe Brot, oder wer weiss, wozu die Körner noch nützlich sein konnten. Um die Samen<br />

mit Erde zu bedecken, ging er noch einmal mit einem breiten Rechen über das Feld.<br />

Als nächstes kam der Hafer dran und dann grub er Gräben für die Kartoffeln, was erheblich<br />

anstrengender war als das schwungvolle Säen. Obwohl er die Gräben nicht sehr s<strong>org</strong>fältig aushob,<br />

denn sie würden ja bald wieder gefüllt werden, tat ihm der Rücken schon nach einer Bahn weh,<br />

obwohl er in letzter Zeit ja schon viel umgegraben hatte. Diese erste Bahn schluckte schon einen


ganzen Beutel, also hatte er gerade mal genug Saatkartoffeln für drei Reihen. Später würde er wohl<br />

noch mehr Saatkartoffeln kaufen müssen, aber vorher sollte er darüber nachdenken, wieviel Kartoffeln<br />

er überhaupt anbauen wollte.<br />

Beim Graben fiel ihm auf, dass sich massenhaft Vögel auf den frisch angesäten Feldern<br />

niedergelassen hatten und eifrig pickten. Ob die wohl die Samen wegfraßen? Jens rannte rufend auf<br />

die Vögel zu und wedelte mit den Armen. Die Vögel flogen wie erhofft von dannen, kamen aber nach<br />

wenigen Minuten wieder. Also rannte er wieder hin und wieder, immer im Wechsel mit ein paar Metern<br />

Grabungsarbeit.<br />

Die letzten Kartoffeln legte er kurz bevor die Dämmerung in die Nacht überging. Glücklicherweise<br />

waren die Vögel inzwischen auch ruhiger geworden und Jens machte sich müde auf den Heimweg.<br />

Johanna erwartete ihn mit einem leckeren Aben<strong>des</strong>sen und erzählte ihm, dass sie die meisten der<br />

kleinen Pflanzen im Gewächshaus in größere Töpfe pikiert hatte und inzwischen unter Topfmangel litt.<br />

Den Schafen ging es auch gut und sie hatte jemanden gefunden, der ihr zwei Ziegen verkaufen wollte.<br />

Jens berichtete von den Vögeln, die die Saat bedroht hatten und dass sie wohl eine<br />

Vogelscheuche bräuchten.<br />

"Oh, du Armer, welch ein harter Kampf. Ich bin noch munter, daher kann ich dir gleich eine<br />

einfache Scheuche zusammenbasteln, die dir m<strong>org</strong>en schon mal die Arbeit abnimmt. Und später<br />

hängen wir glänzende Dinge dran, die sich im Wind bewegen und blitzen."<br />

"Und vielleicht ein lustiges Windrad, das immer in Bewegung ist."


Kapitel 36<br />

Die Vogelscheuche sah sehr lustig aus, als sie mitten auf dem Feld stand, doch das fanden wohl<br />

auch die Vögel und ließen sich nicht besonders abschrecken, nachdem sie den neuen Feldbewohner<br />

zuerst argwöhnisch beäugt hatten. Erst zappelnde Streifen aus Alufolie brachten den gewünschen<br />

Effekt.<br />

Jens schien es, als würden sie mit allem viel zu langsam vorankommen, doch bis Ostern schafften<br />

sie es immerhin, das Feld fertig anzusäen, das gröbste Gewucher im Weinberg zu entfernen, etliche<br />

Behördengänge zu unternehmen, einen fahrbaren Stall zu bauen, zwei Ziegen anzuschaffen, melken<br />

zu lernen und fünf Hühner anzuschaffen.<br />

Auch im Wald verbrachten sie drei Tage, nachdem Jens Treibstoff für die Motorsäge ergattert<br />

hatte, doch das Ergebnis ihrer Arbeit war sehr unbefriedigend, denn der Wald widersetzte sich ihnen<br />

hartnäckig mit seinem dichten Unterholz. Das Stückchen, das sie an einem Tag auslichten konnten,<br />

war winzig und sie wussten gar nicht wohin mit dem vielen abgeschnittenen Gestrüpp. Von Tag zu<br />

Tag spriesste das Grün im Wald intensiver und da beschlossen sie, ihn vorerst in Ruhe zu lassen, und<br />

Holz für den nächsten Winter zuzukaufen.<br />

Trotz allem lagen am Schluss vier Baumstämme zum Trocknen am Waldrand, und mehrere<br />

Anhängerfuhren voll Stangenholz warteten zuhause auf ihre Verarbeitung. Sogar Weiden hatte sie<br />

gefunden, von denen Johanna Ruten zum Körbeflechten schnitt. Wenigstens ein Anfang im eigenen<br />

Wald war gemacht. Der Holzhändler in der Stadt hatte glücklicherweise ausreichend Holz, das für den<br />

nächsten Winter geeignet war und kam mit einem grossen LKW angefahren, um ihnen dreissig<br />

Kubikmeter Holzklötze auf den Hof zu kippen. Damit das Holz bei Regen nicht nass wird, warfen Jens<br />

und Johanna es mit vereinten Kräften in einen der leerstehenden Kuhställe, was allein den ganzen<br />

Rest <strong>des</strong> Tages kostete. Später würden sie es noch hacken müssen, denn für die Öfen waren die<br />

meisten der Klötze zu dick.<br />

Sie überlegten lange, ob sie sich eine Kuh anschaffen sollten. Angesichts der zusätzlichen<br />

Grünflächen durch die Vierfelderwirtschaft und dem Maisfeld, das sie der hiesigen Tradition<br />

entsprechend angesät hatten, hätten sie eigentlich genügend Futter für eine Kuh. Aber wenn die Ernte<br />

schlecht ausfallen oder es noch schlimmere Nahrungsengpässe geben würde, dann hätten sie nicht<br />

genug Futter für die Kuh und sie müsste hungern oder gar sterben. Bei zusätzlichen Ziegen wäre es<br />

leichter, im Notfall eine zu schlachten und die anderen weiter zu halten. Ausserdem waren Ziegen<br />

insgesamt genügsamer und würden in besonders schlechten Zeiten auch mit Futter aus dem Wald<br />

auskommen.<br />

Wenn es ganz schlimm kommen würde, dann bräuchten sie sowieso je<strong>des</strong> Maiskorn für die eigene<br />

Ernährung. Aus diesem Grund hatten sie auf ihrem Feld vorwiegend Pflanzen angebaut, die im<br />

Zweifelsfall auch von Menschen gegessen werden konnten, selbst wenn sie als Tierfutter geeignet<br />

waren.<br />

Karfreitag und Ostern gönnte Johanna sich einen Ausflug in die Kirche, während Jens die Zeit<br />

nutzte, um einige Emails zu schreiben und sich im Internet über die neuesten Ereignisse zu<br />

informieren. Einen Fernseher hatten sie nämlich nicht und planten bis auf Weiteres auch nicht, einen<br />

anzuschaffen. Angesichts der bes<strong>org</strong>niserregenden Nachrichten beschloss Jens jedoch, wenigstens<br />

ein Radio zu bes<strong>org</strong>en, um halbwegs auf dem aktuellen Stand <strong>des</strong> Weltgeschehens zu bleiben.<br />

Die Situation in den Städten verschlechterte sich anscheinend rapide. In den Wirren der<br />

Grippeepidemie und Japan-Katastrophe nahezu unbemerkt, war die Nahrungsmittelvers<strong>org</strong>ung der<br />

Grundsicherungsempfänger teilweise zusammengebrochen. Viele der Armen erhielten oft tagelang<br />

keine Essensrationen. In Berlin hatte es sogar einen kleinen Aufstand gegeben, der jedoch mit<br />

Wasserwerfern und Tränengas niedergeschlagen werden konnte. Als Folge dieses Aufstan<strong>des</strong><br />

wurden überall in den Siedlungen der Grundsicherungsempfänger Überwachungskameras aufgebaut;<br />

eine Kennzeichnung der Armen durch implantierte RFID-Chips stand zur Debatte.<br />

Die Auswertung der Wirtschaftszahlen hatte einen Absturz <strong>des</strong> Bruttoinlandproduktes auf siebzig<br />

Prozent <strong>des</strong> Vorjahreswertes ergeben und die Anzahl der Firmenpleiten war explodiert. Die Börsen<br />

dümpelten weiterhin im unteren Rekordbereich und in vielen Ländern war das Wirtschaftsleben fast<br />

völlig zusammengebrochen. Zur Reaktivierung der Wirtschaft plante die angeschlagene Regierung ein<br />

umfangreiches Arbeitsbeschaffungsprogramm, das zugleich auch einen Teil der<br />

Erwerbslosenproblematik lösen sollte.


Angesichts dieser Schrecknisse war Jens sehr froh, dass er sich für sein zukünftiges Essen selbst<br />

abrackern durfte und nicht auf einen funktionierenden Staat angewiesen war. Heimlich schlich er am<br />

Ostersonntag in seine Werkstatt und strich die gebogenen Kupferrohre schwarz an. Er wollte nämlich<br />

unbedingt mal mit diesem vernachlässigten Projekt weiterkommen, auch wenn der ganze Ort strenge<br />

Feiertagsruhe ausstrahlte.<br />

Doch nach Ostern war wieder unentwegte Aktivität angesagt, vor allem, weil die Unkräuter die<br />

Wärme nutzten und beim Wettwachsen mit dem Gemüse meistens als Sieger herv<strong>org</strong>ingen. Das<br />

Gemüse wuchs erfolgreicher, seit Johanna sich hatte durchringen können, Schneckenkorn<br />

einzusetzen, denn die Bierfallen funktionierten nicht, Einsammeln dauerte täglich Stunden,<br />

schneckenfressende Laufenten waren nirgendwo aufzutreiben und ohne Schutz hätte ihr Gemüse<br />

keinerlei Chancen gehabt.<br />

Ausserdem fiel es oft schwer, das Unkraut auszureissen, denn die meisten Unkräuter waren<br />

eigentlich Heilpflanzen, deren einziges Vergehen war, an einer unerwünschten Stelle zu wachsen.<br />

Zwischen Gemüsebeet und Hang ließen sie daher einen Bereich zur ungestörten Entfaltung der<br />

freilebenden Kräuter. Danach wurden die Skrupel geringer, die Kräuter im Gemüsebeet als Unkraut zu<br />

klassifzieren und zu vernichten.<br />

Der Komposthaufen wuchs täglich und bald mussten sie einen zusätzlichen Berg mit<br />

Gartenabfällen auftürmen, weil Jens die Zeit fehlte, einen neuen stan<strong>des</strong>gemäßen Kompostbehälter<br />

zu bauen.<br />

Auf einer Teil-Parzelle hatte Jens Mangold gesät, der inzwischen sprießte und dringend verzogen<br />

werden musste, weil die Pflänzchen viel zu dicht standen. Im Garten war das Verziehen eine<br />

Kleinigkeit, doch auf dem Feld nahm es andere Dimensionen an. Nachdem Johanna und Jens mit der<br />

anstrengenden Arbeit fertig waren, wussten sie kaum noch, wie man aufrecht steht.<br />

Das Melken zog sich oft stundenlang hin, weil die Ziegen so zappelten. Meistens hielt einer der<br />

Beiden die Ziege und der andere melkte, immmer abwechselnd, weil ihre Hände noch nicht an die<br />

Melkbewegungen gewöhnt waren und daher schnell wehtaten.<br />

Um die ganze Arbeit zu schaffen, standen sie immer früher auf und wenn es dunkel wurde,<br />

erledigten sie alles, was im Haus anfiel. Dennoch wurde der Arbeitsberg, der sich vor ihnen auftürmte,<br />

immer grösser. Für zärtliche Stunden blieb kaum Kraft und selbst die Mahlzeiten wurden immer<br />

hastiger.<br />

Eines Abends, als Jens mit schmerzendem Rücken vom Hacken auf dem Feld nachhause kam,<br />

war im Haus noch alles dunkel, ganz im Gegensatz zu sonst, wenn ihm das Küchenlicht schon warm<br />

entgegenleuchtete.<br />

Wo steckte Johanna? Jens ging ins Haus, um zu sehen, ob sie dort war, fand sie aber nirgendwo<br />

im Gebäude, auch in der Waschküche im Keller konnte er sie nicht entdecken. Ob sie wohl noch dabei<br />

war, die Hühner einzufangen oder hatte sie es sich in der warmen Quelle gemütlich gemacht?<br />

Bestimmt war sie zur Quelle gegangen. Jens schnappte sich seinen Bademantel, weil sein Rücken<br />

auch nach einem warmen Bad verlangte.<br />

Bei der Quelle war jedoch nichts von Johanna zu sehen. Für alle Arten von Arbeit im Freien war es<br />

schon zu dunkel, wo konnte sie also sein?<br />

Jens blickte sich um, doch er konnte sie nirgendwo erspähen. Ob sie vielleicht zu Besuch bei Frau<br />

Wiedemann war und die Zeit vergessen hatte? Das würde er ihr ja von Herzen gönnen, wenn sie mal<br />

etwas lockerlassen würde, bei all dem Stress, den sie hatten.<br />

Aber irgendwie glaubte er nicht daran, dass sie bei den Wiedemanns war. Sie hatte mittags noch<br />

gesagt, dass sie sich das schon wieder völlig zugewachsene Gemüsebeet vorknöpfen wollte.<br />

Jens rief nach ihr - keine Antwort.<br />

Zögernd ging er durch die Dunkelheit zum Gemüsebeet und hoffte, dass er nicht auf allzuviele<br />

Schnecken treten würde. Da es bewölkt war, konnte er kaum etwas erkennen.<br />

Da, dort neben der Schubkarre bei den Brennesseln war ein merkwürdig rund geformter Haufen.<br />

Jens ging darauf zu. Als er näher kam, hörte er leises Schluchzen.<br />

Johanna? Tatsächlich: Johanna kauerte völlig aufgelöst zwischen den Brennesseln und merkte gar<br />

nicht, dass Jens nähergekommen war. Jens hockte sich neben sie und legte den Arm um ihre<br />

Schulter.


"Johanna, was ist mit dir?"<br />

"Ich .. huck... ich..."<br />

"Ist gut Johanna, wein dich ruhig aus."<br />

Sie verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter und ließ sich von heftigen Schluchzern durchschütteln.<br />

Nach einer Weile schaute sie ihn tränenüberströmt an.<br />

"Ich hätte so gerne ... huck ... dass es wird wie früher. Ich halte ... das Leben ... huck ... so nicht<br />

aus."<br />

"Willst du zurück in die Stadt?"<br />

"Nein, bloss nicht, ... huck ... da ist es ja noch viel schlimmer als ... huck ... hier."<br />

"Ja, aber..."<br />

"So, wie es früher war, will ich es wiederhaben. ... huck ... Vor der Ölkrise. ... Ich weiss natürlich<br />

auch, dass ... dass .. das nicht geht."<br />

Wieder wurde sie von Schluchzern durchgeschüttelt.<br />

"Komm, meine Arme, jetzt gehen wir erstmal ins warme Wasser. Dann wird es bestimmt bald<br />

besser."<br />

Jens half ihr auf die Beine und führte sie das kurze Stück bis zur warmen Quelle. Dort hielt er<br />

Johanna wie ein Baby in den Armen und ließ sie sanft durchs Wasser gleiten. Sie kuschelte sich an<br />

ihn, doch die Weinkrämpfe hörten nicht auf.<br />

Nach einer Weile trug Jens seine Frau aus dem Becken und hüllte sie in seinen Bademantel.<br />

Behutsam brachte er sie ins Haus und kochte ihr eine heisse Schokolade, in der Hoffnung, dass dies<br />

ihre Lebensgeister wiederbeleben würde.<br />

Völlig apathisch hockte Johanna auf der Bank und die Tränen rannen ihr unaufhaltsam über die<br />

Wangen. Ihre Hände zitterten stark, als sie die Tasse von Jens entgegennahm.<br />

"Ich glaube, du bist einfach völlig überarbeitet, mein Schatz. Das kann ich gut nachvollziehen, denn<br />

mir fehlt auch manchmal die Kraft."<br />

"Ja ... das wirds sein ... ich weiss ja auch ... dass es dumm ist ... huck ... so zu verzweifeln ... aber<br />

... aber ich komm einfach nicht dagegen an."<br />

Fast wäre ihr die Tasse aus der Hand gefallen, doch Jens erwischte sie im letzten Augenblick.<br />

"Du brauchst jetzt Kraft. Hier trink noch ein Schlückchen."<br />

"Huck ... danke."<br />

Während er Johanna über die Haare strich, fragte sich Jens, was er machen würde, wenn Johanna<br />

aufgeben würde. Ein Leben ohne sie konnte er sich nicht mehr vorstellen; er war froh, ihr Partner zu<br />

sein. Alleine würde er es hier sowieso nicht schaffen, wenn es schon zu zweit so schwer fiel.<br />

Hoffentlich würde sie sich wieder erholen.<br />

"Am besten ruhst du dich ein paar Tage aus. Ich kann mich auch um die Tiere kümmern und dann<br />

lassen wir es einfach mal locker angehen. Was hältst du davon?"<br />

"Hm ... vielleicht. Am schlimmsten ist eigenlich, dass ich mich so schäme ... huck ... weil ich mich<br />

so anstelle. huck ... Dabei haben wir es doch viel besser als die meisten anderen."<br />

"Du brauchst dich nicht schämen. Ich find das Landleben auch sehr anstrengend. Und manchmal<br />

sehne ich mich auch nach den guten alten Zeiten zurück."<br />

"Ob es wirklich nie wieder so werden kann wie früher?"<br />

"Ja, ich glaube, es wird nie wieder wie früher."


Kapitel 37<br />

"Bleib im Bett, Liebste. Ich bring dir ein Frühstück hoch."<br />

Nachdem er das Wasser aufgesetzt hatte, huschte Jens schnell in die Bibliothek und suchte ein<br />

paar heiter wirkende Romane raus, die er Johanna ans Bett brachte, damit sie in der Wartezeit etwas<br />

Nettes zu tun hatte. Dann eilte er zurück in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten und auf einem<br />

Tablett verlockend anzurichten.<br />

Johanna hatte die Bücher noch nicht angerührt und lag mit geschlossenen Augen auf ihrem<br />

Kissen, als Jens das Frühstück hochbrachte. Ob sie wohl wieder eingeschlafen war? Jens stand<br />

unentschlossen neben dem Bett, denn aufwecken wollte er sie nicht. Als er gerade wieder<br />

rausschleichen wollte, öffnete Johanna ihre Augen einen Spalt weit. Jens gab ihr einen Kuss und<br />

stellte das Tablett neben ihr aufs Bett.<br />

"Ich hab gar keinen Hunger."<br />

"Das kann ich mir vorstellen, aber trink wenigstens ein bisschen, das wird dir gut tun. Und dann<br />

solltest du auch ein paar Happen essen, sonst sackt dein Kreislauf immer mehr ab."<br />

Brav trank sie ein Schlückchen und knabberte am Marmeladenbrot. Jens war bes<strong>org</strong>t über ihre<br />

Erscheinung: das Gesicht blass wie ein Laken und die Augen immernoch stark verschwollen. Er<br />

neckte sie mit dem Brot wie ein kleines Kind, das gefüttert wird, und brachte sie dazu, noch einmal<br />

vom Brot abzubeissen.<br />

"Willst du vielleicht etwas Musik hören?"<br />

"Ach, das braucht doch zuviel Strom."<br />

"Ganz im Gegenteil, wir haben massenhaft Strom übrig, der einfach so verschwindet, weil keiner<br />

ihn nutzt."<br />

"Im Ernst? Aber ich dachte, der Strom wäre so knapp wegen der Waschmaschine."<br />

"Die Waschmaschine war nur schwierig, weil sie soviel Strom auf einmal braucht. Unser Kraftwerk<br />

produziert ständig zwei Kilowatt Stromleistung, das ist eine ganze Menge, viel mehr als wir<br />

verbrauchen. In die Akkus passt nur ein Teil <strong>des</strong> Überflusses und der restliche Strom verschwindet<br />

einfach auf Nimmerwiedersehen. Wie du siehst, tust du dem Strom sogar einen Gefallen, wenn du ihm<br />

die Chance gibst, etwas mit sich anzufangen."<br />

"Ja, das leuchtet ein. Das hatte ich bisher nicht kapiert, dass wir Strom übrig haben. Dann sollten<br />

wir dem Strom die Chance geben, schöne Musik zu machen."<br />

Jens suchte die Musik raus, die Johanna bei seinem ersten Besuch aufgelegt hatte, denn er war<br />

sich sicher, dass sie diese Musik mochte. Als die ersten Töne erklangen, war schon ein wenig Farbe<br />

in ihr Gesicht zurückgekehrt. Doch Jens machte sich S<strong>org</strong>en, weil sie völlig ohne Widerstand<br />

akzeptiert hatte, im Bett zu bleiben, dass passte so gar nicht zu ihr. Es ging ihr wohl wirklich richtig<br />

schlecht.<br />

Durch die viele Arbeit, die er jetzt alleine bewältigen musste, hatte er kaum Zeit, sich die ganze Zeit<br />

Gedanken um Johanna zu machen, doch er schaute alle ein bis zwei Stunden nach ihr, damit sie sich<br />

nicht verlassen fühlte. Fast je<strong>des</strong> Mal, wenn er kam, lag sie einfach still im Bett, aber wenigstens die<br />

Musik schien ihr zu gefallen.<br />

Gegen Nachmittag hatte sie sich jedoch wieder soweit gefangen, dass sie sich für eines der<br />

Bücher entschieden hatte und darin las. Das Buch hiess "Kleine Welt im Tessin" von einer Kathrin<br />

Rüegg, an die Jens sich aus einer Grossmutter-Sendung im Fernsehen erinnerte. Diese Grossmutter<br />

tat Johanna bestimmt gut, und wenn ihn sein Gedächtnis nicht im Stich ließ, hatte sie auch die Härten<br />

<strong>des</strong> Landlebens kennengelernt und überstanden.<br />

Leise ging er, um die zweite Melkrunde <strong>des</strong> Tages zu beginnen. Ohne haltende Hand war das<br />

Melken doppelt so schwierig wie zu zweit, und die Ziege spürte wohl seine Unruhe, denn sie zappelte<br />

noch mehr als sonst. Hatte er nicht mal bei Seymour ein Gestell gesehen, das beim Ziegenmelken<br />

half?<br />

Bevor er sich so über die Ziege ärgerte, dass er grob wurde, ließ er sie lieber vorerst wieder laufen<br />

und kehrte zurück ins Haus, um nach der nötigen Information zu suchen. Das abgbildete Melkgestell<br />

sah einfach aus, wie ein niedriger Tisch mit Geländer und Rampe zum hochklettern. Der Bau <strong>des</strong>


Gestelles würde Jens zwar über eine Stunde kosten, aber er rechnete sich aus, dass er diese Zeit<br />

wahrscheinlich schon am nächsten Tag wieder eingespart hätte, vorausgesetzt das Melken<br />

funktionierte mit dem Gestell tatsächlich besser.<br />

Ohne Zweifel war ihm eine Stunde Arbeit in der Werkstatt erheblich lieber als ein endloser Kampf<br />

mit einer unwilligen Ziege. Bis das Gestell schließlich fertig war, dauerte es dann doch über zwei<br />

Stunden und es war so schwer, dass Jens seinen Anhänger benutzen musste, um es zur Wiese zu<br />

bringen.<br />

Die Ziegen blökten schon ganz ungeduldig, wohl weil ihre Euter angeschwollen waren, als Jens<br />

endlich das Melkgestell aufbaute. Oben auf der Plattform konnte die Ziege ihren Kopf durch zwei<br />

Bretter stecken und fand dort zwei leckere Karotten vor, die Jens extra zu diesem Zweck von ihrem<br />

eigenen Essen geopfert hatte.<br />

Trotz Jens' anfänglicher Skepsis funktionierte der Melkstand ganz hervorragend, denn die Ziegen<br />

waren ganz begierig auf die Karotte und stürmten um die Wette zum Gestell. Die Gewinnerin brachte<br />

sich ganz von selbst in die richtige Position und knabberte an den Möhren. Jens setzte sich auf den<br />

dafür v<strong>org</strong>esehen Platz und begann zu melken. Zuerst ging es schwierig, weil der Euter schon so<br />

gespannt war, aber dann floss die Milch zügiger und die Ziege war schneller gemolken als je zuvor.<br />

Die andere Ziege hatte es anschließend sehr eilig, auch Karotten zu essen, die Jens natürlich wieder<br />

ergänzt hatte und ließ ihn willig seine Arbeit verrichten.<br />

Nachdem er einen Teil der Milch zur späteren Käseherstellung in die Speisekammer gestellt und<br />

den Rest im Kühlschrank verstaut hatte, ging Jens wieder zu Johanna, die er jetzt schon lange<br />

alleingelassen hatte. Sie schlief. Ihre geröteten Augenlider ließen vermuten, dass sie wieder geweint<br />

hatte. Jetzt wirkte sie aber entspannt, als hätte sie beim Einschlafen noch etwas Schönes gelesen. Ihr<br />

Buch lag nämlich direkt neben dem Kopfkissen und berührte ihre Hand.<br />

Um sie in Ruhe schlafen zu lassen, setzte er sich in die Bibliothek und stöberte in den Büchern<br />

über Landwirtschaft. Allein das Alles zu lesen würde Jahre dauern; bei der vielen körperlichen Arbeit<br />

sogar Jahrzehnte.<br />

Wie konnte er Johannas und auch seine Probleme lösen? Maßnahmen wie das Melkgestell<br />

würden die Arbeit nach und nach erleichtern, aber wenn er versuchte, sich das Arbeitspensum<br />

realistisch vorzustellen, wurde ihm klar, dass sie keine Chance hatten, alles zu schaffen, was sie<br />

vorhatten.<br />

Er war froh, dass sie auf die Ansaat von Lein für dieses Jahr verzichtet hatten und dass die<br />

Genehmigung vom Landwirtschaftministerium für Faserhanf immernoch fehlte. Denn auch wenn ihm<br />

Johannas Textil-Pläne gefielen, konnten sie doch froh sein, wenn sie ihre Nahrungsvers<strong>org</strong>ung<br />

einigermaßen in den Griff bekamen.<br />

Am nächsten Tag aß Johanna immerhin wieder eine ganze Scheibe Brot zum Frühstück, aber<br />

schon der Weg ins Bad schien sie anzustrengen. Das zeigte Jens deutlich, wie angeschlagen sie<br />

noch war. Jens kümmerte sich um die Tiere, stellte Käse aus der Milch vom Vortag her, wendete die<br />

Käselaibe, die im Lager reiften, bereitete das Mittagessen zu und goss das Gemüse in Garten und<br />

Gewächshaus, was auch mit dem Schlauch immer mehr Zeit in Anspruch nahm, weil es zunehmend<br />

wärmer und trockener wurde. Nachdem er mit dem Gießen fertig war, wurde es schon wieder Zeit für<br />

die zweite Melkrunde der Ziegen. Zwischendrin ging er regelmässig zu Johanna, damit sie wusste,<br />

dass er für sie da war.<br />

Obwohl er den ganzen Tag gearbeitet hatte, war Jens gerade einmal mit der täglichen<br />

Grundvers<strong>org</strong>ung fertig geworden. Ohne Melkstand hätte er sicherlich nicht einmal das geschafft. Er<br />

hatte kein Unkraut entfernt, nichts gesät, nichts gepflanzt, nicht nach dem Feld geschaut und keinen<br />

Einkauf erledigt. Seine Bewunderung für professionelle Bauern wuchs zusehens und er fragte sich, ob<br />

er wirklich für das Landleben geeignet war.<br />

Vielleicht war das mit dem eigenen Hof doch eine unvernünftige Schnapsidee gewesen und für<br />

Stadtmenschen in schwierigen Zeiten nicht zu bewältigen. In der Stadt kannte er sich wenigstens aus<br />

und hatte es immer geschafft, sich irgendwie durchzuwurschteln. Hier auf dem Land waren sie<br />

Fremde, die einen Fehler nach dem anderen machten und selbst für einfache Tätigkeiten viel Zeit<br />

brauchten.<br />

Bevor es ihm mit seinen Zweifeln noch so erging wie Johanna, rannte Jens lieber zur Quelle und<br />

sprang diesmal vorher in den kalten Teich, um einen klaren Kopf zu bekommen. Das half - zumin<strong>des</strong>t<br />

fürs Erste.


Als er Johanna am nächsten M<strong>org</strong>en das Frühstück brachte, wollte sie aufstehen und wieder an<br />

die Arbeit gehen. Doch Jens überredete sie, sich noch einen Tag länger auszuruhen, denn er spürte,<br />

dass Johannas Arbeitswille nur ihrem schlechten Gewissen und nicht der wiedergekehrten Kraft<br />

entsprang. Er war aber froh, dass sich bei Johanna inzwischen Widerspruchsgeist rührte, denn das<br />

hielt er für ein gutes Zeichen.<br />

Gegen Abend machten sie zusammen einen Spaziergang über den Hof und Jens zeigte seiner<br />

Frau, dass alles in Ordnung war. Das Melkgestell gefiel Johanna sehr gut und schien ihr Hoffnung auf<br />

Arbeitserleichterung zu geben. Nach einer erholsamen Nachtruhe konnte sie es kaum abwarten, mit<br />

der neuen Methode die Ziegen zu melken und Jens erhob keine Einwände.<br />

In den ersten Tagen hatte Johanna nur Kraft für wenige Stunden, aber das störte Jens nicht im<br />

geringsten, denn er war sehr glücklich, dass sie überhaupt wieder auf den Beinen war. Allerdings<br />

befürchtete er, dass sich Johannas Zusammenbruch möglicherweise wiederholen könnte, denn die<br />

Arbeit schien mit zunehmender Jahreszeit zu wachsen.<br />

In den Nachrichten hörte Jens von umfangreichen Bauernprotesten vor allen Landratsämtern und<br />

Landwirtschaftsministerien. Die Bauern waren zu Fuß anmarschiert und forderten mehr Treibstoff, um<br />

genügend Nahrung für die Bevölkerung produzieren zu können. Johanna schien bei dieser Nachricht<br />

Kraft zu gewinnen; wahrscheinlich dachte sie sich, wenn die Profibauern schon Grund zum<br />

Protestieren hatten, dann war ihr Zusammenbruch eher entschuldbar.<br />

Dennoch blieb eine gewisse Traurigkeit weiterhin in ihr Gesicht geschrieben und öfters hörte Jens<br />

bei ihren Gesprächen durch, dass sie sich für ihre Schwäche verachtete und es gelang ihm nicht, ihr<br />

das auszureden.<br />

Jens entschied, dass sie sich fortan am Sonntag nur um die Tiere kümmern würden, und auch das<br />

immer abwechselnd, damit jeder wenigstens alle zwei Wochen einen völlig freien Tag hatte. Johanna<br />

war zwar zuerst dagegen, weil es doch so unendlich viel zu tun gab, willigte aber schließlich ein, weil<br />

Jens nicht lockerließ.<br />

Abends saß Jens jetzt oft in der Bibliothek und wälzte Bücher, Internetseiten und Gedanken auf<br />

der Suche nach Arbeitserleichterungen. Er überlegte gerade, ob ein Microdrip-System zur<br />

automatischen Betröpfelung der Gemüsepflanzen Sinn machen würde oder ob der<br />

Installationsaufwand zu hoch sein würde, als er im Radio von einem Angebot der Regierung an die<br />

protestierenden Landwirte erfuhr.<br />

Mehr Treibstoff konnte nicht versprochen werden, aber freiwillige Grundsicherungsempfänger<br />

sollten für Kost und Logis bei den Bauern arbeiten und der Staat würde ihnen ein geringes<br />

Taschengeld zahlen. In den Meinungsumfragen zu diesem Angebot fiel zwar auch öfter das Wort<br />

"Ausbeutung", aber im Allgemeinen war die Resonanz sehr positiv.<br />

Ob das vielleicht auch eine Lösung für ihren Hof war? Jens dachte dabei sofort an Andreas,<br />

obwohl er nicht wusste, ob Andreas auch nur andeutungsweise Interesse am Landleben hatte. Nach<br />

einem längeren Gespräch mit Johanna rief Jens schließlich bei Andreas an.


Kapitel 38<br />

Andreas war einverstanden. Seine Situation hatte sich in letzter Zeit deutlich verschlechtert und so<br />

war er froh, den Containern entkommen zu können. Jens Hinweis auf harte Arbeit begegnete Andreas<br />

mit der Bemerkung, dass er schließlich jung und stark sei. Also wurde es abgemacht: Andreas würde<br />

in kurzer Zeit zu ihnen ziehen.<br />

Einem spontanen Impuls folgend, rief Jens auch noch bei Achim an, denn von ihm hatte er lange<br />

nichts gehört.<br />

"Welch ein Zufall, dass du ausgerechnet heute anrufst."<br />

"In wiefern?"<br />

"M<strong>org</strong>en ziehe ich aus, ich steh schon zwischen meinem Gepäck und wer weiss, wielange ich mein<br />

Handy noch behalten kann."<br />

"Was ist geschehen?"<br />

"Lorenz ist pleite gegangen. Nach der Leicheneinsammelei brachen die Aufträge weg, weil die<br />

Hausbesitzer kein Geld mehr haben und auch sonst niemand mehr Entrümpler bezahlen will.<br />

Entweder machen die das jetzt selber oder die Wohnungen bleiben einfach voller Gerümpel."<br />

"Ich dachte immer, der Lorenz sitzt wie die Made im Speck mit seiner Firma."<br />

"Ja, das dachte ich auch, aber da habe ich mich wohl geirrt oder die Zeiten haben sich sehr schnell<br />

geändert."<br />

"Und was machst du jetzt?"<br />

"Containersiedlung und Riegel-Fressen, was sonst?"<br />

"Wenn du willst, kannst du auch bei mir auf dem Hof arbeiten. Da gibt es jetzt doch dieses<br />

Regierungsprogramm. Ich brauche jemanden, der ordentlich zupacken kann."<br />

"Ja, prima, wann soll ich kommen?"<br />

"So schnell wie möglich. Von euch da oben kommt noch ein anderer Kumpel von mir. Vielleicht<br />

könnt ihr ja gemeinsam kommen."<br />

"Und wann kommt der?"<br />

"Das ist noch nicht geklärt. Da müssen erstmal ein paar Formulare mit dem Bürgeramt gewechselt<br />

werden."<br />

"Pah, nicht mit mir. Ich zieh doch nicht in nen Container, nur um auf ein Formular zu warten."<br />

"Wie willst du es sonst machen?"<br />

"Nicht nur du hast ein Fahrrad. Meins hast du zwar noch nicht kennengelernt, aber es wartet brav<br />

im Keller auf mich. Früher, als ich jung war, bin ich sogar eine Weile Rennen gefahren."<br />

"Du willst mit dem Fahrrad kommen? Aber das sind doch fast achthundert Kilometer."<br />

"Na und. Ich hab ein kleines Zelt, darin kann ich übernachten. Es ist Mai und im Wetterbericht habe<br />

ich zufällig heute noch gesehen, dass bei euch die Sonne scheint. Da hab ich mir sogar noch gedacht,<br />

dass du es aber gut hast, da im Süden."<br />

"Und wenn du einfach mit dem Zug fährst? Die Fahrt könnte ich dir finanzieren."<br />

"Zugfahrkarten muss man inzwischen wochenlang im Voraus bestellen und dann hängt man in<br />

dem Gedränge. Ne, da fahr ich lieber mit dem Rad."<br />

"Tja, wenn du meinst, will ich dich nicht aufhalten."<br />

"Ja, so meine ich das. M<strong>org</strong>en früh mach ich mich auf die Socken. Vorher ruf ich noch bei dem<br />

Bürgeramt an und sag denen, dass ich sie nicht brauche."<br />

"Aber die würden doch Taschengeld zahlen."


"Darauf pfeif ich. Mir war sowieso nicht wohl dabei, vom Staat Knete einzusacken, denn dann<br />

haben die einen doch am Wickel. Wer weiss, was denen in einem Monat einfällt, was sie mit ihren<br />

Zahlungsempfängern anstellen wollen."<br />

"Ich kann dir aber nichts zahlen. Kost und Logis krieg ich hin, aber mit regelmässigen Zahlungen<br />

sieht es schlecht aus."<br />

"Für den einen oder anderen Kneipenbesuch habe ich noch kleine Reserven, als allerletzter<br />

Notgroschen sozusagen. Und wenn in eurer Kost ab und zu mal ein Bierchen inbegriffen ist, dann<br />

brauch ich kein Geld."<br />

"Ok, dann wünsch ich dir eine gute Fahrt. Ich freu mich schon."<br />

"Ich auch. Das kannst du aber glauben."<br />

Jens legte auf und war völlig baff. Der Achim war echt kurzentschlossen. Wahrscheinlich würde er<br />

eine wunderbare Entlastung bei der Arbeit sein, denn bei der Entrümpelei hatte er immer ordentlich<br />

zugepackt. Wann er wohl hier ankommen würde? Ein bis zwei Wochen musste man wohl schon<br />

rechnen, wenn man mit dem Fahrrad unterwegs war, schließlich ging die Fahrt durch ganz<br />

Deutschland.<br />

Den nächsten Vormittag verbrachte Jens damit, sich von einer Behörde zur anderen<br />

durchzutelefonieren, bis er endlich jemand fand, der ihm Auskunft geben konnte, wie die<br />

Beschäftigung von Andreas abgewickelt werden konnte. Für die Antragstellung musste Jens<br />

persönlich nach Freiburg fahren und nachweisen, dass er Landwirt war. Dann musste der Antrag<br />

warten, bis die Arbeitsmaßnahme vom Bun<strong>des</strong>rat beschlossen worden war. Erst danach konnte er<br />

bearbeitet und bewilligt werden. Mit dem Bun<strong>des</strong>ratsbeschluss würde jedoch innerhalb von zwei<br />

Wochen gerechnet werden.<br />

Angesichts dieses Verwaltungsaufwands fragte sich Jens, ob Andreas nicht genauso unkompliziert<br />

wie Achim kommen könnte. Aber beim Telefonat mit Andreas war ziemlich deutlich rübergekommen,<br />

dass er an Arbeit auf dem Hof nur im Rahmen der staatlichen Freiwilligenmaßnahme interessiert war.<br />

Also arbeitete Jens in den nächsten Tagen besonders hart, um die Fahrt nach Freiburg verantworten<br />

zu können.<br />

In Freiburg wurde er von einem Amt zum nächsten geschickt und keiner wusste genau, was es<br />

alles zu beachten galt. Am liebsten hätten ihn die Sachbearbeiter wohl wieder heimgeschickt, bis der<br />

Beschluss vom Bun<strong>des</strong>rat galt, doch Jens setzte sich durch und durfte seitenweise Formulare<br />

ausfüllen, sich Bestätigungsstempel in anderen Ämtern bes<strong>org</strong>en und noch mehr Formulare ausfüllen.<br />

Völlig entnervt wäre Jens am liebsten sofort wieder nachhause gefahren, als er die Ämtertour<br />

hinter sich hatte, aber wenn er schon mal in der Grossstadt war, musste er die Gelegenheit auch<br />

nutzen, um Sachen einzukaufen, die man auf dem Land nicht kaufen konnte. In einem großen<br />

Bioladen entdeckte er außer dem Spezialsaatgut, weswegen er gekommen war, Karden für die<br />

Wollbearbeitung und erinnerte sich, dass Johanna das Fehlen solcher Karden bedauert hatte. Also<br />

kaufte er ein Paar und außerdem noch eine Nussnougat-Creme, von der er wusste, dass Johanna<br />

diese Sorte besonders mochte und freute sich, dass er Johanna etwas Schönes mitbringen konnte.<br />

Erst am Spätnachmittag kam er wieder zuhause an; gerade noch rechtzeitig für die zweite<br />

Melkrunde. Johanna war begeistert über die Mitbringsel und schmierte sich gleich ein Brot mit dem<br />

leckeren Aufstrich. Jens freute sich, aufs Land zurückgekehrt zu sein und genoss die euterwarme<br />

Milch der Ziegen mehr denn je. Trotz aller Arbeit war es hier um Klassen besser als in der Stadt zu<br />

leben und sich womöglich ständig mit Behörden rumschlagen zu müssen, um nicht zu verhungern.<br />

Die nächsten beiden Tage standen im Zeichen der Gemüsepflanzung, denn die gefürchteten<br />

Eisheiligen waren vorbei und die wärmeliebenden Gemüse, die fürs Freiland v<strong>org</strong>esehen waren,<br />

wollten dringend an ihren endgültigen Standort ziehen. Manche der Pflanzen waren schon so gross,<br />

dass sie in den kleinen Töpfen nicht mehr genug Nahrung fanden und außerdem ständig umfielen.<br />

Von Stunde zu Stunde füllten sich die Gemüsebeete und der Garten ähnelte immer mehr dem, was<br />

man von einem Gemüsegarten erwartet.<br />

Radieschen und Salat konnte man schon ernten, darum gab es jetzt regelmässig frischen<br />

Gartensalat. Als sie die letzten Gemüsepflanzen ins Freiland gesetzt hatten, waren auch die ersten<br />

Walderdbeeren, die wild am Hang wuchsen, reif genug, um in grösseren Mengen geerntet zu werden.<br />

Zur Feier <strong>des</strong> Tages gab es daher eine grosse Quarkspeise mit selbstgemachtem Ziegenquark und<br />

Erdbeeren.


Jens und Johanna hatten sich gerade an den Tisch gesetzt, als sie plötzlich von draussen<br />

Knirschgeräusche hörten, als würde jemand über den gekiesten Hof gehen. Jens legte das<br />

Salatbesteck wieder zurück in die Schüssel und ging leise und wachsam ins Bad, um dort durchs<br />

Fenster sehen zu können, was draussen vor sich ging. Doch bevor er etwas erkennen konnte, klopfte<br />

es kräftig an der Haustür. Jens ging zur Haustür und öffnete sie, neugierig, wer da so unverhofft zu<br />

Besuch kam.<br />

Achim stand vor der Tür und lachte ihm entgegen.<br />

"Du? Schon hier? Du bist aber schnell! Herzlich willkommen!"<br />

"Was heisst hier schnell? Ich habe gebummelt. Unterwegs war es teilweise so schön, dass ich<br />

einfach eine Weile geblieben bin."<br />

"Aber wir haben doch erst vor fünf Tagen telefoniert."<br />

"Genau. Wenn ich mich gesputet hätte, wäre ich schon gestern hier gewesen."<br />

"Komm doch erstmal rein, es gibt gerade Essen."<br />

Jens stellte Johanna und Achim einander vor, legte ein zusätzliches Gedeck auf den Tisch und<br />

holte Bier für alle aus der Speisekammer.<br />

Achim staunte, dass sie schon Salat, Käse und Quarkspeise aus eigener Produktion hatten und aß<br />

mit gutem Appetit. Auf Johannas Wunsch erzählte er von seiner Reise, die anscheinend aus lauter<br />

lustigen Begebenheiten bestanden hatte, aber anschließend wollte er alles über den Hof wissen. Nach<br />

dem Essen zeigte Jens ihm im Licht einer Taschenlampe die warme Quelle und gab ihm ein grosses<br />

Handtuch für den Weg zurück ins Haus.<br />

"Eure Quelle ist ja der reinste Jungbrunnen. Wo ist der nächste Baum zum Ausreissen?", sagte<br />

Achim, als er von der Quelle zurückkehrte.<br />

"Die Bäume kommen auch bald dran, aber m<strong>org</strong>en können wir die nächste Etappe <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong><br />

erobern. Wir müssen nämlich dringend Rüben säen und Hacken wie die Wilden. Das Feld hat in<br />

letzter Zeit ziemlich durch Zeitmangel gelitten."<br />

Johanna war inzwischen ins Obergeschoss geeilt, um eines der freien Zimmer für Achim<br />

herzurichten. Die beiden Zimmer waren zwar einfach möbliert, aber das Bett für Achim musste noch<br />

frisch bezogen werden. Als sie fertig war, bot sie Achim an, ihm das Zimmer zu zeigen und mit seinem<br />

Gepäck zu helfen. Auch Jens kam mit, um Achims Gepäck zu tragen und staunte, wieviel Taschen<br />

Achim auf seinem Fahrrad untergebracht hatte. Ausserdem stand noch ein schwerer Rucksack neben<br />

dem Fahrrad, den Achim auch die ganze Strecke über transportiert hatte. Zu dritt schafften sie es<br />

gerade, alle Gepäckstücke auf einen Rutsch ins Haus zu schleppen.<br />

Beim zweiten Bier gestand Achim, dass er noch nie auf dem Land gelebt und keinerlei Ahnung von<br />

Gartenarbeit hatte. Jens beruhigte ihn, denn er war zuversichtlich, dass Achim den Bogen bald<br />

raushaben würde.<br />

Wie recht er damit hatte, stellte sich am nächsten Tag auf dem Feld heraus. Anfänglich näherte<br />

sich Achim den Pflanzen zwar etwas zögernd, aber nach kurzer Zeit wusste er, worauf es jeweils<br />

ankam und hackte fleissig mit Jens um die Wette. Jens wurde von Achims Eifer wie beflügelt und<br />

wollte seinem Partner in nichts nachstehen. Daher waren sie mit der Feldarbeit erheblich früher fertig<br />

als erwartet und nutzten die gewonnene Zeit, um Achim mit der Werkstatt vertraut zu machen. Die<br />

Kupferröhren lagen in tiefem Schwarz anklagend auf der Werkbank.<br />

"Hier habe ich etwas angefangen, für dass ich einfach keine Zeit finde, weil es eigentlich nicht so<br />

dringend ist, aber ich würde so gerne ausprobieren, ob es prinzipiell funktioniert."<br />

"Ein Gerät zum Wasseraufwärmen?"<br />

"Gut erkannt. Ja, das soll mal ein Sonnenkollektor werden. Auf eine schwarze Platte oder Gestell<br />

montiert, dann mit Glas zum Abdecken und rauf aufs Dach. Soll unsere Warmwasservers<strong>org</strong>ung<br />

ergänzen."<br />

"Nicht schlecht. Ist ja eigentlich schon ziemlich weit fortgeschritten. Haben wir jetzt Zeit, um das<br />

vorwärtszubringen?"<br />

"Ja, ich muss erst in zwei Stunden melken und Johanna wollte heute den Garten giessen, also<br />

habe ich bis dahin Zeit."


Zwei Stunden später war der eigentliche Sonnenkollektor fertig und sie konnten bei nächster<br />

Gelegenheit die Verlegung der Rohre und die Dachmontage in Angriff nehmen. Während Jens molk,<br />

ging Achim zu Johanna in den Garten, half ihr beim Giessen und ließ sich die Grundlagen <strong>des</strong><br />

Gärtnerns erklären. Am Schluss trug Achim die frisch geernteten Radieschen ins Haus und grinste<br />

zufrieden.<br />

Jens fühlte sich viel lebendiger als in den letzten Wochen und spürte auch seine Zuversicht wieder<br />

wachsen. Pläne gingen durch seinen Kopf, an die er sich in letzter Zeit nichtmal zu denken getraut<br />

hatte.<br />

Dass es Johanna ähnlich ging, merkte er beim zweisamen Bad in der Quelle, denn sie wirkte viel<br />

gelöster. Sie mochte Achim nicht nur, sondern es schien, als wäre eine schwere Last von ihren<br />

Schultern genommen. Sie alberte sogar wieder rum und spritzte Jens nass.


Kapitel 39<br />

"Die Ziegen haben wirklich keinen Namen?"<br />

"Nein, denn ich habe mal gehört, dass man Tieren, die geschlachtet werden sollen, besser keinen<br />

Namen gibt. Offiziell sind die Ziegen nämlich auch zum Schlachten geeignet. Aber irgendwie hatten<br />

wir bisher auch keine Zeit, uns Namen auszudenken, vielleicht liegt es auch daran."<br />

"Merkwürdige Geschöpfe, diese Ziegen, aber der Käse von ihnen schmeckt gut, da kann man nicht<br />

meckern."<br />

"Willst du sie nicht mal streicheln? Sie sind eigentlich ganz friedlich."<br />

"Naja, nicht unbedingt. Das Schaf sieht ja ganz schnuckelig aus und sein Lamm ist sehr niedlich,<br />

aber an die Ziegen muss ich mich erst noch gewöhnen.", dass er sich nie an die Ziegen gewöhnen<br />

würde, ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht.<br />

Jens kam dazu, als Johanna Achim gerade die Tiere vorstellte. Er war sehr froh, dass Johanna<br />

auch Zugang zu Achim hatte, denn es wäre schwierig geworden, wenn sie ihn nicht gemocht hätte.<br />

"Weisst du, was hier noch fehlt? Ein Hund.", sagte Achim zu Jens.<br />

"An einen Hund habe ich auch schon gedacht, aber wir haben sowenig mit Fleisch zu tun, dass wir<br />

ihn gar nicht ernähren könnten, sondern Futter zukaufen müssten. Dann wäre der ganze<br />

Selbstvers<strong>org</strong>ungsgedanke dahin. Das wäre anders, wenn wir viele Schlachtabfälle hätten."<br />

"Schade mit dem Hund, aber einleuchtend."<br />

"Ja, finde ich auch schade, denn eigentlich gehört ein Hund ja zum Leben auf dem Lande dazu.<br />

Immerhin streunen hier mehrere Katzen rum, die sich von unseren Mäusen ernähren."<br />

An diesem Tag gingen Jens und Achim auf den Weinberg, um die nachgewachsene Wildnis<br />

zurückzudrängen. Trotz der Vernachlässigung hatten die meisten Weinreben lange Triebe gebildet<br />

und an manchen Pflanzen konnte man schon winzigkleine Trauben sehen. Nachdem die Unkräuter<br />

beseitigt waren, sah ihr Weinberg schon fast so aus, wie die anderen Weinberge am Hang.<br />

Zufrieden gingen sie zurück zum Haus und installierten die Rohre für den Sonnenkollektor. Jens<br />

kümmerte sich vorwiegend um die Feinmechanik der Pumpe, die das Wasser transportieren sollte und<br />

Achim zog die Leitungen durchs ganze Haus, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass sie noch isoliert<br />

werden mussten, wenn sie nicht als Heizung der Räume dienen sollten.<br />

"Oh, das ist eigentlich eine gute Idee mit der Heizung. Das bringt natürlich kaum etwas, aber im<br />

Winter könnte es andere Heizmethoden unterstützen.", meinte Jens, nachdem er kurz über Achims<br />

Bemerkung nachgedacht hatte.<br />

"Stimmt auch wieder. Vor allem sparen wir dann Arbeit und Material."<br />

Der Wald war das nächste Opfer ihrer Arbeitswut. Natürlich schafften sie dort nur Kleinigkeiten,<br />

aber es war ja auch gar nicht die richtige Jahreszeit für Arbeit im Wald. Abgeschnittene Zweige<br />

entlaubten sie und banden sie zu Reisigbündeln, die sie zum Trocknen auf den Hof brachten. Zwei<br />

störende Bäume wurden gefällt und ein Baum der früheren Waldaktion wurde in handliche Stücke<br />

geschnitten und abtransportiert.<br />

Nachmittags kam dann die grosse Stunde <strong>des</strong> Sonnenkollektors. Mit einer Leiter bewaffnet gingen<br />

sie zum Balkon im ersten Stock, lehnten die Leiter an die Dachkante und banden sie s<strong>org</strong>fältig fest.<br />

Mit vereinten Kräften hievten sie den Kollektor aufs Dach, wobei Jens ziemlich mulmig zumute wurde,<br />

obwohl beide durch Leinen gesichert waren.<br />

Zuerst fiel es Jens schwer, auf dem Dach sicher zu fußen, doch Achim schien sich auf Dächern<br />

besser auszukennen und sicherte den Kollektor. Bis der Kollektor befestigt und die Rohre verbunden<br />

waren, hatte sich auch Jens an die Arbeit auf dem Dach gewöhnt.<br />

"Und du kriegst wirklich keine von diesen Photovol-Dingsda-Zellen?", fragte Achim, als sie die<br />

gelungene Aktion feierten.<br />

"Ne, ich hab überall rumtelefoniert, sogar bei einer Solarfabrik, aber die liefern nur an Händler. Und<br />

auch die kriegen zur Zeit nichts, weil der Staat alles haben will."


"Sag denen doch einfach, dass du Solargeräte entwickeln willst, denn wie dich kenne, wirst du das<br />

sowieso wollen, wenn du die Gelegenheit dazu hast."<br />

"Sowas ging mir in der Tat schon durch den Kopf. Ich sollte tatsächlich mal wieder anrufen und<br />

versuchen irgendwie Photovoltaik-Zellen zu ergattern. Vielleicht sind ja auch bald mal die dünneren<br />

Zellen verfügbar. Bei dem vielen Sonnenschein hier in der Gegend ist es echt eine Verschwendung,<br />

seine Dachflächen nicht zu nutzen. Und Geräte, die mit Solarstrom laufen, würden mir auch sehr gut<br />

gefallen. Irgendwo habe ich sogar mal einen Solar-LKW gesehen."<br />

"Was hältst du eigentlich von Biogas?"<br />

"Da denk ich je<strong>des</strong>mal dran, wenn ich den wachsenden Komposthaufen sehe. Kompost ist ja ne<br />

feine Sache für den Garten, aber wenn ich überlege, dass man da auch Gas, Strom, Wärme und<br />

sogar Öl herstellen kann, halte ich auch das für eine Verschwendung. Aber solche Biogas-Anlagen<br />

sind meines Wissens nach riesige Dinger, die würden nicht mal auf den Hof passen."<br />

"Aber vielleicht auf einem Teil <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong>."<br />

"Vielleicht; wenn man es bewacht. Wir sollten mal die Augen offen halten, ob sich da was ergibt.<br />

Jetzt wo du hier bist, können wir auch erheblich mehr schaffen als vorher."<br />

Am nächsten Tag gab es jedoch wieder soviel zu tun, dass Jens nicht dazu kam, den Solarzellen<br />

hinterher zu telefonieren. Immerhin fanden sie Zeit, gegen Mittag das aufgewärmte Wasser aus dem<br />

Sonnenkollektor zu bewundern.<br />

Eine Woche später gönnte sich Achim nach der abendlichen Gartenrunde einen Kneipenbesuch im<br />

Nachbardorf, den er ja schon beim ersten Telefonat mit Jens angekündigt hatte. Jens und Johanna<br />

genossen es, mal wieder unter sich zu sein und nutzten die Gelegenheit für ausgiebige Zärtlichkeiten,<br />

die sonst meistens zu kurz kamen.<br />

Beim Frühstück am nächsten M<strong>org</strong>en sagte Achim: "Ist euch eigentlich klar, dass eure Bauern ein<br />

echtes Problem haben."<br />

"Ja, sie haben keinen Sprit für ihre Maschinen, genau wie wir."<br />

"Stimmt, aber das ist es nicht nur. Die meisten sind von der Pleite bedroht. Hier in unserer Gegend<br />

vorwiegend, weil sie schon so alt sind und keinen Nachfolger finden, denn hier gibt es anscheinend in<br />

erster Linie kleine und mittlere Höfe. Viele der hiesigen Bauern sind auch verschuldet, weil sie in<br />

Modernisierung investieren mussten, um sich halten zu können."<br />

"So ähnlich habe ich mir das auch v<strong>org</strong>estellt."<br />

"Das ist aber noch der harmlosere Teil, denn wirklich hart trifft es vor allem die Grossbauern,<br />

meistens junge studierte Agrarökonomen, die virtuos das Spiel mit den ganzen EU-Subventionen<br />

beherrschen und ihren Hof managen wie eine Fabrik. Deren waghalsige Finanzkonstrukte<br />

funktionieren aber nur in guten Zeiten; jetzt wo der Treibstoff knapp ist, nützen die ganzen<br />

verbliebenen Subventionen nichts mehr. Einer nach dem anderen geht pleite. Inzwischen sollen schon<br />

ein Drittel der Grossbauern aufgegeben haben, und die Bauern in der Kneipe vermuten, dass heuer<br />

nochmal soviele dazukommen."<br />

"Bauen die ihren Biodiesel nicht selber an?"<br />

"Das ist die Krönung der Katastrophe: ja, vielen bauen selber Treibstoff an, aber sie sind<br />

vertraglich gebunden, den Biodiesel an die Autoindustrie und Regierung zu liefern. Und weil die<br />

Bauern keinen Sprit haben, können sie nichtmal mehr ihre Biomasse abbauen."<br />

"Nicht zu fassen. Die Bauern wären theoretisch in der Lage, sich selbst mit Treibstoff zu vers<strong>org</strong>en<br />

und fröhlich ihre riesigen Felder zu bestellen und wegen irgendwelcher Verträge gehen sie pleite und<br />

es gibt weder Biodiesel noch Nahrung?"<br />

"So ist es."<br />

"Und was passiert dann mit deren großen Höfen?"<br />

"Gar nichts. Wenn die hochmotivierten Agraspezialisten es nicht schaffen, haben alle anderen erst<br />

recht keine Chance. Die Felder liegen brach und die Tiere werden geschlachtet oder verramscht."<br />

"Kann man die Felder nicht teilen und an andere Bauern verkaufen. Vielleicht sollte Neubauern,<br />

wie wir es sind?"


"Vergiss es, dort ist nichts außer Ställen und Feldern. Rein gar nichts. Kein Haus, die wohnen<br />

nämlich oft in der Stadt, keine Straßen, keinerlei Infrastruktur."<br />

"Und wenn man Arbeitslose auf die Felder schickt?"<br />

"Auf unserem kleinen Feld können wir vielleicht die Kartoffeln von Hand anhäufeln, aber im Norden<br />

und Osten sind die Felder teilweise so groß, dass ein Arbeiter den ganzen Tag zu Fuss unterwegs<br />

wäre, um das Ende <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> zu erreichen. Dann hat er noch nichts gearbeitet. Nichtmal mit 10.000<br />

Leuten könnte man so ein Feld beackern, mal davon abgesehen, dass die ja auch noch<br />

hintransportiert und verpflegt werden müssten und Werkzeuge bräuchten."<br />

"Dann fehlt aber die Ernte der pleite gegangenen Grosshöfe. Dabei schrumpfen die Ernten doch<br />

sowieso ganz rapide, wegen Düngermangel und Vernachlässigung."<br />

"Genau. Wir werden hier in Deutschland ein echtes Hungerproblem bekommen und in anderen<br />

Ländern sieht es nicht viel besser aus. Ausser vielleicht in Frankreich, wo die Bauern sich oft gegen<br />

den Staat durchsetzen."<br />

"Ohje, im nächsten Winter will ich nicht in der Stadt leben. Wie gut, dass wir vorwiegend Pflanzen<br />

angebaut haben, die man im Zweifelsfall essen kann, auch wenn sie als Tierfutter oder zur<br />

Energiegewinnung v<strong>org</strong>esehen sind."<br />

"Ja, und auch gut, dass ihr bisher keine Kuh angeschafft habt, die würde nämlich vieles davon<br />

essen müssen, um durch den Winter zu kommen. Wenn man den Mais selbst isst, hat man erheblich<br />

mehr davon."<br />

"Das haben dir alles die Bauern in der Kneipe gesagt?"<br />

"Vieles habe ich mir auch aus ihren Trinksprüchen zusammengereimt. Wahrscheinlich ist denen<br />

gar nicht klar, dass sie mich so umfassend informiert haben. Ich hab übrigens auch die Adresse eines<br />

guten Schrotthändlers in der Nähe bekommen. Da kommt man sogar mit dem Fahrrad locker hin."<br />

"Du kommst ja mit dem Fahrrad sogar bis zum Nordpol, wenns sein muss."<br />

"Der Schrotthändler ist aber wirklich nah, keine Viertelstunde mit dem Rad."<br />

Johanna hatte diesem Männergespräch schweigend gelauscht und ihre Augen waren immer<br />

grösser geworden.<br />

"Wie könnt ihr euch nur über eine Schrotthändler-Adressse freuen, wo ihr kurz vorher noch vom<br />

massenhaften Hungertod gesprochen habt?"<br />

"Nimms uns nicht übel Liebste, so sind Männer nunmal."<br />

"Hmpf. Wir sollten aber was dagegen unternehmen, denn wir können das doch nicht einfach<br />

offenen Auges geschehen lassen. Wir sollten welche von den brachliegenden Feldern nehmen und<br />

Essen anbauen."<br />

"Da hast du schon Recht, aber wir schaffen ja kaum unsere drei Hektar. Vielleicht eröffnen sich<br />

neue Möglichkeiten, wenn Andreas erstmal da ist, denn dann haben wir ja noch mehr Verstärkung."<br />

"Das wäre wirklich wünschenswert. Mir ist nicht wohl dabei, zu wissen, dass so viele sterben<br />

werden."<br />

"Mich lässt das auch nicht kalt, aber wenn ich mir den Schrecken zu sehr zu Herzen nehme, dann<br />

wäre ich zu traurig zum Arbeiten."<br />

"Hm, stimmt. Das müsste ich selbst eigenlich am besten wissen. Also lasst uns an die Arbeit<br />

gehen."<br />

Jens nahme seine Frau in den Arm und wirbelte sie durch die Küche, als würden sie einen wilden<br />

Walzer tanzen. Dann nahmen sie ihre Arbeiten in Angriff.<br />

Nachmittags telefonierte Jens mit der Solarfabrik und behauptete, eine Firma für Solargeräte<br />

gründen zu wollen. Der Mitarbeiter bedauerte, dass immernoch keine Lieferungen an Nicht-<br />

Regierungsstellen möglich seien, erwähnte aber, dass Jens einfach mal vorbeikommen könnte, wenn<br />

er auch an leicht beschädigten Resten interessiert sei. "Bringen sie aber Geld mit. Bargeld.", sagte er<br />

zum Abschied.<br />

Das klang schon mal gut. Wenn Jens Geld mitbringen sollte, würde er wohl auch etwas kaufen<br />

können. Ausserdem musste er sowieso bald wieder nach Freiburg, denn die Behörden wollten für


Andreas Mitarbeit noch eine Unterschrift von ihm und auf dem Postweg würde es laut Sachbearbeiter<br />

Wochen dauern.<br />

Also schwang sich Jens am nächsten Tag auf sein Fahrrad und fuhr mit leerem Anhänger nach<br />

Freiburg, denn mit dem Zug konnte er schlecht die erhofften Solarzellen heimtransportieren. Jens<br />

genoss die Fahrt durch die strotzende Frühsommerlandschaft wie einen freien Tag.<br />

Auf den Ämtern in Freiburg gab es mal wieder reichlich Anlass zum Ärgern. Jens hätte dem<br />

Sachbearbeiter am liebsten ins Gesicht geschlagen, als dieser erklärte, dass der Postweg <strong>des</strong>halb<br />

solange brauchen würde, weil ein Brief nach aussen wegen der Portoübernahme erst durch drei<br />

Abteilungen wandern müsse, bevor er losgeschickt wurde. Doch er hielt sich mühsam zurück.<br />

"Aber wenn Sie Geld wollen, dann können Sie völlig problemlos Briefe verschicken.", sagte Jens<br />

statt<strong>des</strong>sen.<br />

"Das ist ja auch etwas Anderes. Hier wollen Sie ja Leistungen von uns."<br />

"Ich will gar keine Leistung von Ihnen. Ich nehme dem Staat das Durchfüttern eines Arbeitslosen<br />

ab, so siehts aus."<br />

"Das mögen Sie so sehen."<br />

"Ja, das sehe ich so. Zurück zum Thema: Wenn ich Ihnen beim nächsten Mal einen frankierten<br />

Rückumschlag zuschicken würde, ging es dann schneller? Ich habe nämlich zuviel Arbeit, um ständig<br />

nach Freiburg zu fahren."<br />

"Mit einem frankierten Rückumschlag ginge es durchaus schneller. Etwa eine Woche nachdem der<br />

Umschlag in der Zentrale ankommt, würde ich ihn auf dem Tisch haben und dann müsste er<br />

anschließend nur noch durch zwei Abteilungen anstelle von dreien. Bedenken Sie, dass wir unter<br />

Personalmangel leiden."<br />

"Also auch drei Wochen insgesamt?"<br />

"Ja, das könnte eventuell hinkommen."<br />

"Na danke."<br />

Bevor er den ältlichen Mann doch noch schlug, stand Jens auf und verließ eilends den Raum.<br />

Auf dem Weg zur Solarfabrik trat Jens kraftvoll in die Pedale, um seine Wut abzureagieren.<br />

Unterwegs sah er viele Fahrräder besonderer Bauart. Fahrräder zum Liegen wie im Sportwagen,<br />

Fahrräder mit Seitenwagen, Tandems und sogar richtige Lastfahrräder. An einer Ampel musste Jens<br />

zusammen mit einem Liegefahrrad-Besitzer warten und nutzte die Gelegenheit, um ihn nach der<br />

Fahrrad-Vielfalt zu fragen.<br />

"Tja, wir haben eben den Disch in Freiburg."<br />

"Disch?"<br />

"Ja, ein Architekt, der sich schon seit Jahrzehnten mit besonderen Fahrrädern und Solartechnik<br />

beschäftigt."<br />

"Ist ja toll. Ich kenne bisher nur die Velotaxis; die gibt es auch in Norddeutschland."<br />

"Die sind auch nicht schlecht. Aber wir haben hier Fahrräder für jeden Bedarf."<br />

"Danke. Da werd ich mich wohl mal gründlicher informieren, was es da alles gibt."<br />

In einem Gewerbegebiet angekommen, erkannte Jens die Solarfabrik schon von weitem, denn ihre<br />

ganze Fassade war mit Solarzellen verkleidet. An der Rezeption wurde er zu einem jungen<br />

Lagerarbeiter geschickt, der ihm die Ausschussware zeigte.<br />

Ein Grossteil der vorhandenen Zellen entstammte Versuchen, die neuartigen Zellen zu Panelen<br />

zusammenzufassen, damit man sie installieren konnte. Einige der Panele waren vollständig von<br />

gehärtetem Plexiglas umschlossen, andere hatten außer einer Deckschicht aus Plexiglas Untergründe<br />

aus verschiedenen Materialien, aber alle hatten das gleiche handliche Format und man konnte sie wie<br />

Nut- und Federbretter einfach zusammenstecken.<br />

Ausserdem gab es noch leicht beschädigte, aber funktionstüchtige nackte Zellen sowohl der alten<br />

als auch der neuen Bauart. Jens lief das Wasser im Munde zusammen und er war froh, dass er viel<br />

Bargeld abgehoben hatte, denn obwohl es um Ausschussware ging, waren die Zellen ziemlich teuer.


"Wenn der Staat so schlecht zahlt, müssen wir das leider auf unsere wenigen anderen Kunden<br />

abwälzen. Schließlich wollen wir hier weitermachen, jetzt wo es gerade interessant wird.", sagte der<br />

Lagerarbeiter als Erklärung für die hohen Preise.<br />

Jens fand es zwar ärgerlich für den Staat mit zu bezahlen, aber er sah ein, dass der Solarfabrik<br />

kaum eine andere Wahl blieb. Weil er schon mal vor Ort war, bestellte er auch ein Dutzend grosse<br />

Akkus, denn mit den vorhandenen Stromspeichermöglichkeiten war er noch nicht zufrieden. Die Akkus<br />

würden geliefert werden, aber es konnte Monate dauern.<br />

Schwer beladen fuhr Jens seinen Anhänger schließlich nach Hause und war bei jedem der<br />

anstrengenden Tritte froh über seine kostbare Last. Es juckte ihn in den Fingern, tatsächlich eine<br />

Firma für Solargeräte aufzumachen, denn durch die einzelnen Zellen hatte er jede Menge Material<br />

zum Experimentieren und Solargeräte würden bestimmt sehr begehrt sein.


Kapitel 40<br />

Die Wochen vergingen wie im Fluge, doch Andreas Ankunft lag vor lauter Formalitäten immernoch<br />

in weiter Ferne. Jens fragte sich schon, ob es überhaupt jemals klappen würde.<br />

Inzwischen hing ein grosser Teil der Solarzellen auf dem Dach und produzierte fleissig Strom, der<br />

aber mangels Akku-Erweiterung kaum genutzt werden konnte. Jens und Achim experimentierten in<br />

freien Stunden mit Solar- und Lastfahrrädern, was nur möglich war, weil sie in dem Schrotthändler<br />

einen treuen Verbündeten gefunden hatten, der sie ausgiebig mit Materialien vers<strong>org</strong>te. Sogar<br />

genügend Kupferrohre für eine Leitung von der warmen Quelle zum Haus stand in Aussicht.<br />

Der Besuch von Sonja war längst beschlossene Sache und seit klar war, dass Heide sie begleiten<br />

würde, waren auch die S<strong>org</strong>en über die weite Fahrt verschwunden. Die Fahrkarten hatten sie schon<br />

lange bestellt und gleich am ersten Ferientag in zwei Wochen sollte es losgehen.<br />

Plötzlich hatten die Behörden es eilig, Andreas zu Jens zu schicken und von einem Tag auf den<br />

anderen wurde Andreas für den Abend angkündigt. Johanna hatte gerade noch genug Zeit, sein<br />

Zimmer vorzubereiten und war etwas beunruhigt, weil die Zimmer angesichts der beiden anderen<br />

Besucher langsam knapp wurden. Heide und Sonja würden sie wohl in der Bibliothek und im<br />

Wollzimmer unterbringen müssen.<br />

Rechtzeitig fuhr Jens zum Bahnhof, mit einem zusätzlichen Fahrrad auf dem Anhänger, damit<br />

Andreas auch einen fahrbaren Untersatz für den Heimweg hatte.<br />

"Boah, war das eine nervige Fahrt.", war das Erste, was Andreas zur Begrüssung sagte.<br />

"Willkommen! Was war denn so schlimm?"<br />

"Die haben uns da reingepfercht wie Vieh, dabei wussten die ganz genau wieviele wir sind, denn<br />

es war ein Sonderzug für freiwillige Landarbeiter. Am Schluss wurds dann wenigstens etwas leerer,<br />

aber ich hab die Schnauze erstmal gestrichen voll, von der Zugfahrerei."<br />

"Das ist jetzt ja vorbei. Hier fahren wir meistens mit dem Fahrrad. Für den Heimweg habe ich dir<br />

eins mitgebracht."<br />

"Was? Fahrradfahren? Ich dachte, du machst einen auf Solarmobile."<br />

"Das habe ich vor, aber doch nicht für so kurze Strecken. Die Solarunterstützung ist eher für<br />

schwere Lasten oder Behinderte und Alte gedacht. Die Strecke in nicht weit, du wirst sehen."<br />

Jens lud Andreas Gepäck auf seinen Anhänger und Andreas bestieg missmutig das mitgebrachte<br />

Fahrrad. Dabei war Andreas doch im Norden auch meistens mit dem Fahrrad unterwegs gewesen,<br />

dachte sich Jens. Eigentlich dürfte eine kurze Strecke per Fahrrad kein Problem für ihn darstellen.<br />

Bestimmt lag seine schlechte Laune an der anstrengenden Fahrt.<br />

Zuhause stellte Jens Andreas den anderen vor und zeigte ihm die warme Quelle zur Erholung von<br />

der Reise.<br />

"Für die nächsten Besucher brauchen wir unbedingt ein Familienkutschen-Fahrrad, um sie vom<br />

Bahnhof abzuholen."<br />

"Das macht bestimmt Spass zu bauen. Wie ich dich kenne, lassen wir auch noch Platz für eine<br />

Batterie, um es später mit Solarzellen aufzurüsten."<br />

"Sehr gute Idee. Dann kann man auch mal schweres Gepäck transportieren. Das sollten wir<br />

unbedingt noch bauen, bevor die Gäste kommen."<br />

"Wird gemacht."<br />

Andreas kam zurück ins Haus und setzte sich an den gedeckten Tisch. Johanna hatte extra lecker<br />

gekocht.<br />

"Eure Quelle ist ja ne feine Sache, aber schade, dass sie so weit weg vom Haus ist.", sagte<br />

Andreas.<br />

"Stimmt, vor allem wegen der Rohre, die wir dorthin verlegen wollen.", grinste Jens.<br />

"Viel Luxus habt ihr ja nicht auf eurem Selbstvers<strong>org</strong>er-Tisch, aber das ist wohl normal, wenn man<br />

alles selber macht."


"Äh, was fehlt dir denn noch? Es ist auch noch lange gar nicht alles selbstgemacht, davon sind wir<br />

noch weit entfernt.", versuchte Johanna, auf Andreas einzugehen.<br />

"Nicht mal alles selbstgemacht? Und ich dachte, auf dem Land gibt es endlich mal wieder was<br />

Gescheites zum Essen, dicke Steaks und so."<br />

"Wir halten nur wenig Tiere, weil die soviel Futter brauchen, aber immerhin haben wir schon Milch<br />

und Käse von den Ziegen."<br />

"Naja, Ziegenkäse: nicht so mein Geschmack. Und das ganze Grünzeug da in der Schüssel,<br />

könntet ihr von mir aus auch weglassen."<br />

Johanna schwieg.<br />

Am nächsten M<strong>org</strong>en schlief Andreas bis um ein Uhr mittags, was die anderen drei auf den<br />

Reisestress zurückführten. Jens und Achim nahmen ihn nachmittags mit aufs Feld, weil die Rüben<br />

verzogen werden mussten. Andreas tat sich schwer mit den unvertrauten Pflanzen, zog sie sehr<br />

unregelmässig aus, ließ kleine Mickerlinge stehen und riss die Kräftigen aus. Nach einer Stunde<br />

wurde ihm schwindelig und er setzt sich für den Rest <strong>des</strong> Nachmittags in den Schatten.<br />

Achim verzog sein Gesicht zu einer Grimasse als Andreas schlappmachte, aber Jens<br />

beschwichtige ihn.<br />

"Er hat seit Jahren nicht gearbeitet, um genau zu sein: er hat noch nie in seinem Leben regelmäßig<br />

gearbeitet. Da ist es ganz normal, dass er eine Weile braucht, um sich an die Arbeit zu gewöhnen."<br />

"Das kann ja heiter werden."<br />

In den nächsten drei Tagen schlief Andreas auch immer bis mittags und ließ nicht erkennen, dass<br />

er vorhatte, das bald zu ändern. Jens sprach ihn vorsichtig darauf an.<br />

"Ist dir eigentlich klar, dass wir schon einen halben Tag gearbeitet haben, wenn du aufwachst."<br />

"Da habt ihr eben Pech, wenn ihr solche Frühaufsteher seid. Ich find m<strong>org</strong>ens das Licht irgendwie<br />

so hart, das mag ich gar nicht."<br />

"Das Licht ist dir zu hart? Hm! Ich fänd es aber besser, wenn du allmählich lernst, früher<br />

aufzustehen, denn hier gibt es wirklich viel zu tun. Von mir aus kannst du dich stundenweise dem<br />

M<strong>org</strong>en nähern."<br />

"Na gut, wenn dir soviel daran liegt. Aber du musst mich wecken. Das kann ziemlich unerfreulich<br />

werden, denn ich bin M<strong>org</strong>enmuffel."<br />

Diese Voraussage erwies sich als sehr treffend. Wenn Jens gegen zwölf bei Andreas erschien und<br />

ihm ein freundliches "Guten M<strong>org</strong>en" zurief, knurrte Andreas nur und warf ihm einen tödlichen Blick<br />

zu. Eine gute Stunde später war er dann auf den Beinen und verlangte Kaffee. Seine Einsatzfähigkeit<br />

auf dem Feld blieb weiterhin sehr eingeschränkt und Johanna weigerte sich, ihn wieder im Garten<br />

arbeiten zu lassen, nachdem ein Versuch fürchterlich in die Hose gegangen war.<br />

Johanna kam eines Abends zu Jens und erzählte ihm von einem Telefonat, das sie mit ihrem Vater<br />

geführt hatte.<br />

"Ich hab ihm von den Grossbauern-Pleiten erzählt und er hat gesagt, dass er das schon wüsste,<br />

denn die insolventen Bauern seien reihenweise Kunden seiner Firma. Und jetzt kommt das Beste: Er<br />

glaubt, dass er uns günstig Biogasanlagen von solchen Bauern bes<strong>org</strong>en kann. Wär das nichts?"<br />

"Das wäre ganz wunderbar. Je nach Preis wäre es am besten, gleich zwei Anlagen zu haben, falls<br />

mal eine ausfällt und vielleicht eine dritte für Ersatzteile."<br />

"Gut, dann ruf ich ihn gleich nochmal kurz an. Er wird sich bestimmt freuen, wenn er seine<br />

Beziehungen spielen lassen kann."<br />

Nur eine Woche nach der Ankunft von Andreas kamen Heide und Sonja. Jens hatte seinen<br />

Schreibtisch und die wichtigsten Bücher aus der Bibliothek geräumt und ein Bett aus Achims Zimmer<br />

nach unten getragen, damit Heide es bequem hatte.<br />

Stolz fuhr Jens mit seiner nagelneuen Familienkutsche zum Bahnhof und Johanna begleitete ihn<br />

auf ihrem eigenen Fahrrad. Die Familienkutsche war ein grosses Dreirad mit zwei bequemen<br />

Rücksitzen für die Passagiere. Eine Plane schützte vor eventuellem Regen und im Kofferraum war<br />

Platz für Gepäck.


Sonja und Heide kletterten vergnügt aus dem Zug und alle begrüßten sich herzlich. Sonja ließ sich<br />

juchzend von Jens durch die Luft wirbeln. Die Familienkutsche wurde gebührend bewundert und<br />

Gäste und Gepäck passten locker hinein. Am Anfang musste Jens in einen niedrigeren Gang<br />

schalten, um das Fahrzeug in Bewegung zu bringen, doch bald war die Kutsche in Schwung und sie<br />

kamen zügig voran. Sonja klatschte begeistert in die Hände und feuerte Jens zu Höchstleistungen an.<br />

Als Heide das Haus betrat, ging ein Strahlen über ihr Gesicht.<br />

"Wie schön ihr es hier belebt habt und dennoch ist alles so vertraut, als wäre ich gestern erst<br />

weggefahren."<br />

Engelsgleich flog sie durch die Räume und mit jedem Ah und Oh schien ein Jahr von ihr<br />

abzufallen.<br />

"Und dass ihr mir die Bibiothek frei gemacht habt, freut mich besonders. Das war immer mein<br />

Lieblingszimmer. Hach, und der alte Ofen steht immernoch da. Lasst uns gleich mal in den Garten<br />

gehen."<br />

Durch die Küchentür sprang Heide in den Garten, begrüsste die Hühner und beugte sich dann<br />

übers Kräuterbeet. Plötzlich standen Tränen in ihren Augen und sie musste mehrmals schlucken.<br />

"Dass ich das nochmal erleben darf. Sogar mein alter Thymian hat auf mich gewartet und<br />

Liebstöckel und Estragon stehen da wie mannshohe Wächter der Ewigkeit. Oh Kinder, ihr ahnt gar<br />

nicht, welche Freude ihr mir damit macht."<br />

Achim und Andreas begrüsste sie, als wäre es das Normalste der Welt, dass der Garten voller<br />

junger Männer war.<br />

Beim Bad in der Quelle gab es wieder Tränen der Freude, erzählte Johanna, als die drei Frauen<br />

zurück ins Haus kamen.<br />

Nach dem Aben<strong>des</strong>sen zog sich Heide mit einem Witzchen über ihr Alter zurück und Johanna<br />

brachte Sonja ins Bett. Sonja hätte am liebsten bei Heide geschlafen, weil sie Oma Heide so<br />

"superlieb" fand, aber sie ließ sich schließlich von Johanna überreden, in ihrem eigenen Gästezimmer<br />

zu schlafen.<br />

Heide besuchte am nächsten M<strong>org</strong>en Familie Wiedemann im Nachbarhaus, um die alte<br />

Freundschaft aufzufrischen. Sonja wich nicht von Johannas Seite und half im Garten. Mit ihren kleinen<br />

Fingern konnte sie erstaunlich präzise das Unkraut ausreissen, wenn sie auch keine grossen Flächen<br />

wegschaffte.<br />

Gegen Mittag stellte sich Heide in die Küche und kochte Mittagessen, als wäre es das<br />

Selbstverständlichste der Welt. Mit Johanna besprach sie vorher kurz, was für ein Essen gewünscht<br />

wurde und widmete sich dann summend dem Gemüseschnippeln.<br />

Beim Essen erzählte Heide, dass die Wiedemanns seit Wochen keinen Strom mehr hatten.<br />

"Was? Warum haben die das denn nicht gesagt? Und warum haben die keinen Strom mehr?",<br />

entfuhr es Jens ganz entsetzt.<br />

"Sie konnten die horrende Stromrechnung nicht mehr zahlen, darum wurde er abgestellt. Und<br />

bestimmt waren sie zu schüchtern oder stolz, um es euch zu erzählen."<br />

"Aber wir haben Strom übrig. Zumin<strong>des</strong>t in kleinen Mengen. Wir sollten eine Leitung rüberlegen<br />

und ihnen Strom liefern."<br />

"Wenn es nicht zu teuer wird, würden sich die Wiedemanns darüber bestimmt freuen."<br />

"Wieso denn teuer? Wir blasen ständig Strom ins Nirvana, weil wir gar nicht soviele Akkus haben,<br />

um den ganzen Strom zu speichern. Eine Grundvers<strong>org</strong>ung für ein paar Glühbirnen und Kühlschrank<br />

könnten wir eigentlich sogar kostenlos abgeben. Nur wenn sie Grossverbraucher benutzen, müssten<br />

wir über Geld reden."<br />

Das einzige Problem war die Beschaffung eines Stromkabels, das lang genug war, um bis zum<br />

Grundstück der Wiedemanns gezogen zu werden, doch der Schrotthändler legte sich für diesen guten<br />

Zweck schwer ins Zeug und bis zum Abend hatten sie ein ausreichen<strong>des</strong> Kabel und konnten es im<br />

letzten Tageslicht provisorisch verlegen. Bei den Wiedemanns brannten die Lampen wieder und sie<br />

wussten gar nicht, wie sie ihre überbordende Dankbarkeit ausdrücken sollten.<br />

Herr Wiedemann brachte seinen Nachbarn gleich am nächsten Tag einen Erdbeerkuchen mit<br />

guten Wünschen von seiner Frau. Der Kuchen war so lecker, dass sogar Andreas ihn lobte.


Kapitel 41<br />

"Muss das Blag am frühen M<strong>org</strong>en so einen Lärm machen?", polterte Andreas, als er gegen viertel<br />

nach elf in der Küche erschien und Johanna sah, die gerade Gemüse ins Haus trug.<br />

"Welches Blag und welcher Lärm?", fragte Johanna kühl.<br />

"Na die kleine Göre. Die hat vor ner Stunde einen Höllenlärm gemacht; irgendwie geträllert und<br />

gehopst, dass ich fast aus dem Bett gefallen bin."<br />

"Die Göre hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ein ganzes Beet gejätet und hatte eine fröhliche<br />

Frühstückspause wohlverdient. Wärst du besser mal aus dem Bett gefallen, dann könntest du jetzt<br />

auch schon bei der Arbeit sein."<br />

"Immer mit der Ruhe. Wir haben elf Uhr ausgemacht, nicht zehn Uhr. Und sie braucht doch nicht<br />

so einen Lärm zu machen, in aller Hergottsfrühe."<br />

"Jetzt reichts!"<br />

Johanna knallte die Gemüsekiste auf den Tisch und stampfte in den Garten.<br />

Jens, der das Ganze verfolgt hatte, eilte ihr nach, um die Situation zu klären.<br />

"Johanna, so hör doch. Ich kann ja gut verstehen, dass du wütend bist, aber..."<br />

"Aber... Ja, ich weiss doch. Er hat noch nie gearbeitet, er kennt das alles nicht, er hat einen<br />

anderen Tagesrhythmus. Aber muss er auch noch unverschämt fordernd sein?"<br />

"Nein, müsste er vielleicht nicht, aber er kennt es wohl nicht anders. Wo sollte er es gelernt<br />

haben?"<br />

"Nichtmal Sonja fordert so viel und gibt so wenig, obwohl sie noch so klein ist."<br />

"Sonja hat ja auch Eltern, die darauf achten, dass sie sich auch einbringt und nützlich macht.<br />

Vielleicht haben Andreas Eltern ihn von hinten bis vorne verwöhnt; das ist bei vielen Leuten der Fall."<br />

"Ach. Theoretisch sehe ich das ja auch alles ein und ich sage mir immer wieder, dass er ja keine<br />

Chance gehabt hat, aber manchmal hilft das alles nicht und ich könnte ihm ins Gesicht springen."<br />

"Weisst du was? Mir geht es oft ähnlich. Wenn wir auf dem Feld sind und er richtet mal wieder<br />

mehr Schaden an als er mithilft, dann bin ich immer ganz froh, wenn er sich vor lauter Erschöpfung in<br />

den Schatten legt und Däumchen dreht, obwohl ich ihn gleichzeitig dafür schlagen könnte. Manchmal<br />

würde ich ihn am liebsten gleich in die Ecke schicken, aber dann würde er es ja nie lernen."<br />

"Das stimmt; wenn man ihn nicht fordert, kann er es auch nicht lernen. Ich bewundere deine<br />

Geduld."<br />

"Na ja, ich hab ja auch noch Achim, der wirklich gut zupackt und wir grinsen uns auch öfters einen;<br />

das hilft."<br />

"Das mit dem Grinsen kann ich mir gut vorstellen. Wenn ichs recht überlege, dann hat uns am<br />

Anfang auch der ständig der Rücken wehgetan und wir haben nicht halb soviel geschafft wie jetzt.<br />

Und inzwischen ist ja auch noch die Hitze dazugekommen, an die wir uns nach und nach gewöhnen<br />

konnten."<br />

"Ich erinnere mich auch noch lebhaft an unsere Anfänge. Siehst du meine Liebe, man muss alles<br />

nur im rechten Verhältnis sehen, dann kann man leichter geduldig sein."<br />

"Ok, ich werds versuchen, mit ihm klarzukommen."<br />

Jens küsste seine Frau und kehrte zurück in die Küche. Andreas hatte inzwischen gefrühstückt und<br />

war bei der zweiten Tasse Kaffee angekommen.<br />

"Deine Frau kriegt wohl ihre Tage."<br />

"Ja, könnte sein. Komm, lass uns aufbrechen. Das Feld wartet schon dringend auf uns."<br />

"Immer langsam mit den jungen Pferden."<br />

Auf dem Feld waren wieder einige Kartoffelpflanzen ausgerissen. Vor einer Weile hatte es mit<br />

plattgetretem Weizen angefangen, dann vereinzelte fehlende Kartoffeln, Lücken im Möhrenbeet und<br />

vollständig abgerissene Mangoldblätter. Die ganze Familie rätselte, wer den Schaden wohl


verursachte. Ob es ein Reh oder ein Wildschwein war? Bisher waren sie dem Geheimnis noch nicht<br />

auf die Spur gekommen und für anstrengende Nachtwachen war der Schaden zu gering.<br />

Die verbliebenen Kartoffeln forderten immernoch genügend Aufmerksamkeit und wollten immer<br />

wieder gehäufelt und gejätet werden. Das Gleiche galt für die meisten anderen Feldfrüchte, nur dass<br />

diese nicht gehäufelt werden mussten.<br />

Weil es nur selten regnete, musste das Feld sogar manchmal bewässert werden, damit die<br />

Pflanzen nicht vertrockneten. Zu diesem Zweck hatten Jens und Achim ein Lastfahrrad gebaut, bei<br />

dem man zu zweit nebeneinander strampeln konnte, um besonders schwere Lasten zu befördern.<br />

Diesem Fahrrad hatten sie sogar zwei Autobatterien und mehrere Solarzellen auf einem Dachgestell<br />

gegönnt, um einen kleinen Hilfsmotor zu betreiben, falls die Last für kurze Strecke mal zu schwer für<br />

zwei Radler war. Das Solarsystem war noch nicht richtig ausgereift, aber es machte viel Spass damit<br />

zu fahren.<br />

Min<strong>des</strong>tens einmal am Tag fuhren sie seither mit einem Wassertank vom Bach bis zum Feld und<br />

nutzen die erhöhte Position <strong>des</strong> Tanks, um das Wasser mit Schläuchen in kleinen Portionen zu<br />

verteilen. Die Wassermenge, die sie bewältigen konnten, reichte zwar bei weitem nicht aus, um<br />

regelmäßigen Regen zu ersetzen, aber immerhin bewahrte es ihre Pflanzen vor dem Verdursten.<br />

Beim Wassertransport kam auch Andreas langsam in Bewegung, denn das Lastfahrrad gefiel ihm,<br />

vor allem im Zusammenhang mit dem Solarantrieb.<br />

Eines Abends kam Johanna den Feldarbeitern schon auf dem Heimweg entgegen und verkündete,<br />

dass ihr Vater drei spottbillige Biogasanlagen für sie ersteigert hatte. Zwei, die transportabel und<br />

funktionstüchtig waren und eine, bei der man die wichtigen Bauteile demontieren konnte. Die<br />

Anzahlung hatte Herr Trautmann spendiert, quasi als nachträgliches Hochzeitsgeschenk. Jetzt musste<br />

nur noch der schwierige Transport geklärt werden.<br />

Jens umarmte Johanna voller Freude und tanzte mit ihr durch die Straßen bis nach Hause.<br />

Andreas fuhr während<strong>des</strong>sen mit dem Lastfahrrad geschickt alleine bis in den Hof. Durch den Lärm<br />

aufgeschreckt, kam auch Achim aus der Werkstatt und stimmte in das Jubeln ein, als er erfuhr, was<br />

der Anlass zur Freude war.<br />

Nun musste noch ein Bauantrag gestellt und ein Fundament gebaut werden. Jens stellte den<br />

Antrag sofort, denn er befürchtete, dass es lange dauern würde, bis er die Genehmigung in den<br />

Händen hielt. Auch die Beschaffung von Zement und Stahl für den Beton war eine schwierige<br />

Angelenheit, doch bei einem Baustoffhändler etwas weiter weg wurden sie schließlich fündig. Sie<br />

brauchten mehrere Fuhren mit ihrem Lastfahrrad, um das ganze Material anzukarren.<br />

Als sie das erste Fundament gegossen hatten, ging Jens nach dem Aben<strong>des</strong>sen nochmal aufs<br />

Feld, um zu überprüfen, ob der Beton gut abtrocknete. Dem Beton ging es gut, aber als Jens seinen<br />

Blick über das Feld schweifen ließ, sah er einen Menschen bei den Kartoffeln, der sich schnell duckte.<br />

"He, hallo Sie!", rief Jens und rannte zu dem Menschen.<br />

Beim Näherkommen erkannte er, dass es eine Frau war, und sie ergriff die Flucht.<br />

Jens nahm die Beine in die Hand und eilte ihr hinterher. Die Frau war schnell, doch ein Beutel<br />

behinderte sie und schlug ihr immer wieder gegen die Beine. Das gab Jens den entscheidenden<br />

Vorteil, sodass er die Flüchtige schnell packen konnte.<br />

"Was soll das?", fragte er barsch.<br />

Die Frau sah ihn trotzig an und sagte: "Meine Kinder haben Hunger und ich habe keine Arbeit mehr<br />

und darum wollte ich ein paar Kartoffeln mitnehmen; nur wenige."<br />

"Jetzt sind die aber noch viel zu klein, um geerntet zu werden. In einigen Wochen sind sie dreimal<br />

so gross. Sie nehmen uns also dreimal soviel, wie Sie erhalten. Kommen Sie mit!"<br />

Erst wehrte sich die Frau gegen Jens festen Griff, doch dann kam sie widerwillig mit und reckte ihr<br />

Kinn demonstrativ nach vorne. Ihre hohlen Wangen zeigten deutlich, dass sie nicht gelogen hatte,<br />

sondern wirklich unter Hunger litt. Auch der Arm in Jens Hand fühlten sich knochig an.<br />

"Hier haben wir unser Reh, oder war es ein Wildschwein?", sagte Jens, als er die Frau in die<br />

Küche zerrte, wo alle sie erstaunt anstarrten.<br />

"Ich tue es auch nie wieder. Bitte tun sie mir nichts! Bitte lassen sie mich gehen! Meine Kinder<br />

haben Angst ohne mich."


"Jetzt setzen Sie sich erstmal hin, meine Frau findet bestimmt etwas zu essen für Sie."<br />

Johanna erwachte aus ihrer Erstarrung, lief in die Speisekammer und kam mit einem Teller voller<br />

Brot und Ziegenkäse zurück. In einer Schale brachte sie kurz darauf noch aufgewärmten Eintopf vom<br />

Aben<strong>des</strong>sen.<br />

Die Frau blickte verwirrt um sich und schien nicht zu verstehen, was Jens und seine Familie von ihr<br />

wollte. Jens musste sie förmlich auf die Bank schubsen, bis sie Platz nahm. Als sie endlich begriff,<br />

dass sie nicht geschlagen, sondern verköstigt werden wollte, biss sie erst scheu ins Brot, schaute sich<br />

nochmal um, ob jetzt die Schläge kämen und griff dann herzhaft zu. Heimlich ließ sie eine Scheibe<br />

Brot in ihrer Tasche verschwinden.<br />

"Für ihre Kinder geben wir Ihnen etwas mit. Essen Sie in Ruhe, damit Sie zu Kräften kommen und<br />

dann können wir reden."<br />

Johanna war inzwischen mit einem Korb wieder in der Speisekammer verschwunden und Heide<br />

folgte ihr. "Haben Sie zuhause Gelegenheit zu kochen?", rief Johanna kurz durch die Tür und als die<br />

Frau murmelnd zustimmte, widmete sich Johanna wieder der Nahrungszusammenstellung.<br />

Nach einer Weile kamen Heide und Johanna mit dem inzwischen vollgepackten Korb in die Küche<br />

und stellten ihn neben die Frau.<br />

"So, das dürfte jetzt für ein paar Tage reichen, es sei denn, Sie haben eine Fussballmannschaft<br />

zuhause. Wieviel Kinder haben Sie denn?", erklärte Johanna<br />

"Zwei; sechs und neun Jahre alt."<br />

"Ok, dann dürfte es locker reichen, Frau ... wie darf ich Sie nennen?"<br />

"Sutter ist mein Name, Frau Sutter."<br />

"Gut Frau Sutter. Hier sind noch Vitamin-Brausetabletten. Davon geben Sie den Kindern jedem<br />

eins am Tag, und selbst nehmen Sie zwei am Tag, um eventuelle Mangelzustände auszugleichen. Die<br />

Kinder werden es mögen, denn es schmeckt wie Orangensaft."<br />

Frau Sutter nickte, schien aber verwirrt und sagte: "Ja, aber... Das kann ich gar nicht alles zahlen."<br />

"Das brauchen Sie auch nicht zahlen. Nehmen Sie es einfach und danken Sie Gott."<br />

"Und natürlich reden wir jetzt noch ein ernstes Wörtchen miteinander.", mischte Jens sich ein, denn<br />

Frau Sutter hatte inzwischen fertig gegessen.<br />

Frau Sutter erblasste.<br />

"So schlimm wirds nicht. Aber Ihnen ist bestimmt klar, dass wir keine Plünderer auf unseren<br />

Feldern wollen. Ausserdem gewinnen Sie dabei viel weniger als Sie Schaden anrichten,<br />

beispielsweise, weil die Kartoffeln noch gar nicht gross genug sind zum Ernten."<br />

"Ja, ich werde es auch nie wieder tun."<br />

"Wie ich sehe, hat meine Frau Ihnen von unseren Frühkartoffeln eingepackt. Die haben schon die<br />

richtige Grösse und können gegessen werden, sehen Sie?"<br />

"Ja."<br />

"In Zukunft werden wir Feldplünderungen scharf bestrafen und damit meine ich keine läppische<br />

Anzeige bei irgendeinem Polizeirevier. Haben wir uns verstanden?"<br />

"Ja."<br />

"Erzählen Sie keinem, dass wir Ihnen Essen mitgegeben haben, sonst können wir uns nicht mehr<br />

retten. Aber Sie können in drei Tagen wiederkommen und bis dahin werden wir uns vielleicht etwas<br />

einfallen lassen, was Ihnen weiterhilft."<br />

Jens blickte fragend in die Runde und als er Johanna nicken sah, war er beruhigt.<br />

"Und jetzt?", fragte Frau Sutter.<br />

"Und jetzt gehen Sie nach Hause und machen Ihren Kindern etwas Leckeres zu essen. Und achten<br />

Sie darauf, dass sie langsam essen, wenn es lange nicht genug gab, damit der Magen die Nahrung<br />

verkraftet."<br />

"Wie kann ich Ihnen nur danken?", obwohl Frau Sutter sitzengeblieben war, wirkte es, als wäre sie<br />

vor Jens und Johanna auf die Knie gefallen.


"Drücken Sie die Daumen, dass unsere Ernte gut genug ist, um Ihnen helfen zu können."<br />

"Ja, das werde ich tun.", Frau Sutter verließ die Küche, nicht ohne sich noch unzählige Male zu<br />

bedanken.<br />

Jens und Johanna blickten einander tief in die Augen.<br />

Schließlich ergriff Johanna das Wort: "Wir brauchen Vorräte - viele Vorräte."


Kapitel 42<br />

"Wie denkst du dir das mit den Vorräten?", Jens und Johanna lagen inzwischen im Bett und<br />

nutzten die Ruhe für Zukunfstgedanken.<br />

"Bisher noch gar nicht so konkret. Aber ich glaube, ich will eine Armenspeisung eröffnen."<br />

"Das hab ich mir doch glatt gedacht. Wie könnte es auch anders sein, wenn du jemand Hungrigen<br />

zu Gesicht bekommst."<br />

"Heide hat mal eine Mühle in der Nähe erwähnt, bei der sie immer Getreide in grösseren Mengen<br />

gekauft hat. Für ihre Brotbäckerei, denn anscheinend ist sie eine begnadete Bäckerin. Dort soll es<br />

auch Bohnen, Nudeln und Pflanzenöl geben. Und das bräuchten wir dann säckeweise."<br />

"Wieviele Leute willst du außer uns durchfüttern?"<br />

"Auf min<strong>des</strong>tens zehn sollte man sich schon einstellen. Und noch Kinder dazu, also eher zwanzig<br />

Vollesser. Bei der Armenspeisung in der Stadt fand ich es immer ganz erstaunlich, wie billig man die<br />

Leute sattbekommt, wenn man sich auf einfachste Zutaten beschränkt."<br />

"Das hat mich beeindruckt. Darum habe ich in meinem Bistro ja auch eine Weile Billigküche<br />

angeboten, bis die Power-Riegel kamen."<br />

"Ich erinnere mich, davon hast du mal erzählt. Bestimmt kennst du dann auch noch die Rezepte<br />

von damals."<br />

"Na klar. Für uns sollten wir uns aber auch Vorräte anlegen, denn noch ist die Ernte nicht<br />

eingebracht und wer weiss, ob alles gut geht. Das wäre für mich auch eine Voraussetzung: Dass wir<br />

unsere Vorräte nicht anrühren, bis wir sie nicht durch eigene Ernten ersetzen können."<br />

"Ja, das macht Sinn, denn wir sollten nicht verhungern. Das nützt den Armen dann auch nichts."<br />

"Wir werden eine Menge Vorräte brauchen. Ich rechne das mal aus, aber schon Pi mal Daumen ist<br />

das ein ganzer grosser LKW voll. Mit unserem Lastfahrrad können wir nur einen Teil transportieren.<br />

Wie gut, dass das Wintergetreide schon geerntet ist. Sonst würden wir kaum so grosse Mengen<br />

kriegen."<br />

"Diese Vorräte will ich von meinem Geld bezahlen."<br />

"Warum? Ich dachte, das ist für Notfälle."<br />

"Jein. Ich hatte mir das für Notfälle gedacht, aber ich glaube, in Form von Naturalien haben wir<br />

mehr davon. Das Essen wird ja auch immer teurer und wer weiss, ob man im Winter noch was kaufen<br />

kann."<br />

"Das leuchtet ein."<br />

"Bei den ganzen technischen Investitionen wäre mein Geld auch nur ein Tropfen auf dem heissen<br />

Stein. Aber die Vorräte werde ich wohl vollständig bezahlen können. Und das stelle ich mir schön vor,<br />

ein ganzes Vorratslager zu haben, mit dem man die Leute sattkriegen kann."<br />

"Gut, das nehmen wir dann am besten gleich m<strong>org</strong>en in Angriff."<br />

Tatsächlich gab es die Mühle noch, von der Heide berichtet hatte und sie hatten dort auch das<br />

erhoffte Angebot, wie sie am Telefon mitteilten. Also schwangen sich Jens und Johanna nach dem<br />

M<strong>org</strong>enmelken aufs Lastrad und fuhren los. Heide und Achim würden sich um den Hof kümmern,<br />

solange sie weg waren.<br />

Jens genoss es, Seite an Seite mit Johanna durch den Hochsommertag zu fahren. Der idyllischen<br />

Landschaft, sah man nicht an, dass eine schlimme Hungersnot drohte und es jetzt schon nicht genug<br />

zu essen gab. Nur wenn man ganz genau hinschaute, konnte man erkennen, dass viele der Felder<br />

ungepflegt wirkten oder brach lagen.<br />

"Ich habe da noch mehr Pläne, aber ich fürchte, die werden dir nicht gefallen."<br />

"Was wird mir nicht gefallen?"<br />

"Dass ich will, dass du mit der Werkstatt umziehst, vielleicht in den Stall."<br />

"Dafür musst du mir in der Tat einen sehr guten Grund liefern. Denn die Werkstatt finde ich<br />

momentan sehr gut, so wie sie ist."


"Die Armenspeisung können wir zur Zeit zwar einfach auf dem Hof machen, aber wenn es regnet<br />

oder Winter wird, brauchen wir einen Raum dafür. Dieser Raum sollte am besten direkt von der Straße<br />

aus erreichbar sind, dass die Leute uns nicht immerzu auf dem Hof rumlaufen. Also habe ich an das<br />

Gebäude mit der Werkstatt gedacht, weil <strong>des</strong>sen Rückwand zur Straße zeigt."<br />

"Da sind aber noch zwei Räume frei. Warum dann die Werkstatt?"<br />

"Weil ich eben noch mehr Pläne habe. Zum Geldverdienen könnten wir einen Hofladen aufmachen.<br />

Jetzt schon hätten wir Ziegenkäse zu verkaufen und Heide backt doch dieses legendäre Brot, das<br />

könnte ich bestimmt lernen. Das wäre dann noch ein Raum. Zum Kochen wäre eine extra Küche<br />

neben dem Speiseraum gut, denn sonst steht man sich in der Familienküche nur im Weg rum und<br />

muss immer alles über den Hof tragen."<br />

"Das sind in der Tat gute Gründe. Und auch eine Menge Arbeit. Warum nimmst du nicht die<br />

Scheune für dein Ladenzentrum? Die zeigt doch auch zur Straße und ist sogar noch weiter vorne<br />

Richtung Dorf."<br />

"An die Scheune hab ich in diesem Zusammenhang ja noch gar nicht gedacht. Brauchen wir die<br />

nicht für unsere Ernte?"<br />

"Für die Ernte reicht wohl ein Teil der Scheune. Und wir haben ja immernoch den Stall für die<br />

Vorräte. Die Scheune ist sogar teilweise unterkellert. Da könntest du die Vorräte für die<br />

Armenspeisung kühl lagern."<br />

"Stimmt ja, da ist ja noch ein Keller. Komisch, bei dem Gedanken, die Scheune umzubauen,<br />

erscheinen mir meine Pläne viel größer, fast schon utopisch."<br />

"Na ja, ne Menge Arbeit wird das auf alle Fälle. Wir werden auch Mauern ziehen müssen und eine<br />

Zwischendecke, weil die Scheune ja viel zu hoch ist. Vielleicht sollten wir unsere Gäste erstmal in der<br />

Garage neben der Werkstatt speisen lassen, so wie von dir zuerst geplant, aber mit Eingang in den<br />

Hof, damit wir die Wand nicht extra durchbrechen müssen."<br />

"Für den Anfang ist das sinnvoll, aber auf Dauer ist die Scheune wohl wirklich die elegantere<br />

Lösung. Dann kriegen wir richtig grosse Räume. Hach, ein eigener kleiner Laden. Da habe ich wirklich<br />

Lust drauf."<br />

"Und wenn die Scheune dann soweit ist, eröffne ich in der Garage einen Laden für technische<br />

Geräte. Was hältst du davon?"<br />

"Das ist eine tolle Idee. Dann kanst du solche Lasträder verkaufen oder Familienkutschen."<br />

"Ja, und wer weiss, was mir noch alles einfällt. Solange ich Material bekomme, baue ich dir alles,<br />

was man gebrauchen kann."<br />

Bei der Mühle angekommen, war das Erste, was sie zu hören bekamen: "Welch nützliches<br />

Fahrrad? Wo kann man die denn kaufen?"<br />

"Bei mir könnten Sie eins bestellen. Wir sind aber eigentlich gekommen, um bei Ihnen Getreide zu<br />

kaufen."<br />

Die Verhandlungen zum Getreidekauf zogen sich geraume Zeit hin, denn als der Müller erfuhr,<br />

dass sie sich im grossen Stil eindecken wollten, um eine Armenspeisung zu eröffnen, lud er sie zu<br />

einem Glas Wein in sein Büro ein und half ihnen bei der Einkaufsplanung. Am Ende hatten sie eine<br />

stattliche Liste zusammengestellt, die die meisten Grundzutaten für eine einfache Ernährung<br />

beinhaltete.<br />

Da eine Lieferung per LKW Wochen oder gar Monate dauern würde, verabredeten sie, dass Jens<br />

und Johanna die Vorräte in Etappen mit ihrem Lastrad transportieren würden. Immer so, dass sie pro<br />

Fuhre eine abgerundete Mischung mitnehmen konnten.<br />

Ein Lastrad würde der Müller in Zahlung nehmen und bei Gefallen eventuell noch mehr bestellen.<br />

Hochzufrieden fuhren die Möchtegern-Armenspeisungsstifter schließlich nach Hause.<br />

"Siehst du, die Leute wollen deine Lasträder kaufen."<br />

"Stimmt. Das hat wirklich gut gepasst. Ich würde ja auch eines kaufen wollen, wenn ich es nicht<br />

selbst bauen könnte."<br />

"Mir fällt grade ein: Wir haben zuwenig Zwiebeln angebaut, denn die gabs nicht beim Müller, aber<br />

wir werden unendlich viele brauchen."


"Ups. Dafür müssen wir dann wohl auch noch Bezugsquellen auftun. Und nächstes Jahr bauen wir<br />

mehr an."<br />

Die nächsten Tagen vergingen voller Pläneschmieden und Vorbereitungen für die Biogasanlage.<br />

Der Bau machte Andreas mehr Freude als die Feldarbeit, sodass er zu einer brauchbaren Hilfe wurde.<br />

Auch an der Konstruktion <strong>des</strong> Lastfahrrads fand Andreas Gefallen. Jens atmete auf.<br />

"Ihr seid ganz schön mutig. So kühn war ich seinerzeit nicht.", sagte Heide bei einem der<br />

Gespräche über die Armenspeisung.<br />

"Mir ist manchmal auch Angst und Bange dabei, aber ich könnte nicht anders. Wir können die<br />

Armen doch nicht verhungern lassen.", gestand Johanna.<br />

"Das sehe ich ein. Früher gab es ja auch gar nicht soviele Arme, die Hunger litten. Darum stand ich<br />

nie vor der Entscheidung, um ich eine Armenspeisung eröffnen wollte. Aber übernehmt euch nicht."<br />

"Ja, ich werds versuchen."<br />

Pünktlich am dritten Tag zum Mittagessen erschien Frau Sutter auf dem Hof, begleitet von ihren<br />

beiden Kindern. Damit das Essen für alle reichte, schnitt Heide schnell noch ein paar Scheiben Brot<br />

auf und machte eine einfache Quarkspeise zum Nachtisch.<br />

Nach dem Essen gingen die Kinder mit Sonja zum Ballspielen auf dem Hof und die Erwachsenen<br />

besprachen die Zukunft. Frau Sutter war mehr als überrascht, als sie von der geplanten<br />

Armenspeisung erfuhr.<br />

"Sind Sie etwa eine Sekte?"<br />

"Sekte? Wie kommen Sie denn auf die Idee?", Johanna war richtig erschrocken, ob dieses<br />

Verdachtes.<br />

"Na ja, wer bietet Armen denn sonst freiwillig etwas an? Und Priester sind Sie nicht, das sieht<br />

man."<br />

"Mit irgendwelchen Sekten haben wir gar nichts zu tun. Aber da, wo wir früher wohnten, haben wir<br />

lange bei einer Armenspeisung eines ökumenischen Gemeindezentrums mitgemacht."<br />

"Also doch Kirche, dann bin ich ja beruhigt."<br />

Johanna beließ Frau Sutter in ihrer Meinung, denn so falsch war es ja schließlich nicht. Offenbar<br />

fühlte sich Frau Sutter nicht wohl bei dem Gedanken, einfach Essen ohne Gegenleistung<br />

anzunehmen und bot an, beim Kochen zu helfen, wenn sie in den Ferien die Kinder mitbringen durfte.<br />

Dieses Angebot wurde gerne angenommen und so war Frau Sutter plötzlich aktiv in die weitere<br />

Planung einbezogen.<br />

Sie kannte auch mehrere Menschen, denen es, wie ihr, am Allernötigsten fehlte, davon zwei<br />

Männer, die Erfahrung in der Landwirtschaft hatten und bestimmt bereit waren, sich ihr Essen auf dem<br />

Feld zu verdienen. Frau Sutter durfte den Leuten jetzt ankündigen, dass es ab nächstem Montag<br />

regelmässig Mittagessen gab. Mit dem frisch aufgefüllten Korb machte sie sich auf den Heimweg und<br />

ihre Kinder sprangen fröhlich um sie herum. Sonja war ganz entzückt darüber, Kinder zum Spielen<br />

kennengelernt zu haben.<br />

"Sagt mal Kinder,", begann Heide am Abend. "Wo ihr doch jetzt so ein offenes Haus habt: was<br />

würdet ihr denn davon halten, wenn ich hierbleiben würde? Mir gefällt es hier viel besser als in der<br />

unfreundlichen Grossstadt."<br />

"Das wäre einfach wunderbar. Ich habe mich schon die ganze Zeit vor deiner Abreise gegraust.",<br />

Johanna strahlte übers ganze Gesicht.<br />

"Mir würde das auch gefallen.", meldete sich Jens.<br />

"Und ich wäre euch keine zu grosse Last?"<br />

"Was heisst hier Last? Ohne dich und deine Erfahrung sind wir hier doch fast hilflos."<br />

"Meine Brotback-Ideen funktionieren auch viel besser, wenn du hier bleibst."<br />

"Ok, dann werde ich mal meine Angelegenheiten in der Stadt regeln. Ich hoffe, das geht alles per<br />

Post."


Kapitel 43<br />

"Ich will auch hierbleiben.", verkündete Sonja am nächsten M<strong>org</strong>en, als sie erfuhr, dass Heide<br />

bleiben wollte.<br />

"Aber das wird unseren Eltern nicht recht sein.", wandte Johanna ein.<br />

"Das ist mir egal. Hier gefällt es mir viel besser als in der blöden Stadt."<br />

"Du müsstest hier aber auch in die Schule gehen und die meisten Kinder sprechen hier Dialekt."<br />

"Die Kinder von gestern waren nett und zur Not gehe ich auch hier in die Schule, dann lerne ich<br />

noch mehr Kinder kennen."<br />

"Ich werd mal zuhause anrufen, aber mach dir nicht zuviele Hoffnungen."<br />

"Und jetzt basteln wir wieder mit dem Drip-Dingens?"<br />

"Ja, gerne, wir müssen ja auch allmählich fertig werden."<br />

Von Jens fast unbemerkt, hatten Johanna und Sonja im Gemüsegarten eine MicroDrip-Anlage<br />

installiert, die auf den Boden neben jeder Pflanze Wasser tröpfelte. Dadurch wurde das Giessen sehr<br />

bequem, denn es beschränkte sich auf das Anschalten. Ausserdem konnte man Wasser sparen und<br />

verhindern, dass das Unkraut zuviel Feuchtigkeit bekam. Die Installation machte aber viel Arbeit und<br />

keiner war dabei so schnell wie Sonja, die sich nicht so tief bücken musste wie die Erwachsenen und<br />

reichlich Erfahrung mit dem Zusammenstecken von Legobausteinen hatte, was ihr jetzt zugute kam.<br />

Für das Feld wäre so eine Tröpfelanlage auch eine feine Sache, dachte sich Jens, wenn er die<br />

Fortschritte bewunderte, aber daran war zeitlich gar nicht zu denken, obwohl es viel Zeit sparen<br />

würde, wenn sie es hätten. Die Männer waren einen Grossteil der Tage mit den Vorbereitungen für die<br />

Biogasanlagen beschäftigt und Jens war zum ersten Mal froh über Andreas Anwesenheit, auch wenn<br />

er die Arbeiter m<strong>org</strong>ens nach wie vor alleine ließ.<br />

Ausser den Bauarbeiten war auch die Organisation <strong>des</strong> Transportes sehr aufwendig. Herr<br />

Trautmann hatte zwar die Reise per Schiff bis zum Rheinufer angeleiert, aber für die kleine Strecke<br />

von dort bis zum Zelt musste ein Transportunternehmen aufgetrieben werden. Viele Firmen hätten<br />

gerne so einen grossen Auftrag ausgeführt, aber allen fehlte der Treibstoff. Die meisten Spediteure,<br />

die Jens anrief, waren gar nicht erreichbar und mehrere andere berichteten davon, dass sie gerade<br />

ihre Firmen abwickeln würden.<br />

Schließlich fand Jens einen Transportunternehmer, der es wenigstens versuchen wollte. Das<br />

Versprechen, dass er später vom Biogas-Öl etwas abhaben konnte, beflügelte seine Bemühungen.<br />

Johanna bereitete nebenher die kommende Armenspeisung vor. In der Garage baute sie mehrere<br />

Bierbank-Garnituren auf, damit die Gäste Platz nehmen konnten. Dann brütete sie Abende lang über<br />

Rezepten und den dafür benötigten Zutaten.<br />

"Unsere Felder sind zu klein.", sagte sie, als Jens ihr einmal über die Schulter schaute.<br />

"Ja, das sind sie. Für uns Hofbewohner würde es reichen, aber bei der Armenspeisung hört die<br />

Selbstvers<strong>org</strong>ung auf."<br />

"Solange wir noch Geld haben und man Nahrungsmittel kaufen kann, geht es ja. Aber für danach<br />

sehe ich schwarz und ein Danach gibt es bestimmt."<br />

"Wenn die deutschlandweite Ernte schlecht wird, was man wohl befürchten muss, dann gibt es<br />

bestimmt ein fürchterliches Danach. Aber jetzt sollten wir uns um die aktuellen Probleme kümmern,<br />

denn wenn wir die nicht in den Griff bekommen, dann wird uns unsere eigene Zukunft gar nicht<br />

gefallen."<br />

"Du hast recht. Wir haben schon mit unserer eigenen Ernte genug zu tun. Vielleicht finde ich auch<br />

noch Bauern, die uns Zwiebeln und Gemüse verkaufen."<br />

"Das wäre gut. Ich persönlich wäre vor allem froh, wenn wir die Biogasanlage endlich mal dahätten<br />

und in Betrieb nehmen könnten. Wenn wir dann Treibstoff liefern können, haben wir viele Trümpfe in<br />

der Hand. Gegen Sprit bekommt man bestimmt auch viele Zwiebeln."<br />

"Genau! Drücken wir alle Daumen, dass es gut klappt. Ich wollte sowieso mal meine Eltern<br />

anrufen, dann frag ich auch mal, wie es mit dem Transport aussieht."


Johanna verschwand im Schlafzimmer, denn Telefonate führte sie gerne ungestört. Als sie wieder<br />

zurück in die Küche kam, war sie ganz verwirrt.<br />

"Stell dir vor, meine Eltern haben erlaubt, das Sonja hierbleibt. Ich fasse es nicht. Nicht mal richtig<br />

überreden musste ich sie."<br />

"Wie kommt denn das? Klingt eigentlich überhaupt nicht nach deinen Eltern."<br />

"Ich glaube, in der Stadt steht es inzwischen schlimmer, als wir ahnen. Vor lauter Unkrautzupfen<br />

kriegt man ja auch kaum was mit. Mein Vater hat von gehäuften Einbrüchen in der Nachbarschaft<br />

berichtet, und dass sie jetzt alle Fenster im Erdgeschoss vergittert hätten."<br />

"Klingt ja gar nicht gut."<br />

"Find ich auch. Meine Mutter erwähnte zunehmende Gewalt in den Schulen. Das ist wohl ihr<br />

Hauptgrund, Sonja zu erlauben, hierzubleiben. Aber sie hat geweint, und wie. Mein Vater wird sie jetzt<br />

wohl wochenlang trösten müssen."<br />

"Die Arme. Das ist bestimmt ein großes Opfer, seine kleine Tochter ziehen zu lassen, damit sie es<br />

besser hat."<br />

Sonja freute sich hingegen unbändig über die Erlaubnis. Dass sie ihre Eltern vielleicht mal<br />

vermissen könnte, kam ihr gar nicht in den Sinn.<br />

Am Sonntag ging Johanna mit einigen Flugblättern in die Kirche der nahen Kleinstadt, denn sie<br />

dachte sich, dass der hiesige Pfarrer bestimmt am besten wusste, wer bedürftig war. Jens hatte sie<br />

noch gar nicht zurückerwartet, als sie hechelnd auf den Hof fuhr und in die Küche stürzte.<br />

"Was ist denn mit dir los?", fragte Jens bes<strong>org</strong>t.<br />

"Ich muss kochen. Ganz schnell.", keuchte sie, als sie wieder zu Atem gekommen war.<br />

"Dann mach am besten Spagetthi, das geht am Schnellsten. Ich helfe dir, wenn du mir verrätst,<br />

was passiert ist."<br />

"Bei meinen Überlegungen hatte ich völlig übersehen, dass die Leute ja auch am Sonntag hungrig<br />

sind und in schlechten Zeiten Trost in der Kirche suchen. Als ich die Armenspeisung bekannt gab,<br />

wurde sofort klar, dass manche schon heute eine Mahlzeit brauchen. Und dann bin ich eben<br />

losgeflitzt, um vor ihnen hier zu sein. Sie kommen gerade anmarschiert. Ein gutes Dutzend Leute."<br />

"Ein dutzend Portionen kriegen wir lässig hin. Lass mich einfach mal machen, denn damit kenn ich<br />

mich aus. Du kannst ja schonmal letzte Vorbereitungen im Speisesaal treffen."<br />

Johanna kicherte beim Wort "Speisesaal", gab Jens einen Kuss und eilte nach draussen,<br />

immernoch hechelnd. Als die Gäste eintrudelten, eine alte Dame wurde im Rollstuhl geschoben, War<br />

das Essen gerade fertig und Jens trug die Wanne mit den Spaghettis nach drüben.<br />

Die Gäste stellten eine bunte Altersmischung dar und kamen anscheinend aus allen<br />

Bildungsschichten, wie man an der Sprechweise erkennen konnte, aber allen gemeinsam waren die<br />

hohlen Wangen und die schlotternden Kleider. Sie waren voll <strong>des</strong> Lobes für die Idee mit der<br />

Armenspeisung.<br />

"Kann ich Ihnen irgendwie helfen, denn ich will gar nicht ohne Gegenleistung verköstigt werden?",<br />

fragte einer Anwesenden.<br />

"Eine helfende Hand können wir hier immer gebrauchen, denn wir kommen kaum hinterher. Haben<br />

Sie Erfahrung in der Landwirtschaft?", antwortete Jens, der sich zu den Speisenden gesetzt hatte.<br />

"Früher hatte ich einen Garten.", die Bitterkeit in der Stimme <strong>des</strong> Mannes war nicht zu überhören.<br />

Bestimmt verbarg sich hinter dem Verlust <strong>des</strong> Gartens eine tragische Geschichte, aber Jens<br />

beschloss, nicht weiter darauf einzugehen, sondern in die Zukunft zu blicken.<br />

"Wunderbar, etwas Gartenerfahrung hilft schon enorm."<br />

"Ich könnte auch helfen."<br />

"Und ich auch."<br />

"Hoppla, da komme ich ja kaum hinterher. Nach dem Essen können alle freiwilligen Helfer ja<br />

hierbleiben und dann stellen wir in Ruhe eine Liste zusammen."<br />

Jens ging ins Wohnzimmer, um sich etwas zum Schreiben zu bes<strong>org</strong>en und überlegte, wie er die<br />

Freiwilligen optimal einsetzen konnte. Am besten fragte er sie erstmal, was sie konnten. Er erwartete,


dass vielleicht vier bis fünf Helfer zusammenkommen würden, doch nach der Mahlzeit verließ<br />

niemand den Speisesaal. Alle sahen Jens erwartungsvoll an.<br />

"Sie wollen alle freiwillig mithelfen?"<br />

Ein deutliches "Ja" kam von allen Seiten, selbst die anwesenden Kinder nicken.<br />

"Ok, dann notiere ich mir erstmal ihre Fähigkeiten und m<strong>org</strong>en sehen wir dann weiter. Die Kinder<br />

dürfen jetzt auf dem Hof beim Ballspielen helfen."<br />

Einer nach dem anderen nannte Jens seinen Namen und vorhandene Talente. Am Schluss blieben<br />

nur noch ein alter Mann und seine Frau im Rollstuhl übrig.<br />

"Ich kann mich zwar nicht mehr bücken, aber ich könnte die überprüfen, ob die jungen Leute alles<br />

richtig machen, denn Erfahrung kann ich Ihnen anbieten. Als ich jung war, habe ich selbst noch mit<br />

Vierfelderwirtschaft gearbeitet, bevor alles so modern wurde."<br />

"Das ist phantastisch. Ich selbst bin nämlich noch ein totaler Neuling in der Landwirtschaft und<br />

muss immer fragen, wenn ich etwas Neues vorhabe, oder ich lese es in Büchern, aber das ist nicht<br />

dasselbe wie praktische Erfahrung."<br />

Der alte Mann nickte wissend, doch seiner Frau lief eine Träne über die Wange.<br />

"Leider bin ich zu gar nichts mehr nütze. Nur Deckchen kann ich noch häkeln, aber die kann keiner<br />

gebrauchen."<br />

"Häkeldecken brauchen wir hier auch nicht - aber ich bräuchte dringend ein luftiges Hemd für die<br />

Sommerarbeit. Können Sie auch Hemden häkeln?"<br />

"Oh ja, natürlich kann ich Hemden häkeln, das Prinzip bleibt ja das Gleiche. Gerne häkel ich Ihnen<br />

eines, dafür wird mein Garn auch noch reichen."<br />

"Falls ihr Garn knapp wird, werden wir mal sehen, ob wir Ihnen Nachschub bes<strong>org</strong>en können.<br />

Denn vielleicht kann mein Partner auch ein Hemd gebrauchen."<br />

Die Frau nickte, konnte aber nichts mehr sagen, denn plötzlich schossen ihr noch mehr Tränen aus<br />

den Augen. Mit Mühe und Not brachte sie ein "Danke" heraus, dann schob ihr Mann sie langsam aus<br />

dem Speisesaal. Draussen übernahm einer der jungen Männer die Aufgabe, den Rollstuhl zu<br />

schieben.<br />

Am nächsten Tag kamen zwanzig Gäste und ebensoviele Kinder. Das Essen reichte mit Ach und<br />

Krach, obwohl Johanna mit Frau Sutters Hilfe einen riesigen Topf voll Linsensuppe gekocht hatte.<br />

Jens hatte mit der Freiwilligen-Organisation alle Hände voll zu tun.<br />

Obwohl Jens sich noch nicht richtig im Klaren war, wie er die Helfer beschäftigen sollte, sammelten<br />

sich die meisten nach dem Essen auf dem Feld und s<strong>org</strong>ten mit allen verfügbaren Werkzeugen für<br />

Ordnung in den Pflanzenreihen. Herr Hirzler, der erfahrene Vierfelder-Landwirt rief Anweisungen über<br />

das Feld, die sofort befolgt wurden, als wäre der zittrige Greis ein Vier-Sterne-General. Seine Frau<br />

sass in der Nähe im Schatten und häkelte mit superdünem Garn an einem Hemd für Jens.<br />

Auf der Biogas-Baustelle halfen mehrere handwerklich geschickte Männer, was die Fertigstellung<br />

der Vorbereitungen in erreichbare Nähe für den Abend rückte. Es wurde auch höchste Zeit, denn die<br />

Biogasanlagen sollten in zwei Tagen eintreffen. Als Jens sah, dass die Männer auch ohne ihn gut<br />

klarkamen, ging er zum Hof, um dort nach dem Rechten zu sehen.<br />

Oben auf dem Hof baute Achim mithilfe von drei Freiwilligen an einer Schaukel für die zahlreichen<br />

Kinder, die gerade gebannt Hei<strong>des</strong> Erzählung lauschten. Jens fand das Geschehen fast zu idyllisch,<br />

um wahr zu sein und suchte nach Johanna.<br />

Johanna saß im Speisesaal und blickte verloren ins Leere. Eigentlich hätte sie doch voller Freude<br />

sein müssen über den gelungenen Anfang der Armenspeisung.<br />

"Na, meine Liebste, ganz erschöpft vom grossen Erfolg?", neckte Jens seine Frau.<br />

"Du bist süss. Nein, ich mach mir gerade Gedanken über unsere Möglichkeiten. Die vierzig Leute<br />

haben uns heute schon fast an die Grenze gebracht und ob wir soviele auf Dauer schaffen, ist mir ein<br />

Rätsel. Da draussen warten aber Millionen von Hungrigen. Einerseits bin ich froh, dass die nicht alle<br />

zu Fuss herkommen können, aber wer sättigt diese Leute?"<br />

"Gute Frage, aber mal wieder typisch für dich. Bürde dir doch nicht die Last der ganzen Welt auf<br />

die Schultern. Du machst schon mehr als die meisten Anderen. Und es ist wie ein kleines Wunder mit


unseren Gästen. Das Feld sah noch nie so ordentlich aus, das Fundament ist fast fertig und Achim<br />

baut eine Schaukel für die Kinder. Komm einfach mal mit, ich wollte sowieso gleich wieder zum Feld<br />

zurück."<br />

Jens half seiner betrübten Frau auf die Beine und führte sie durch den Hof, an den glücklichen<br />

Kindern vorbei zum Feld. Dort wies er sie auf all die Fortschritte hin, die der Acker in kurzer Zeit<br />

gemacht hatte. Nach und nach besserte sich Johannas Laune wieder und man konnte ihr einen<br />

gewissen Stolz ansehen.<br />

Herr Hirzler kam zu Jens und sagte, dass das ganze Feld dringend Wasser benötigte. Dabei hatten<br />

sie es m<strong>org</strong>ens noch gegossen, aber Jens erkannte, dass Herr Hirzler Recht hatte. Daher eilte Jens<br />

mit Johanna zum Hof zurück und transportierte eine Fuhre Wasser zum Feld. Sicherheitshalber<br />

wiederholte er die Prozedur anschließend, aber Herr Hirzler war der Meinung, dass es trotzdem noch<br />

zu wenig war. Erst drei Runden später, die Jens mit wechselnden Helfern unternahm, war Herr Hirzler<br />

mit der Bewässerung zufrieden.


Kapitel 44<br />

Das Leben auf dem Hof veränderte sich von einem Tag auf den anderen völlig. Ab mittags wuselte<br />

es überall, dass es eine Freude war, aber auch ein wenig unheimlich.<br />

Zum grossen Transport der Biogasanlage war Jens mit seinem normalen Fahrrad gefahren, denn<br />

er wollte die Verladung der Teile überwachen. Anschließend warf er sein Fahrrad auf die Ladefläche<br />

und fuhr im kostspielig angeheuerten LKW mit. Die Kosten für die Biogasanlagen hatten sein<br />

Vermögen deutlich schrumpfen lassen, wobei der gesamte Transport teurer als die eigentlichen<br />

Anlagen gewesen waren. Mit etwas Glück konnten sie mit dem Biogas-Öl aber echte Gewinne<br />

machen, was man von ihren landwirtschaftlichen Bemühungen kaum erwarten konnte.<br />

Auf dem Feld wartete schon eine ganze Mannschaft von technisch begabten Helfern, die die LKWs<br />

in Win<strong>des</strong>eile ausluden. Anschließend begann der mühsame Aufbau, der mit den vielen Freiwilligen<br />

aber nun wohl schneller vonstatten gehen würde, als vorher möglich gewesen wäre.<br />

Nach einer Woche intensiver Montage konnte die erste Biogasanlage in Betrieb genommen<br />

werden. Die Pflanzenreste, die schon eine Weile am Rand <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> auf ihren Einsatz warteten,<br />

wanderten in den Häcksler und fielen in den grossen Fermenter-Behälter, der wie ein Silo aussah.<br />

Herr Wiedemann hatte ihnen Mist von seinen Kühen zugesagt und so fuhren Jens und ein Helfer<br />

mit dem Lastrad zum Stall der Wiedemanns. Der Mist wurde in eine abwaschbare Wanne geschaufelt,<br />

die gerade eben in das Lastrad passte.<br />

"Das ist durchaus eine angenehme Vorstellung: ich geb euch den Mist und ihr gebt mir dafür<br />

Treibstoff. Nicht schlecht."<br />

"Finde ich auch. Hoffentlich klappt alles wie gewünscht."<br />

"Ich drücke die Daumen. Übrigens habe ich gehört, dass jetzt der alte Hirzler bei euch arbeitet."<br />

"Ja stimmt, er beaufsichtigt unseren Freiwilligen-Trupp."<br />

"Da habt ihr eine gute Wahl getroffen. Der Hirzler war schon erfahren, als ich noch ein junger<br />

Spund war. Erstaunlich, dass der überhaupt noch auf den Beinen ist."<br />

"Er ist noch ganz munter und die Herausforderung scheint ihm gut zu tun."<br />

"Über mangelnde Herausforderungen brauche ich nicht zu klagen. Wäre wirklich schön, wenn das<br />

mit dem Sprit klappt, denn gerade in der Erntezeit könnte ich meinen Traktor gut gebrauchen, um das<br />

wenige zu retten, das heuer gewachsen ist."<br />

"Sie sind außer uns der Erste, der Biogas-Öl bekommt.", versprach Jens und verabschiedete sich.<br />

Nachdem der Mist auch in Biogasanlage gefüllt war, betrachtete sich Jens das Wunderwerk der<br />

Technik noch einmal ausführlich, um dem feierlichen Augenblick gerecht zu werden. Das durch<br />

Gärung entstehende Gas wurde aus dem Fermenter durch ein Rohr in den Gastank geleitet, der wie<br />

ein dicker Turm in die Landschaft ragte. Unterwegs wurde das Gas gereinigt, denn unbehandelt stank<br />

es wie faule Eier.<br />

Das Gas im Tank, das vorwiegend aus Methan bestand, konnte man wie Erdgas benutzen; die<br />

Heizung für den Fermenter nutzte diese Möglichkeit. Man konnte auch einen Strom-Generator mit<br />

dem Gas betreiben, wenn man wollte. Diese Möglichkeit wollte Jens nutzen, wenn der Strombedarf<br />

mal höher als ihre Möglichkeiten war, was angesichts der Solarzellen zusätzlich zum Wasserrad<br />

jedoch eher selten vorkommen würde.<br />

Der Clou dieser speziellen Biogas-Anlagen war jedoch die Maschine, die das Gas in Öl<br />

verwandelte, das man in Dieselmotoren verwenden konnte. Diese Möglichkeit sollte Jens und die<br />

Bauern der näheren Umgebung von der Treibstoffknappheit für ihre Landmaschinen befreien. Vor<br />

zehn Jahren waren solche Maschinen noch hausgross gewesen, doch die moderneren Geräte waren<br />

nur noch so gross wie drei Kühlschränke.<br />

In den nächsten Tagen war Jens mehr als froh über die vielen Nachmittagshelfer, denn die zweite<br />

Biogas-Anlage musste noch fertig installiert und die erste vollständig gefüllt werden.<br />

Mit dem ersten produzierten Öl machten alle gemeinsam eine Trecker-Rundfahrt durch das Dorf<br />

und luden alle Bewohner zu einem Fest ein. Die Frauen hatten gemeinsam für ein üppiges Buffet<br />

ges<strong>org</strong>t und die Bierbänke auf den Hof gestellt, den sie festlich dekorierten.


Die Dorfbewohner kamen in grosser Anzahl, denn alle waren neugierig auf die Entwicklungen auf<br />

Jens Hof. Die meisten hatten auch von der Armenspeisung gehört und betrachteten die jungen Neu-<br />

Bauern daher mit Anerkennung. Viele der Helfer waren mit den Dorfbewohnern bekannt, sodass sich<br />

bald alle in gutgelaunten Gruppen mischten.<br />

Die Bauern waren jedoch am meisten daran interessiert, ob sie auch, wie die Wiedemanns Mist<br />

und Pflanzenabfälle liefern und Treibstoff beziehen konnten. Vor Jahren hatte es eine ähnliche<br />

Möglichkeit schon mal gegeben, aber ohne Umwandlung <strong>des</strong> Gases in Öl, doch der Grossbauer, der<br />

die Anlage betrieben hatte, war schon vor längerer zeit pleite gegangen. Die Bauern hatten die<br />

Möglichkeit sehr vermisst, ihre Abfälle zu Geld machen zu können und waren jetzt umso froher, in<br />

Zukunft sogar Öl für ihren Mist zu bekommen, das Kostbarste, was die Welt zu bieten hatte.<br />

Wieder sah sich Jens mit einer umfangreichen Liste konfrontiert, die es zu <strong>org</strong>anisieren galt.<br />

Unversehens war er zu einem Manager geworden, was er nie v<strong>org</strong>ehabt hatte. Aber es diente<br />

schließlich einem guten Zweck und die Biogasanlagen waren so gross, dass sie sich für ihren kleinen<br />

Hof nie gelohnt hätten. Daher war es nur natürlich, dass er sich mit den anderen Bauern<br />

zusammentat, um gemeinsamen Öl zu produzieren.<br />

Gemeinsam überlegten Jens und die Bauern, wie man den ersten Biomasse-Transport am besten<br />

handhaben könnte, denn noch gab es nicht genug Öl, um alles mit dem Traktor bewältigen zu können.<br />

Einer der wenigen jüngeren Bauern meldete sich zu Wort. "Jünger" bedeutete im Kreis der<br />

anwesenden Bauern, dass er unter sechzig war.<br />

"Sie haben doch so ein Lastfahrrad, mit dem sie immer zu Ihrem Feld fahren. So eines hätte ich<br />

gerne, damit könnte ich auch ohne Sprit Biomasse transportieren."<br />

"Unser Lastrad setzen wir für diesen Zweck bestimmt ein. So haben wir auch unsere eigenen<br />

Pflanzenreste transportiert."<br />

"Ich meinte aber, dass ich gerne so eines von Ihnen kaufen würde, denn auch wenn wir bald<br />

wieder Sprit haben, sollte man bei leichteren Aufgaben doch sparsam mit dem kostbaren Tröpfchen<br />

umgehen."<br />

"Oh, Sie wollen ein Lastrad bestellen? Ja, das können wir gerne machen. Mal sehen, wann wir<br />

dazu kommen, vor lauter Biomasse."<br />

Dem Müller hatten sie inzwischen schon zwei Lasträder gebaut und Andreas hatte sie in zwei<br />

Fuhren zusammen mit Johanna abgeliefert. Auf dem Rückweg hatten beide auf dem hofeigenen<br />

Lastrad weitere Vorräte heimgeschafft. Seitdem hatte sich auch das Verhältnis zwischen Andreas und<br />

Johanna deutlich entspannt. Jens hoffte, dass Andreas sich dem neuen Auftrag annehmen würde,<br />

denn bei der Arbeit mit Biomasse stellte sich Andreas genauso unbeholfen an, wie mit lebenden<br />

Pflanzen, was ihn für andere Aufgaben freigab.<br />

Zu allem Überfluss kamen am nächsten Tag die langerhofften Akkus und eine ganze Ladung<br />

nachträglich bestellter Photovoltaik-Zellen, die inzwischen wieder offiziell lieferbar waren. Von Jens<br />

Kapital war dadurch nur noch ein kümmerlicher Rest übrig, den er für ernsthafte Notfälle aufheben<br />

wollte. Eigentlich hatte er nicht v<strong>org</strong>ehabt, soviel Geld auszugeben, doch der Transport der Biogas-<br />

Anlagen hatte seine Kalkulation durcheinandergebracht und auf Solarzellen und Akkus wollte Jens<br />

nicht verzichten.<br />

Für ihren eigenen Hof brauchten sie sich um Strom keine S<strong>org</strong>en mehr zu machen und falls Bedarf<br />

bestand, würden sie sogar noch mehr andere Höfe mit Strom beliefern können. Jens schmunzelte in<br />

sich hinein bei dem Gedanken, dass sie dabei waren, sich zu einem kleinen Energiekonzern zu<br />

entwickeln.<br />

Das viele ausgegebene Geld machte ihm dennoch S<strong>org</strong>en und er vertraute sich Achim an, denn<br />

Johanna wollte er damit lieber nicht zusätlzich belasten.<br />

Achim schlug ihm aufmunternd auf die Schulter und sagte: "Ich finde das richtig, dass du das<br />

ganze Geld in sinnvolle Energieproduzenten investiert hast. Was nützt dir eine Zahl auf dem Konto?<br />

Jetzt können wir wirklich was bewegen und du wirst sehen: bald produzieren wir genug Öl, um außer<br />

den Abgaben an die Bauern noch was verkaufen zu können. Dann wird das Geld schon fließen."<br />

"Hoffen wir, dass du Recht hast."<br />

Eine arbeitsreiche Woche später kam Heide von einem Abendbesuch bei den Wiedemanns nach<br />

Hause und setzte sich zu der versammelten Mannschaft in die Küche.<br />

"Haltet euch fest Kinder.", kündigte sie geheimnisvoll an.


"Du machst es aber spannend. Ok, ich halte mich fest.", kicherte Johanna.<br />

"Ihr werdets nicht glaube: Ich habe uns den Wiedemann-Hof gekauft."<br />

"Du hast was?", riefen alle wie aus einem Munde.<br />

"Hab ichs nicht gesagt: ihr werdets nicht glauben. Ich dachte mir halt, wo wir grad so in Stimmung<br />

mit teuren Ausgaben sind, dass ich mir auf meine alten Tage auch noch was gönne."<br />

"Nein!"<br />

"Spass beiseite: ihr wusstet wahrscheinlich nicht, dass die Wiedemanns schon länger gegen die<br />

Pleite ankämpfen. Seit sie ihre Melkanlage EU-konform modernisieren mussten, ist der Hof wieder<br />

verschuldet und sie haben sich davon nie erholt. Jetzt standen sie kurz davor, den Hof zu verlieren<br />

und in eines dieser städtischen Altersheime abgeschoben zu werden. Dort sollen die Leute<br />

inzwischen sterben wie die Fliegen, weil die Nahrungsmittel-Vers<strong>org</strong>ung so schlecht geworden ist."<br />

Betretenes Schweigen machte sich breit.<br />

"Eigentlich hätten wir es ahnen können, seit wir wussten, dass ihr Strom abgestellt wurde. Wir<br />

Idioten! Mit Blindheit geschlagen.", Jens hatte sich zuerst von dem Schrecken erholt und seine<br />

Sprache wiedergefunden.<br />

"Nun denn, dass wollte ich ihnen natürlich ersparen. Aber eigentlich waren meine Motive auch sehr<br />

eigennützig, denn mit unseren lumpigen drei Hektar Feld kommen wir nicht weit, wenn wir täglich<br />

fünfzig Leute und mehr sättigen wollen. Die Felder der Wiedemanns sind dreissig Hektar gross, also<br />

zehnmal eure Fläche und dann kommen noch zwei Hektar Weinberg und ein Wald wie eurer hinzu.<br />

Das dürfte fürs Erste reichen."<br />

"Du siehst mich fassungslos. Aber es klingt gut, sehr gut sogar. Was wird denn aus den<br />

Wiedemanns?"<br />

"Die erhalten natürlich lebenslanges Wohnrecht. Und um ihre sechs Kühe wollen sie sich auch<br />

gerne noch kümmern, solange es geht. Aber die Milch können wir haben, denn die Molkerei hat ihnen<br />

gekündigt und sie werfen seit einer Weile einen Grossteil ihrer Milch weg."<br />

"Oh, Kühe!", Johanna klang begeistert. "Endlich haben wir genug Land für Kühe. Mit der vielen<br />

Milch können wir ja auch Käse machen und den Überschuss verkaufen. Nur für das bisschen Käse<br />

von den Ziegen hätte sich ein Verkauf auch kaum gelohnt."<br />

"Ihr seid schon eine wahrhaft verrückte Truppe.", mischte Achim sich ein. "Da kommt ihr kaum mit<br />

dem eigenen Garten klar und schwingt euch auf zum Grossbauern."<br />

"Mich erschreckt unser plötzliches Wachstum auch etwas. Aber es ergibt sich irgendwie fast von<br />

selbst.", gestand Jens.<br />

"Vielleicht ist es einfach nötig.", schlug Johanna vor.<br />

"Ja, vielleicht. Wie gut, dass erfahrene Leute wie Herr Wiedemann, Herr Hirzler und natürlich auch<br />

Heide unsere Unerfahrenheit etwas ausgleichen und zahllose Helfer beim Ackern mitmachen. Sonst<br />

hätten wir keine Chance."


Kapitel 45<br />

Allmählich spielte sich das turbulente Leben ein. Die Biogasanlagen begannen, im erhofften<br />

Umfang Öl zu produzieren und die Ernte war im vollen Gange. Die Bauern der Nachbardörfer wollten<br />

auch unbedingt Biomasse liefern, um Öl zu erhalten, doch die Kapazitäten beider Anlagen waren<br />

inzwischen schon ausgefüllt. Jens hätte fünf Anlagen betreiben können, so gross war die Nachfrage.<br />

Er überlegte, ob er im nächsten Frühjahr die Ersatzteile zu einer zusätzlichen Biogasanlage aufbauen<br />

sollte.<br />

Die Bauern in einem der Nachbardörfer legten ihr Geld zusammen, um sich auch eine<br />

Biogasanlage kaufen zu können. Herr Trautmann in der Ferne trieb tatsächlich noch eine auf, sodass<br />

auch das Nachbardorf hoffen konnte. Bis dahin verkaufte Jens die Ölüberschüsse preisgünstig<br />

vorzugsweise an die Bauern, denn Jens war der Überzeugung, dass die Landwirtschaft Treibstoff jetzt<br />

besonders nötig hatte. Der beste Kunde wurde jedoch der Tankstellenpächter, der alles Öl kaufte, das<br />

nach dem Bedarf der Bauern noch übrig war.<br />

Die Ernte konnte jetzt zwar eingebracht werden, doch alle Bauern klagten, dass sie geradezu<br />

winzig ausgefallen war. Die Felder, die bearbeitet worden waren, erbrachten nur ein Viertel der<br />

gewohnten Mengen, aber der grösste Teil der Felder hatte sowieso mangels Treibstoff brach gelegen.<br />

In Nord- und Ostdeutschland sollte die Lage noch erheblich schlimmer sein, berichteten Bauern,<br />

die dort Freunde hatten. Vor allem die vielen Grossbauernpleiten hatten die Landwirtschaft wie<br />

befürchtet lahmgelegt. Die vorhandenen spärlichen Ernten verrotteten jetzt teilweise auf den Feldern,<br />

weil niemand in der Lage war, die Ernte einzufahren.<br />

Kurzerhand wurden zwar Arbeitslose auf die Felder geschickt, um wenigstens einen Teil zu retten,<br />

aber die abgstellten Helfer wirkten wie eine Handvoll Ameisen auf einem Fussballfeld. Auf eine<br />

Angabe über die dortigen Erntemengen ließ sich niemand ein, vermutlich weil die Menge so klein war,<br />

dass allen Verantwortlichen Angst und Bange war.<br />

Jens Ernte war zwar auch nur etwa ein Viertel so gross wie erhofft, und sie würden erhebliche<br />

Mengen zukaufen müssen, aber angesichts der Zustände woanders, war er fast noch zufrieden. Herr<br />

Hirzler war der Überzeugung, dass das Problem auf Jens Feld vorwiegend am Wassermangel lag,<br />

denn der fehlende Kunstdünger spielte dank der jahrelangen Brache der Felder nur eine<br />

untergeordnete Rolle. Im nächsten Jahr würden sie jedoch fleissig mit dem Düngerschlamm aus der<br />

Biogasanlage düngen müssen, um auch nur die gleichen Mengen ernten zu können, wie dieses Jahr.<br />

Glücklicherweise rissen sich die meisten Bauern darum, Teile ihrer Ernte gegen Öl einzutauschen,<br />

sodass Jens und Johanna bald ausreichend Vorräte für ihre vielen hungrigen Mäuler<br />

zusammenhatten.<br />

An einem sonnigen Septembertag brachte Johanna Sonja das erste Mal in die Schule der<br />

Kleinstadt; später sollte Sonja alleine mit ihrem Fahrrad dorthin fahren, denn Johanna hatte nicht die<br />

Zeit jeden Tag zweimal in die Stadt zu radeln. Sonja gefiel es in der Schule gut, vor allem weil sie<br />

schon vier ihrer Klassenkameraden von der Armenspeisung kannte, fand den Stoff aber schwieriger<br />

als im Norden. Johanna erinnerte sich, dass Baden-Württemberg in dem Ruf stand, besonders<br />

anspruchsvoll zu unterrichten, aber da Sonja nicht auf den Kopf gefallen war, machte sie sich <strong>des</strong>halb<br />

keine S<strong>org</strong>en.<br />

Die Erwachsenen saßen gerade bei einem zweiten Frühstück in der Küche, als es kräftig an der<br />

Haustür klopfte. Ein Unbekannter mit Aktentasche stand vor der Tür und starrte Jens unfreundlich an.<br />

"Mein Name ist Storzig, ich komme vom Bauamt. Uns ist zu Ohren gekommen, dass Sie eine<br />

illegale Biogasanlage betreiben."<br />

"Was heisst hier illegal? Ich habe einen Bauantrag gestellt und die Gebühr pünktlich überwiesen."<br />

"Sie haben aber noch keine Genehmigung erhalten. Die Anlage muss umgehend wieder<br />

abgerissen werden."<br />

"Jetzt hören Sie aber mal zu: ohne das Öl aus dieser Anlage wäre die Ernte auf den Feldern<br />

verfault und die Menschen hier in der Gegend würden im Winter ernsthaft hungern müssen. Wenn wir<br />

auf Ihre Genehmigung gewartet hätten, wäre das eine Katastrophe für die ganze Region geworden."<br />

"Trotzdem: Vorschrift ist Vorschrift! Und Vorschriften sind dazu da, beachtet zu werden."


"Würden Sie sich nicht auch freuen, preiswertes Öl kaufen zu können? Da ließe sich bestimmt<br />

etwas einrichten."<br />

"So, so, ich könnte also preiswertes Öl kaufen. Nun ja, Sie haben den Bauantrag schließlich<br />

frühzeitig gestellt, ich werde mal sehen, was sich da machen lässt. Eine Probe Ihres Öles müsste ich<br />

jedoch entnehmen, um zu überprüfen, was Sie da überhaupt produzieren."<br />

"Gerne, das lässt sich machen. Wenn Sie wollen, können wir gleich mit einem Kanister zur Anlage<br />

gehen."<br />

Mit einem gut gefüllten Ölkanister trollte sich Herr Storzig schließlich wieder in Richtung Stadt.<br />

Jens atmete auf. Was wäre geschehen, wenn sie die Anlage wirklich hätten abreissen müssen? Das<br />

wäre wohl ihr Ruin gewesen, aber es war ja nochmal gut gegangen.<br />

Als Jens zurück in die Küche kam, sah er den Schrecken in Johannas Gesicht geschrieben.<br />

Anscheinend hatten alle mitbekommen, was abgelaufen war. Heide schien den V<strong>org</strong>ang jedoch mit<br />

Fassung zu tragen.<br />

"Ja ja, das Bauamt. Die versuchen immer, einen zu ärgern, wo es nur geht. Davon kann ich auch<br />

noch ein Liedchen singen."<br />

"Wir haben ja nochmal Glück gehabt. Mit Öl kann man heutzutage eine Menge erreichen.", grinste<br />

Jens.<br />

Nach der Ernte wurde es höchste Zeit für die Aussaat der Wintergetreide. Wie das kleine Feld<br />

wurden auch die neuen grossen Felder in Vierergruppen-Parzellen unterteilt, um der<br />

Vierfelderwirtschaft treu zu bleiben.<br />

Zusammen mit Achin, Herrn Hirzler und Herrn Wiedemann unternahm Jens eines Abends die<br />

genaue Anbauplanung. Allen Feldern sinnvolle Feldfrüchte zuzuordnen, war gar nicht so einfach,<br />

denn sie wollten möglichst viel Nahrung erwirtschaften, gleichzeitig aber auch die Tiere durchbringen<br />

und viel Biomasse für die Ölerzeugung produzieren. Glücklicherweise gab es etliche Pflanzen, die für<br />

Menschen und Tiere essbar waren und gleichzeitig Biomasse abwarfen, wie beispielsweise Raps,<br />

Rüben, Mais, Kartoffeln und Mangold. Auf den Brachflächen konnten im Sommer die Tiere weiden<br />

oder man verarbeitete die gemähte Biomasse und gab den Düngeschlamm zurück aufs Feld.<br />

Die neuen Parzellen waren natürlich erheblich grösser als die alten, und so machte es auch viel<br />

mehr Arbeit das Getreide anzusäen. Für leichte Tätigkeiten, wie die Aussaat, wollte niemand das<br />

kostbare Öl verwenden, aber Jens musste erkennen, dass der menschlichen Arbeitskraft deutliche<br />

Grenzen gesetzt waren, je grösser die Anbaufläche wurde. Ohne die zahlreichen Helfer wäre er<br />

aufgeschmissen gewesen und dabei waren die dreissig Hektar noch sehr überschaubar. An das viele<br />

Hacken im nächsten Jahr dachte Jens mit Grausen, denn das würde sogar seine Freiwilligen-Armee<br />

nicht bewältigen.<br />

Für den gewohnten Vielgebrauch von Landwirtschafts-Maschinen reichte das Biomasse-Öl jedoch<br />

bei weitem nicht aus und würde wohl auch nie ausreichen. Die Landwirtschaft würde sich also<br />

vollständig umstellen müssen und Jens sah noch keinen Ausweg, wie das gehen könnte, vor allem bei<br />

wirklich grossen Flächen.<br />

Andreas erhielt einen Brief vom Bürgeramt, der ihn aufforderte, sich wegen seines Antrags in<br />

Freiburg auf dem Bürgeramt zu melden. Also unterbrach Andreas seine Arbeiten an einem weiteren<br />

Lastrad und machte sich auf den Weg.<br />

Am späten Abend, als sich alle schon S<strong>org</strong>en machten, rief Andreas an und teilte Jens mit, dass er<br />

in Freiburg bleiben würde.<br />

"Ja, aber warum willst du denn in Freiburg bleiben? Du hast dich doch in letzter Zeit ganz gut<br />

eingelebt."<br />

"Schon, es ist etwas lustiger geworden, aber insgesamt doch sehr öde. Ich bin einfach nicht fürs<br />

Landleben gemacht."<br />

"Aber wie willst du denn in Freiburg durchkommen?"<br />

"Ich hab zufällig eine scharfe Blondine kennengelernt, die nicht nur ein warmes Bettchen für mich<br />

hat, sondern auch einen Aushilfsjob in der Kneipe, wo sie Barfrau ist."<br />

"Na gut, mit einer scharfen Blondine kann ich natürlich nicht dienen."<br />

"Das dachte ich mir doch. Sag mal, kannst du mir vielleicht meine Tasche schicken?"


"Mit der Post? Das dauert heutzutage bestimmt Monate. Vielleicht komme ich einfach selbst nach<br />

Freiburg und bringe sie dir, denn wahrscheinlich muss ich sowieso aufs Amt, um dich offiziell<br />

abzumelden."<br />

"Ok, tu das.", Andreas gab Jens noch die Adresse der Kneipe, dann verabschiedeten sie sich.<br />

"Tja, Andreas ist weg.", verkündete Jens seiner staunenden Familie.<br />

"Dabei hatte ich gerade angefangen, mich an ihn zu gewöhnen.", seufzte Johanna.<br />

"Wahrscheinlich ist es das Beste so, wenn er denn in der Stadt was Gutes gefunden hat.", fand<br />

Heide.<br />

Gleich am nächsten Tag fuhr Jens nach Freiburg, denn er wollte es hinter sich bringen. Das Laub<br />

der Bäume schillerte inzwischen in vielerlei Goldtönen, aber es war noch angenehm warm.<br />

Wie wohl der Winter werden würde?<br />

Irgendwo in einem Vorort war Jens wohl falsch abgebogen, denn er fuhr durch einen Stadtteil<br />

Freiburgs, den er noch nie gesehen hatte. Direkt vor ihm lag eine Hochhaussiedlung. Ob er dort nach<br />

dem Weg fragen konnte?<br />

"Halt stehenbleiben und Geld her!", herrschte ihn ein junger Mann mit Baseballkappe an, sprang<br />

Jens vor das Rad und ließ ein Messer aufspringen. Drei Kollegen sprangen herbei und hielten das<br />

Fahrrad fest, sodass Jens nicht davonfahren konnte.<br />

"Wieso Geld her? Ich will hier nur kurz durchfahren."<br />

"Genau! Gut erkannt Mann! Das kostet aber Maut, das Durchfahren.", der Bursche packte Jens an<br />

der Jacke und zerrte an ihm.<br />

"Wieviel wollt ihr denn?", Jens dachte sich, dass er lieber zahlte, als sich massakrieren zu lassen.<br />

"Her mit Geldbeutel!"<br />

Jens war froh, dass er nur wenig Geld mit auf die Fahrt genommen hatte und händigte sein<br />

Portemonnaie aus. Die Wegelagerer zogen die Scheine heraus und ließen ihm das Münzgeld.<br />

"Also denn, gute Fahrt allerseits. Firma dankt."<br />

So schnell er konnte, fuhr Jens davon und hoffte, dass er nicht auf weitere Mautstationen dieser<br />

Art stossen würde. Diesen Stadtteil würde er in Zukunft besser meiden. Im Augenwinkel sah er<br />

verlumpte Kinder auf einem maroden Spielplatz toben, doch er widmete ihnen kaum Aufmerksamkeit,<br />

denn er wollte nur fort von hier.<br />

Endlich fand Jens ein Schild mit der Aufschrift "Stadtmitte" und war froh, wieder auf dem richtigen<br />

Weg zu sein. Die Kneipe war leicht zu finden, verdiente aber aus Jens Sicht eher die Bezeichnung<br />

"Spelunke".<br />

Die rassige Blondine allerdings hielt das Versprechen, das Andreas Tonfall bei ihrer Erwähnung<br />

gegeben hatte. Jetzt wunderte sich Jens nicht mehr darüber, dass Andreas das Stadtleben vorzog.<br />

Jens bestellte sich ein Bier, das er nach dem Schrecken bitter nötig hatte und bezahlte mit seinem<br />

Münzgeld. Andreas servierte ihm das Bier und setzte sich dann zu ihm.<br />

Als Jens Andreas von dem Überfall erzählte und sich über die Zustände in dem durchfahrenen<br />

Stadtteil wunderte, rief Andreas seine neue Freundin herbei.<br />

"Lucy, du weisst doch bestimmt, was dort los ist, wo Jens überfallen wurde."<br />

"Du meinst bestimmt Weingarten. Tja, dort herrschen inzwischen die Gangs, wie in Amerika oder<br />

Entwicklungsländern. Dort geht kein vernünftiger Mensch mehr hin und die Anwohner der<br />

Nachbarstadtteile zittern jede Nacht vor Überfällen."<br />

"Und wovon leben die dort alle?"<br />

"Wovon wohl? Von Grundsicherung und das bedeutet inzwischen, dass du dir zweimal in der<br />

Woche ein paar Riegel abholen darfst, die grad mal einen Tag sattmachen. Darum sind die Jungen ja<br />

auch auf andere Einnahmequellen umgestiegen. Die Älteren hungern wohl einfach traurig vor sich<br />

hin."<br />

Jens war froh, dass er einigen der Armen in seiner Gegend wenigstens eine gewisse Grundlage<br />

bieten konnte und fuhr nach Erledigung der Ämterpflichten nachdenklich nach Hause.


Kapitel 46<br />

"Sie beschäftigen Schwarzarbeiter!", schon wieder stand jemand vom Amt vor der Tür. Diesmal<br />

handelte es sich wohl um das Arbeitsamt.<br />

"Nein, meine Mitarbeiter sind korrekt als Minijobber angemeldet und die Dame, die uns mit<br />

Häkelwaren beliefert, betreibt eine Ich-AG."<br />

"Fünf angemeldete Minijobber sind uns bekannt, aber wir wissen von erheblich mehr Mitarbeitern."<br />

"Aber die helfen doch nur ab und zu ein paar Stunden bei der Armenspeisung. Das ist ein Dienst<br />

an der Menschheit."<br />

"Schnickschnack. Wenn Sie Leute beschäftigen, müssen Sie sie anstellen, wie jeder andere<br />

Arbeitgeber auch."<br />

"Die Leute bauen ihr eigenes Essen an und bekommen überhaupt kein Geld."<br />

"Naturalien sind auch Bezahlung. Sie bekommen in Kürze einen Bescheid von uns für die<br />

Nachzahlung der Sozialversicherung und Steuer. Stellen Sie sich außerdem auf ein Verfahren wegen<br />

Schwarzarbeit ein."<br />

"Ja, aber...."<br />

"Guten Tag!", der Mann verschwand genauso schnell, wie er erschienen war.<br />

Jens fühlte sich wie erschlagen. Da brauchte man schon alle Kräfte, damit die Armen in der<br />

Umgebung nicht verhungerten und der Staat warf einem ständig Knüppel zwischen die Beine. Als ob<br />

es nicht schon schwierig genug war.<br />

Johanna stand plötzlich neben ihm und legte ihren Arm und ihn.<br />

"Schon wieder so ein Ämterfritze?"<br />

"Ja, diesmal wegen Schwarzarbeit. Sie wollen haufenweise Geld für unsere Helfer von der<br />

Armenspeisung. Dabei haben wir doch extra darauf geachtet, alle, die mehr arbeiten als für das Essen<br />

nötig wäre, ordentlich anzustellen. Das sprengt doch sowieso schon fast unseren Finanzrahmen.<br />

Diesen Fredel konnte ich auch nicht mit Öl abspeisen. Der droht mir sogar mit dem Gericht."<br />

"Wie ungerecht! Soll der mal lieber helfen, Essen für die Hungernden anzubauen. Ich werde mal<br />

meinen Vater anrufen, vielleicht hat der ja eine Idee, denn mit solchen Quälgeistern kennt er sich<br />

aus."<br />

Herr Trautmann schlug vor, einen Verein zu gründen, am besten rückwirkend, und sich dann um<br />

Gemeinnützigkeit zu bemühen, die bei einer Armenspeisung bestimmt gewährt werden würde. Dann<br />

würden die Helfer plötzlich als Ehrenamtliche gelten und alles wäre in schönster Ordnung.<br />

Also wurde ein Verein gegründet und Jens musste sich wieder einmal mit unzähligen Formularen<br />

rumschlagen und bei Ämtern erscheinen, um die Gemeinnützigkeit durchzusetzen. Johanna<br />

kontaktierte den Tafelverein, der in allen größeren Städten für die Nahrungsmittelvers<strong>org</strong>ung der<br />

Armen kämpfte und auch in Johannas alter Heimat Mit<strong>org</strong>anisator der Armenspeisung gewesen war.<br />

Die Leute von der Tafel gaben Johanna wertvolle Tipps für den Umgang mit Behörden aber auch für<br />

die Bewältigung der großen Aufgabe, in diesen Zeiten Hungernde zu sättigen.<br />

Obwohl der Verein schließlich als gemeinnützig anerkannt wurde, flatterte eines Tages ein Brief<br />

vom Arbeitsamt ins Haus mit einer horrenden Geldforderung. Der Betrag schien Jens so hoch, als<br />

hätte er die gesamte Kleinstadt zu Manager-Gehältern eingestellt. Der zuständige Beamte residierte<br />

anscheinend im Rathaus der Kleinstadt, was Jens dazu bewog, sich sofort auf sein Rad zu schwingen<br />

und ins Rathaus zu eilen.<br />

Als er das richtige Zimmer gefunden hatte, stürmte er durch die Tür und knallte dem Beamten die<br />

Rechnung auf den Tisch. Anschließend folgte die Bescheinigung, die die Gemeinnützigkeit bestätigte.<br />

"Wo liegt das Problem? Die Gemeinnützigkeit wurde doch erst kürzlich bestätigt. Für die Zeit davor<br />

müssen Sie zahlen.", sagte der Beamte mit einem süffisanten Grinsen.<br />

"Ich werde Ihnen sagen, wo das Problem liegt: Wenn ich das zahlen muss, kann ich die<br />

Armenspeisung sofort beenden und nicht nur die Armen, sondern auch meine Familie wird im Laufe<br />

<strong>des</strong> Winters verhungern!"


"Dann hätten Sie eben besser wirtschaften müssen."<br />

"Kapieren Sie überhaupt nichts? Wir ernähren haufenweise Menschen, die sonst in den letzten<br />

Monaten verhungert wären. Das wäre eigentlich Ihre Aufgabe als Diener <strong>des</strong> Volkes. Wieviele Arme<br />

ernähren Sie denn?"<br />

Der Beamte blieb still.<br />

"Sehen Sie! Jetzt widerrufen Sie diesen Bescheid, sonst schicke ich Ihnen die Hungernden Ihrer<br />

kleinen Stadt aufs Rathaus!"<br />

Der Beamte nickte und machte eine Handbewegung, die Jens aufforderte, den Raum zu verlassen.<br />

Jens nahm seine Gemeinnützigkeitsbescheinigung wieder an sich und ließ die Rechnung liegen.<br />

Erhobenen Hauptes verließ er das Büro und nur ein Spurt bis vor seine Haustür brachte seine Wut<br />

wieder zum Abflauen.<br />

Nur kurze Zeit später erzählte sich die ganze Bevölkerung die Geschichte von Jens stürmischem<br />

Auftritt im Rathaus. Der Beamte war anscheinend eifriges Mitglied der hiesigen Kirchengemeinde und<br />

der Pfarrer hatte ihm wohl ins Gewissen geredet. Ein Aufhebungsbescheid kam zwar nicht, aber auch<br />

keine weitere Zahlungsaufforderung.<br />

Eine Folge dieses Abenteuers war, dass sich die Anzahl der täglichen Gäste nochmal deutlich<br />

erhöhte. Andererseits kamen aber auch Geld- und Nahrungsmittel-Spenden von Menschen, die noch<br />

nicht am Hungertuch nagten.<br />

Unter den Gästen rekrutierte Johanna einige Frauen, die mit ihr zusammen die Wollverarbeitung<br />

aufbauten, denn Johanna hatte dem Schäfer im Sommer einen guten Teil seiner Rohwolle abgekauft.<br />

Daher waren Johanna auch froh, dass Sonja in Andreas bisheriges Zimmer ziehen konnte und das<br />

Wollzimmer freigab. Ein Teil der Frauen sass dort jetzt täglich, um Wolle zu kämmen, spinnen und zu<br />

stricken. Andere Frauen, wie beispielsweise auch Frau Wiedemann, nahmen die strickbereite Wolle<br />

mit nach Hause und arbeiteten dort. Die fertigen Kleidungsstücke wollten sie auf dem Wochenmarkt<br />

anbieten, zusammen mit Käse und Brot.<br />

An einem kühlen Novembertag gab es bei der Mittagmahlzeit nur ein Thema: Eine Plünderer-<br />

Bande hatte einen Hof nahe Freiburg verwüstet, den Bauern fast totgestochen und die Bäuerin brutal<br />

vergewaltigt. Anschließend hatten sie den Hof angezündet und die Bauern waren nur mit grösster<br />

Mühe den Flammen entkommen.<br />

Plötzlich hatten alle Angst. Es gab viele Mutmaßungen, woher die Plünderer gekommen waren,<br />

aber die Nähe zu Freiburg ließ Jens immer wieder an sein Erlebnis mit den städtischen Wegelagerern<br />

denken.<br />

Die Geschichte sprach sich herum wie ein Lauffeuer, und schon am Tag danach war Stacheldraht<br />

überall ausverkauft. Jeder hatte es eilig, Haus und Hof zu sichern. Auch Jens und Achim überlegten,<br />

was zur Sicherung ihres Hofes notwendig war.<br />

Weil sie keine ausreichende Menge Stacheldraht bekommen konnten, zerbrachen sie massenhaft<br />

Glasflaschen und betonierten die Scherben oben auf den Rand der Mauer, der das ganze Grundstück<br />

glücklicherweise umgab. Vor dem soliden Hoftor installierten sie eine Kamera mit Bewegungsmelder,<br />

um unerwünschte Ankömmlinge rechtzeitig kommen zu sehen.<br />

Die Absicherung der Biogasanlage war leider erheblich schwieriger, denn dort gab es keine Mauer.<br />

Da aber alle Bauern am Erhalt ihrer Anlage Interesse hatten, stiftete jeder soviel Zaunmaterial, wie er<br />

entbehren konnte. Ein Teil <strong>des</strong> Zaunes wurde auch mit Stangenholz aus dem Wald gebaut und das<br />

Ganze mit stromführendem Draht und Überwachungskameras zusätzlich abgesichert.<br />

Achim sprach Jens auf Waffen an. Jens wand sich etwas und wollte am liebsten gar nicht näher<br />

auf das Thema eingehen.<br />

"Was ist? Bist du etwa ein Waffenhasser?"<br />

"Nicht unbedingt; beim Bund hätten sie mich sogar am liebsten als Scharfschützen ausgebildet,<br />

aber ich wollte lieber zur Hackerbekämpfung. Aber im echten Leben möchte ich ungern jemanden<br />

erschiessen. Ausserdem habe ich keinen Waffenschein und ich kann mir gar nichts Illegales leisten,<br />

so wie die mich auf dem Kiecker haben. Demnächst wollen die noch eine Gebühr, wenn ich mir den<br />

Hintern abwische."


"Das mit der Illegalität sehe ich ein. Ich habe jedoch mal einen Kurs im Armbrustbauen<br />

mitgemacht. Das müsste ich eigentlich wieder hinkriegen. Du willst doch deine Frauen nicht den<br />

Plünderern ausliefern, nur weil du zu fein bist, dich zu bewaffnen."<br />

"Ok, lass uns Armbrüste bauen und dann sehe ich, wie ich damit klarkomme. Vielleicht sollten wir<br />

die Frauen im Kampf mit der Bratpfanne ausbilden, damit sie sich auch selbst wehren können."<br />

"Gute Idee, das sollten wir gleich m<strong>org</strong>en in Angriff nehmen."<br />

Waffen entstanden und die ganze Familie trainierte täglich ihre Selbstverteidigungs-Fähigkeiten.<br />

Jens konnte mit der Armbrust bald genauso gut schiessen wie Achim, was er auch nicht anders<br />

erwartet hatte. Sogar Heide übte eifrig mit der Pfanne oder anderen Haushaltsgeräten auf Achim<br />

einzudreschen und Sonja erlangte einige Geschicklichkeit mit der Steinschleuder.<br />

"Kinder, Kinder, wenn es nicht so ernst wäre, fände ich das Kampftrainig total lustig.", sagte Heide<br />

einmal, als sie sich schweissüberströmt ihre Haare aus dem Gesicht strich. "Dass ich nochmal soviel<br />

Spass und Abenteuer haben würde, hätte ich mir nicht träumen lassen."<br />

Achim hatte soviel Freude am Training, dass er ab und zu auch mit den Bauern im Dorf übte.<br />

Diese waren teilweise jedoch schon von selber sehr kampfbereit und sei es mit der Mistgabel, sodass<br />

Achim hauptsächlich die Feinheiten schulte.<br />

Aus der Nähe von Freiburg wurde von einem weiteren Überfall berichtet, doch bis in ihre ländliche<br />

Gegend drangen keine Banden vor. Manche witzelten schon, dass es den Junggangstern wohl zu<br />

mühsam war, die weite Strecke zu Fuss zu bewältigen. Jens dachte daran, wie oft er schon mit<br />

Muskelkraft nach Freiburg gekommen war, aber vielleicht war den Plünderern selbst das zu mühsam.<br />

Er hoffte es sehr, denn trotz Vorbereitung wollte er Gewalttäter möglichst weit weg wissen.<br />

"Ich komme vom Gesundheitsamt.", sagte der nächste Beamte, der den Hof statt<strong>des</strong>sen<br />

heimsuchte. "Sie betreiben hier eine soziale Einrichtung, deren Räume ich jetzt überprüfen muss."<br />

"Momentan ist das alles noch sehr provisorisch, aber wir wollen im Frühjahr einen extra<br />

Gebäudeabschnitt dafür ausbauen."<br />

"Wo sind die Toiletten?"<br />

"Toiletten? Wenn die Gäste mal müssen, dann gehen sie hier auf die Toilette, schauen Sie."<br />

"Ist das die Damen- oder die Herrentoilette?"<br />

"Äh, die Damentoilette. Herren können im Obergeschoss gehen."<br />

"Mitten im Privatbereich? Das geht aber nicht! Jetzt will ich Speiseraum und Küche sehen."<br />

An allem hatte der Beamte etwas zu auszusetzen, und er ließ sich auch nicht davon<br />

beschwichtigen, dass sie planten, demnächst zu bauen. Als Jens ihm die Pläne für den Bau zeigte,<br />

die er glücklicherweise schon gezeichnet hatte, glaubte der Beamte wenigstens,<br />

dass es ihnen mit dem Umbau ernst war.<br />

"Also gut, in vier Wochen komme ich wieder vorbei und wenn dann alles so ist, wie auf ihren<br />

Plänen eingezeichnet, werden wir von einer Konventionalstrafe absehen. Aber wenn nicht, können Sie<br />

sich auf ernsthaften Ärger gefasst machen.", mit einem bösen Grinsen zog der Staatsdiener ab.<br />

Wieder wurde Herr Trautmann um Rat gefragt, doch dieses Mal konnte er ihnen nur "baut"<br />

empfehlen.<br />

"Dann müssen wohl mal wieder unsere Schwarzarbeiter, ähem, Ehrenamtlichen ran, denn alleine<br />

schaffen wir es kaum in der kurzen Zeit.", meinte Jens.<br />

"Wenn ich nur an die Trocknungszeiten jetzt im November denke, wird mir schon ganz anders."<br />

"Zuerst sollten wir die Heizrohre legen, dann ist es nicht ganz so kalt."<br />

"Und in den Trocknungpshasen hacken wir das Holz oder gehen in den Wald, denn das steht<br />

ohnehin an."<br />

"Ausserdem haben wir im Frühling sowieso zuviel Anderes zu tun."<br />

Tatsächlich schafften sie es mit vereinten Kräften, der Armenspeisung rechtzeitig ein neues<br />

Zuhause zu verschaffen, mit dem der Mann vom Gesundheitsamt leidlich zufrieden war und ihnen nur<br />

eine erträgliche Strafgebühr für diverse Kleinigkeiten aufbrummte.


Kapitel 47<br />

Der nächste Beamte, der bei ihnen klopfte, war höflicher als die bisherigen Staatsdiener. Er stellte<br />

sich als Mitarbeiter <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>-Vermögensamtes vor und wollte den Wert <strong>des</strong> gesamten Hofes<br />

schätzen. An der Liste, die er mitführte, konnte Jens erkennen, dass er wohl auch die ganzen<br />

Nachbarn heimgesucht hatte. Nach einer Runde über das Grundstück verschwand der Beamte wieder<br />

mit einem freundlichen Gruß.<br />

Lästiger war das nächste Schreiben, das Jens vom Freiburger Bürgeramt erhielt. Sie wollten nicht<br />

nur Andreas Taschengeld und Reisekosten zurückhaben, sondern auch noch eine gesalzene<br />

Bearbeitungsgebühr. Jens fand das zwar reichlich unverschämt, aber ihm fiel kein Weg ein, sich vor<br />

der Zahlung zu drücken und auch Herr Trautmann wusste keinen Rat. Also zahlte Jens<br />

zähneknirschend und hoffte, dass sie das fehlende Geld verkraften würden.<br />

Eines Tages brachten die meisten der Armenspeisungs-Gäste relativ große Spenden zur täglichen<br />

Mahlzeit mit. Johanna freute sich darüber und rief Jens herbei, damit auch er Anlass zur Freude hatte.<br />

"Woher haben Sie denn plötzlich alle Geld?", fragte er die grosszügigen Spender.<br />

"Das Bürgeramt hat seinen Auszahlungsmodus geändert. Wir bekommen jetzt wieder Geld anstelle<br />

von Nahrung, was ja sowieso ein Witz war, weil von denen nix Essbares bei uns angekommen ist.<br />

Aber jetzt hat die Regierung anscheinend allen offiziellen Grundsicherungsempfängern Geld<br />

überwiesen. Einen Teil davon wollten wir Ihnen abgeben, denn jetzt können wir ja für unser Essen<br />

bezahlen."<br />

"Das ist sehr grosszügig von Ihnen, vielen Dank. Merkwürdig, dass der Staat plötzlich wieder Geld<br />

hat, das hätte ich ihm gar nicht zugetraut."<br />

"Die haben das Geld bestimmt gedruckt.", sagte Herr Hirzler. "Ich kann mich noch sehr gut<br />

erinnern, wie das damals war. Gebt euer Geld am besten schleunigst aus, sonst ist es nichts mehr<br />

wert."<br />

"Ich war damals zwar noch recht klein, aber die Millionen, die man für einen Laib Brot zahlen<br />

musste, habe ich noch in schauriger Erinnerung. Das fühlt sich gar nicht gut an, was da läuft.",<br />

ergänzte Heide Herrn Hirzlers Bemerkung.<br />

Jens nahm die Warnung ernst und fuhr mit Achim zum Baumarkt, um sich vom letzten Geld mit<br />

Kupferrohren und anderen Baumaterialien einzudecken. Seit ihrem letzten Einkauf war der Preis für<br />

die Kupferrohre schon deutlich gestiegen, was aber auch an der Rohstoffknappheit liegen konnte.<br />

Als sie in den Supermarkt fuhren, um noch einmal gründlich Gewürze zu kaufen, sahen Sie das<br />

eigentliche Ausmaß <strong>des</strong> Problems. Die Regale <strong>des</strong> Supermarktes waren wie leergefegt. Ein einzelner<br />

verfaulter Apfel lag noch in der Gemüseabteilung, im Putzregal stand eine einsame Flasche mit<br />

Möbelpolitur, doch das Gewürzregal bot noch einige Auswahl. Jens musste jedoch doppelt soviel<br />

dafür zahlen wie sonst.<br />

Am nächsten Tag stand es in allen Zeitungen: Inflation.<br />

Heide riet, nur noch Sachspenden anzunehmen, außer wenn sofort etwas gekauft werden werden<br />

sollte und Herr Hirzler gab wertvolle Tipps zum Leben in Inflationszeiten. Wie gut, dass sie Freunde<br />

hatten, die sich solchen Problemen auskannte.<br />

In den nächsten Tagen war die Armenspeisung deutlich schwächer besucht als sonst, aber nach<br />

einer Woche waren alle wieder da und neue Gäste hinzugekommen.<br />

Die Preise fürs Öl und die Marktprodukte mussten jetzt ständig nach oben korrigiert werden und<br />

man musste höllisch aufpassen, dass man die Preissteigerung rechtzeitig erkannte, denn wenn man<br />

einen Tag lang zu billig war, waren die Einnahmen fast nichts mehr wert.<br />

"Wie gut, dass wir schon vorher unsere ganzen Vermögen ausgegeben haben.", sagte Jens und<br />

zwinkerte Heide dabei zu. "Und ich war so bes<strong>org</strong>t <strong>des</strong>wegen. Aber jetzt würde ich für den Preis einer<br />

Biogasanlage nur noch einen Kanister Öl bekommen."<br />

Das Geschäft mit dem Öl war inzwischen leider weniger lukrativ geworden, denn der Staat erhob<br />

seit neuestem auf Biogas-Öl eine spezielle Energiesteuer, zusätzlich zur Mehrwert- und<br />

Einkommensteuer. Dennoch blieb die Biogas-Anlage die wichtigste Einnahmequelle und viel Öl floss<br />

auch gegen Naturalien.


"Nehmen wir eigentlich auch Regio-Franken?", fragte Johanna, als sie eines mittags vom Markt<br />

heimkam. Sie zeigte Jens ein bunt bedrucktes Stück Papier.<br />

"Von Regio-Franken habe ich noch nie gehört. Was ist denn das?"<br />

"Das ist anscheinend eine regionale Währung, die stabil sein soll. Gilt in der gesamten Region;<br />

auch in Freiburg und Basel soll es Läden geben, die Regio-Franken annehmen. Und wenn man will,<br />

kann man sie im Regio-Servicecenter in echtes Geld umtauschen. Eine Frau kam und bot mir so<br />

einen Schein an und weil sie kein anderes Geld oder Sachwerte hatte, habe ich ihn mal testweise<br />

angenommen."<br />

"Kingt nach einer guten Idee. Ich werde mich mal informieren, ob das ein seriöses Angebot ist und<br />

wenn ja, sollten wir diese Regio-Franken auch offiziell annehmen."<br />

Jens recherchierte im Internet, machte einen Besuch beim hiesigen Servicecenter und beschloss,<br />

dass der Regio-Franke eine gute Möglichkeit für ihre Geschäfte war.<br />

Der Winter brach an und es wurde mal wieder Zeit für Weihnachtseinkäufe. Diesmal fuhr er mit<br />

Johanna zusammen nach Freiburg, denn sie hatten jetzt eine große Familie zu beschenken.<br />

Ausserdem hatten sie Listen von Heide und Achim dabei, auf denen die Geschenke standen, die<br />

diese verschenken wollten. Selbst bei bester Einkaufssituation würde das ein stressiger Tag werden<br />

und die Einkaufssituation war bestimmt nicht gut.<br />

Im Weihnachtstrubel hatten sich die Preise wieder emp<strong>org</strong>eschraubt, aber Jens und Johanna<br />

hatten inzwischen ausreichend Regio-Franken, um halbwegs verlustfrei einkaufen zu können. Die<br />

meisten preiswerten und nützlichen Produkte waren ausverkauft, aber an unnötigen Luxusprodukten<br />

herrschte kaum Mangel. Die Leute konnten sich anscheinend nur noch dringend benötigte Sachen<br />

kaufen.<br />

Auf der Suche nach einem Geschenk für Sonja entdeckte Jens in der Spielwaren-Abteilung einen<br />

Roboter-Bausatz. So einen hatte sich Jens schon immer erträumt, aber die Zeit war noch nicht reif<br />

dafür gewesen. Und jetzt lag dort ein Stapel Bausätze, kaum angetastet, im Preis sogar herabgesetzt.<br />

Kurzentschlossen kaufte Jens drei solcher Kästen, einen für Achim und zwei für sich, denn in ihm<br />

keimte eine Idee, für die selbst drei Roboter auf Dauer zuwenig waren.<br />

Bei einer kleinen Pause in einem Café am Münsterplatz fiel Johanna auf, dass keine Tauben mehr<br />

umherflogen. Ein Sitznachbar, der sie gehört hatte, drehte sich zu ihnen um und erklärte das Fehlen<br />

der Tauben.<br />

"Die jungen Leute kommen nachts, jagen die Tauben und verarbeiten sie zu Grillhähnchen. Soll<br />

angeblich nichtmal schlecht schmecken."<br />

"Soweit ist es schon gekommen?"<br />

"Wenns denn nur die Tauben wären, aber manche schlachten schon ihre Haustiere, weil sie sie<br />

nicht mehr füttern können und selber was zum Beißen haben wollen. Hier kursiert schon der Spruch<br />

über Katzen: Kopf ab, Schwanz ab - Has."<br />

"Das klingt ja gar nicht gut, dabei hat der Winter gerade erst angefangen."<br />

"Mir will das auch nicht gefallen."<br />

"Warum ziehen die Leute nicht aufs Land? Nicht etwa, dass wir sie gebrauchen könnten, aber ich<br />

fände das logisch."<br />

"Keine Ahnung. Aber ich würde auch nicht aufs Land ziehen. Was will ich dort? In der Stadt kenne<br />

ich mich wenigstens aus, habe meine Freunde und ein Dach über dem Kopf."<br />

"Das leuchtet ein. Für uns Landbewohner ist es sogar wünschenswert, wenn es nicht allzu voll<br />

wird."<br />

Sie verabschiedeten sich von dem freundlichen Mann und versuchten soviel wie möglich von den<br />

aufgelisteten Geschenken zu ergattern. Dann fuhren sie durch das dunkle Rheintal heim, froh, auf<br />

dem Land zu leben.<br />

Weihnachten wurde ein sehr herzliches Fest, obwohl oder gerade weil die Geschenke nicht<br />

perfekt, sondern teilweise ziemlich improvisiert waren. Nachmittags feierten sie mit den Armen und<br />

Teilzeit-Mitarbeitern und abends ging es in familiärer Runde weiter. Achim war begeistert von dem<br />

Roboter-Bausatz, sodass er und Jens es kaum abwarten konnten, daraus funktionierende Roboter<br />

zusammenzubasteln.


Frau Trautmann war untröstlich, weil ihr Paket nicht rechtzeitig angekommen war und Sonja<br />

<strong>des</strong>halb ohne Geschenk von ihren eigenen Eltern dasaß. Sonja fand das weit weniger schlimm als<br />

ihre Mutter und freute sich schon darauf, dass sie nochmal Weihnachten feiern könnte, wenn das<br />

Paket ankommen würde. Jens konnte Frau Trautmanns Kummer durchaus nachvollziehen, obwohl er<br />

noch keine eigenen Kinder hatte, aber er war sich ziemlich sicher, dass es Sonja hier insgesamt<br />

besser ging, als es in diesen Zeiten in der Stadt gewesen wäre.<br />

Die nächsten Wochen standen zwar voll im Zeichen der Waldarbeit, aber da es früh dunkelte,<br />

fanden Jens und Achim viel Zeit für ihre Roboter-Bausätze.<br />

"Willst du wissen, warum ich die Bausätze gekauft habe? Ich habe die nämlich nicht nur als<br />

Männerspielzeug gedacht.", begann Jens mit geheimnisvoller Miene.<br />

"Sprich!"<br />

"Dass wir genug Öl für wichtige Treckeraufgaben haben, ist dir ja bekannt, und auch, dass das Öl<br />

nicht ausreicht, um alles maschinell zu machen, was früher mit Maschinen erledigt wurde. Bei vielen<br />

Tätigkeiten ist es auch Verschwendung, so ein schweres Gerät über das Feld zu bewegen."<br />

"Klar."<br />

"Die helfenden Menschen sind zwar wunderbar bei kleinen Feldern, aber wenn es um den Anbau<br />

von grösseren Mengen geht, sind der Menschenkraft Grenzen gesetzt. Ausserdem haben heutige<br />

Menschen kaum noch das Durchhaltevermögen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zu<br />

schuften."<br />

"Geht mir eigentlich genauso, zumin<strong>des</strong>t hacke ich auch nicht gerne den lieben langen Tag."<br />

"Siehste! Das Konstruieren eines Lastra<strong>des</strong> macht mir auch mehr Spass, als immer wieder gegen<br />

neues Unkraut anzukämpfen. Und schau dir Andreas an: der hat doch meistens schon nach zwei<br />

Stunden schlappgemacht, selbst wenn er sich Mühe gegeben hat."<br />

"Und was willst du mit den Bausätzen dagegen unternehmen? Wart! Ich habs: Landwirtschafts-<br />

Roboter."<br />

"Genau!"<br />

"Du hast Ideen!"<br />

"Versuche mit solchen Robotern habe ich schon vor Jahren im Netz gesehen, aber dank reichlich<br />

Öl ist das nicht in dem Maße verfolgt worden, wie wohl nützlich gewesen wäre."<br />

"Wie willst du die bauen?"<br />

"Ich dachte mir: zur Fortbewegung diese Bausätze und vielleicht Handies als Gehirn und<br />

Sinnenes<strong>org</strong>ane. Dann braucht man noch verschiedene Greifarme, um Unkraut zu zupfen, Schnecken<br />

einzusammeln, Wasser zu versprühen und dergleichen mehr."<br />

"Was willst du als Antrieb nehmen?"<br />

"Die Bausätze hier arbeiten mit Methan-Brennstoffzellen. Das ist natürlich praktisch, weil wir ja<br />

massenhaft Methan produzieren. Die können direkt an der Biogasanlage aufgeladen werden.<br />

Zusätzlich dachte ich an Solarzellen auf dem Rücken, mit kleinen Akkus, um auch bei leerem Tank<br />

mobil zu sein."<br />

"Klingt gut! Und dann willst du ihnen Denkkraft verleihen?"<br />

"Ja, denn das ist schließlich mein eigentlicher Beruf. Die Handies sind heutzutage so<br />

leistungsfähig, dass man darin gute Programme laufen lassen kann. Ich denke da an ein<br />

Betriebssystem für Landwirtschafts-Roboter. Dann kann man die Basis flexibel erweitern."<br />

"Dann lass uns an die Arbeit gehen."


Kapitel 48<br />

Johanna stand leichenblass in der Küche und hielt einen amtlich aussehenden Brief in ihren<br />

zitternden Händen.<br />

"Was ist? Gib mal her, was du da hast!", Jens nahm den Brief, warf einen Blick darauf und musste<br />

schlucken.<br />

"Es ist schrecklich, nicht wahr? Was sollen wir bloß tun? Das war bestimmt dieser freundliche<br />

Beamte, der so tat, als wollte er uns nichts Böses."<br />

"Ja, aber mir scheint das ein Kommafehler zu sein. Die scheinen zwei Nullen zuviel angehängt zu<br />

haben. Ich rufe da gleich mal an."<br />

Jens eilte zum Telefon, Johanna im Schlepptau und rief beim Lan<strong>des</strong>-Vermögensamt an, von<br />

denen der Brief stammte.<br />

"Hallo, wir haben hier Ihren Sondersteuer-Bescheid vorliegen und der Betrag scheint mir um zwei<br />

Stellen verrutscht zu sein."<br />

"Nein, nein, der Betrag ist durchaus korrekt."<br />

"Aber wie kommen Sie denn auf so eine utopische Summe? Das ist ein Vielfaches von dem, was<br />

mein Hof mit allen Vermögenswerten wert ist."<br />

"Das ist ja auch eine Sonderabgabe auf künftig zu erwartende Produktivwerte."<br />

"Wie? Was für Produktivdinger?"<br />

"Produktivwerte! Sie haben Ackerland, Vieh und Energiequellen. Vermögende Bürger müssen<br />

Sonderabgaben leisten, um die Krise in den Griff zu bekommen."<br />

"Wir ernähren aber schon fünfzig Arme auf eigene Kosten. Das ist doch schon mehr soziales<br />

Engagement als man erwarten kann."<br />

"Das ist ihr Privatvergnügen. Die Sondersteuer ist zahlbar innerhalb von dreissig Tagen. Verzug<br />

wird teuer und scharf geahndet, denken Sie daran!"<br />

Es klickte in der Leitung und das Gespräch war beendet.<br />

Jens war entsetzt und Johanna schien kurz davor zu weinen. Auch ein Anruf bei Herrn Trautmann<br />

brachte keinen Trost; er hatte sowas zwar schon munkeln hören, wusste aber keinen Rat.<br />

Heide brachte endlich etwas Pragmatismus ins Spiel: "Das ist doch Unfug. Soviel können wir in<br />

zehn Jahren nicht umsetzen, wenn man die Inflation rausrechnet. Was wir nicht zahlen können,<br />

zahlen wir dann eben einfach nicht - basta!"<br />

"Ja, aber sie werden darum kämpfen."<br />

"Klar, aber sie sind doch auf verlorenem Posten. Selbst wenn du den Hof verkaufen wür<strong>des</strong>t,<br />

würde es ja nicht andeutungsweise reichen, um die Summe zu bezahlen. Und wer kauft denn schon<br />

einen Hof, wenn er dann ein Vielfaches <strong>des</strong> Wertes an Sonderabgaben leisten muss. Die Burschen in<br />

der Regierung haben sich dabei einfach fürchterlich verkalkuliert. Ich hab übrigens auch so einen<br />

Wisch bekommen."<br />

"Was, du auch? Dann wollen die ja noch mehr Geld von uns haben."<br />

"Genau! Wenn da nicht die Klausel mit der Inflationsrate drin wäre, würde ich ja sagen: drei Monate<br />

abwarten und dann bezahlen, denn dann wäre der Betrag wohl kaum noch etwas wert. Aber die<br />

Summe wird täglich höher."<br />

Nach kurzer Zeit sprach sich herum, dass alle Hofbesitzer solch unbezahlbare Sondersteuern<br />

aufgebrummt bekommen hatten. Die Bauern trafen sich in der Kneipe und beratschlagten, wie man<br />

damit am besten umgehen konnte. Einhellig beschlossen sie, dass sie die Rechnung einfach<br />

ignorieren würden, denn keiner konnte auch nur einen Bruchteil der Abgabe zahlen, viele kämpften<br />

sogar schon längere Zeit gegen die Pleite, ähnlich wie die Wiedemanns noch vor wenigen Monaten.<br />

Als sich die Aufregung gelegt hatte, konnte Jens sich wieder seinen Landwirtschafts-Robotern<br />

widmen. Der Teil aus dem Bausatz funktionierte schon relativ gut, aber an der Verbindung zwischen<br />

Laufgerät und Handy-Kopf musste Jens lange tüfteln.


Seine Auswahl an Handies war riesig, denn selbst die veralteten Geräte hatten schon genug<br />

Denkkapazität, um für die geplante Aufgabe mehr als ausreichend zu sein. Die alten Handies wollte<br />

jedoch keiner mehr haben und so hatten sie sich beim Schrotthändler gestapelt, der froh war, sie<br />

endlich loszuwerden.<br />

Die Programmierung <strong>des</strong> Betriebsystems für die Arbeit als Hilfsbauer ging tief in die Ebene der Bits<br />

und Bytes, was Jens aber als spannende Herausforderung genoss. Vielleicht war sein Studium doch<br />

nicht so verkehrt gewesen, für jemand, der Erfinder sein wollte.<br />

Endlich hatte er nach harten Kämpfen seinen Roboter soweit gebracht, eine rote Kugel zu<br />

erkennen, sich darauf zuzubewegen und die Kugel mit einem Greifer anzustoßen. Sowas hatten<br />

Tüftler zwar schon vor über einem Jahrzehnt gekonnt, aber mit den Handies und für das neue<br />

Betriebsystem war es ein echter Durchbruch.<br />

Jetzt konnte Jens sich um die Alltagstauglichkeit und das Gärtnerwissen kümmern.<br />

Glücklicherweise hatte er im letzten Jahr in jeder freien Minute Fotos mit seiner Digitalkamera<br />

gemacht, sodass er seinem Hilfsbauern jetzt genau zeigen konnte, wie eine Schnecke aussieht und<br />

wie eine Tomate. Die zuverlässige Zusammenarbeit der beiden Energiequellen würde Jens auch noch<br />

vor schwierige Knobeleien stellen.<br />

"Guten Tag, ich bin der Gerichtsvollzieher. Zahlen Sie sofort die offene Sondersteuer!", ohne<br />

Vorwarnung war die nächste Stufe der Verwaltungsqual über sie hereingebrochen.<br />

"Wir haben soviel Geld aber nicht. Nicht mal einen Bruchteil davon.", Jens schlotterten die Knie.<br />

Einem echten Gerichtsvollzieher war er noch nie begegnet.<br />

"Scheren Sie sich davon!", hinter Jens war Achim aufgetaucht und brachte den Gerichtsvollzieher<br />

mit seinem sonoren Bass sichtlich außer Fassung, denn dieser zog unverrichteter Dinge wieder ab.<br />

Doch kaum zwei Stunden später kam derselbe Gerichtsvollzieher wieder, diesmal in Begleitung<br />

eines Polizisten.<br />

"Sie zahlen jetzt sofort! Lassen Sie uns eintreten!", polterte der Gerichtsvollzieher.<br />

Johanna stellte sich plötzlich neben Jens und warf dem Polizisten zornige Blicke zu.<br />

"Schämen Sie sich! Bei so einer Plünderei mitzumachen! Glauben Sie etwa, dass Gott sowas von<br />

Ihnen will?"<br />

Der Polizist schwieg und starrte Johanna an. Johanna starrte zurück, und starrte, und starrte und<br />

siegte. Der Polizist senkte den Blick.<br />

"Ich glaube, ich werde mich besser auf die Jagd nach echten Verbrechern begeben.", sagte er und<br />

man konnte ihm seine Zerknirschung deutlich ansehen.<br />

Gesenkten Hauptes verließ er den Hof. Der Gerichtsvollzieher blickte erst eine Weile verwirrt von<br />

Johanna zu dem davontrottenden Polizisten, dann folgte er diesem. Nach diesem Vorfall kehrte wohl<br />

Ruhe ein im Dorf, aber bei den Ängstlichen hatte der Gerichtsvollzieher vorher schon sämtliches<br />

Bargeld und alle Wertgegenstände einkassiert.<br />

"Den Polizisten kenne ich aus der Kirche.", vertraute Johanna Jens an, als die Heimsuchung außer<br />

Sicht war.<br />

"Die haben sich einfach eine Lizenz zum Plündern ausgestellt, denn egal wieviel man zahlt, man<br />

bleibt ihnen immer etwas schuldig.", wetterte Heide und alle Anwesenden stimmten ihr zu.<br />

Als Johanna später ihre Eltern anrief, erfuhr sie, dass diese Opfer einer Sonderabgabe auf<br />

ungenutztes Vermögen geworden waren. Diese Abgabe bedeutete, ähnlich wie bei den Bauern, das<br />

die Trautmanns völlig mittellos dastanden, wenn sie die Abgabe bezahlten. Mehr noch:<br />

hochverschuldet, denn ihr Vermögen war in den letzten Monaten ja schon dahingeschmolzen. Die<br />

Abgabe war nämlich so hochgerechnet, als wäre das Vermögen im Verlauf der Inflation automatisch<br />

mit angestiegen.<br />

Es wurde ein langes Gespräch, in <strong>des</strong>sen Verlauf auch Jens hinzugezogen wurde. Am Ende<br />

beschlossen sie, dass die Trautmanns zu ihnen in den Süden ziehen würden, denn auf dem Land<br />

hatte man wenigstens einen direkten Zugang zu Nahrungsmitteln und in der Stadt zog sich die<br />

Schlinge von Tag zu Tag enger.<br />

Selbst die krisensichere Insolvenzfirma hatte aufgegeben und wurde nur noch abgewickelt, weil<br />

insolvente Firmen inzwischen einfach starben, ohne dass jemand hinter ihnen die Scherben


zusammenkehrte. Diese Katastrophe hatte Herr Trautmann Johanna bisher verschwiegen, um sie<br />

nicht zu ängstigen, aber jetzt kam es ans Tageslicht.<br />

Bis die Trautmanns kommen konnten, würde es jedoch Wochen dauern, denn Zugfahrten mussten<br />

immernoch lange im Voraus gebucht werden.<br />

Jens war dies ganz recht, denn es gab ihm Zeit, sich innerlich auf die Trautmanns vorzubereiten.<br />

Ob sie ihm verziehen hatten, dass er ihnen nicht nur eine, sondern sogar beide Töchter entführt<br />

hatte? Immerhin war es dadurch möglich geworden, allen eine Lebensgrundlage zu bieten, die das<br />

vermeintlich sichere Umfeld der Trautmann-Eltern inzwischen nicht mehr bot.<br />

"Trautmann"; an diesen Namen hatte er sich nie gewöhnen können, obwohl er jetzt schon so lange<br />

sein eigener war. Immer mal wieder, wenn ihn jemand "Herr Trautmann" nannte, schaute Jens kurz<br />

zur Seite, ob Herr Trautmann plötzlich erschienen war. Jetzt, wo es langsam besser damit wurde, und<br />

die Nachbarn ihren Hof schon "Trautmann-Hof" nannten, würde er sich daran gewöhnen müssen,<br />

dass es außer ihm noch einen anderen Herrn Trautmann gab.<br />

"Du sinnierst bestimmt über die Ankunft meiner Eltern.", Johanna hatte leise den Raum betreten<br />

und Jens einen Kuss gegeben.<br />

"Wie kommst du darauf?"<br />

"Du siehst so aus."<br />

"Hm."<br />

"Ich habe nämlich eine Idee, wo sie wohnen könnten, denn hier bei uns ist es ihnen bestimmt zu<br />

trubelig und wir wollen gerne möglichst ungezwungen leben."<br />

"Schiess los."<br />

"Sie ziehen einfach in das Haus der Wiedemanns, denn dort ist noch mehr als genug Platz für eine<br />

ganze Familie."<br />

"Genial! Das ist die Lösung!"<br />

Jens schnappte sich seine Frau und wirbelte sie voller Erleichterung durch den Raum. Johanna<br />

nutzte die seltene Gelegenheit, um ihn aufs Bett zu werfen und ihm ihre Zuneigung zu beweisen.<br />

Doch noch bevor die Trautmann-Eltern kamen, näherte sich Jens und Johannas Hochzeitstag und<br />

der Jahrestags <strong>des</strong> Einzugs. Trotz all der Arbeit auf den Feldern und im Garten, nahmen sie sich den<br />

Abend <strong>des</strong> Hochzeitstages frei für ein Tête-à-tête bei einem Sekt aus dem eigenen Weinberg. Ein<br />

befreundeter Winzer hatte den Sekt für sie gekeltert, nachdem sie im Herbst die Ernte abgeliefert<br />

hatten. Der Sekt war einfach köstlich und zu wissen, wo er herangereift war und das trotz schlechter<br />

Pflege, trieb den Genuss auf die Spitze.<br />

Die eigentliche Überraschung hatte sich Jens jedoch für den nächsten M<strong>org</strong>en aufgehoben, denn<br />

dafür brauchte er Tageslicht und Freiluft.<br />

Johanna war ob Jens Geheimnistuerei schon sehr neugierig und konnte es kaum abwarten, als<br />

Jens sie zu einen bereitstehenden Stuhl auf der Terasse dirigierte. Die anderen Hausbewohner<br />

durften auch an der Vorstellung teilnehmen, aber Jens Aufmerksamkeit galt Johanna.<br />

"Jetzt stell dir mal vor, wie es vor einem Jahr war, als das Unkraut spriesste und später die<br />

Schnecken wüteten und dich in die Verzweiflung trieben."<br />

Entsetzt schaute Johanna Jens an. Ihr stand ins Gesicht geschrieben, dass sie sich fragte, welcher<br />

Teufel Jens wohl reiten würde, sie ausgerechnet heute an ihren Zusammenbruch zu erinnern. Doch<br />

nachdem sie Jens eine Weile fragend betrachtet hatte, nickte sie.<br />

"Ok, das tut bestimmt weh, sich daran zu erinnern, aber umso mehr wirst du schätzen können, was<br />

ich dir jetzt zeigen werde, damit du nie wieder an deinem Garten verzweifeln musst."<br />

Jens ging kurz ins Haus und brachte ein vierbeiniges Gerät mit drolligem Handykopf zum<br />

Vorschein. Auf dem Rücken <strong>des</strong> Roboters, der an einen Hund erinnerte, waren Behälter montiert, die<br />

an Satteltaschen erinnerten. Statt Satteldecke glänzten Solarzellen in der Frühlingssonne und gaben<br />

dem kleinen Kerl ein futuristisches Aussehen.<br />

"Darf ich vorstellen: Das ist Agri-Bot, der Landwirtschaftsroboter."<br />

Mitten auf dem Gartenweg setzte Jens den Agri-Bot ab und gesellte sich zu Johanna auf die<br />

Terasse.


"Jetzt müssen wir einen Moment warten, denn Agri-Bot führt zur Zeit keinerlei Treibstoff mit sich. Er<br />

ist quasi völlig ausgehungert. Die Solarzellen werden ihn aber bald zum Leben erwecken."<br />

Spannung machte sich breit und die Sekunden zerrannen zäh, als wären es Minuten.<br />

Agri-Bot hob langsam, wie in Zeitlupe, seine Solarzelle und richtete sie gemächlich nach der Sonne<br />

aus. Dann verharrte er eine Weile, aber irgendwann drehte sich das Handy im Kreis und schließlich<br />

setzte sich die Maschine in Bewegung. Zielstrebig watschelte Agri-Bot auf eine kleine Gruppe<br />

Brennesseln zu, streckte einen seiner tentakelartigen Greifer aus und riss an der ersten<br />

Brennesselpflanze.<br />

"Zuerst versucht er, das Unkraut auszureißen, wenn das nicht geht, schneidet er es ab."<br />

Die Wurzel der angegriffenen Brennessel war wohl noch schwach, denn Agri-Bot gelang es, die<br />

Pflanze auszureissen und das Kraut in seine Satteltasche zu schieben. Ein leises Raspelgeräusch<br />

drang an die Ohren der Zuschauer.<br />

"Das Geräusch beim Häkseln wollen wir noch minimieren. Agri-Bot ist ja nur ein Protoyp."<br />

Nachdem er die ganze Brennesselgruppe verspeist hatte, drehte sich Agri-Bot um und strebte mit<br />

seinem drolligen Torkelgang einer rötlichen langestreckten Masse zu.<br />

"Das ist eine Kunstschnecke, weil es für die echten ja noch zu früh ist."<br />

Dieses neue Opfer verspeiste Agri-Bot nicht, sondern benutzte einen anderen Tentakel, um dem<br />

Bösewicht eine Spritze zu geben.<br />

"Die Schnecken wären zu schleimig, um sie einzusammeln, dann müsste man Agri-Bot ständig<br />

putzen. Daher tötet er sie schmerzlos mit einem biologisch abbaubaren Mittel und dann zerfallen sie<br />

schnell und geben ihre Nährstoffe an den Boden zurück."<br />

Johanna schauderte etwas beim Anblick der Hinrichtung an der künstlichen Schnecke. Agri-Bot<br />

ließ jedoch keine Zeit für lange Grübeleien, denn er hatte schon wieder die Richtung gewechselt.<br />

Diesmal war eine Biogas-Flasche sein Ziel, die extra für die Vorführung im Garten stand.<br />

"Auf dem Feld geht er natürlich direkt zur Biogas-Anlage, aber für den Garten reichen auch<br />

Flaschen."<br />

Agri-Bot leerte seine Pflanzenbeute in eine bereitstehende Schale und stöpselte sich selbstständig<br />

an das Gasventil an. Es zischte einen Moment, dann ließ Agri-Bot das Ventil wieder los und lief mit<br />

stark erhöhter Geschwindigkeit auf eine weitere Brennesselgruppe zu, die er scheinbar genussvoll<br />

verschlang.<br />

"Grossartig! Und wird er Unkraut von Nutzpflanzen unterscheiden können?", Johanna war sichtlich<br />

begeistert.<br />

"Ja, dafür habe ich extra ein Programm geschrieben, das es recht einfach macht, ihm immer neue<br />

Pflanzen und Tiere beizubringen. Im jetzigen Garten müsste Agri-Bot jetzt schon klarkommen, ohne<br />

Schaden anzurichten. Er tötet auch nur Schnecken in den Beeten. Die drumherum lässt er in Ruhe."<br />

"Davon müsste man tausende haben."<br />

"Denke ich auch. Zwei weitere sind bald fertig und Achim hat kürzlich noch ein Dutzend Bausätze<br />

gekauft, als er nach Freiburg musste."<br />

"Ob die für den Garten ausreichen?"<br />

"Für den Garten reichen wahrscheinlich schon drei Roboter. Die sind schließlich den ganzen Tag<br />

unterwegs und selbst nachts können sie auf Schneckenjagd gehen, wenn sie Methan getankt haben."<br />

"Schade, dass es für den Rest der Welt nicht genug gibt."<br />

"Für die schnelle Verbreitung der Agri-Bots habe ich ges<strong>org</strong>t. Ins Internet habe ich eine<br />

Bauanleitung und das Betriebsystem gestellt, zum kostenlos runterladen. Die häufigsten Pflanzen und<br />

Schädlinge gibt es auch kostenlos."<br />

"Das gefällt mir. Und woran verdienen wir bei der Angelegenheit?"<br />

"Wenn die Benutzer spezielle Pflanzenarten oder Schädlinge erkennen lassen wollen und nicht die<br />

Geduld haben, ihren Roboter selbst mit Informationen und Bildern zu füttern, dann können sie gegen<br />

eine Gebühr diese Infos bei uns runterladen. Aber das soll so billig sein, dass es sich jeder leisten


kann. Ausserdem werde ich selber Agri-Bots herstellen und an Bauern verkaufen, die kein Talent<br />

haben, so einen Roboter selbst zusammen zu bauen."<br />

"Wunderbar! Dann sollten wir den Agri-Bot in Ruhe arbeiten lassen und uns dem Jahresfest<br />

widmen."


Kapitel 49<br />

Herr und Frau Trautmann kamen an einem herrlichen Frühlingsabend am Bahnhof an. Jens holte<br />

mal wieder die Familienkutsche aus der Fahrradkammer. Sonja und Johanna fuhren mit ihren<br />

normalen Fahrrädern, denn sie wollten die Ankunft ihrer Eltern auf keinen Fall verpassen.<br />

Als der Zug endlich kam und die Passagiere ausstiegen, konnte Jens die Trautmanns erst gar nicht<br />

entdecken, doch Sonja stürmte auf ein älteres Ehepaar zu und warf sich in die Arme der Frau. Auch<br />

Johanna hatte die beiden als ihre Eltern erkannt und eilte auf ihren Vater zu. Jens folgte gemessenen<br />

Schrittes.<br />

Die Trautmanns sahen schrecklich aus; min<strong>des</strong>tens zehn Jahre älter als bei ihrer letzten<br />

Begegnung. So, wie sie jetzt aussahen, passten sie wunderbar zu den Wiedemanns, denn sie wirkten<br />

kaum jünger. Vor allem Frau Trautmanns Zustand war bes<strong>org</strong>niserregend. Tränen der<br />

Wiedersehensfreude strömten über ihr Gesicht, und es sah so aus, als hätte sie in letzter Zeit ständig<br />

geweint.<br />

Ob sie wohl genug trinkt, um so viel zu weinen, dachte sich Jens bei diesem Anblick. Dann schalt<br />

er sich für diesen taktlosen Gedanken, beschloss aber dennoch, dafür zu s<strong>org</strong>en, dass Frau<br />

Trautmann wenigstens genug zu trinken bei ihnen finden würde, am besten aber genug<br />

Lebensfreude, damit sie nicht mehr ständig weinen musste.<br />

Auch an Essen hatte es in der Stadt wohl gemangelt, denn beide Eltern hatte enorm abgenommen.<br />

Sie sahen so aus wie die meisten der Armen, wenn sie das erste Mal zur Armenspeisung kamen.<br />

Sobald die Töchter mit ihren Umarmungen fertig waren, wurde es Zeit für Jens, die Trautmanns<br />

seinerseits zu begrüssen. Als er ihnen die Hände schüttelte, fühlte er sich merkwürdig zwiegespalten.<br />

Einerseits war da immer noch die Steifheit und die alte Geschichte mit dem Kampf um ihre Tochter<br />

hing in der Luft, aber andererseits waren auch neue Gefühle hinzugekommen, die wohl durch die<br />

zahlreichen Telefonate, vor allem in schwierigen Situationen entstanden waren.<br />

Herr Trautmann schlug ihm andeutungsweise auf den Oberarm, was sich wie eine herzliche<br />

Umarmung anfühlte, wenn man an den Stand der Beziehung zwischen den beiden bedachte. Dann<br />

lud Jens das Gepäck in die Familienkutsche, bat die Trautmanns Platz zu nehmen und machte sich<br />

auf den Weg nach Hause.<br />

Beim Anblick der spriessenden Pflanzen wunderte sich Frau Trautmann immer wieder über den<br />

Fortschritt <strong>des</strong> Frühling hier im Süden. Im Norden herrschte anscheinend noch tiefster Winter.<br />

Heide hatte inzwischen ein leckeres Aben<strong>des</strong>sen mit Frühlingssalat aus dem Garten vorbereitet.<br />

Beim Essen entspannten sich die Trautmanns und min<strong>des</strong>tens eines der Jahre fiel wieder von ihnen<br />

ab.<br />

Nach dem Essen erzählten die Trautmanns von ihrem Leben in der Stadt. Sehr viel war für sie gar<br />

nicht geschehen, denn die meiste Zeit hatten sie im Haus verbracht, weil es ihnen auf den Straßen zu<br />

unsicher war. Viele der Nachbarn waren ausgeraubt worden, trotz der Absicherung ihres Stadtteils. Im<br />

Winter hatten die Trautmanns vorwiegend von Konserven gelebt und von uraltem eingemachten Obst,<br />

das Frau Trautmann im Laufe der Jahre angesammelt hatte.<br />

Wenn sie sich mal in einen Supermarkt trauten, war dieser meistens fast ausverkauft und sobald<br />

die Inflation losgallopierte, konnten sie sich manchmal kaum eine Tüte Mehl leisten. Die tägliche Fahrt<br />

zur Arbeit wurde für Herrn Trautmann zur Angstpartie und nicht wenige der Kollegen wurden<br />

unterwegs überfallen. Diese Schilderungen erklärten eindrucksvoll, warum sie Sonja bei Johanna<br />

hatten leben lassen.<br />

In den ersten Tagen schienen die Trautmann-Eltern noch recht verloren, wenn sie tagsüber vom<br />

Wiedemann-Hof herüber kamen. Bald fühlte sich Frau Trautmann jedoch in der Armenküche zuhause,<br />

wo sie das Szepter übernahm, sehr zu Erleichterung von Johanna. Herr Trautmann widmete sich den<br />

Verwaltungstätigkeiten, was Jens richtiggehend begeisterte, denn dieser Teil seines anstrengen<br />

Lebens war ihm immer verhasst gewesen. Die Begeisterung schien auf Herrn Trautmann abzufärben,<br />

denn er blühte sichtbar auf, brachte wunderbare Ordnung ins Chaos und ganz allmählich begann eine<br />

Art Freundschaft zwischen den beiden Herren Trautmann zu keimen.<br />

Kurz nach der Frühjahrsaussaat, die diesmal grossteils von den Agri-Bots erledigt wurde, erreichte<br />

eine schreckliche Nachricht das Dorf: Ein Einsatzkommando, das aus Polizei und Zoll bestand, hatte


ein Dorf nahe Berlin mit militärähnlicher Gewalt erobert und besetzt. Unter den Bauern befanden sich<br />

zahlreiche Tote.<br />

Nur zwei Tage später wurde das nächste Dorf Opfer einer solchen Attacke. Die Medien<br />

versuchten, die Ereignisse nur am Rande zu erwähnen, doch in zahlreichen Internetforen sammelten<br />

sich Menschen, die sich gegen solche staatlichen Plünderungen wehren wollten. Alle Arten von Ideen<br />

wurden ausgetauscht, von harter Gewalt bis hin zu rechtlichen Winkelzügen.<br />

Durchs Internet erfuhren sie auch von den ersten erfolgreichen Verteidigungs-Aufständen der<br />

Landbevölkerung. In mehreren Fällen hatte es Tote auf beiden Seiten gegeben. Der Kampf schien<br />

sich jedoch zu lohnen, denn von den wenigen Überlebenden der besiegten Dörfer, die noch übers<br />

Internet kommunizieren konnten, erfuhr man, dass dort das blanke Chaos ausgebrochen war und die<br />

Besatzer die Bevölkerung brutal unterdrückten, als wären sie Gefangene. Zu Essen gab es kaum<br />

noch, sodass die Menschen die Brennesseln in ihren Gärten aßen. Nach und nach verstummten diese<br />

Meldungen aus erster Hand jedoch und von den Dörfer, die zuerst besetzt wurden, hörte man nichts<br />

mehr.<br />

Die siegreichen Gegenden schienen jedoch aufzublühen und der Handel kam dort wieder in<br />

Bewegung. Das gab den Menschen genug Hoffnung, um sich an eigene Vorbereitung gegen<br />

staatliche Angriffe zu wagen.<br />

Ähnlich wie beim überregionalen Austausch in der virtuellen Welt, trafen sich die Menschen im<br />

echten Leben in Kneipen und hielten Besprechungen ab, wie sie sich am besten verteidigen konnten.<br />

Sogar in der Kirche fanden Sitzungen statt, denn die Bewohner der Kleinstadt hatten sich wie<br />

selbstverständlich auf die Seite der Bauern geschlagen, weil sie genau wussten, was sie an ihren<br />

Nahrungserzeugern hatten.<br />

Bei einem dieser Treffen vertrat Jens vehement einen möglichst unblutigen Kampf, denn die<br />

Angreifer seien ja auch nur einfache Leute, die ihren Job machten. Die wirklich Bösen saßen<br />

schließlich sicher in ihren panzerglasgeschützten Büros. Da der Pfarrer und auch etliche andere Jens<br />

Standpunkt unterstützten, einigten sie sich darauf, dass sie nur im Falle von akuter Notwehr zu<br />

tödlichen Waffen greifen würden.<br />

Ein Bauer, den Jens bisher noch nicht näher kannte, schlug vor, Krähenfüsse zu streuen, um die<br />

Fahrzeuge der Eindringlinge lahmzulegen. Als viele fragten, was das überhaupt sei, erklärte er, dass<br />

Krähenfüsse zwei gebogene Nägel seien, die zusammengeschweisst wurden. Dadurch stand immer<br />

min<strong>des</strong>tens eine Spitze nach oben, egal wie man den Krähenfuss hinwarf.<br />

Jens erklärte sich bereit, für einen Teil der Produktion seine Werkstatt zur Verfügung zu stellen. Ein<br />

anderer stellte eine Liste mit Nagelspenden zusammen.<br />

Der nächste Vorschlag kam von einem Bauern mit Schnurrbart und Kugelbauch: "Meine<br />

Verwandten in Frankreich haben sich schon oft mit Jauche gegen den Staat gewehrt; das wirkt besser<br />

als man glauben mag."<br />

"Jauche klingt gut; die werden sich schön ärgern."<br />

"Aber wir brauchen den Dung doch zur Ölgewinnung."<br />

"Tja, Waffen sind meistens eine kostspielige Angelegenheit."<br />

Barrikaden wurden auch v<strong>org</strong>eschlagen und beschlossen und allmählich bildete sich eine<br />

Verteidigungsstrategie heraus, die je<strong>des</strong> Dorf für sich, aber in Kooperation mit den Nachbardörfern<br />

vorbereiten würde.<br />

Die regionalen Polizeireviere standen zur Bevölkerung, denn sie hielten es nicht für ihre Aufgabe,<br />

ihre Schutzbefohlenen zu bekämpfen, wenn sich diese nichts hatten zuschulden kommen lassen.<br />

In Freiburg gab es tagelange Massendemonstrationen gegen die Raubzüge <strong>des</strong> Staates. Dieses<br />

Volksbegehren hatte zur Folge, dass sich der Bürgermeister, der sowieso eher zur Seite der<br />

Bevölkerung tendierte, von der zentralen Staatsgewalt lossagte. Mit den Landkreisen vereinbarte er<br />

faire Abgaben, lieferbar in Naturalien.<br />

Freiburg nannte sich jetzt stolz: freie Stadt Freiburg. Schon nach wenigen Tagen konnte man eine<br />

Verbesserung der Situation spüren, erzählte Andreas bei einem Telefonat mit Jens.<br />

Die verbleibende grosse Bedrohung kam jetzt aus Stuttgart, denn die Lan<strong>des</strong>hauptstadt war streng<br />

staatstreu und schickte ihre Einsatztruppen gnadenlos aus.


Abends nach der Feldarbeit, die jetzt glücklicherweise nicht mehr so anstrengend war, dass sie<br />

einen völlig auslaugte, sass Jens mit seiner Familie und Freunden in der Werkstatt und produzierte<br />

Krähenfüsse. Die meisten hatten einfache Zangen in der Hand und bogen die Nägel. Jens und ein<br />

paar Andere betätigten die beiden Schweissgeräte und verbanden die krummen Nägel zu den<br />

gefürchteten Krähenfüssen.<br />

Achim kümmerte sich um die Installation zahlreicher Überwachungskameras, die sie teilweise aus<br />

alten Handies konstruiert hatten. Jens s<strong>org</strong>te hierbei für die Programmierung der neuen Aufgabe und<br />

Achim konstruierte Halterungen und Ständer, die er dann auf den Feldern der Umgebung aufbaute.<br />

Während all der Vorbereitungen auf staatliche Übergriffe, musste Jens sich noch um die<br />

Vermarktung seiner Roboter kümmern. Inzwischen gab es viele Nachahmer, die mithilfe der Baupläne<br />

eigene Agri-Bots gebaut hatten und Jens' Betriebsystem verbreitete sich schneller als erwartet.<br />

Für die Zusatz-Updates gab es zwar viele Interessenten, doch die Zahlung erwiess sich als<br />

schwierig, denn die Inflation frass den grössten Teil von Überweisungen. Überregional gab es leider<br />

keinen Regio-Franken, und um die Vorteile <strong>des</strong> stabilen Schweizer Franken nutzen zu können,<br />

brauchte man ein Konto in der Schweiz.<br />

Glücklicherweise war die Schweiz nicht weit, sodass Jens frühm<strong>org</strong>ens nach Basel radeln konnte,<br />

um dort ein Konto zu eröffnen. Am besten wäre noch ein Firmensitz in Liechtenstein gewesen, aber<br />

angesichts der potentiellen Bedrohung seines Zuhauses wollte er nicht länger als einen Tag<br />

unterwegs sein.<br />

Natürlich würde Jens weiterhin Steuern zahlen; an den Regionalkreis und die Stadt Freiburg, die<br />

mehrere Regionalkreise zu einem lockeren Verbund zusammenfasste. Der ferne Staat aber, der mit<br />

jedem Heller, den er in die Finger bekam, das Unheil vergrösserte, würde in Zukunft leer ausgehen.<br />

Unterwegs rief Jens stündlich zuhause an, um schnell umdrehen zu können, falls die<br />

Einsatztruppen anrücken sollten. Doch der Tag blieb ruhig und so konnte Jens, nur durch<br />

Grenzformalitäten unterbrochen, sein Vorhaben ungestört durchführen. Er fühlte sich fast zuhause<br />

unter den Schweizern, denn ihre Sprache klang ganz ähnlich wie der Dialekt der heimischen Bauern,<br />

an den sich Jens inzwischen schon gewöhnt hatte. Manchmal ertappte er sich sogar selbst schon bei<br />

einen Anflug von Dialekt in seiner Sprache.<br />

Die Schweizer Bank bot ein spezielles Programm für deutsche Unternehmer, mit Infobroschüren<br />

über die Rechtslage und einfachen Überweisungsmöglichkeiten von Deutschland in die Schweiz. Jens<br />

war sehr dankbar für diese Unterstützung, überzeugt, dass Herr Trautmann das Finanzgeflecht in den<br />

Griff bekommen würde.<br />

Herr Trautmann überraschte immer wieder mit den tollsten Tricks beim Umgang mit<br />

Verwaltungsangelegenheiten. Den insolventen Firmen hatte er anscheinend nicht nur geholfen,<br />

sondern auch deren Methoden gelernt, wie man das letzte Geld in Sicherheit bringen konnte. Bei<br />

seinen Ideen achtete er jedoch immer streng darauf, dass es gerecht zuging, den er war ein starker<br />

Verfechter von Recht und Ordnung in ihrer ursprünglichen Bedeutung.<br />

Über all diese Dinge dachte Jens nach, als er auf dem Rückweg war. Kaum war er wieder<br />

zuhause, erhielten sie beim Aben<strong>des</strong>sen eine erschreckende Nachricht: Die erste Region im<br />

Oberrheintal war angegriffen worden.


Kapitel 50<br />

Tag für Tag rückten die Truppen näher und über das Internet erfuhr man von Triumphen und<br />

Niederlagen. Anscheinend gab es min<strong>des</strong>tens ein Dutzend Trupps, die unabhängig voneinander<br />

operierten. Die Orte wurden ohne erkennbares Muster angegriffen; wahrscheinlich um den<br />

Überraschungseffekt zu nutzen.<br />

Alle spürten, wie sich die Schlinge immer enger zusammenzog.<br />

Mit jedem Tag, der ohne Angriff verging, stieg die Wahrscheinlichkeit, dass es sie am nächsten<br />

Tag erwischen würde. Kaum noch jemand traute sich, das Dorf zu verlassen, weil jederzeit die Gefahr<br />

bestand, unterwegs von den Truppen aufgegriffen zu werden.<br />

Die Überwachungskameras waren unentwegt im Einsatz und ein Team von Männern wechselte<br />

sich im Schichtdienst bei der Beobachtung der Bildschirme ab. Bewegungsmelder sollten zusätzlich<br />

Alarm geben, falls die Gegner unbeobachtet anrücken würden.<br />

Eines M<strong>org</strong>ens, kurz vor Sonnenaufgang, war es soweit. Die Alarmglocken schrillten in jedem<br />

Haus und rissen die Schläfer aus den Betten.<br />

Die Frauen brachten die Kinder in eine zentrumsnahe Scheune, die für diesen Einsatz schon lange<br />

vorbereitet war. Ausser von den wehrhaften unter den Frauen wurde die Scheune noch von Herrn<br />

Trautmann bewacht. Er führte die einzige Pistole <strong>des</strong> Dorfes mit sich, die von einem Jäger aus einem<br />

Nachbardorf ausgeliehen worden war.<br />

Zur Überraschung aller hatte Herr Trautmann nämlich langjährige Jugenderfahrungen als<br />

Sportschütze und war zudem der einzige der Männer, der bereit war, auf den aktiven Kampf an der<br />

Dorffront zu verzichten. Also lag es hauptsächlich in Herrn Trautmanns Verantwortung, alle Frauen<br />

und Kinder zu retten, falls der Kampf blutreich verloren gehen sollte.<br />

In einem Nebenraum der Scheune standen die Überwachungsbildschirme, und so konnten die<br />

Frauen und Herr Trautmann verfolgen, was im Kampfgebiet geschah. Für die Kinder waren besonders<br />

abwechslungsreiche Spiele <strong>org</strong>anisiert worden, damit sie vom Geschehen abgelenkt wurden.<br />

Ausserdem war je<strong>des</strong> einzelne genau instruiert, wie es sich im schlimmsten Fall verkriechen konnte.<br />

Sogar eine Flucht in die Weinberge war mehrmals geübt worden.<br />

Die Kampftruppe <strong>des</strong> Dorfes bezog Stellung und auch die beiden Fahrzeuge der freiwilligen<br />

Feuerwehr waren rechtzeitig da. Die Feuerwehrautos wurden hinter einem Busch und einer alten<br />

Scheune versteckt. Als die Bauern mit den Saatmaschinen anrollten, konnte man auf der Höhe von<br />

Jens' Feldern schon die Wagenkolonne sehen.<br />

Die sieben Einsatzfahrzeuge näherten sich zügig der mühsam aufgebauten Barrikade. Vorweg fuhr<br />

ein Spezialfahrzeug, das an einen Schneepflug erinnerte.<br />

Als wären die Barrikaden Streichhölzer fegte das Pflugfahrzeug sie einfach zur Seite.<br />

Die Bauern hielten den Atem an.<br />

"Jetzt wird gesät!", rief Achim, der die Kampfhandlungen koordinierte.<br />

Die zuständigen Bauern brachten ihre Saatmaschinen in Stellung und begannen, mit ihren<br />

Maschinen die liebevoll gebastelten Krähenfüße auf die Straße zu schleudern, sodass ein<br />

breitgestreuter Teppich entstand.<br />

Das Pflugfahrzeug fuhr unbeeindruckt weiter.<br />

Doch die normalen Einsatzfahrzeuge blieben eins nach dem anderen mit schlingernden Reifen<br />

stehen.<br />

Je sechs Uniformierte mit Schutzhelmen entstiegen den gestrandeten Wagen. Sie sammelten sich<br />

bei dem Pflugfahrzeug und hielten anscheinend eine Besprechung ab, bei der sie immer wieder in<br />

Richtung Bauern blickten.<br />

Die Bauern schauten ihrerseits erwartungsvoll zu den Angreifern; die Spannung hätte man<br />

schneiden können.<br />

Minuten verstrichen.


Bei den Angreifern entwickelte sich ein lebhafter Disput. Leider konnte keiner der anwesenden<br />

Bauern von den Lippen ablesen, sonst hätten sie gewusst, was dort unten besprochen wurde.<br />

Plötzlich formierten sich die Angreifer und brachten ihre Maschinengewehre in Anschlag.<br />

Achim gab ein knappes Signal und die Feuerwehrmänner brachten ihre Schläuche in Position.<br />

Die Angreifer marschierten los, im Schritttempo von dem Pflugfahrzeug begleitet.<br />

Sie kamen näher - und näher.<br />

Von den Bauern rührte sich keiner. Sie standen einfach nur da.<br />

Die Uniformierten kamen noch näher.<br />

Achim nickte kurz.<br />

Aus vollen Rohren schoss die Jauche von beiden Seiten aus den Feuerwehrschläuchen.<br />

Die Angreifer wurden von oben bis unten vollgespritzt, schützten ihre behelmten Köpfe notdürftig<br />

mit den Armen und flohen nach einer Schrecksekunde außer Reichweite der Jaucheschläuche.<br />

Das Fenster <strong>des</strong> Pflugfahrzeuges war nach kurzer Zeit vollständig zugekleistert, sodass die<br />

Insassen nichts mehr sehen konnten. Sie entstiegen prustend ihrem Fahrzeug, in dem es<br />

anscheinend schon nasenbetäubend stank.<br />

Vom letzten Schwall Jauche wurden auch diese Angreifer durchtränkt, obwohl sie flohen, so<br />

schnell sie konnten.<br />

In sicherer Entfernung sammelten sich die geschlagenen Gegner und beschlossen anscheinend im<br />

kurzen Gespräch den Rückzug. Einer nach dem anderen setzte sich in breitbeinig in Bewegung und<br />

strebte fort vom Dorf.<br />

"Seht euch diese angewiderten Gesichter an.", jubilierte Achim und reichte seinen Feldstecher<br />

herum.<br />

"Spätestens jetzt wissen sie, dass sie einen beschissenen Job haben."<br />

Der Abzug der feindlichen Truppe wurde genauestens überwacht. Nicht dass denen einfallen<br />

sollte, nochmal zurückzukehren.<br />

"Beim nächsten Brand wird das Löschwasser bestimmt stinken.", warnte einer der<br />

Feuerwehrmänner.<br />

"Was für den einen der Gestank <strong>des</strong> Niedergangs ist, bedeutet für uns den wohlriechenden Duft<br />

<strong>des</strong> Triumphes."<br />

Als die Angreifer schon deutlich außer Sichtweite <strong>des</strong> Feldstechers waren, entschlossen sich die<br />

meisten, mit den Siegesfeierlichkeiten zu beginnen. Drei Männer blieben als Wache zurück,<br />

unterstützt natürlich von den unermüdlichen Kameras. Achim versprach den Wächtern, ihnen<br />

baldmöglichst eine Probe <strong>des</strong> Siegestrunkes vorbeizubringen.<br />

In einem Triumphzug schritten die Männer zur Scheune, wo sie jubelnd empfangen wurden. Schon<br />

knallten die ersten Korken <strong>des</strong> leckeren heimischen Sektes und Gläser wurden herumgereicht.<br />

Trotz der immernoch frühen Stunde genossen die Erwachsenen den Umtrunk. Die meisten hielten<br />

sich nach dem ersten Glas jedoch zurück, um für Notfälle einen klaren Kopf zu behalten.<br />

Die Siegesfeier in der Scheune wurde das rauschendste Dorffest, an das sich die Bewohner<br />

erinnerten. Die Kinder hatten in der aufregenden Wartezeit einen lustigen Sketch einstudiert, den sie<br />

stolz zum Besten gaben. Sie erhielten überbordenden Applaus, der, wie jeder wusste, auch dem<br />

gemeinsamen Kampf der Dorfbewohner galt.<br />

Gegen Mittag verschwanden einige Frauen und kamen mit schwerbeladenen Tabletts zurück, die<br />

sie schnell zu einem Büffet zusammenstellten.<br />

"Weiss überhaupt irgendeiner, worum es bei dem Angriff überhaupt ging?", fragte jemand in die<br />

Runde.<br />

"Vielleicht wollten sie einfach gemein sein."<br />

"Unsinn. Das können nur wildgewordene Abtrünnige sein."<br />

"Oder das war wegen dieser Sondersteuer."


"Schade, dass sie alle davongerannt sind. So konnten wir keinen befragen."<br />

"Das nächste Mal sollten wir Gefangene machen und sie fragen, was sie eigentlich wollen."<br />

Die Vorschläge über den zukünftigen Umgang mit Angreifern <strong>des</strong> fernen Staatsapparates wurden<br />

immer zahlreicher und steigerten sich teilweise ins Absurde, was der Freude an jeder neuen Idee aber<br />

keinen Abbruch tat.<br />

Keiner befürchtete jedoch ernsthaft, dass die vermeintlichen Zolltruppen noch lange durchhalten<br />

würden. Von wiederholten Angriffen auf widerspenstige Dörfer hatten sie schon eine Weile nichts<br />

mehr gehört.<br />

Nach dem Essen gingen Jens und Johanna nach Hause, denn sie wollten nach der ganzen<br />

Aufregung etwas Ruhe tanken.<br />

Ausserdem nahmen sie die Filmaufnahmen mit, um sie schnellstmöglich den anderen Dörfern per<br />

Internet zu Verfügung zu stellen. Zur Erklärung verfassten sie noch einen kurzen Bericht der<br />

Ereignisse.<br />

Spontan strebten beide anschließend ihrem Schlafzimmer zu. Die Aufregung hatte ihre<br />

Leidenschaft erweckt und so nutzten sie die Gunst der Stunde.<br />

Später lagen sie gemütlich aneinander gekuschelt im Bett.<br />

"Vor lauter Aufregung bin ich noch gar nicht dazu gekommen, dir zu sagen, dass wir in der letzten<br />

Woche Bombengeschäfte mit unseren Roboter-Updates gemacht haben."<br />

"Das ist ja toll; wir können es gut gebrauchen."<br />

"Stell dir vor: das Geld reicht sogar aus, um ein ganzes Schiff voller Bausätze in Korea zu<br />

bestellen. Gestern habe ich das getan und das Schiff ist schon unterwegs zu uns."<br />

"Aber wie willst du denn ein ganzes Schiff voller Roboter zusammenbauen?"<br />

"Du errätst es bestimmt."<br />

"Ach ja! Natürlich! Unsere Armen können die zusammenbauen und sich damit Geld verdienen."<br />

"Genau!"<br />

"Das ist ja wunderbar, denn dann haben sie endlich eine Arbeit."<br />

"Ich bin auch froh über jeden, dem wir eine Zukunft geben können."<br />

"Da wird bald noch jemand sein, dem wir eine Zukunft geben müssen."<br />

"Wie meinst du das?"<br />

"Du errätst es bestimmt."<br />

"Hm, wart mal. Du bist doch nicht etwa schwanger?"<br />

"Doch, wir bekommen ein Baby."<br />

"Das ist ja wunderbar, denn inzwischen dürfte die Zeit reif sein, dass wir uns ein Baby gönnen."<br />

Jens küsste die werdene Mutter und strich ihr sanft über den noch flachen Bauch.<br />

"Mir fällt gerade ein, dass wir jetzt ja wieder in den Supermarkt fahren können, um uns mit Kaffee<br />

und Gewürzen einzudecken.", sagte Johanna und stand auf.<br />

"Gute Idee! Ich glaube, ich komme auch mit."<br />

"Hast du Geld einstecken?"<br />

"Da muss ich mal nachsehen. Dank deines Vaters muss ich mich ja nur noch selten mit Bargeld<br />

rumschlagen.", Jens zog sein schmales Portemonnaie aus der Tasche.<br />

Sein Geldbeutel war fast leer. Jens stülpte ihn um und entleerte den gesamten Inhalt auf den<br />

Tisch. Auch mehrfaches Zählen der Regio-Franken ergab kein befriedigen<strong>des</strong> Ergebnis. Ob sich in<br />

der Ladenkasse wohl noch Reservegeld finden ließ? Ein paar Scheine lagen tatsächlich in der<br />

Schublade; s<strong>org</strong>fältig einsortiert in die passenden Fächer, um immer Geld griffbereit zu haben.<br />

Insgesamt reichte Jens' gesammelte Barschaft nur für einen mittleren Familieneinkauf, aber für die<br />

Importwaren wie Kaffee würde es wohl locker reichen. Er wusste in diesem Moment, dass sie viel<br />

erreicht hatten, aber dass es auch noch viel zu tun gab, um der Krise endgültig Herr zu werden.


- Ende -

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