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Grundlagen des Europarechts - Michael Poropatich

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<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

Einführung Europarecht – Notizen und Fälle.<br />

Aus der Übung von Univ.-Ass. Mag. Cornelia Leeb im SoSe 2013.<br />

Skriptum: Lengauer, Einführung in das Europarecht (2012/2013). Zudem Borchard,<br />

Die rechtlichen <strong>Grundlagen</strong> der EU 4 (2010). Sowie Unterlagen aus der Übung von<br />

Mag. Rosmarie Doblhoff-Dier im WiSe 2012.<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Entstehung der EU .................................................................................................. 2<br />

Zum Begriff Europarecht ......................................................................................... 3<br />

Übersicht über die Unionsorgane (Art. 13 EUV) ...................................................... 3<br />

Ministerrat (Art. 16 EUV) ......................................................................................... 3<br />

Europäischer Rat (Art. 15 EUV) ............................................................................... 4<br />

Europäische Kommission (Art. 17 EUV) .................................................................. 4<br />

Europäisches Parlament (Art. 14 EUV) ................................................................... 5<br />

Europäischer Gerichtshof (Art. 19 EUV) .................................................................. 5<br />

Gesetzgebungsverfahren (Art. 289, 294 AEUV) ...................................................... 6<br />

Primär- und Sekundärrecht...................................................................................... 6<br />

Demokratisches Verfassungsprinzip (Art. 10 EUV) ................................................. 7<br />

Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 3 EUV) ................................................................. 8<br />

Institutionelles Gleichgewicht der EU ...................................................................... 8<br />

Autonomie <strong>des</strong> Unionsrechts ................................................................................... 8<br />

Verfassungsordnung der EU ................................................................................... 9<br />

Effektivitätsprinzip .................................................................................................... 9<br />

Vorrang <strong>des</strong> Unionsrechts ....................................................................................... 9<br />

Estoppel-Prinzip .................................................................................................... 10<br />

Unmittelbare Wirkung <strong>des</strong> Unionsrechts ............................................................... 10<br />

Staatshaftung ........................................................................................................ 13<br />

Grund- und Menschenrechte ................................................................................. 15<br />

Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 2 EUV) ........................... 15<br />

Prinzip der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 4 EUV) .............................................. 16<br />

Kompetenz-Kategorien .......................................................................................... 16<br />

Vertragsabrundungskompetenz (Art. 352 AEUV) .................................................. 16<br />

Implied Powers ...................................................................................................... 16<br />

Richtlinienkonforme Auslegung ............................................................................. 16<br />

Auslegung <strong>des</strong> Unionsrechts ................................................................................. 18<br />

Rechtsschutz ......................................................................................................... 18<br />

Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) .................................................... 18<br />

Nichtigkeitsklage (Art. 263 AEUV) ......................................................................... 20<br />

Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258, 259 AEUV) ............................................. 21<br />

Untätigkeitsklage (Art. 265 AEUV) ......................................................................... 22<br />

Rechtsmittelverfahren ............................................................................................ 23<br />

Bindungswirkung von Urteilen <strong>des</strong> Gerichtshofes der EU ..................................... 23<br />

Binnenmarkt (Art. 3 Abs 3 EUV) ............................................................................ 23<br />

Diskriminierungsverbot .......................................................................................... 24<br />

Beschränkungsverbot ............................................................................................ 25<br />

Prüfungsschema bei Grundfreiheiten .................................................................... 25<br />

Warenverkehrsfreiheit (Art. 28, 34 AEUV) ............................................................. 26<br />

Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) ............................................................. 28<br />

Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV)................................................................... 29<br />

Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) ................................................................... 30<br />

Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV)................................................................... 31<br />

Wirtschafts- und Währungsunion (Art. 3 Abs 3 EUV) ............................................ 31<br />

25.07.2013 1


<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

Entstehung der EU<br />

-) Ziele der Europäischen Einigung sind der Abbau von wirtschaftlichen Barrieren<br />

und die Sicherung eines dauerhaften Friedens.<br />

-) Mitte <strong>des</strong> 12. Jh schlossen sich deutsche Kaufleute zum Schutzbund „Hanse“ zusammen,<br />

um gemeinsam den Fernhandel zu sichern. Fremde Machthaber erteilten<br />

ihnen Handelsprivilegien, um den gemeinsamen Handel zu fördern. Im 14. Jh wandelte<br />

sich die Hanse von einem Kaufmannsbund in einen politischen Städtebund<br />

unter der Führung der Stadt Lübeck. Der Hansetag war das Hauptorgan der Hanse.<br />

Er erließ wirtschaftsrechtliche Normen.<br />

Die Hanse dachte grundsätzlich über nationale Grenzen hinaus und ließ nationale<br />

Vorurteile und religiöse Gegensätze nicht gelten.<br />

-) 1951 gründeten Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Niederlande und Luxemburg<br />

die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und unterstellten<br />

sie der Hohen Behörde.<br />

Motiv der Gründung war, einen weiteren Krieg zwischen Deutschland und Frankreich<br />

wirtschaftlich unmöglich zu machen, indem man deren Kohle- und Stahlproduktion<br />

zusammenlegte.<br />

-) 1957 gründeten die Gründungsmitglieder der EKGS die Europäische Atomgemeinschaft<br />

(EAG) und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG).<br />

Ziel der EWG war es, mittels wirtschaftlicher Integration die <strong>Grundlagen</strong> für eine<br />

politische Einigung der europäischen Völker zu schaffen.<br />

-) Gründungsverträge sind:<br />

Vertrag von Paris 1951 (1952) über die Gründung der EGKS<br />

Vertrag von Rom 1957 (1958) über die Gründung von EAG und EWG<br />

-) Vertragsänderungen sind:<br />

Fusionsvertrag 1965 (1967)<br />

Einheitliche Europäische Akte 1985 (1987)<br />

Vertrag von Maastricht 1992 (1993)<br />

Vertrag von Amsterdam 1997 (1999)<br />

Vertrag von Nizza 2001 (2003)<br />

Vertrag über eine Europäische Verfassung 2004<br />

Vertrag von Lissabon 2007 (2009)<br />

Der Fusionsvertrag schuf gemeinsame Organe für die drei Europäischen Gemeinschaften<br />

EGKS, EAG und EWG.<br />

Die Einheitliche Europäische Akte erklärte die Schaffung einer Europäischen Union<br />

zum ausdrücklichen Ziel.<br />

Der Vertrag von Maastricht wird auch als der Vertrag über die Europäische Union<br />

(EUV) bezeichnet. Er begründete die Europäische Union. Er bereitete auf die Wirtschafts-<br />

und Währungsunion vor. Er intensivierte die politische Zusammenarbeit in<br />

den Bereichen Außenpolitik, Verteidigung, Polizei und Justiz. Er führte die Unionsbürgerschaft<br />

und eine Petition ein. Er benannte die EWG in Europäische Gemeinschaft<br />

(EG) um.<br />

Der Vertrag von Amsterdam vergemeinschaftete die Bereiche Visa, Asyl, Einwanderung<br />

und freien Personenverkehr.<br />

Der Vertrag von Nizza führte institutionelle Reformen durch, damit die EU in Hinblick<br />

auf die bevorstehende „Osterweiterung“ handlungsfähig bleibt.<br />

Die EU gab sich zudem ein Frühwarnsystem gegen schwerwiegende Verletzungen<br />

ihrer Grundsätze durch Mitgliedstaaten. Damit wurde die Konsequenz aus den Problemen<br />

gezogen, die die bilateralen Sanktionen der EU-14 gegen die Beteiligung<br />

der FPÖ an der Regierung in Österreich aufgeworfen hatten.<br />

25.07.2013 2


<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

Der Vertrag über eine Europäische Verfassung zielte darauf ab, die Strukturen der<br />

EU auf eine Gemeinschaft von 27 Staaten anzupassen, das Demokratiedefizit zu<br />

beheben und das über zahlreiche Verträge zerstreute Primärrecht in einer einheitlichen<br />

Urkunde zu kodifizieren. Seine Ratifikation scheiterte.<br />

Als Demokratiedefizit der EU wird die Einschätzung bezeichnet, dass die EU in ihrem<br />

politischen Wirken nicht ausreichend demokratisch legitimiert sei.<br />

Den Vertrag von Lissabon reformierte den Vertrag über die Europäische Union<br />

(EUV) und den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV). Er<br />

benannte den EGV in den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union<br />

(AEUV) um. Er machte die Charta der Grundrechte für alle Mitgliedstaaten, ausgenommen<br />

das Vereinigte Königreich und Polen 1 , rechtsverbindlich. Er verlieh der<br />

EU eine eigene Rechtspersönlichkeit.<br />

Die EU wurde mit der EG vollkommen verschmolzen. Die EAG blieb als supranationale<br />

Organisation bestehen.<br />

Zum Begriff <strong>des</strong> <strong>Europarechts</strong><br />

-) Europarecht im engeren Sinne ist das Recht der EU.<br />

Der Vertrag von Lissabon bestimmt den EUV und den AEUV zur Grundlage der<br />

EU. Der EUV zählt Werte (Art. 2 EUV) und Ziele (Art. 3 EUV) auf. Der AEUV konkretisiert<br />

die Umsetzung der Politiken. Die Charta der Grundrechte ist den Verträgen<br />

EUV und AEUV rechtlich gleichrangig ist (Art. 6 EUV).<br />

-) Europarecht im weiteren Sinne schließt auch das Recht anderer europäischer<br />

Organisationen mit ein, wie zB das Recht <strong>des</strong> Europarates.<br />

Übersicht über die Unionsorgane (Art. 13 EUV)<br />

Grafik: http://www.bpb.de/internationales/europa/europaeische-union/42961/grafikinstitutionen<br />

-) Gesetzgebende Organe der EU sind der Ministerrat, die Europäische Kommission,<br />

das Europäische Parlament und die Europäische Zentralbank (EZB).<br />

Die Europäische Zentralbank steuert die Geldmenge der europäischen Währung<br />

„Euro“ und ist für die Stabilität dieser Währung verantwortlich.<br />

-) Kontrollierende Organe der EU der Europäische Gerichtshof (EuGH) und der<br />

Rechnungshof.<br />

Der Rechnungshof prüft die Rechtmäßigkeit und Ordnungsgemäßheit der Einnahmen<br />

und Ausgaben der EU. Er überzeugt sich von der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung.<br />

-) Beratende Organe der EU sind der Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA)<br />

und der Ausschuss der Regionen.<br />

Der Wirtschafts- und Sozialausschuss vertritt die Zivilgesellschaft.<br />

Der Ausschuss der Regionen vertritt die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften.<br />

Ministerrat (Art. 16 EUV)<br />

-) Der Ministerrat ist das zentrale Lenkungs- und Entscheidungsorgan der EU. Er<br />

repräsentiert die Regierungen der Mitgliedstaaten.<br />

-) Der Ministerrat besteht aus einem Fachminister je Mitgliedstaat. Er tagt je nach<br />

Thema der Ratssitzung in unterschiedlichen Formationen. Den Vorsitz bei jeder<br />

1 Der Europäische Rat sicherte dieses Opt-Out auch Tschechien zu.<br />

25.07.2013 3


<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

Ratssitzung hat das jeweilige Mitgliedsland, das gerade die Ratspräsidentschaft<br />

ausübt.<br />

Der Ausschuss der Ständigen Vertreter bereitet die Entscheidungen <strong>des</strong> Ministerrates<br />

vor, sodass die Minister bei ihren Treffen idR nur noch strittige Fragen beraten<br />

müssen. Er wird von Ausschüssen und Arbeitsgruppen unterstützt.<br />

-) Der Ministerrat entscheidet idR mit qualifizierter Mehrheit. Jeder Fachminister ist<br />

befugt, für seine Regierung verbindlich zu handeln und das Stimmrecht auszuüben.<br />

-) Gemeinsam mit dem Europäischen Parlament ist der Ministerrat als Gesetzgeber<br />

der EU tätig. Er stimmt die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten aufeinander ab. Er<br />

verabschiedet gemeinsam mit dem Europäischen Parlament den Haushaltsplan<br />

der EU. Er schließt im Namen der EU internationale Abkommen zwischen der EU<br />

einerseits und Drittstaaten oder internationalen Organisationen andererseits ab.<br />

Europäischer Rat (Art. 15 EUV)<br />

-) Der Europäische Rat legt die allgemeine politische Richtung der EU fest. Er hat<br />

keine gesetzgebende Gewalt. Seine Beschlüsse münden jedoch in die Gesetzgebung.<br />

-) Der Europäische Rat besteht aus den Staats- und Regierungschefs der EU-Länder,<br />

dem Präsidenten der Kommission, dem Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik<br />

und dem Präsidenten <strong>des</strong> Europäischen Rates.<br />

Der Präsident <strong>des</strong> Europäischen Rates hat den Vorsitz der Tagungen inne. Er wird<br />

für eine Amtszeit von 2,5 Jahren gewählt. Er darf während dieser Zeit kein einzelstaatliches<br />

Amt ausüben.<br />

-) Der Europäische Rat entscheidet idR im Konsens. Dabei wird nicht formell abgestimmt,<br />

sondern nur die Absenz einer ausdrücklichen Gegenstimme registriert.<br />

-) Der Europäische Rat trifft politische Grundsatzentscheidungen und hält sie in<br />

Schlussfolgerungen fest. Diese Schlussfolgerungen richten das Handeln <strong>des</strong> Ministerrats<br />

und der Europäischen Kommission aus. ohne rechtlich verbindlich zu sein.<br />

Europäische Kommission (Art. 17 EUV)<br />

-) Die Kommission vertritt ausschließlich das Gesamtinteresse der EU. Sie verwaltet<br />

die EU mit rund 30.000 Bediensteten. Sie verfügt als einziges Unionsorgan über<br />

das Initiativrecht, Gesetze vorzuschlagen.<br />

-) Die Kommission besteht aus je einem Staatsangehörigen eines jeden Mitgliedsstaats.<br />

Sie wird von einem Präsidenten geführt. Der Präsident legt die Leitlinien<br />

fest, nach denen die Kommission ihre Arbeit ausübt. Er überträgt jedem Kommissar<br />

die Verantwortung für einen bestimmten Politikbereich.<br />

-) Die Kommission entscheidet mit der Mehrheit ihrer Mitglieder. Die Kommissare<br />

üben ihr Amt unabhängig aus. Sie dürfen weder Weisungen ihres Heimatstaates<br />

anfordern, noch dürfen sie solche entgegennehmen.<br />

-) Der Europäische Rat ernennt die Kommission für 5 Jahre. Die Zustimmung <strong>des</strong><br />

Europäischen Parlaments ist dafür zwingend notwendig.<br />

Die Kommission wird folgendermaßen ernannt:<br />

Der Europäische Rat schlägt einen Kandidaten für das Amt <strong>des</strong> Präsidenten der<br />

Kommission vor. Das Europäische Parlament stimmt diesem Kandidaten zu. Der<br />

Europäische Rat wählt im Einvernehmen mit dem <strong>des</strong>ignierten Präsidenten die<br />

übrigen Mitglieder der Kommission aus Vorschlagslisten der Mitgliedstaaten aus.<br />

Die zukünftigen Kommissare stellen sich einzeln einem Hearing im Europäischen<br />

Parlament. Das Europäische Parlament stimmt dem gesamten Kollegium zu. Der<br />

Europäische Rat ernennt offiziell die neue Kommission.<br />

25.07.2013 4


<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

-) Die Kommission ist gegenüber dem Europäischen Parlament verantwortlich. Die<br />

gesamte Kommission muss zurücktreten, wenn das Parlament ihr das Misstrauen<br />

ausspricht (Art. 234 AEUV). Der Gerichtshof der EU kann einzelne Mitglieder der<br />

Kommission auf Antrag <strong>des</strong> Ministerrates oder der Kommission wegen schwerer<br />

Verfehlungen oder Amtsunfähigkeit ihres Amtes entheben (Art. 245 AEUV).<br />

-) Die Kommission überwacht, ob die Mitgliedstaaten das Unionsrecht ordnungsgemäß<br />

anwenden („Hüterin der Verträge“). Sie schlägt dem Ministerrat und dem<br />

Europäischen Parlament Gesetze vor. Sie führt den Haushaltsplan aus. Sie weist<br />

Finanzhilfen zu. Sie vertritt die EU nach außen hin mit Ausnahme der Gemeinsamen<br />

Außen- und Sicherheitspolitik.<br />

Europäisches Parlament (Art. 14 EUV)<br />

-) Das Europäische Parlament vertritt die Unionsbürger auf europäischer Ebene.<br />

-) Die Abgeordneten <strong>des</strong> Europäischen Parlaments bilden politische Fraktionen.<br />

Sie sind nicht nach Staatszugehörigkeit gruppiert. Die Anzahl der Abgeordneten<br />

pro Land richtet sich nach der jeweiligen Bevölkerungsgröße.<br />

-) Das Europäische Parlament entscheidet idR mit absoluter Mehrheit der abgegebenen<br />

Stimmen.<br />

Es werden jedoch zunehmend strengere Anforderungen an die Präsenzpflicht der<br />

Abgeordneten gestellt. So gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Entscheidungen,<br />

die nur mit der absoluten Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl <strong>des</strong> Europäischen<br />

Parlaments zustande kommen können.<br />

-) Die Unionsbürger wählen alle 5 Jahre die 754 Abgeordneten <strong>des</strong> Europäischen<br />

Parlaments in allgemeiner, direkter, freier und geheimer Wahl nach der Wahlordnung<br />

<strong>des</strong> jeweiligen Mitgliedstaates.<br />

-) Gemeinsam mit dem Ministerrat ist das Europäische Parlament als Gesetzgeber<br />

und als Haushaltsbehörde der EU tätig. Es kontrolliert politisch die Arbeit der übrigen<br />

Organe der EU. Es trifft Personalentscheidungen.<br />

Die Haushaltsbehörde der EU legt jährlich die Ausgaben und Einnahmen der EU<br />

fest.<br />

Das Europäische Parlament behandelt Petitionen von Unionsbürgern. Es setzt Untersuchungsausschüsse<br />

ein bei Vertragsverletzungen oder mangelhafter Anwendung<br />

<strong>des</strong> Unionrechts.<br />

Das Europäische Parlament wählt den Kommissionspräsidenten. Es stimmt über<br />

die Kommission als Kollegium ab. Es wählt den Bürgerbeauftragten. Es ernennt<br />

zusammen mit dem Ministerrat den Europäischen Datenschutzbeauftragten.<br />

Europäischer Gerichtshof (Art. 19 EUV)<br />

-) Der Gerichtshof der EU wacht im Zusammenwirken mit den Gerichten der Mitgliedstaaten<br />

über die einheitliche Anwendung und Auslegung <strong>des</strong> Unionsrechts. Er<br />

besteht aus dem Gerichtshof, dem Gericht und dem Gericht für den öffentlichen<br />

Dienst.<br />

-) Der Gerichtshof (EuGH) besteht aus einem Richter je Mitgliedstaat und 8 Generalanwälten.<br />

Die Generalanwälte schreiben unparteilich und unabhängig die Rechtsgutachten<br />

(„Schlussanträge“), auf denen die Richter ihr Urteil stützen.<br />

Der EuGH tagt im Regelfall als Kammer mit 3 oder 5 Richtern.<br />

Als Große Kammer mit 13 Richtern tagt der EuGH, wenn ein Mitgliedstaat oder ein<br />

Unionsorgan als Partei <strong>des</strong> Verfahrens dies beantragt oder wenn die Richter die<br />

Rechtssache als komplex oder bedeutsam einschätzen.<br />

25.07.2013 5


<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

Als Plenum mit allen Richtern tagt der EuGH in jenen Fällen, die in seiner Satzung<br />

vorgesehen sind (zB Amtsenthebung eines Mitglieds der Europäischen Kommission,<br />

das seine Amtspflichten verletzt hat), oder wenn die Richter die Rechtssache<br />

als außergewöhnlich bedeutsam einschätzen.<br />

-) Die Regierungen der Mitgliedstaaten ernennen einvernehmlich die Richter <strong>des</strong><br />

EuGH auf 6 Jahre. Wiederernennung ist zulässig.<br />

Jeder Mitgliedstaat benennt je einen Richter. Die benannte Person ist unabhängig.<br />

Sie erfüllt die Voraussetzungen, in ihrem Heimatstaat die höchsten richterlichen<br />

Ämter auszuüben, oder ist als juristisch gelehrter Beamter, Politiker, Rechtsanwalt,<br />

Hochschullehrer etc hervorragend befähigt. Die Mitgliedstaaten hören einen eigenen<br />

Ausschuss an, bevor sie die Richter einvernehmlich ernennen. Der Ausschuss<br />

nimmt dazu Stellung, wie geeignet die Bewerber für die Ausübung <strong>des</strong> Amts eines<br />

Richters sind. Die Stellungnahme ist für die Mitgliedstaaten unverbindlich.<br />

-) Der EuGH befasst sich mit verfassungsrechtlichen Fragen. Er urteilt darüber, ob<br />

in einem Einzelfall gegen Unionsrecht verstoßen wurde (Anwendung der Verträge)<br />

oder wie strittige Texte in den Verträgen zu verstehen sind (Auslegung der Verträge).<br />

Er erarbeitet und entwickelt fort in seiner Rechtsprechung die Verfassungsordnung<br />

der EU auf Grundlage der Verträge (EUV, AEUV, CGR).<br />

-) Das Gericht (EuG) besteht ebenfalls aus einem Richter je Mitgliedstaat. Es befasst<br />

sich mit verwaltungsrechtlichen Fragen. Es ist insb zuständig für Klagen von<br />

Privatpersonen und für Rechtssachen im Zusammenhang mit unfairem Wettbewerb<br />

zwischen Unternehmen.<br />

-) Das Gericht für den öffentlichen Dienst (EuGöD) besteht aus 7 Richtern. Es entscheidet<br />

in erster Instanz über Streitsachen zwischen der EU und ihren Bediensteten.<br />

Es entscheidet nicht über Streitsachen zwischen nationalen Verwaltungen und<br />

ihren Bediensteten.<br />

Gesetzgebungsverfahren (Art. 289, 294 AEUV)<br />

Grafik: http://www.bpb.de/internationales/europa/europaeische-union/42965/grafikgesetzgebung<br />

-) Die Kommission schlägt Rechtsakte vor (zB Verordnungen, Richtlinien oder Beschlüsse).<br />

Ministerrat und Parlament beschließen die Rechtsakte, wobei die Vorlagen<br />

der Kommission meist umfangreiche Änderungen erfahren. Die Mitgliedstaaten<br />

vollziehen die Rechtsakte. Der Gerichtshof garantiert die Einhaltung der Rechtsakte.<br />

Er legt die Rechtsakte aus.<br />

-) Ministerrat, Parlament und Unionsbürger im Rahmen einer Bürgerinitiative können<br />

die Kommission auffordern, Rechtsakte vorzuschlagen.<br />

Primär- und Sekundärrecht<br />

-) Die Rechtsordnung der EU besteht aus primärem und sekundärem Recht. Das<br />

Sekundärrecht wird auf Grundlage <strong>des</strong> Primärrechts erlassen. Rechtssubjekte sind<br />

Mitgliedstaaten, Unionsorgane sowie Personen (Unternehmen und Unionsbürger)<br />

wegen der unmittelbaren Wirkung <strong>des</strong> Unionsrechts.<br />

-) Das Primärrecht umfasst geschriebenes und ungeschriebenes Recht. Das Sekundärrecht<br />

umfasst verbindliches und unverbindliches Recht.<br />

-) Geschriebenes Primärrecht sind der EUV, der AEUV und die Charta der Grundrechte,<br />

einschließlich sämtlicher Beitrittsverträge, Anhänge und beigefügter Protokolle.<br />

Protokolle erfassen Ausnahmen von vertraglichen Regelungen für einzelne Mitgliedstaaten<br />

und konkretisieren den Vertragstext.<br />

-) Ungeschriebenes Primärrecht sind allgemeine Rechtsgrundsätze. Sie schließen<br />

Lücken im Ordnungssystem <strong>des</strong> Unionrechts.<br />

25.07.2013 6


<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

Allgemeine Rechtsgrundsätze <strong>des</strong> Unionsrechts sind zB der Anwendungsvorrang<br />

<strong>des</strong> Unionsrechts oder die unmittelbare Wirkung von Bestimmungen <strong>des</strong> Unionsrechts.<br />

Sie werden aus Ziel und System der Verträge entwickelt.<br />

Allgemeine Rechtsgrundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam<br />

sind, sind zB die Gewährleistung der Grundrechte, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit<br />

oder das Gebot der Rechtssicherheit.<br />

-) Verbindliches Sekundärrecht sind Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse.<br />

Nur diese Rechtsakte lassen sich mit dem Rechtsbehelf der Nichtigkeitsklage bekämpfen.<br />

Die Verordnung (Abs. 288 Abs. 2 AEUV) ist das Instrument zur Rechtsvereinheitlichung.<br />

Sie ist am ehesten mit einem innerstaatlichen Gesetz vergleichbar. Sie gilt<br />

allgemein. 2 Sie ist in allen ihren Teilen verbindlich. 3 Sie wirkt unmittelbar nach ihrem<br />

Inkrafttreten. 4 Adressaten sind Mitgliedstaaten und ihre Behörden sowie alle<br />

Personen, die in den persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung fallen.<br />

Die Richtlinie (Abs. 288 Abs. 3 AEUV) ist das Instrument zur Rechtsangleichung.<br />

Sie für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich <strong>des</strong> zu erreichenden<br />

Zieles verbindlich. Der Mitgliedstaat entscheidet, wie er die Richtlinie in nationales<br />

Recht umsetzt.<br />

In Österreich kommen für die Umsetzung von Richtlinien (Verfassungs-)Gesetze<br />

und Verordnungen auf Bun<strong>des</strong>- und Lan<strong>des</strong>ebene in Betracht.<br />

Der Beschluss (Abs. 288 Abs. 4 AEUV) ist wie eine Verordnung in allen seinen<br />

Teilen verbindlich. Anders als die Verordnung, kann er sich auch an einzelne Mitgliedstaaten<br />

und einzelne Personen (Unternehmen und Unionsbürger) richten.<br />

2 Die Verordnung ist auf objektiv bestimmte Sachverhalte anwendbar und entfaltet<br />

Rechtswirkungen für einen abstrakt umrissenen Personenkreis.<br />

3 Die Verordnung regelt Rechte und Pflichten abschließend.<br />

4 Die Verordnung setzt in der gesamten EU unmittelbar gleiches Recht.<br />

Der an einen bestimmten Adressaten gerichtete Beschluss ist der typische Rechtsakt,<br />

mit dem die Unionsorgane Einzelfälle verbindlich regeln. Er gilt individuell. Er<br />

bindet seinen Adressaten unmittelbar.<br />

Anwendungsfälle sind zB die Genehmigung oder die Untersagung der Gewährung<br />

staatlicher Beihilfen, die Nichtigkeitserklärung wettbewerbswidriger Vereinbarungen<br />

oder Absprachen oder die Verhängung von Bußgeldern oder Zwangsmaßnahmen.<br />

-) Unverbindliches Sekundärrecht sind Empfehlungen und Stellungnahmen. Sie<br />

entfalten politische oder moralische Wirkung. Sie können an Mitgliedstaaten, Unionsorgane<br />

oder Personen gerichtet sein.<br />

Die Empfehlung legt dem Adressaten ein bestimmtes Verhalten nahe, ohne diesen<br />

jedoch rechtlich zu verpflichten.<br />

In Stellungnahmen beurteilen Unionsorgane die gegenwärtige Lage oder bestimmter<br />

Vorgänge in der EU oder in den Mitgliedstaaten.<br />

-) Atypische Rechtsakte sind Rechtsakte, die nicht in Art. 288 AEUV aufgeführt<br />

sind. Es handelt sich dabei unter anderem um Entschließungen, Entscheidungen<br />

und Mitteilungen sowie vorbereitende Maßnahmen wie Weiß- und Grünbücher.<br />

Diese Rechtsakte haben eine politische Reichweite. Sie sind idR nicht rechtlich<br />

bindend. Eine allfällige Verbindlichkeit bleibt auf den institutionellen Rahmen der<br />

EU beschränkt.<br />

Demokratisches Verfassungsprinzip (Art. 10 EUV)<br />

-) Die Arbeitsweise der EU beruht auf einer repräsentativen Demokratie. Der Unionsbürger<br />

wählt direkt seine Vertretung im Europäischen Parlament. Er wählt indirekt<br />

seine nationale Regierung und damit seine Vertretung im Ministerrat und im<br />

Europäischen Rat. Die Mitglieder <strong>des</strong> Ministerrates und <strong>des</strong> Europäischen Rates<br />

sind wiederum ihren nationalen Parlamenten verantwortlich.<br />

25.07.2013 7


<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

-) Mit einer erfolgreichen Europäischen Bürgerinitiative kann die Kommission von<br />

Unionsbürgern aufgefordert werden, einen Rechtsakt zu einem bestimmten Thema<br />

vorzuschlagen (Art. 11 Abs. 4 EUV). Ein Bürgerausschuss leitet die Europäische<br />

Bürgerinitiative.<br />

Die Europäische Bürgerinitiative weist Merkmale einer Petition auf, wodurch sie<br />

sich vom österreichischen Volksbegehren unterscheidet.<br />

Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 3 EUV)<br />

-) Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass die EU nur Vorschriften in jenen Bereichen<br />

erlassen darf, die nicht besser auf regionaler oder staatlicher Ebene geregelt<br />

werden können.<br />

-) Das Subsidiaritätsprinzip räumt den nationalen Parlamente ein direktes Mitspracherecht<br />

während <strong>des</strong> Gesetzgebungsverfahrens der EU ein.<br />

Meint ein nationales Parlament, dass ein Vorhaben der EU dem Subsidiaritätsprinzip<br />

widerspricht, kann es dagegen mittels einer „Begründeten Stellungnahme“ Einspruch<br />

erheben.<br />

-) Nationale Parlamente können den EuGH anrufen, damit dieser bereits erlassene<br />

Rechtsakte auf Einhaltung <strong>des</strong> Subsidiaritätsprinzips überprüft (Subsidiaritätsklage).<br />

Institutionelles Gleichgewicht der EU<br />

-) Das institutionelle Gleichgewicht ist das europarechtliche Äquivalent zur Gewaltenteilung.<br />

Sie verhindert Machtkonzentrationen durch die gegenseitige Kontrolle<br />

und Hemmung der eingerichteten Unionsorgane (checks and balances).<br />

Art 4. Abs. 4 EUV verpflichtet die Unionsorgane loyal zusammenzuarbeiten. Je<strong>des</strong><br />

Unionsorgan bewegt sich innerhalb seines Kompetenzbereiches, den ihm die Verträge<br />

zugewiesen haben. Kein Unionsorgan greift in die Befugnisse eines anderen<br />

ein. Der EuGH achtet darauf, dass das institutionelle Gleichgewicht gewahrt wird.<br />

-) Gewaltenteilung bedeutet, dass die Staatsgewalt in verschiedene Staatsfunktionen<br />

geteilt und auf verschiedene Organe aufgeteilt wird. Staatsfunktionen sind die<br />

Gesetzgebung, die Verwaltung und die Gerichtsbarkeit. Die Aufteilung auf verschiedene<br />

Organe soll Machtkonzentrationen zu verhindern. Die Organe sind berufen,<br />

sich gegenseitig zu kontrollieren.<br />

-) Auf Unionsebene obliegt die Gerichtsbarkeit dem Gerichtshof, die Gesetzgebung<br />

der Kommission, dem Ministerrat und dem Parlament und die Verwaltung der Kommission<br />

und dem Ministerrat. Die Fachminister <strong>des</strong> Ministerrats sorgen für einen<br />

geordneten Verwaltungsvollzug <strong>des</strong> EU-Rechts in den Mitgliedstaaten.<br />

Autonomie <strong>des</strong> Unionsrechts<br />

-) Die Gesamtaktlehre von Ipsen erklärt die Rechtsnatur der EU.<br />

-) Die EU ist keine Internationale Organisation, Die Mitgliedstaaten haben zugunsten<br />

der EU auf Teile ihrer Hoheitsgewalt verzichtet. Der EU fallen Tätigkeitsbereiche<br />

zu, die in ihrer Gesamtheit die Existenz der Mitgliedstaaten prägen.<br />

-) Die EU ist kein staatlicher Verband. Ihr fehlt die Allzuständigkeit und die Befugnis,<br />

neue Zuständigkeiten zu schaffen (Kompetenz-Kompetenz).<br />

Die Mitgliedstaaten bestimmen die Grenzen der EU. Die Deutsche Wiedervereinigung<br />

vergrößerte das Gebiet der EU. Der Austritt Grönlands verkleinerte das Gebiet<br />

der EU. Der EU fehlt nicht nur die umfassende Gebietshoheit, sondern auch<br />

die Personalhoheit. Die Unionsbürgerschaft ist akzessorischer Natur, weil sie nur<br />

im Zusammenhang mit Staatsbürgerschaft in einem Mitgliedstaat verliehen wird.<br />

-) Die EU ist supranational. Sie kann im Durchgriff auf jeden Unionsbürger wirksame<br />

Normen erlassen. Europäische Kommission und Europäisches Parlament han-<br />

25.07.2013 8


<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

deln unabhängig. Mitgliedstaaten und Unionsbürger unterliegen der Gerichtsbarkeit<br />

<strong>des</strong> EuGH. Die EU finanziert sich nicht nur Beiträge der Mitgliedstaaten, sondern<br />

auch durch Eigenkapital.<br />

-) Aus der Supranationalität der EU folgt, dass das Unionsrecht autonom ist, dh aus<br />

sich selbst heraus unabhängig von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gilt.<br />

Leitentscheidungen Rs Van Gend & Loos, Rs Costa gegen ENEL.<br />

-) Konsequenzen aus der Autonomie <strong>des</strong> Unionrechts sind ua:<br />

Unionsrecht hat Anwendungsvorrang vor entgegenstehendem nationalem Recht.<br />

Bei vertikaler unmittelbarer Wirkung kann sich der Einzelne vor einer nationalen<br />

Behörde darauf berufen und daraus Rechte ableiten.<br />

EUV, AEUV und CGR sind eigenständig auszulegen, und nicht anhand einer bestimmten<br />

mitgliedstaatlichen Rechtsordnung. Dabei sind dem Unionsrecht zugehörige<br />

Interpretationsmethoden heranzuziehen.<br />

Mitgliedstaaten und Personen suchen Rechtsschutz innerhalb <strong>des</strong> Unionrechts.<br />

Verfassungsordnung der EU<br />

-) EUV und AEUV begründen die Verfassungsordnung der EU.<br />

Die Verträge begründen eine autonome Rechtsordnung. Der EuGH erkennt in seiner<br />

Rechtsprechung die Grundfreiheiten <strong>des</strong> AEUV als konstitutionalisierte Freiheitsrechte<br />

an, die der Einzelne einklagen kann. Die Verträge begrenzen die Macht<br />

insofern, als selbständige Organe die Mitgliedstaaten und die Unionsbürger vertreten,<br />

Grund- und Menschenrechte gewährleistet sind und ein Rechtsschutzsystem<br />

sicherstellt, dass die EU rechtmäßig handelt.<br />

-) Der EuGH erarbeitet und entwickelt fort in seiner Rechtsprechung die Verfassungsordnung<br />

der EU auf Grundlage der Verträge (EUV, AEUV, CGR).<br />

Effektivitätsprinzip<br />

-) Das Effektivitätsprinzip besagt, dass das Unionsrecht so auszulegen und anzuwenden<br />

ist, dass es seine größtmögliche praktische Wirkung (effet utile) entfalten<br />

kann. Unionsrecht darf nicht unterlaufen werden.<br />

Vorrang <strong>des</strong> Unionsrechts<br />

-) Die Mitgliedstaaten dürfen keine nationale Rechtsvorschrift anwenden, die im Widerspruch<br />

zum Unionsrecht steht.<br />

-) Unionsrecht hat Anwendungsvorrang vor nationalem Recht vom Zeitpunkt <strong>des</strong><br />

Inkrafttretens an. Anwendungsvorrang bedeutet, dass die entgegenstehende nationale<br />

Rechtsvorschrift unangewendet bleibt, ohne außer Kraft zu treten.<br />

Leitentscheidungen Rs Simmenthal, Rs Costa gegen ENEL.<br />

Geltungsvorrang bedeutet, dass die entgegenstehende nationale Rechtsvorschrift<br />

nicht nur unangewendet bleibt, sondern auch ihre Geltung verliert.<br />

-) Unionsrecht verdrängt innerstaatliche Gesetze, Verordnungen und Bescheide.<br />

Leitentscheidung Rs Ciola.<br />

-) Nationale Behörden sind zu positivem Tun (zB Erlassung einer Verfügung) verpflichtet,<br />

um dem Unionsrecht effektiv zur Anwendung zu verhelfen. Die Verpflichtung<br />

stützt sind auf den Anwendungsvorrang <strong>des</strong> Unionsrechts, das Effektivitätsprinzip<br />

und das Loyalitätsgebot der Mitgliedstaaten (Art. 4 Abs. 3 EUV).<br />

Leitentscheidung Rs Factortame.<br />

-) Strittig ist, ob das Unionsrecht auch Vorrang vor dem „integrationsfesten Verfassungskern“<br />

eines Mitgliedstaats hat.<br />

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<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

Übungsfall<br />

Der französische Staatsbürger Bertrand Brisetout hat eine neue Mikrowelle gekauft.<br />

Aufgrund eines Produktfehlers explodiert diese bei der Inbetriebnahme und<br />

verwüstet seine Küche. Das Unternehmen Société Bricoleur, das die Mikrowelle<br />

hergestellt hat, trifft an dem Produktfehler kein Verschulden. Bertrand möchte aber<br />

den Schaden auf jeden Fall ersetzt haben und bringt Klage ein.<br />

Der Fall landet vor dem zuständigen französischen Gericht. Der Richter verschafft<br />

sich einen Überblick über die Rechtslage und ist verwirrt:<br />

Im französischen Zivilgesetzbuch steht, dass Hersteller für derartige Schäden nur<br />

bei Verschulden haften. Die VO 85/374/EWG sieht hingegen vor, dass der Hersteller<br />

eines Produkts unabhängig von jedem Verschulden für Schäden haftet, die sein<br />

Produkt verursacht hat.<br />

a) Wie hat der Richter nun in seinem Fall zu entscheiden? Begründen Sie genau<br />

(5P)!<br />

Die Verordnung ist Unionsrecht. Unionsrecht hat Anwendungsvorrang vor dem<br />

französischen Zivilgesetzbuch. Anwendungsvorrang bedeutet, dass die entgegenstehende<br />

französische Rechtsvorschrift unangewendet bleibt, ohne außer Kraft zu<br />

treten. Der Richter muss daher nach der Verordnung entscheiden.<br />

b) Wie lautet die entsprechende Leitentscheidung (1P)?<br />

Rs Simmenthal.<br />

Estoppel-Prinzip<br />

-) Das Estoppel-Prinzip besagt, dass sich ein Staat nicht zu Lasten einer Person<br />

auf eigene Versäumnisse (zB die mangelnde oder die unzulängliche Umsetzung einer<br />

Richtlinie) berufen kann.<br />

Unmittelbare Wirkung <strong>des</strong> Unionsrechts<br />

-) Der Einzelne kann sich vor einer nationalen Behörde direkt auf Unionsrecht berufen/stützen<br />

und daraus Rechte ableiten.<br />

Unmittelbare Anwendbarkeit bedeutet (strenggenommen) nur: keine Umsetzung<br />

erforderlich.<br />

-) Primärrecht wirkt unmittelbar, wenn gilt:<br />

Die angesprochene Norm ist hinreichend genau und bestimmt. Sie steht nicht unter<br />

dem Vorbehalt mitgliedstaatlicher Regelung .<br />

Leitentscheidung Rs Van Gend & Loos.<br />

-) Der EuGH hat folgende materiellrechtliche Bestimmungen <strong>des</strong> Primärrechts für<br />

unmittelbar wirksam erklärt:<br />

Diskriminierungsverbot aufgrund der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV)<br />

Warenverkehrsfreiheit (Art. 34 AEUV)<br />

Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV)<br />

Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV)<br />

Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV)<br />

Kapitalfreiheit (Art. 63 AEUV)<br />

Gebot der Lohngleichheit für Männer und Frauen (Art. 157 AEUV)<br />

Der allgemeine Gleichheitssatz <strong>des</strong> Unionsrechts (Art. 19 AEUV) ist mangels Bestimmtheit<br />

nicht unmittelbar wirksam.<br />

-) Verordnungen wirken unmittelbar.<br />

-) Richtlinien wirken unmittelbar, wenn gilt:<br />

Eine Person macht die Richtlinie gegenüber dem Staat geltend. Der Staat hat die<br />

Richtlinie nicht fristgerecht oder fehlerhaft umgesetzt. Die angesprochene Norm<br />

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<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

der Richtlinie ist inhaltlich unbedingt. Sie ist hinreichend genau und bestimmt. Sie<br />

berechtigt die Person, ohne sie zu verpflichten.<br />

Der EuGH rechtfertigt die Anerkennung unmittelbarer Wirkungen von Richtlinien<br />

teils mit dem Effektivitätsprinzip, teils mit dem Estoppel-Prinzip, teils mit dem Sanktionsgedanken.<br />

Leitentscheidung Rs Becker gegen Finanzamt Münster.<br />

-) Richtlinien können nur zwischen Staat und Person (vertikal), nicht aber zwischen<br />

Personen (horizontal) unmittelbar Wirkung entfalten.<br />

Der EuGH erkennt eine vertikale unmittelbare Wirkung von Richtlinien nicht an,<br />

weil sonst das unionsrechtswidrige Verhalten <strong>des</strong> Staates zu Lasten der beklagten<br />

Person ginge.<br />

Leitentscheidung Rs Faccini Dori.<br />

Die Person kann Schadenersatz vom Staat verlangen, wenn es in der Verantwortung<br />

<strong>des</strong> Staates gelegen ist, die Richtlinie umzusetzen (Staatshaftung für legislatives<br />

Unrecht).<br />

-) Der EuGH legt den Begriff <strong>des</strong> „Staates“ weit aus. Er fasst darunter auch Unternehmen,<br />

die unabhängig von ihrer Rechtsform Dienstleistungen im öffentlichen<br />

Interesse erbringen und dazu mit besonderen Rechten ausgestattet sind (zB Stadtwerke).<br />

Ob die klagende Person in einer privatrechtlichen oder öffentlich-rechtlichen<br />

Beziehung zu diesem Unternehmen steht, ist unerheblich.<br />

Leitentscheidung Rs Foster gegen Britisch Gas.<br />

-) Beschlüsse wirken unmittelbar.<br />

Übungsfall<br />

Das Transportunternehmen FRG führt Produkte von Mitgliedstaat A nach Mitgliedstaat<br />

B ein. Die Finanzverwaltung erhebt einen Wertzoll von 8% gemäß ihrer Zolltabelle.<br />

FRG fühlt sich hierdurch in seinen Rechten aus Art 30 AEUV verletzt. Zu<br />

Recht?<br />

FRG ist eine juristische Person. Art. 30 AEUV fällt unter Primärrecht. Die Norm verbietet<br />

ua Finanzzölle zwischen den Mitgliedstaaten. Sie ist hinreichend genau und<br />

bestimmt. Sie steht nicht unter dem Vorbehalt mitgliedstaatlicher Regelung.<br />

Die unionsrechtwidrige Erhebung <strong>des</strong> Wertzolls verletzt FRG in seinen Rechten.<br />

FRG kann sich auf Art. 30 AEUV berufen und muss keinen Zoll bezahlen.<br />

Übungsfall<br />

(6P) Frau Mag. C hat ihr BWL-Studium abgeschlossen. Sie möchte nun in Mitgliedstaat<br />

B arbeiten. In B wird ihr jedoch mitgeteilt, dass ihr Abschluss dort leider nicht<br />

anerkannt werde. Sie müsse ein weiteres Mal BWL in B studieren.<br />

Art. 3 der Diplomanerkennungsrichtlinie bestimmt, dass Diplome, die in einem anderen<br />

Mitgliedstaat erworben wurden, inländischen Diplomen gleichzusetzen sind.<br />

Frau Mag. Cs Pech: dieses Richtlinie wurde vom Mitgliedstaat B nicht fristgerecht<br />

umgesetzt. Kann sich Mag. C trotzdem auf die Richtlinie berufen?<br />

Die Richtlinie ist für den Staat B hinsichtlich <strong>des</strong> zu erreichenden Ziels verbindlich.<br />

Es bleibt B überlassen, wie er die Richtlinie umsetzt. Solange die Richtlinie nicht<br />

umgesetzt ist, kann die Person C sich grundsätzlich nicht darauf berufen.<br />

Geprüft wird nun, ob die Richtlinie unmittelbare Wirkung entfaltet.<br />

Die Person C macht die Richtlinie gegenüber dem Staat B geltend. B ist mit der<br />

Umsetzung der Richtlinie säumig. Art. 3 der Richtlinie ist inhaltlich unbedingt. Er ist<br />

hinreichend genau und bestimmt. Er räumt der C das Recht auf Anerkennung <strong>des</strong><br />

Diploms ein, ohne der C Verpflichtungen aufzuerlegen.<br />

Die Richtlinie entfaltet somit eine vertikale unmittelbare Wirkung zwischen B und C.<br />

C kann sich gegenüber B auf die Richtlinie berufen.<br />

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<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

Übungsfall<br />

Der österreichische Staatsbürger Peter Pechvogel fährt mit seinem Auto auf Sommerurlaub<br />

nach Italien. Dort wird er schuldlos in einen Autounfall mit dem Einheimischen<br />

Riccardo Rapido verwickelt. Peters Auto wird schwer beschädigt, die Reparaturkosten<br />

sind hoch.<br />

Herr Pechvogel wendet sich nach seinem Urlaub an einen befreundeten Rechtsanwalt.<br />

Dieser erklärt ihm, dass die Kraftfahrzeug-Richtlinie 2000/26/EG vorsieht,<br />

dass Geschädigte, die einen Verkehrsunfall in einem anderen Mitgliedstaat hatten,<br />

einen Direktanspruch gegen die ausländische Haftpflichtversicherung <strong>des</strong> Unfallverursachers<br />

haben.<br />

Italien hat die Richtlinie 2000/26/EG aber nicht umgesetzt. Kann sich Herr Pechvogel<br />

trotzdem gegenüber der italienischen Versicherung auf die entsprechende Bestimmung<br />

in der Richtlinie berufen? (7 Punkte)<br />

Die Richtlinie ist für Italien hinsichtlich <strong>des</strong> zu erreichenden Ziels verbindlich. Es<br />

bleibt Italien überlassen, wie es die Richtlinie umsetzt. Solange die Richtlinie nicht<br />

umgesetzt ist, kann Peter sich grundsätzlich nicht darauf berufen.<br />

Geprüft wird nun, ob die Richtlinie unmittelbare Wirkung entfaltet.<br />

Die natürliche Person Peter macht die Richtlinie gegen Riccardos Versicherung als<br />

juristische Person geltend. Da die Richtlinie zwischen Personen (horizontal) nicht<br />

unmittelbar wirkt, kann Peter sich nicht gegenüber der Versicherung auf die Richtlinie<br />

berufen.<br />

Eine Richtlinie kann nur zwischen Staat und Person (vertikal) unmittelbare Wirkung<br />

entfalten. Voraussetzungen dafür sind: Der Staat hat die Richtlinie nicht fristgerecht<br />

oder falsch umgesetzt. Die angesprochene Norm der Richtlinie ist inhaltlich unbedingt.<br />

Sie ist hinreichend genau und bestimmt. Sie berechtigt die Person, ohne sie<br />

zu verpflichten.<br />

Eventuell hat Peter gegen Italien einen Anspruch auf Schadenersatz wegen Nichtumsetzung<br />

der Richtlinie (Staatshaftung für legislatives Unrecht).<br />

Übungsfall<br />

Die Arbeitnehmergewerkschaft von Mitgliedstaat D erhebt beim EuGH gegen D eine<br />

Klage. Sie bringt vor, dass § 3 <strong>des</strong> nationalen Arbeitnehmergewerkschaftsgesetzes<br />

gegen Art. 45 AEUV verstößt. Außerdem verlangt sie, im Wege einer einstweiligen<br />

Verfügung die betreffende Vorschrift bis zur letztinstanzlichen Entscheidung<br />

auszusetzen, da ihr ein wahrscheinlich nicht wieder gutzumachender Schaden<br />

droht. D bringt vor, dass nach dem alten Grundsatz der Lex Delta gegen die<br />

Regierung keine einstweilige Verfügung ergehen könne.<br />

Was sagen Sie dazu? Muss Mitgliedstaat D dem Auftrag der einstweiligen Verfügung<br />

nachkommen?<br />

Die Arbeitnehmergewerkschaft ist eine juristische Person. Die Grundfreiheit Arbeitnehmerfreizügigkeit<br />

fällt unter Primärrecht. Sie ist unmittelbar wirksam. Die Arbeitnehmergewerkschaft<br />

kann sich gegen den Mitgliedstaat D darauf berufen.<br />

Der Staat D ist nach dem Anwendungsvorrang <strong>des</strong> Unionsrechts, dem Effektivitätsprinzip<br />

und dem Loyalitätsgebot der Mitgliedstaaten (Art. 4 Abs. 3 EUV) verpflichtet,<br />

den Rechtsschutz zu gewährleisten, der sich für die Arbeitnehmergewerkschaft<br />

aus der unmittelbaren Wirkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ergibt.<br />

Der Staat D ist zu positivem Tun verpflichtet. Er muss die einstweilige Verfügung<br />

erlassen. Er darf das entgegenstehende nationale Recht nicht weiter anwenden,<br />

weil sonst die praktische Wirksamkeit <strong>des</strong> Unionsrechts (effet utile) abgeschwächt<br />

werden würde.<br />

25.07.2013 12


<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

Staatshaftung<br />

-) Das Verfassungsprinzip der Staatshaftung übernimmt das in den meisten Mitgliedstaaten<br />

verfassungsrechtlich verankerte Prinzip der Amtshaftung 5 . Es stützt<br />

sich auf das Effektivitätsprinzip und das Estoppel-Prinzip. Das Loyalitätsgebot der<br />

Mitgliedstaaten (Art. 4 Abs. 3 EUV) bildet eine weitere Grundlage, weil die Mitgliedstaaten<br />

idR das Unionsrecht vollziehen.<br />

Der EuGH gleicht seine Rechtsprechung zur Staatshaftung an jene zur Haftung der<br />

EU gegenüber Personen auf Schadenersatz gem Art. 340 AEUV an.<br />

-) Eine Person hat gegen einen Mitgliedstaat einen Anspruch auf Schadenersatz<br />

wegen Verletzung <strong>des</strong> Unionsrechts, wenn gilt:<br />

Die Person ist geschädigt. Kausal und adäquat für ihren Schaden ist, dass der Mitgliedstaat<br />

gegen Unionsrecht verstoßen hat. Die verletzte Norm <strong>des</strong> Unionsrechts<br />

verleiht der Person Rechte. Die Rechte sind auf Grundlage dieser Norm zumin<strong>des</strong>t<br />

bestimmbar. Der Verstoß gegen Unionsrecht ist dem Mitgliedstaat zurechenbar. Er<br />

ist hinreichend qualifiziert.<br />

-) Der Geschädigte setzt seinen Anspruch auf Schadenersatz vor einem nationalen<br />

Gericht nach nationalem Haftungsrecht durch.<br />

Die Modalitäten der Durchsetzung dürfen nicht ungünstiger sein als bei gleichartigen<br />

nationalen Fällen. Sie dürfen nicht so ausgestaltet sein, dass die Erlangung<br />

der Entschädigung praktisch unmöglich oder übermäßig erschwert wird.<br />

Insbesondere darf das nationale Gericht die Entschädigung nicht davon abhängig<br />

machen, dass den staatlichen Amtsträger, dem der Verstoß zuzurechnen ist, ein<br />

Verschulden (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) trifft, das über den hinreichend qualifizierten<br />

Verstoß gegen das Unionsrecht hinausgeht.<br />

5 Amtshaftung ist die Haftung <strong>des</strong> Staates für rechtswidriges Handeln gegenüber<br />

eigenen Staatsangehörigen.<br />

Leitentscheidung Rs Francovich.<br />

-) Der zu ersetzende Schaden umfasst die erlittene Vermögensverminderung und<br />

den entgangenen Gewinn. Der Geschädigte ist verpflichtet, seinen Schaden so gering<br />

wie zumutbar zu halten.<br />

Leitentscheidungen Rs Brasserie du Pêcheur, Rs Factortame.<br />

-) Ein Verstoß gegen Unionsrecht ist hinreichend qualifiziert, wenn der Mitgliedstaat<br />

die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten<br />

hat. Verfügt der Mitgliedstaat über keinen Ermessensspielraum, so ist die<br />

bloße Verletzung von Unionsrecht ein hinreichend qualifizierter Verstoß.<br />

Das nationale Gericht beurteilt, ob ein Verstoß gegen Unionsrecht hinreichend qualifiziert<br />

ist.<br />

Das nationale Gericht zieht für die Beurteilung heran: wie klar und wie genau die<br />

verletzte Vorschrift ist; wie weit der Ermessensspielraum <strong>des</strong> Staates geht; ob der<br />

Verstoß vorsätzlich begangen worden ist; ob ein etwaiger Rechtsirrtum entschuldbar<br />

ist; ob ein Unionsorgan zum Fehlverhalten <strong>des</strong> Staates beigetragen hat.<br />

Ein Mitgliedstaat haftet insbesondere…<br />

…für legislatives Unrecht, wenn der Gesetzgeber eine Richtlinie gar nicht<br />

oder falsch umsetzt.<br />

…für exekutives Unrecht, wenn eine Verwaltungsbehörde die unmittelbare<br />

Wirkung einer Richtlinie nicht beachtet.<br />

…für judikatives Unrecht, wenn ein Gericht die Vorlagepflicht gem Art. 267<br />

AEU nicht beachtet.<br />

Ein Verstoß gegen Unionsrecht ist ebenso hinreichend qualifiziert, wenn der Mitgliedstaat<br />

einem Urteil oder der gefestigten Rechtsprechung <strong>des</strong> EuGH zuwiderläuft.<br />

25.07.2013 13


<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

Übungsfall<br />

Professor Callidus hat, bevor er einen Ruf an die Universität Wien angenommen<br />

hat, 4 Jahre lang einen Lehrstuhl an der deutschen Universität Heidelberg inne gehabt.<br />

Bei seiner Gehaltseinstufung an der Universität Wien weigert sich der österreichische<br />

Staat jedoch seine Vordienstzeiten aus Österreich anzuerkennen. Dadurch<br />

entsteht ihm Schaden in der Höhe von € 25.000. Callidus fühlt sich durch die<br />

Verweigerung der Anerkennung seiner Vordienstzeiten in seinem unionsrechtlich<br />

garantierten Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) verletzt.<br />

Der Professor überlegt nun, ob er den österreichischen Staat auf Ersatz <strong>des</strong> Schadens,<br />

welcher ihm durch den Verstoß gegen Unionsrecht entstanden ist, verklagen<br />

kann.<br />

a) Ist dies möglich? Welche Voraussetzungen müssen zur erfolgreichen Geltendmachung<br />

<strong>des</strong> Schadens vorliegen? (5P)<br />

Callidus ist geschädigt. Kausal und adäquat für seinen Schaden ist, dass eine österreichische<br />

Verwaltungsbehörde gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit verstoßen<br />

hat. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit verleiht Callidus das Recht auf Anerkennung<br />

seiner Vordienstzeiten. Dieses Recht ist auf Grundlage der Arbeitnehmerfreizügigkeit<br />

zumin<strong>des</strong>t bestimmbar. Der Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist<br />

Österreich zurechenbar. Er ist hinreichend qualifiziert, weil Österreich die Arbeitnehmerfreizügigkeit<br />

zu Lasten <strong>des</strong> Callidus nicht angewendet hat.<br />

Österreich haftet daher für den Schaden <strong>des</strong> Callidus.<br />

b) Nennen Sie eine Leitentscheidung! (1P)<br />

Rs Francovich.<br />

Übungsfall<br />

Die RL80/987 soll Arbeitnehmern einen Min<strong>des</strong>tschutz bei Zahlungsunfähigkeit <strong>des</strong><br />

Arbeitgebers gewährleisten. Der Mitgliedstaat A hat die Richtlinie nicht fristgerecht<br />

umgesetzt und diese ist auch nicht unmittelbar wirksam. Fritz Fleißig hat von seinem<br />

Arbeitgeber Erich Elektro seit Monaten kein Gehalt mehr bekommen. Erich<br />

Elektro ist pleite und flüchtet nach Südamerika.<br />

Fritz Fleißig wendet sich an Sie mit der Frage, ob er den Staat A verklagen kann,<br />

da dieser die Richtlinie nicht umgesetzt hat. (2P)<br />

Da die Richtlinie laut Sachverhalt nicht unmittelbar wirkt, kann Fritz Schadenersatz<br />

vom Staat A verlangen, wenn es in der Verantwortung <strong>des</strong> Staates A gelegen ist,<br />

die Richtlinie umzusetzen (Staatshaftung für legislatives Unrecht).<br />

Unter welchen Voraussetzungen haftet der Mitgliedstaat A in diesem Fall? (3P)<br />

Fritz ist geschädigt. Kausal und adäquat für seinen Schaden ist, dass der Mitgliedstaat<br />

A die Richtlinie nicht umgesetzt hat. Die Richtlinie verleiht Fritz das Recht auf<br />

Min<strong>des</strong>tschutz bei Zahlungsunfähigkeit <strong>des</strong> Erich. Dieses Recht ist auf Grundlage<br />

der Richtlinie zumin<strong>des</strong>t bestimmbar. Die Nichtumsetzung der Richtlinie ist ein<br />

Verstoß gegen Unionsrecht. Dieser Verstoß ist dem Mitgliedstaat A zurechenbar.<br />

Er ist hinreichend qualifiziert, weil der Mitgliedstaat A über keinen Ermessensspielraum<br />

bei der Umsetzung der Richtlinie verfügt.<br />

Der Mitgliedstaat A haftet daher für den Schaden <strong>des</strong> Fritz.<br />

In welchem Umfang wird der Schaden ersetzt? (1P)<br />

Das nationale Haftungsrecht bestimmt die Höhe <strong>des</strong> Schadens. Zu berücksichtigen<br />

sind die erlittene Vermögensverminderung und der entgangene Gewinn. Fritz ist<br />

verpflichtet, seinen Schaden so gering wie zumutbar zu halten.<br />

Nennen Sie die bekannte Grundsatzentscheidung in diesem Zusammenhang! (1P)<br />

25.07.2013 14


<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

Rs Francovich.<br />

Grund- und Menschenrechte<br />

-) Vor dem Abschluss <strong>des</strong> Vertrages von Lissabon gab es keinen eigenen Grundrechtekatalog.<br />

Von Beginn an wies das Primärrecht grundrechtsähnliche Bestimmungen auf:<br />

Diskriminierungsverbot aufgrund der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV)<br />

Gleichheitssatz (Art. 19 AEUV)<br />

Gebot der Lohngleichheit für Männer und Frauen (Art. 157 AEUV)<br />

Die Grundrechte waren als allgemeine Rechtsgrundsätze und damit als Teil <strong>des</strong><br />

Primärrechts anerkannt. Der EuGH bezog sich zunächst auf die gemeinsame Verfassungsüberlieferung<br />

der Mitgliedstaaten, dann auch auf völkerrechtliche Abkommen<br />

der Mitgliedstaaten, va die EMRK und ihre Zusatzprotokolle.<br />

Leitentscheidungen Rs Hauer, Rs Stauder, Rs Internationale Handelsgesellschaft.<br />

Im Vertrag von Maastricht wurde die Achtung <strong>des</strong> Grundrechtsschutzes als einer<br />

der allgemeinen Grundsätze der EU primärrechtlich kodifiziert.<br />

Die Charta der Grundrechte wurde von einem Europäischen Konvent erarbeitet<br />

und zum Auftakt <strong>des</strong> Europäischen Rates von Nizza am 7. Dezember 2000 proklamiert.<br />

Sie wurde der EMRK nachgebildet.<br />

Der Vertrag von Lissabon machte die Charta der Grundrechte rechtsverbindlich.<br />

-) Die Grundrechte gelten für Unionsbürger und für juristische Personen mit Sitz in<br />

der EU. An die Grundrechte sind neben den Unionsorganen auch die Mitgliedstaaten<br />

gebunden, soweit diese Unionsrecht vollziehen (zB Umsetzung von Richtlinien<br />

oder Vollzug von Verordnungen).<br />

Die Mitgliedstaaten unterliegen daher einer mehrfachen Grundrechtsbindung, jener<br />

aus dem Unionsrecht, jener aus dem jeweiligen Verfassungsrecht und jener aus<br />

der EMRK.<br />

-) Art. 6 Abs. 1 EUV bestimmt, dass die Charta der Grundrechte, der EUV und der<br />

AEUV rechtlich gleichrangig sind. Abs. 3 erklärt die Grundrechte der EMRK und<br />

der gemeinsamen Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten zu allgemeinen<br />

Rechtsgrundsätzen. Abs. 2 schafft die Rechtsgrundlage für den Beitritt zur EMRK<br />

Die EU als Behörde ist damit bereit, ihr gesamtes Handeln einer Begutachtung<br />

durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in punkto Menschenrechte<br />

zu unterwerfen.<br />

Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 2 EUV)<br />

-) Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung legt die Kompetenzverteilung<br />

zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten fest.<br />

-) Die EU ist Träger der Hoheitsgewalt, sofern und soweit ihr die Mitgliedstaaten in<br />

den Verträgen Ziele setzen und Befugnisse zuweisen; sonst sind die Mitgliedstaaten<br />

Träger der Hoheitsgewalt.<br />

EUV und AEUV legen die Befugnis zum Tätigwerden der EU und ihrer Organe fest.<br />

Die EU und ihre Organe dürfen weder in Bereichen Recht setzen, die in den Verträgen<br />

nicht geregelt sind, noch über die in den Verträgen im Einzelnen aufgeführten<br />

Ermächtigungen hinausgehen.<br />

-) Die EU verfügt über keine Kompetenz-Kompetenz. Sie übt über begrenzte Einzelermächtigung<br />

jene Kompetenzen aus, die ihr die Verträge zugewiesen haben.<br />

Nur die Mitgliedstaaten besitzen die Kompetenz, gemeinsam die Verfassungsordnung<br />

zu ändern.<br />

25.07.2013 15


<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

Prinzip der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 4 EUV)<br />

-) Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit beschränkt das Handeln der Unionsorgane<br />

insofern, als deren Maßnahmen nicht weiter gehen dürfen als zur Erreichung der<br />

Ziele der Verträge erforderlich ist. Mit anderen Worten, Form und Inhalt der Maßnahme<br />

müssen im Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen.<br />

Kompetenz-Kategorien<br />

Grafik: http://www.bpb.de/internationales/europa/europaeische-union/42984/grafikzustaendigkeitsbereiche<br />

-) Die EU ist ausschließlich zuständig ua für Außenhandelspolitik, Währungspolitik,<br />

Wettbewerbsrecht und Zollunion (Art. 3 AEUV). Nur sie kann in diesen Bereichen<br />

verbindliche Rechtsakte erlassen, es sei denn, sie ermächtigt die Mitgliedstaaten<br />

zur Gesetzgebung. Die Mitgliedstaaten führen diese Rechtsakte durch.<br />

-) EU und Mitgliedstaaten teilen sich die Zuständigkeit ua für Energiepolitik, Landwirtschaft,<br />

Umweltpolitik und Verbraucherschutz (Art. 4 AEUV). Beide können in<br />

diesen Bereichen verbindliche Rechtsakte erlassen. Die EU darf nur tätig werden,<br />

wenn sie in der Lage ist, wirksamer zu handeln als die Mitgliedstaaten (Prinzip der<br />

Subsidiarität).<br />

Im Allgemeinen beschließt die EU bestimmte Min<strong>des</strong>tstandards, die die Mitgliedstaaten<br />

einhalten müssen. Alles Weitere wird national geregelt.<br />

-) Die EU ist unterstützend zuständig ua für Gesundheitspolitik, Kultur und Katastrophenschutz<br />

(Art. 6 AEUV). Sie darf in diesen Bereichen die mitgliedstaatlichen<br />

Rechtsvorschriften nicht harmonisieren.<br />

-) Die EU ist besonders zuständig für die Koordinierung der Wirtschafts-, Beschäftigungs-<br />

und Sozialpolitik (Art. 5 AEUV). Sie koordiniert in Form von Leitlinien,<br />

Empfehlungen und Programmen (gubernative Kompetenz).<br />

-) Die EU ist besonders zuständig für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />

(Art. 24 EUV). Sie hat in diesem Bereich eine gubernative Kompetenz..<br />

Vertragsabrundungskompetenz (Art. 352 AEUV)<br />

-) Die Vertragsabrundungskompetenz leitet sich aus den Zielen der Verträge ab.<br />

Sie ist eine Auffangklausel. Sie schafft neue Befugnisse der EU im Rahmen der in<br />

den Verträgen festgelegten Politikbereiche, die der Verwirklichung der Ziele der<br />

Verträge dienen. Geeignete Vorschriften kann der Ministerrat auf Vorschlag der<br />

Europäischen Kommission und nach Zustimmung <strong>des</strong> Europäischen Parlaments<br />

erlassen.<br />

Implied Powers<br />

-) Implied Powers sind den Verträgen innewohnende Kompetenzen. Sie leiten sich<br />

aus den geschriebenen Zuständigkeiten der EU ab. Ein Unionsorgan kann eine<br />

ungeschrieben Zuständigkeit ausüben, wenn diese kraft Sachzusammenhang vorliegt<br />

und vom EuGH festgestellt wird.<br />

Leitentscheidung Rs AETR.<br />

Richtlinienkonforme Auslegung<br />

-) Die richtlinienkonforme Auslegung verhilft einer nicht oder mangelhaft umgesetzten<br />

Richtlinie zu unmittelbarer Wirkung insbesondere zwischen Personen. Sie gebietet,<br />

dass ein nationales Gericht (oder eine nationale Verwaltungsbehörde) die<br />

25.07.2013 16


<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

Auslegung <strong>des</strong> nationalen Rechts soweit wie möglich an Wortlaut und Zweck der<br />

Richtlinie ausrichtet.<br />

Leitentscheidung Rs Von Colson & Kaman.<br />

-) Die richtlinienkonforme Auslegung erfolgt kraft Unionsrechts und im Rahmen nationaler<br />

Auslegungsmethoden. Sie setzt voraus, dass überhaupt ein Auslegungsspielraum<br />

im nationalen Recht besteht. Sie räumt jener nationalen Auslegungsmethode<br />

den Vorrang ein, deren Ergebnis dem Ziel der Richtlinie entspricht. Sie findet<br />

ihre Grenzen im eindeutigen Wortlaut <strong>des</strong> nationalen Rechts, der eine Auslegung<br />

nicht zulässt.<br />

-) Die richtlinienkonforme Auslegung stützt sich auf das Effektivitätsprinzip.<br />

-) Die Pflicht, richtlinienkonform auszulegen, besteht nicht nur im Rechtsstreit zwischen<br />

Staat und Person, sondern auch im Rechtsstreit zwischen Personen.<br />

Leitentscheidung Rs Marleasing.<br />

Im Verhältnis <strong>des</strong> Einzelnen zum Staat wirkt eine Richtlinie dann nicht unmittelbar,<br />

wenn die Wirkung zu Lasten <strong>des</strong> Einzelnen geht. Eine solche Schranke besteht für<br />

die richtlinienkonforme Auslegung nur im Strafrecht. Sie fehlt im Privatrecht: Die<br />

richtlinienkonforme Auslegung einer privatrechtlichen Norm geht immer auch zu<br />

Lasten einer am konkreten Verfahren beteiligten Partei.<br />

FÜM 06/2012<br />

Der Ministerrat und das Europäische Parlament haben die Richtlinie 2005/36/EG<br />

zur Anerkennung von Berufsqualifikationen erlassen. Diese sieht vor, dass Personen,<br />

die ihre Berufsqualifikation in einem Mitgliedstaat erworben haben, diesen<br />

Beruf in einem anderen Mitgliedstaat unter denselben Voraussetzungen wie Inländer<br />

ausüben dürfen.<br />

Theo Tüchtig arbeitet in dem Ministerium, das einen Gesetzesvorschlag für die<br />

Umsetzung der Richtlinie erarbeiten soll. Aufgrund organisatorischer und personeller<br />

Engpässe ist zu befürchten, dass das Gesetz erst 3 Monate nach Ablauf der<br />

Umsetzungsfrist in Kraft treten wird.<br />

Herr Tüchtig ist darüber beunruhigt und möchte von Ihnen wissen, welche Folgen<br />

die nicht zeitgerechte Umsetzung der Richtlinie nach sich ziehen könnte. Nennen<br />

Sie drei Möglichkeiten! (9P)<br />

1. Eine Person setzt ihren Anspruch auf Anerkennung ihrer Berufsqualifikation gegenüber<br />

dem Staat durch.<br />

Die Richtlinie wirkt unmittelbar, denn: Der Staat hat die Richtlinie nicht fristgerecht<br />

umgesetzt. Die konkrete Norm der Richtlinie ist inhaltlich unbedingt. Sie ist hinreichend<br />

genau und bestimmt. Sie berechtigt die Person, ohne sie zu verpflichten.<br />

2. Die richtlinienkonforme Auslegung verhilft der Richtlinie zu unmittelbarer Wirkung<br />

zwischen Personen. Sie geht immer zu Lasten einer am konkreten Zivilprozess<br />

beteiligten Partei.<br />

Die richtlinienkonforme Auslegung setzt voraus, dass ein Auslegungsspielraum im<br />

nationalen Recht besteht. Sie räumt jener nationalen Auslegungsmethode den Vorrang<br />

ein, deren Ergebnis dem Ziel der Richtlinie 6 entspricht. Sie findet ihre Grenzen<br />

im eindeutigen Wortlaut <strong>des</strong> nationalen Rechts, der eine Auslegung nicht zulässt.<br />

3. Der Staat haftet für den Schaden einer Person, den diese erlitten hat, weil sie<br />

ihren Beruf nicht unter denselben Voraussetzungen wie Inländer ausüben darf.<br />

Kausal und adäquat für den Schaden der Person ist, dass der Staat die Richtlinie<br />

nicht umgesetzt hat. Die Richtlinie verleiht der Person das Recht auf Anerkennung<br />

ihrer Berufsqualifikation. Dieses Recht ist auf Grundlage der Richtlinie zumin<strong>des</strong>t<br />

6 Ziel der Richtlinie ist es, Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr<br />

zwischen den Mitgliedstaaten zu beseitigen.<br />

25.07.2013 17


<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

bestimmbar. Die Nichtumsetzung der Richtlinie ist ein Verstoß gegen Unionsrecht.<br />

Dieser Verstoß ist dem Staat zurechenbar. Er ist hinreichend qualifiziert, weil der<br />

Staat über keinen Ermessensspielraum bei der Umsetzung der Richtlinie verfügt.<br />

Auslegung <strong>des</strong> Unionsrechts<br />

-) Die Wortinterpretation spielt eine nachrangige Rolle bei der Auslegung <strong>des</strong> Unionsrechts.<br />

Zum einen ist der Wortlaut einer Norm in jeder der zurzeit 24 Amtssprachen<br />

gleichermaßen verbindlich. Zum andern ist nach dem Grundsatz der einheitlichen<br />

Auslegung das aus dem Wortlaut einer Sprachfassung gewonnene Erkenntnis<br />

anhand anderer Sprachfassungen zu überprüfen.<br />

-) Der Gerichtshof der EU greift regelmäßig auf die systematisch-teleologische Interpretation<br />

zurück. Er formt sie unter Heranziehung folgender allgemeiner Grundsätze<br />

aus:<br />

+ Das Unionsrecht ist innerhalb der Mitgliedstaaten einheitlich auszulegen. Begriffe,<br />

die den Anwendungsbereich einer Norm bestimmen (zB Begriff <strong>des</strong> Arbeitnehmers<br />

in Art. 45 AEUV), erhalten einen unionsspezifischen Begriffsinhalt.<br />

+ Es ist jene Auslegung zu bevorzugen, die der Erreichung der allgemeinen Vertragsziele<br />

am besten nützt (effet utile).<br />

Das Effektivitätsprinzip soll Gleichheit, Freiheit und Einheit gewährleisten. Darauf<br />

beruhen der Anwendungsvorrang <strong>des</strong> Unionsrechts, die unmittelbare Wirkung von<br />

Richtlinien, die Staatshaftung im Unionsrecht und der auf Unionsrecht gründende<br />

vorläufige Rechtsschutz <strong>des</strong> Unionsbürgers vor nationalen Gerichten.<br />

+ Im Falle einer Vorschrift <strong>des</strong> Sekundärrechts ist jene Auslegung zu bevorzugen,<br />

die die Vorschrift konform zu den Verträgen erscheinen lässt (vertragskonforme<br />

Auslegung).<br />

+ Für das Unionsrecht grundlegende Begriffe und Rechtsfiguren sind weit, Ausnahmen<br />

und Vorbehalte dazu hingegen eng auszulegen.<br />

Beispiel: Weite Auslegung <strong>des</strong> Schutzbereiches der Grundfreiheiten, enge Auslegung<br />

von Einschränkungen der Freizügigkeit.<br />

Rechtsschutz<br />

-) Die Hauptaufgabe <strong>des</strong> Gerichtshofes der EU ist nach Art. 19 EUV die „Wahrung<br />

<strong>des</strong> Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“. Zum Klagensystem<br />

<strong>des</strong> Gerichtshofes der EU gehören ua<br />

das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV),<br />

das Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 AEUV),<br />

die Nichtigkeitsklage (Art. 263 AEUV),<br />

die Untätigkeitsklage (Art. 265 AEUV).<br />

-) Das EuG entscheidet in Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen in erster Instanz.<br />

-) Der EuGH ist als Rechtsmittelinstanz für Entscheidungen <strong>des</strong> EuG zuständig. Er<br />

entscheidet in Vertragsverletzungsklagen als erste und letzte Instanz. Ihm obliegt<br />

das Vorabentscheidungsverfahren.<br />

Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV)<br />

-) Der EuGH wird von einem mitgliedstaatlichen Gericht angerufen, damit er über<br />

die Auslegung oder die Gültigkeit <strong>des</strong> Unionsrechts in einer laufenden Rechtssache<br />

entscheidet.<br />

Der EuGH ist nicht befugt, nationales Recht auszulegen oder nationales Recht mit<br />

seiner Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht zu beurteilen.<br />

25.07.2013 18


<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

-) Das Vorabentscheidungsverfahren wahrt die Rechtseinheit innerhalb der EU. Es<br />

gewährt Individualrechtsschutz als Ausgleich dafür, dass der Einzelne begrenzt<br />

klagebefugt gegen Rechtsakte der EU ist und keinen Rechtsbehelf hat, einen Mitgliedstaat<br />

direkt vor dem EuGH zur Einhaltung <strong>des</strong> Unionsrechts zu zwingen.<br />

Personen verfügen nicht über das subjektive Recht, ein Vorabentscheidungsverfahren<br />

durch ein nationales Gericht einzuleiten.<br />

-) Nationales Gericht und EuGH arbeiten folgendermaßen zusammen:<br />

Das nationale Gericht stellt fest, dass eine Auslegungs- oder Gültigkeitsfrage für<br />

den Ausgang <strong>des</strong> Rechtsstreits erheblich ist. Es unterbricht den Prozess und legt<br />

die Frage dem EuGH vor. Der EuGH deutet das fragliche Unionsrecht fallbezogen,<br />

aber abstrakt. Er antwortet mit Urteil oder in Eilverfahren mit einem mit Gründen<br />

versehenen Beschluss. Das nationale Gericht nimmt den Prozess wieder auf und<br />

subsumiert den Sachverhalt unter das vom EuGH konkretisierte Unionsrecht.<br />

Ein Vorabentscheidungsverfahren dauert durchschnittlich 16 bis 17 Monate.<br />

-) Ein nationales Gericht ist vorlageberechtigt, wenn es folgende Kriterien erfüllt:<br />

die Richter agieren unabhängig und weisungsfrei; die Zuständigkeit <strong>des</strong> Gerichts<br />

ist gesetzlich vorgeschrieben; das Gericht ist auf ständiger Basis eingerichtet; es<br />

entscheidet nach Rechtsnormen und nicht nach Billigkeit.<br />

Leitentscheidung Rs Nordsee.<br />

Schiedsgerichte sind nicht vorlageberechtigt.<br />

-) Ob die Vorlage entscheidungs-erheblich ist, beurteilt das nationale Gericht. Der<br />

EuGH kann die Vorlagefrage zurückweisen, wenn offensichtlich ist, dass die Vorlage<br />

in keinem Zusammenhang mit dem Ausgangsrechtsstreit steht oder es sich um<br />

einen hypothetischen Fall handelt.<br />

-) Je<strong>des</strong> nationale Gericht ist verpflichtet, Gültigkeitsfragen dem EuGH vorzulegen.<br />

Auslegungsfragen muss grundsätzlich nur ein funktional letztinstanzliches Gericht<br />

vorlegen; untere Instanzen arbeiten hier nach eigenem Ermessen mit dem EuGH<br />

zusammen.<br />

-) Nach der CILFIT-Regel entfällt die Pflicht eines funktional letztinstanzlichen Gerichts,<br />

eine Auslegungsfrage dem EuGH vorzulegen, wenn die Auslegungsfrage<br />

nicht entscheidungs-erheblich ist, eine gesicherte Rechtsprechung (oder ein Präjudiz)<br />

vorliegt oder kein vernünftiger Zweifel an der Auslegung <strong>des</strong> fraglichen Unionsrechts<br />

besteht.<br />

Leitentscheidung Rs CILFIT.<br />

Übungsfall<br />

Eine italienische Behörde verpflichtet ein italienisches Unternehmen zur Zahlung<br />

einer Gebühr und beruft sich dabei auf eine Verordnung. Das Unternehmen ist jedoch<br />

der Meinung, dass die italienische Behörde den Wortlaut der Verordnung<br />

nicht korrekt ausgelegt hat. Daher klagt das Unternehmen vor dem zuständigen<br />

italienischen Gericht. Der Rechtsstreit zieht sich in die Länge und die Angelegenheit<br />

landet schließlich vor dem italienischen Gericht höchster Instanz. (8 Punkte)<br />

a) Wie wird dieses nun vorgehen? In welcher Vertragsbestimmung ist dieses Verfahren<br />

geregelt? (6P)<br />

Es geht um eine Auslegungsfrage. Das italienische Gericht höchster Instanz ist ein<br />

funktional letztinstanzliches Gericht. Falls die CILFIT-Regel nicht anwendbar ist, ist<br />

es verpflichtet, ein Vorabentscheidungsverfahren einzuleiten.<br />

Das Gericht stellt fest, dass eine Auslegungsfrage für den Ausgang <strong>des</strong> Rechtsstreits<br />

erheblich ist. Es unterbricht den Prozess und legt die Auslegungsfrage dem<br />

EuGH vor. Der EuGH deutet die fragliche Verordnung fallbezogen, aber abstrakt.<br />

Er antwortet mit Urteil. Das Gericht nimmt den Prozess wieder auf und subsumiert<br />

den Sachverhalt unter die vom EuGH konkretisierte Verordnung.<br />

25.07.2013 19


<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

Die CILFIT-Regel entbindet das italienische Gericht höchster Instanz von der Vorlagepflicht,<br />

wenn die Auslegungsfrage nicht entscheidungs-erheblich ist, eine gesicherte<br />

Rechtsprechung vorliegt oder kein vernünftiger Zweifel an der Auslegung<br />

der fraglichen Verordnung besteht.<br />

Das Vorabentscheidungsverfahren ist in Art. 267 AEUV geregelt.<br />

b) Variante: Das Unternehmen möchte seinen Rechtsstreit vor einem vertraglich<br />

errichteten Schiedsgericht beilegen. Würde sich etwas ändern? (2P)<br />

Das Schiedsgericht ist nicht vorlageberechtigt, weil es kein Gericht im Sinne der<br />

Leitentscheidung Rs Nordsee ist. Vorlageberechtigung setzt voraus: die Richter<br />

agieren unabhängig und weisungsfrei; die Zuständigkeit <strong>des</strong> Gerichts ist gesetzlich<br />

vorgeschrieben; das Gericht ist auf ständiger Basis eingerichtet; es entscheidet<br />

nach Rechtsnormen und nicht nach Billigkeit.<br />

Nichtigkeitsklage (Art. 263 AEUV)<br />

-) Der Gerichtshof der EU wird von Mitgliedsstaaten, Unionsorganen und Personen<br />

angerufen, damit er eine rechtsverbindliche Handlung eines Unionsorgans (Verordnung,<br />

Richtlinie, Beschluss, atypischer Rechtsakt mit Rechtswirkung gegenüber<br />

Dritten) aufhebt.<br />

-) Die Mitgliedstaaten, der Rat, die Kommission und das Europäische Parlament<br />

sind privilegierte Kläger. Sie müssen kein Handlungsinteresse nachweisen.<br />

-) Der Rechnungshof, die EZB und der Ausschuss der Regionen sind semiprivilegierter<br />

Kläger. Sie müssen die Wahrung eigener Rechte nachweisen.<br />

-) Personen (Unionsbürger und Unternehmen) sind nicht privilegierte Kläger..<br />

Personen können Rechtsakte anfechten, die gegen sie selbst ergangen sind (insb<br />

Beschluss) oder die, obwohl an andere Personen gerichtet, sie unmittelbar und individuell<br />

betreffen (Plaumann-Formel). Sie können Rechtsakte mit Verordnungscharakter<br />

7 anfechten, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen<br />

nach sich ziehen.<br />

Unmittelbare Betroffenheit liegt vor, wenn der Rechtsakt selbst und nicht erst eine<br />

in seiner Folge hinzutretende Durchführungsmaßnahme in die Rechtsstellung der<br />

Person eingreift.<br />

Individuelle Betroffenheit liegt vor, wenn der Rechtsakt die Person in einer Weise<br />

benachteiligt, die sie von allen übrigen Personen aufgrund besonderer Merkmale<br />

oder Umstände unterscheidet.<br />

Leitentscheidungen Rs Plaumann, Rs Codorniu.<br />

-) Die Klage ist binnen 2 Monaten ab Kenntnis <strong>des</strong> Rechtsaktes einzubringen. Der<br />

Gerichtshof der EU prüft zuerst den Klagegegenstand und die Aktivlegitimation und<br />

dann den Klagegrund. Er erklärt den Rechtsakt für rechtmäßig oder fällt ein Gestaltungsurteil,<br />

das den Rechtsakt ex tunc und erga omnes aufhebt.<br />

Klagegründe sind: Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung<br />

der Verträge, Ermessensmissbrauch.<br />

-) Mit der Nichtigkeitsklage kann weder Schadenersatz noch eine Feststellung bestehender<br />

Rechtsverhältnisse begehrt werden.<br />

FÜM 06/2012<br />

Das Unternehmen Oligopol verstößt wiederholt gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen<br />

der Unionsverträge. Die Kommission wird vom Unternehmen Aemulus,<br />

einem Mitbewerber von Oligopol, davon in Kenntnis gesetzt. Daraufhin erlässt<br />

diese einen Beschluss, in welchem sie eine Geldbuße gegen Oligopol verhängt.<br />

7 Ein Rechtsakt mit Verordnungscharakter gilt für objektiv bestimmte Situationen<br />

und entfaltet Rechtswirkungen gegenüber einer allgemein und abstrakt umschriebenen<br />

Personengruppe. Er ist kein Gesetzgebungsakt. Beispiel ist ein Beschluss,<br />

den die Kommission in Ausübung ihrer Durchführungsbefugnisse erlässt.<br />

25.07.2013 20


<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

Die Rechtsabteilung <strong>des</strong> Unternehmens Oligopol möchte den Beschluss der<br />

Kommission bekämpfen.<br />

a) Welche Klagemöglichkeit steht Oligopol offen? In welcher Bestimmung ist dieses<br />

Verfahren geregelt? (2P)<br />

Oligopol steht die in Art. 263 AEUV normierte Nichtigkeitsklage offen.<br />

b) Erfüllt Oligopol die Voraussetzungen um im konkreten Fall eine Klage erheben<br />

zu können? (2P)<br />

Oligopol ist eine juristische Person und somit als Kläger nicht privilegiert. Der Beschluss<br />

der Kommission ist verbindliches Sekundärrecht und an Oligopol adressiert.<br />

Oligopol kann daher Klage erheben.<br />

c) Variante: Oligopol möchte auch gegen eine unionsrechtliche Verordnung<br />

vorgehen. Unter welchen Voraussetzungen wäre dies möglich? (3P)<br />

Oligopol ist nicht Adressat der Verordnung. Es kann aber Klage erheben, wenn es<br />

von der Verordnung wie der Adressat eines Beschlusses unmittelbar und individuell<br />

betroffen ist (Plaumann-Formel).<br />

Unmittelbare Betroffenheit liegt vor, wenn die Verordnung selbst und nicht erst eine<br />

in ihrer Folge hinzutretende Durchführungsmaßnahme in die Rechtsstellung von<br />

Oligopol eingreift.<br />

Individuelle Betroffenheit liegt vor, wenn die Verordnung Oligopol in einer Weise<br />

benachteiligt, die es von allen übrigen Wirtschaftsteilnehmern aufgrund besonderer<br />

Merkmale oder Umstände unterscheidet.<br />

FÜM 11/2011<br />

Die Europäische Kommission und das Europäische Parlament erlassen eine Verordnung,<br />

nach deren Bestimmungen die Bezeichnung „crémant" ausschließlich für<br />

Qualitätsweine aus Frankreich zulässig ist. Frau Sanja Seliga ansässige Herstellerin<br />

von Schaumwein in Slowenien, einem Land, das seit über 1800 Jahren die<br />

Weinbautradition pflegt, produziert seit Jahrzehnten Schaumwein mit der Bezeichnung<br />

„Gran Cremant" und möchte dies auch weiterhin tun.<br />

Was kann sie tun? Welche Voraussetzungen sind hier zu beachten? (7P)<br />

Sanja kann vor dem Gerichtshof der EU die in Art. 263 AEUV normierte Nichtigkeitsklage<br />

erheben, damit dieser die Verordnung aufhebt.<br />

Sanja ist eine Person und somit als Kläger nicht privilegiert. Sie ist nicht Adressat<br />

der Verordnung. Sie kann aber klagen, wenn sie von der Verordnung wie der Adressat<br />

eines Beschlusses unmittelbar und individuell betroffen ist (Plaumann-Formel).<br />

Unmittelbare Betroffenheit liegt vor, weil die Verordnung selbst in Sanjas Rechtsstellung<br />

eingreift.<br />

Individuelle Betroffenheit liegt vor, weil die Verordnung Sanja in einer Weise benachteiligt,<br />

die es von allen übrigen Wirtschaftsteilnehmern aufgrund <strong>des</strong> Umstan<strong>des</strong>,<br />

ihr Markenzeichen nicht weiter nutzen zu können, unterscheidet.<br />

Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258, 259 AEUV)<br />

-) Der EuGH wird angerufen, damit er feststellt, ob ein Mitgliedstaat die Verträge<br />

verletzt. Streitgegenstand kann zB ein Verstoß gegen die Grundfreiheiten oder die<br />

ausgebliebene Umsetzung einer Richtlinie sein. Kläger ist im Regelfall die Kommission<br />

und im Sonderfall ein Mitgliedstaat.<br />

-) Die Kommission leitet ein Vorverfahren, bevor sie den EuGH anruft.<br />

Die Kommission fordert den Mitgliedstaat im Vorverfahren auf, Stellung zum Vorwurf<br />

der Vertragsverletzung zu beziehen. Bleiben beide uneinig über die Rechtsauffassung,<br />

gibt die Kommission eine begründete Stellungnahme ab.<br />

25.07.2013 21


<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

Kommt der Mitgliedstaat der Stellungnahme innerhalb der von der Kommission gesetzten<br />

Frist nicht nach, kann die Kommission beim EuGH eine Klage wegen Vertragsverletzung<br />

einbringen.<br />

Stellt der EuGH die Vertragsverletzung fest, ist der Mitgliedstaat verpflichtet, die<br />

Vertragsverletzung unverzüglich abzustellen und den ordnungsgemäßen Zustand<br />

herzustellen.<br />

Beachtet der Mitgliedstaat das Feststellungsurteil nicht, so kann die Kommission<br />

den EuGH erneut anrufen, damit dieser dem Mitgliedstaat in einem Zweiturteil auferlegt,<br />

einen Pauschalbetrag und/oder ein Zwangsgeld zu zahlen (Art. 260 AEUV).<br />

FÜM 03/2012<br />

Die Regierung <strong>des</strong> Staates Magyar erlässt zunehmend Gesetze, in denen sie die<br />

Unabhängigkeit der Justiz und der nationalen Zentralbank stark beschneidet. Unter<br />

anderem ist ein Gesetz mit 1.1.2012 in Kraft getreten, welches die Bindung der<br />

Richter und Staatsanwälte an Weisungen der Regierung festlegt und damit die<br />

Gewaltenteilung aufhebt. Die Europäische Kommission hegt ernsthafte Bedenken<br />

gegen das erlassene Gesetz und fürchtet um die Gefährdung der in den Gründungsverträgen<br />

festgelegten Werte und Ziele der Union.<br />

a) Welches Verfahren kann die Europäische Kommission einleiten? Wo ist es normiert<br />

(nennen Sie die genaue Bestimmung)? Wer fällt das Urteil in einem solchen<br />

Verfahren? (3P)<br />

a) Die Kommission kann das Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Es ist in Art.<br />

258 AEUV normiert. Der EuGH fällt ein Feststellungsurteil.<br />

b) Beschreiben Sie den Ablauf <strong>des</strong> Verfahrens! (4P)<br />

Die Kommission fordert Magyar in einem Vorverfahren auf, Stellung zum Vorwurf<br />

der Aufhebung der Gewaltenteilung zu beziehen. Bleiben beide uneinig über die<br />

Rechtsauffassung, gibt die Kommission eine begründete Stellungnahme ab. Wenn<br />

Magyar der Stellungnahme innerhalb der von der Kommission gesetzten Frist nicht<br />

nachkommt, kann die Kommission beim EuGH eine Klage wegen Vertragsverletzung<br />

einbringen. Der EuGH stellt fest, ob Magyar die Verträge verletzt.<br />

c) Welche Rechtswirkung hat das der Klage stattgebende Urteil? (1P)<br />

Der EuGH stellt die Vertragsverletzung fest.<br />

Magyar ist verpflichtet, die Vertragsverletzung unverzüglich abzustellen und den<br />

ordnungsgemäßen Zustand herzustellen.<br />

Untätigkeitsklage (Art. 265 AEUV)<br />

-) Der Gerichtshof der EU wird von Mitgliedstaaten, Unionsorganen und Personen<br />

angerufen, damit er feststellt, ob ein Unionsorgan es unter Verletzung der Verträge<br />

(= rechtswidrig) unterlassen hat, einen Beschluss zu fassen.<br />

-) Bevor der Kläger eine Untätigkeitsklage erheben kann, muss er zunächst das<br />

untätig gebliebene Unionsorgan zur Stellungnahme auffordern. Hat das betreffende<br />

Unionsorgan binnen 2 Monaten nach dieser Aufforderung nicht Stellung genommen,<br />

kann der Kläger die Untätigkeitsklage innerhalb einer weiteren Frist von 2<br />

Monaten vor dem Gerichtshof erheben.<br />

-) Gibt der Gerichtshof der Untätigkeitsklage statt, so beschränkt er sich darauf, die<br />

Untätigkeit festzustellen. Er beseitigt nicht selbst die Untätigkeit, indem er sich an<br />

die Stelle <strong>des</strong> Unionsorgans setzt. Es obliegt dem betreffenden Unionsorgan, innerhalb<br />

einer angemessenen Frist tätig zu werden.<br />

FÜM 01/2013<br />

Das Mobilfunkunternehmen Citrus möchte mit dem Mobilfunkunternehmen Vier<br />

fusionieren. Auf Grund der Größe der beiden Unternehmen und deren wichtiger<br />

Stellung am Markt ist dafür eine wettbewerbsrechtliche Bewilligung der Kommis-<br />

25.07.2013 22


<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

sion notwendig. Der Beschluss der Kommission lässt jedoch sehr lange auf sich<br />

warten. Am 1.6.2012 fordern daher die beiden Unternehmen die Kommission zum<br />

Tätigwerden auf. Als am 1.1.2013 immer noch kein Beschluss getroffen wurde,<br />

überlegen die beteiligten Unternehmen, ob diese gegen das Unterlassen der<br />

Kommission rechtlich vorgehen können.<br />

a.) Welche Klage empfehlen Sie und wo ist diese vertraglich normiert? (1P)<br />

Citrus und Vier können gegen die Kommission eine Untätigkeitsklage erheben.<br />

Diese Klage ist in Art. 265 AEUV normiert.<br />

b.) Unter welchen Voraussetzungen kann diese Klage erhoben werden? Was<br />

soll untersucht werden? Was ist die Rechtsfolge? (4P)<br />

Citrus und Vier müssen die Kommission zur Stellungnahme auffordern. Hat die<br />

Kommission binnen 2 Monaten nach dieser Aufforderung nicht Stellung genommen,<br />

können die Unternehmen die Klage innerhalb einer weiteren Frist von 2 Monaten<br />

vor dem Gerichtshof erheben.<br />

Mit der Untätigkeitsklage soll der Gerichtshof untersuchen, ob die Kommission zu<br />

Recht untätig geblieben ist.<br />

Der Gerichtshof fällt ein Feststellungsurteil. Stellt er fest, dass die Unterlassung<br />

rechtswidrig war, so ist die Kommission aufgefordert, tätig zu werden.<br />

Rechtsmittelverfahren<br />

-) Gegen alle Entscheidungen <strong>des</strong> EuG kann ein Rechtsmittel beim EuGH eingelegt<br />

werden. Dieser Instanzenzug ist auf Rechtsfragen beschränkt, Feststellungen<br />

über den Sachverhalt werden nicht überprüft. Rechtsmittel sind innerhalb von 2<br />

Monaten bei EuGH einzubringen. Sie haben idR keine aufschiebende Wirkung.<br />

-) Ist das Rechtsmittel zulässig und begründet, so hebt der EuGH die Entscheidung<br />

<strong>des</strong> EuG auf; andernfalls weist er das Rechtsmittel zurück.<br />

-) Ist die Rechtssache zur Entscheidung reif (Spruchreife), so kann der EuGH die<br />

Rechtssache einschließlich der Kosten selbst entscheiden. Andernfalls weist der<br />

EuGH die Rechtssache an das EuG zurück und das EuG muss – unter Bindung an<br />

die rechtliche Beurteilung <strong>des</strong> EuGH – erneut entscheiden.<br />

Bindungswirkung von Urteilen <strong>des</strong> Gerichtshofes der EU<br />

-) Vorabentscheidungsverfahren führen zu Auslegungs- und Gültigkeitsurteilen.<br />

Beide Urteilsarten binden zunächst das vorlegende nationale Gericht bei seiner<br />

Entscheidung <strong>des</strong> Ausgangsrechtsstreits sowie alle mit diesem Verfahren im Instanzenzug<br />

befassten Gerichte und involvierten Parteien.<br />

Der Spruch eines Auslegungsurteils fließt in den acquis communautaire 8 .<br />

Ein Gültigkeitsurteil (= Feststellungsurteil zur Gültigkeit eines Rechtsakts) ist außerdem<br />

erga omnes bindend.<br />

-) Nichtigkeitsklagen führen zu Gestaltungsurteilen. Gestaltungsurteile sind erga<br />

omnes bindend. Sie gelten für Mitgliedstaaten, Organe der EU und Einzelne.<br />

-) Klagen wegen Vertragsverletzung führen zu Feststellungsurteilen. Festlegungsurteile<br />

sind nur für die Verfahrensparteien bindend.<br />

Der Gerichtshof der EU kann in einem neuerlichen Verfahren von seiner Rechtsprechung<br />

abgehen. In der Praxis folgt er jedoch der einmal erfolgten Auslegung.<br />

Binnenmarkt (Art. 3 Abs 3 EUV)<br />

-) Ziel ist es, einen gemeinsamen Markt zum Vorteil für Unternehmer und Verbraucher<br />

zu schaffen.<br />

8 Acquis communautaire bedeutet Besitzstand und fasst das gesamte gültige Recht<br />

der EU zusammen.<br />

25.07.2013 23


<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

-) Herzstücke <strong>des</strong> Binnenmarkts sind die 4 Grundfreiheiten, das Diskriminierungsverbot<br />

und das Beschränkungsverbot.<br />

-) Zu den Grundfreiheiten zählen: freier Warenverkehr, freier Personenverkehr,<br />

Dienstleistungsfreiheit und freier Kapitalverkehr. Der freie Personenverkehr wird<br />

wiederum unterteilt in Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit.<br />

-) Art. 114 AEUV ermächtigt die europäische Gesetzgebung generell, aktiv Recht<br />

im Binnenmarkt anzugleichen (positiv zu harmonisieren) bzw gleichsetzend Verbote<br />

zu normieren, was Mitgliedstaaten im Binnenmarkt nicht tun dürfen (negativ zu<br />

harmonisieren).<br />

Diskriminierungsverbot<br />

-) Das Diskriminierungsverbot besagt, dass wesentlich Gleiches gleich zu behandeln<br />

ist, es sei denn, eine Ungleichbehandlung ist gerechtfertigt und verhältnismäßig.<br />

Es umfasst direkte und indirekte Diskriminierungen.<br />

Eine Diskriminierung ist direkt, wenn wesentlich Gleiches formal unterschiedlich<br />

behandelt wird.<br />

Beispiel: Ein Arbeitgeber lädt einen behinderten Bewerber nicht zum Vorstellungsgespräch.<br />

Er nimmt – ohne das im Einzelfall zu überprüfen – an, dass der Bewerber<br />

den Anforderungen dieser Stelle nicht gewachsen ist.<br />

Eine Diskriminierung ist indirekt, wenn wesentlich Gleiches anscheinend formal unterschiedslos<br />

behandelt wird, die Behandlung sich aber unterschiedlich auswirkt.<br />

Beispiel: Ein Geschäft ist nur über zwei Stufen zugänglich. Alle Menschen müssen<br />

diese Stufen überwinden – Rollstuhlfahrer sind davon aber benachteiligt, weil sie<br />

ausgeschlossen werden.<br />

Beispiel: Für einen Dienstposten werden perfekte EDV-Kenntnisse verlangt, obwohl<br />

im eigentlichen Arbeitsbereich einfache Kenntnisse ausreichen. Ältere Personen<br />

werden nicht so häufig perfekte EDV-Kenntnisse nachweisen können.<br />

-) Art. 18 AEUV verbietet im Anwendungsbereich der Verträge EUV und AEUV jede<br />

Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Er ist subsidiär gegenüber<br />

den besonderen Diskriminierungsverboten (zB Grundfreiheiten).<br />

-) Das Diskriminierungsverbot <strong>des</strong> Art. 19 AEUV stellt nicht auf die Staatsangehörigkeit<br />

ab, sondern zieht andere Unterscheidungsmerkmale heran: das Geschlecht,<br />

die Rasse, die ethnische Herkunft, die Religion, die Weltanschauung, die Behinderung,<br />

das Alter oder die sexuelle Ausrichtung.<br />

-) Art. 157 AEUV legt den Grundsatz <strong>des</strong> gleichen Entgelts für Männer und Frauen<br />

bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit fest.<br />

-) Die Grundfreiheiten sind spezielle Diskriminierungsverbote im Verhältnis zu Art.<br />

18 AEUV.<br />

Direkte Diskriminierungen knüpfen offen an die Staatsangehörigkeit an. Indirekte<br />

Diskriminierungen orientieren sich an anderen Merkmalen außer der Staatsangehörigkeit,<br />

die überwiegend nicht von Ausländern erfüllt werden (zB Wohnsitz).<br />

-) Direkte Diskriminierung ist nur aus Gründen rechtfertigbar, die im Unionsrecht<br />

ausdrücklich vorgesehen sind (zB Art. 36, 45 Abs. 3, 52 AEUV). Indirekte Diskriminierung<br />

kann neben den im Unionsrecht ausdrücklich genannten Gründen auch<br />

aus sachlichen Gründen <strong>des</strong> Allgemeininteresses gerechtfertigt sein. Eine gerechtfertigte<br />

Diskriminierung muss verhältnismäßig sein.<br />

Die Prüfung auf Verhältnismäßigkeit ist eine Güter- und Interessensabwägung<br />

zwischen den Erfordernissen <strong>des</strong> freien Warenverkehrs und dem berechtigten<br />

Schutzinteresse der fraglichen nationalen Maßnahme.<br />

25.07.2013 24


<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

Übungsfall<br />

Das Universitätsgesetz <strong>des</strong> Mitgliedstaats A sieht vor, dass ausschließlich Staatsbürger<br />

von A an Universitäten in A studieren dürfen.<br />

a) Was sagen Sie dazu aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht? Gibt es eine Rechtfertigung?<br />

(4P)<br />

Es liegt eine Verletzung <strong>des</strong> Art. 18 AEUV vor. Die Diskriminierung ist direkt, weil<br />

sie offen an die Staatsangehörigkeit anknüpft. Sie ist nur aus Gründen rechtfertigbar,<br />

die im Unionsrecht ausdrücklich vorgesehen sind. Ist sie legitim, so muss sie<br />

auch verhältnismäßig sein.<br />

b) Was passiert mit dem Universitätsgesetz, wenn es dem Unionsrecht widerspricht?<br />

Muss es aufgehoben werden? (2P)<br />

Unionsrecht hat Anwendungsvorrang vor nationalem Recht. Das entgegenstehende<br />

Universitätsgesetz bleibt weiterhin Bestandteil der Rechtsordnung von A. Es<br />

darf nicht angewendet werden, verliert aber nicht seine Geltung. Es muss nicht aufgehoben<br />

werden.<br />

Übungsfall<br />

sachlichen Gründen <strong>des</strong> Allgemeininteresses rechtfertigbar. Ist sie legitim, so muss<br />

sie auch verhältnismäßig sein.<br />

b) Wenn Unionsrecht widersprochen wurde, verliert die Gemeindeordnung ihre<br />

Geltung? (2P)<br />

Unionsrecht hat Anwendungsvorrang vor nationalem Recht. Die entgegenstehende<br />

Gemeindeordnung bleibt weiterhin Bestandteil der Rechtsordnung von B. Sie darf<br />

nicht angewendet werden, verliert aber nicht ihre Geltung.<br />

Beschränkungsverbot<br />

-) Beschränkungen behindern die grenzüberschreitende Wirtschaftstätigkeit unverhältnismäßig.<br />

Sie wirken unterschiedslos. Sie diskriminieren nicht.<br />

-) Eine Beschränkung ist aus Gründen, die im Unionsrecht ausdrücklich vorgesehen<br />

sind, und aus sachlichen Gründen <strong>des</strong> Allgemeininteresses rechtfertigbar. Ist<br />

sie legitim, so muss sie auch verhältnismäßig sein.<br />

Prüfungsschema bei Grundfreiheiten<br />

Die Gemeindeordnung der Gemeinde A <strong>des</strong> Mitgliedstaates B sieht vor, dass ausschließlich<br />

Personen mit Wohnsitz in B ein Seegrundstück in A erwerben dürfen.<br />

Herr C, Staatsbürger <strong>des</strong> Mitgliedstaates D, fühlt sich ungerecht behandelt.<br />

a) Was sagen Sie dazu aus unionsrechtlicher Sicht? Gibt es eine Rechtfertigung?<br />

(4P)<br />

Es liegt eine Verletzung <strong>des</strong> Art. 18 AEUV vor. Die Diskriminierung ist indirekt, weil<br />

sie sich am Wohnsitz orientiert, der überwiegend nicht von Ausländern erfüllt wird.<br />

Sie ist aus Gründen, die im Unionsrecht ausdrücklich vorgesehen sind, und aus<br />

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<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

Warenverkehrsfreiheit (Art. 28, 34 AEUV)<br />

-) Ziel: Hersteller und Verkäufer beliefern die Verbraucher überall in der EU. Verbraucher<br />

beziehen Waren aus anderen Mitgliedstaaten unter denselben Voraussetzungen<br />

wie für einheimische Produkte.<br />

Der freie Warenverkehr soll auf drei Wegen verwirklicht werden:<br />

indem eine Zollunion errichtet wird (Art. 30-32 AEUV);<br />

indem alle mengenmäßigen Beschränkungen (Quoten) und Maßnahmen<br />

gleicher Wirkung abgeschafft werden (Art. 34-36 AEUV);<br />

indem die diskriminierenden Praktiken der staatlichen Handelsmonopole<br />

beseitigt werden (Art. 37 AEUV).<br />

-) Art. 34 AEUV verbietet einem Mitgliedstaat, die Einfuhr von Waren mengenmäßig<br />

zu beschränken, Maßnahmen gleicher Wirkung zu setzen sowie Waren aus anderen<br />

Mitgliedstaaten zu diskriminieren. Er ist die zentrale Norm zur Gewährleistung<br />

<strong>des</strong> freien Warenverkehrs. Das Pendant für die Ausfuhr ist Art. 35 AEUV. Beide<br />

Vorschriften wirken unmittelbar.<br />

-) Eine Ware ist ein Erzeugnis, das Geldwert hat und daher Gegenstand von Handelsgeschäften<br />

sein kann (Art. 28 Abs. 2 AEUV).<br />

-) Eine Ware wird mengenmäßig begrenzt, wenn nationales Recht die Ein- oder<br />

Ausfuhr der Ware mit einem Kontingent punkto Menge oder Wert begrenzt. Darunter<br />

fallen auch dauernde oder vorübergehende Einfuhr- oder Ausfuhrverbote.<br />

-) Maßnahmen gleicher Wirkung wirken sich indirekt auf den Handel der EU aus,<br />

indem sie die Ein- oder Ausfuhren unmöglich machen, erschweren oder verteuern,<br />

ohne diese ausdrücklich zu verbieten oder zu kontingentieren.<br />

Maßgeblich ist nur, dass die Maßnahme potenziell geeignet ist, den Handel in der<br />

EU zu behindern. Ob diese Behinderung tatsächlich eintritt, ist unerheblich.<br />

Leitentscheidung Rs Dassonville.<br />

Eine Maßnahme gleicher Wirkung liegt immer dann vor, wenn eine der folgenden<br />

Voraussetzungen erfüllt ist:<br />

+ Die Ware hat bestimmte Handelshemmnisse zu überwinden, wie zB Vorschriften<br />

über die Zusammensetzung, die Werbung, die Vermarktung oder die Größe der<br />

Ware.<br />

+ Die beschränkende Rechtsvorschrift gilt unterschiedslos für einheimische und für<br />

aus anderen oder nach anderen Mitgliedstaaten verbrachten Waren.<br />

+ Die Beschränkung wird nicht rechtlich sondern auf andere Weise bewirkt, wie zB<br />

durch eine Werbekampagne für ausschließlich einheimische Erzeugnisse.<br />

-) Art. 36 AEUV zählt taxativ Gründe auf, weshalb eine staatliche Maßnahme bzgl<br />

Diskriminierung oder Beschränkung gerechtfertigt sein kann.<br />

Rechtfertigungsgründe sind öffentliche Sittlichkeit, öffentliche Ordnung und Sicherheit,<br />

Schutz <strong>des</strong> Lebens und der Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen,<br />

Schutz <strong>des</strong> nationalen Kulturguts, Schutz <strong>des</strong> gewerblichen und kommerziellen<br />

Eigentums.<br />

-) Der EuGH erkennt zwingende Erfordernisse <strong>des</strong> allgemeinen Interesses an, mit<br />

denen sich eine staatliche Maßnahme in Bezug auf indirekte Diskriminierung oder<br />

Beschränkung rechtfertigen lässt. Der Katalog ist indikativ.<br />

Zwingende Erfordernisse sind ua wirksame steuerliche Kontrolle, Schutz der öffentlichen<br />

Gesundheit, Lauterkeit <strong>des</strong> Handelsverkehrs, Verbraucherschutz.<br />

Leitentscheidung Rs Cassis de Dijon.<br />

Weitere zwingende Erfordernisse sind Kohärenz und Struktur <strong>des</strong> Gesundheitssystems,<br />

Grund- und Menschenrechte, Umweltschutz.<br />

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<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

Bei den zwingenden Erfordernissen <strong>des</strong> allgemeinen Interesses geht es im Kern<br />

darum, dass ein öffentliches Interesse am Schutz bestimmter Rechtsgüter besteht,<br />

und dieser Schutz den Grundgedanken <strong>des</strong> Unionsrechts entspricht.<br />

Direkte Diskriminierung ist nicht mit einem zwingenden Erfordernis <strong>des</strong> allgemeinen<br />

Interesses rechtfertigbar, sondern nur mit einem in Art. 36 AEUV aufgeführten<br />

Rechtfertigungsgrund.<br />

-) Eine staatliche Maßnahme darf den freien Warenverkehr nur dann beeinträchtigen,<br />

wenn die mit ihr verbundene Diskriminierung oder Beschränkung gerechtfertigt<br />

und verhältnismäßig ist.<br />

Übungsfall<br />

Die deutsche Supermarktkette ERWE möchte das bekannte Eau-de-vie der französischen<br />

Schnapsbrennerei Viesaine, das einen Alkoholgehalt von 45% hat, in<br />

das Sortiment aufnehmen.<br />

Als sich ERWE um die notwendigen Genehmigungen bemüht, erfährt das Unternehmen<br />

jedoch, dass der Schnaps aufgrund der geltenden deutschen Rechtslage<br />

nicht eingeführt werden darf. Es wird darüber informiert, dass in Deutschland nur<br />

Schnäpse nur mit einem Min<strong>des</strong>talkoholgehalt von 50% vertrieben werden dürfen.<br />

Die zuständige deutsche Behörde argumentiert, dieses Vorgehen sei unionsrechtskonform,<br />

da diese Bestimmung nicht nur französische, sondern auch für deutsche<br />

Schnäpse gelten würde.<br />

Die Rechtsabteilung von ERWE ist trotzdem davon überzeugt, dass hier ein Verstoß<br />

gegen Unionsrecht vorliegt, und überlegt, rechtliche Schritte einzuleiten.<br />

a) Welche Grundfreiheit könnte hier betroffen sein? Nennen Sie den entsprechenden<br />

Artikel in der AEUV? Was verbietet diese Bestimmung? (2P)<br />

Die Bestimmung verbietet einem Mitgliedstaat, die Einfuhr von Waren mengenmäßig<br />

zu beschränken, Maßnahmen gleicher Wirkung zu setzen sowie Waren aus anderen<br />

Mitgliedstaaten zu diskriminieren.<br />

b) Wie sehen Sie im konkreten Fall die Rechtslage? Liegt hier ein Verstoß gegen<br />

Unionsrecht vor? Argumentieren Sie! (4P)<br />

Der Schnaps hat Geldwert und kann Gegenstand von Handelsgeschäften sein. Er<br />

ist daher eine Ware iSv Art. 28 Abs. 2 AEUV.<br />

Das deutsche Recht behandelt die Einfuhr von Schnäpsen unterschiedslos, ohne<br />

dass sich die Behandlung unterschiedlich auf Verkäufer von Schnäpsen auswirkt.<br />

Es diskriminiert Viesaine nicht.<br />

Das deutsche Recht beschränkt die Einfuhr von Schnäpsen anhand <strong>des</strong> Min<strong>des</strong>talkoholgehalts.<br />

Es macht die Einfuhr von Eau-de-vie unmöglich, ohne diese ausdrücklich<br />

zu verbieten oder zu kontingentieren. Es stellt eine Maßnahme gleicher<br />

Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung dar.<br />

Die Beschränkung ist mit dem zwingenden Erfordernis <strong>des</strong> Verbraucherschutzes<br />

rechtfertigbar. Sie ist aber unverhältnismäßig, weil die Verpflichtung, den Alkoholgehalt<br />

auf dem Etikett anzugeben, ein gelinderes, gleich wirksames Mittel ist, um<br />

den Verbraucher über die Qualität <strong>des</strong> Schnapses zu informieren.<br />

Es liegt somit ein Verstoß gegen Unionsrecht vor, weil die Beschränkung mit der<br />

Warenverkehrsfreiheit unvereinbar ist.<br />

c) Wie lautet die Leitentscheidung, die diesem Fall zugrunde liegt? (1P)<br />

Rs Cassis de Dijon.<br />

In Betracht kommt die Warenverkehrsfreiheit. Sie ist in Art. 34 AEUV normiert.<br />

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<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV)<br />

-) Ziel: Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt sind im Gleichgewicht. Der<br />

Faktor Arbeit ist am Ort <strong>des</strong> größten wirtschaftlichen Nutzens einsetzbar. Unselbständig<br />

Erwerbstätige sind frei, ihre Existenzgrundlage dort zu wählen, wo ihnen<br />

die Voraussetzungen dafür am günstigsten erscheinen.<br />

-) Art. 45 AEUV verbietet, Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit<br />

in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstigen Arbeitsbedingungen<br />

zu diskriminieren.<br />

Der Wanderarbeitnehmer 9 hat das Recht, in den anderen Mitgliedstaat einzureisen,<br />

dort eine Stelle zu suchen, sich dort frei zu bewegen, aufzuhalten und eine Wohnung<br />

zu suchen sowie nach Ende der Beschäftigung im Beschäftigungsland zu<br />

verbleiben.<br />

-) Nach Rechtsprechung <strong>des</strong> Gerichtshofes verbietet Art. 45 AEUV Beschränkungen,<br />

die den grenzüberschreitenden Zugang zum Arbeitsmarkt eines anderen Mitgliedstaates<br />

behindern.<br />

Leitentscheidung Rs Bosman.<br />

-) Art. 45 AEUV wirkt unmittelbar. Seine Verbote binden auch intermediäre Gewalten<br />

(wie etwa die Sportverbände UCI, Fifa oder UEFA) und private Arbeitgeber.<br />

-) Ein Arbeitnehmer ist Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats und übt für eine bestimmte<br />

Zeit in einem Weisungsverhältnis Tätigkeiten gegen Entgelt aus.<br />

-) Art. 45 Abs. 4 AEUV nimmt die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung von<br />

der Arbeitnehmerfreizügigkeit aus. Die Norm ist eine Bereichsausnahme und kein<br />

Rechtfertigungsgrund.<br />

9 Als Wanderarbeitnehmer bezeichnet man Arbeitnehmer, die in einem anderen<br />

Mitgliedstaat arbeiten.<br />

Die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung umfasst nur diejenigen Stellen,<br />

die allgemeine Belange <strong>des</strong> Staates wahren und regelmäßig hoheitliche Befugnisse<br />

ausüben. Sie setzt ein besonderes Naheverhältnis zum Staat voraus.<br />

Als öffentliche Verwaltung gelten zB Justiz, Militär, Polizei, Steuerverwaltung oder<br />

Diplomatie. Nicht anerkannt als öffentliche Verwaltungstätigkeit ist zB die Ableistung<br />

eines Vorbereitungsdienstes für das Lehramt.<br />

-) Art. 45 Abs. 3 AEUV zählt taxativ Gründe auf, weshalb eine staatliche Maßnahme<br />

bzgl Diskriminierung oder Beschränkung gerechtfertigt sein kann.<br />

Rechtfertigungsgründe sind Schutz der öffentlichen Ordnung, Schutz der öffentlichen<br />

Sicherheit, Schutz der Gesundheit.<br />

-) Der EuGH erkennt zwingende Erfordernisse <strong>des</strong> allgemeinen Interesses an, mit<br />

denen sich eine staatliche Maßnahme in Bezug auf indirekte Diskriminierung oder<br />

Beschränkung rechtfertigen lässt. Der Katalog ist indikativ.<br />

Direkte Diskriminierung ist nicht mit einem zwingenden Erfordernis <strong>des</strong> allgemeinen<br />

Interesses rechtfertigbar, sondern nur mit einem in Art. 45 Abs. 3 AEUV aufgeführten<br />

Rechtfertigungsgrund.<br />

-) Eine staatliche Maßnahme darf die Arbeitnehmerfreizügigkeit nur dann beeinträchtigen,<br />

wenn die mit ihr verbundene Diskriminierung oder Beschränkung gerechtfertigt<br />

und verhältnismäßig ist.<br />

FÜM 03/2013<br />

Die Französin Fiona Fleur hat in Saarbrücken studiert und dort die Lehramtsprüfung<br />

für Gymnasien abgelegt. Da sie gerne in Deutschland bleiben und als Lehrerin<br />

tätig sein möchte, beantragt sie dort die Zulassung zum Vorbereitungsdienst. Dieser<br />

muss absolviert werden, um den Lehrerberuf in Deutschland ausüben zu dürfen.<br />

Für die Zeit <strong>des</strong> Vorbereitungsdienstes besteht ein Beamtenverhältnis. Die<br />

Praktikanten werden bezahlt und müssen in einer Schule auch selbst Unterricht<br />

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<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

halten. Fiona Fleur ist enttäuscht, als sie erfährt, dass ihr die Zulassung zum Vorbereitungsdienst<br />

für das Lehramt aufgrund ihrer französischen Staatsbürgerschaft<br />

verweigert wird. Der zuständige Beamte erklärt ihr, dass es sich bei dem Vorbereitungsdienst<br />

um eine hoheitliche Tätigkeit handle und <strong>des</strong>halb nur deutsche Staatsbürger<br />

zugelassen werden können.<br />

a) Welche Grundfreiheit könnte hier betroffen sein? Wo ist diese normiert? (1P)<br />

In Betracht kommt die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Sie ist in Art. 45ff AEUV normiert.<br />

b) Liegt im konkreten Fall ein Verstoß gegen diese Grundfreiheit vor? Argumentieren<br />

Sie anhand <strong>des</strong> Prüfungsschemas und gehen Sie dabei auch auf die Aussage<br />

<strong>des</strong> Beamten ein! (6P)<br />

Fiona möchte grenzüberschreitend den Vorbereitungsdienst für den Lehrberuf ableisten.<br />

Als Praktikantin unterrichtet sie in einer Schule für eine bestimmte Zeit in<br />

einem Weisungsverhältnis gegen Entgelt. Sie ist nicht in der öffentlichen Verwaltung<br />

beschäftigt, weil sie keine Stelle innehat, die allgemeine Belange <strong>des</strong> Staates<br />

wahrt und regelmäßig hoheitliche Befugnisse ausübt. Fiona ist daher Arbeitnehmerin.<br />

Fiona wird direkt diskriminiert, weil sie aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht<br />

zum Vorbereitungsdienst zugelassen wird. Die direkte Diskriminierung ist nicht mit<br />

einem in Art. 45 Abs. 3 AEUV aufgeführten Grund rechtfertigbar. Ohne Rechtfertigung<br />

entfällt die Prüfung auf Verhältnismäßigkeit.<br />

Es liegt somit ein Verstoß gegen Unionsrecht vor, weil die direkte Diskriminierung<br />

mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit unvereinbar ist.<br />

Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV)<br />

-) Ziel: Selbständig Erwerbstätige sind frei, ihre Wirtschaftstätigkeit in einem anderen<br />

Mitgliedstaat stetig und dauerhaft auszuführen.<br />

-) Art. 49 AEUV verbietet nationale Maßnahmen, die die freie Niederlassung unterbinden,<br />

behindern oder weniger attraktiv machen. Die Norm richtet sich gegen Diskriminierung<br />

und Beschränkung. Sie wirkt unmittelbar.<br />

Leitentscheidung Rs Gebhard.<br />

-) Niederlassung heißt die Aufnahme und Ausübung einer selbständigen Tätigkeit<br />

in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit.<br />

-) Art. 51 Abs. 1 AEUV nimmt Tätigkeiten, die dauernd oder zumin<strong>des</strong>t zeitweise<br />

mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind, von der Niederlassungsfreiheit<br />

aus. Die Norm ist eine Bereichsausnahme und kein Rechtfertigungsgrund.<br />

-) Art. 52 AEUV zählt taxativ Gründe auf, weshalb eine staatliche Maßnahme bzgl<br />

Diskriminierung oder Beschränkung gerechtfertigt sein kann.<br />

Rechtfertigungsgründe sind Schutz der öffentlichen Ordnung, Schutz der öffentlichen<br />

Sicherheit, Schutz der öffentlichen Gesundheit.<br />

-) Der EuGH erkennt zwingende Erfordernisse <strong>des</strong> allgemeinen Interesses an, mit<br />

denen sich eine staatliche Maßnahme in Bezug auf indirekte Diskriminierung oder<br />

Beschränkung rechtfertigen lässt.<br />

Direkte Diskriminierung ist nicht mit einem zwingenden Erfordernis <strong>des</strong> allgemeinen<br />

Interesses rechtfertigbar, sondern nur mit einem in Art. 52 AEUV aufgeführten<br />

Rechtfertigungsgrund.<br />

-) Eine staatliche Maßnahme darf die Niederlassungsfreiheit nur dann beeinträchtigen,<br />

wenn die mit ihr verbundene Diskriminierung oder Beschränkung gerechtfertigt<br />

und verhältnismäßig ist.<br />

FÜM 01/2013<br />

Der deutsche Rechtsanwalt Horst Hitzkopf möchte mit seiner Frau nach Italien<br />

auswandern und in Florenz eine Kanzlei eröffnen. Die italienische Rechtsanwalts-<br />

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<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

kammer informiert ihn jedoch darüber, dass nur italienische Staatsbürger in Italien<br />

eine Kanzlei betreiben dürfen. Horst ist empört. Er ist der Ansicht, dass es in einem<br />

Europa ohne Grenzen ohne Weiteres möglich sein müsste, sich in einem anderen<br />

Mitgliedstaat als Rechtsanwalt niederzulassen.<br />

a) Welche Grundfreiheit könnte hier betroffen sein? Welche Anhaltspunkte gibt der<br />

Sachverhalt dafür? Wo ist diese Grundfreiheit vertraglich normiert? (3P)<br />

In Betracht kommt die in Art. 49 AEUV normierte Niederlassungsfreiheit. Auswanderung<br />

und Kanzleieröffnung indizieren, dass Horst als Rechtsanwalt selbständig,<br />

grenzüberschreitend und dauerhaft tätig sein will.<br />

b) Liegt hier tatsächlich ein Verstoß gegen diese Grundfreiheit vor? Argumentieren<br />

Sie anhand <strong>des</strong> Prüfungsschemas! (4P)<br />

Die Tätigkeit eines Rechtsanwalts ist nicht mit der Ausübung hoheitlicher Gewalt<br />

verbunden. Horst wird direkt diskriminiert, weil er aufgrund seiner Staatsangehörigkeit<br />

keine Kanzlei betreiben darf. Die direkte Diskriminierung ist nicht mit einem in<br />

Art. 52 AEUV aufgeführten Grund rechtfertigbar. Ohne Rechtfertigung entfällt die<br />

Prüfung auf Verhältnismäßigkeit.<br />

Es liegt somit ein Verstoß gegen Unionsrecht vor, weil die direkte Diskriminierung<br />

mit der Niederlassungsfreiheit unvereinbar ist.<br />

Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV)<br />

-) Ziel: In ihrem Herkunftsstaat rechtmäßig erbrachte Dienstleistungen sind auch in<br />

den anderen Mitgliedstaaten vermarktbar.<br />

-) Die Dienstleistungsfreiheit ist subsidiär gegenüber der Arbeitnehmerfreizügigkeit<br />

und der Niederlassungsfreiheit (Art. 57 Abs. 1 AEUV).<br />

-) Art. 56 AEUV verbietet nationale Maßnahmen, die die freie Dienstleistung unterbinden,<br />

behindern oder weniger attraktiv machen. Die Norm richtet sich gegen Diskriminierung<br />

und Beschränkung. Sie wirkt unmittelbar.<br />

-) Eine Dienstleistung ist eine grenzüberschreitende, selbständige, vorübergehende<br />

Leistung unkörperlicher Art typischerweise gegen Entgelt. Sie kann von selbständigen,<br />

unselbständigen oder juristischen Personen erbracht werden.<br />

Zu den Dienstleistungen zählen gewerbliche, kaufmännische, handwerkliche und<br />

freiberufliche Tätigkeiten.<br />

Fallgestaltungen der Grenzüberschreitung sind: Der Erbringer begibt sich vorübergehend<br />

in einen anderen Mitgliedstaat (zB Montagearbeit; aktive Dienstleistungsfreiheit).<br />

Der Empfänger begibt sich vorübergehend in das Land <strong>des</strong> Erbringers (zB<br />

Arztbesuch, Tourismus; passive Dienstleistungsfreiheit). Nur die Leistung selbst<br />

überschreitet die Grenze (zB Finanzberatung; Korrespondenzdienstleistung).<br />

-) Art. 62 iVm Art. 51 Abs. 1 AEUV nimmt Tätigkeiten, die dauernd oder zumin<strong>des</strong>t<br />

zeitweise mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind, von der Dienstleistungsfreiheit<br />

aus. Die Norm ist eine Bereichsausnahme und kein Rechtfertigungsgrund.<br />

-) Art. 62 iVm Art. 52 AEUV zählt taxativ Gründe auf, weshalb eine staatliche Maßnahme<br />

bzgl Diskriminierung oder Beschränkung gerechtfertigt sein kann.<br />

Rechtfertigungsgründe sind Schutz der öffentlichen Ordnung, Schutz der öffentlichen<br />

Sicherheit, Schutz der öffentlichen Gesundheit.<br />

-) Der EuGH erkennt zwingende Erfordernisse <strong>des</strong> allgemeinen Interesses an, mit<br />

denen sich eine staatliche Maßnahme in Bezug auf indirekte Diskriminierung oder<br />

Beschränkung rechtfertigen lässt.<br />

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<strong>Michael</strong> <strong>Poropatich</strong> Einführung – Europarecht SoSe 2013<br />

Direkte Diskriminierung ist nicht mit einem zwingenden Erfordernis <strong>des</strong> allgemeinen<br />

Interesses rechtfertigbar, sondern nur mit einem in Art. 62 iVm Art. 52 AEUV<br />

aufgeführten Rechtfertigungsgrund.<br />

-) Eine staatliche Maßnahme darf die Dienstleistungsfreiheit nur dann beeinträchtigen,<br />

wenn die mit ihr verbundene Diskriminierung oder Beschränkung gerechtfertigt<br />

und verhältnismäßig ist.<br />

Übungsfall<br />

Grenzen Sie folgende Grundfreiheiten voneinander ab:<br />

a) Niederlassungsfreiheit – Dienstleistungsfreiheit (2P)<br />

Dauerhafte Leistungserbringung im Fall der Niederlassungsfreiheit. Vorübergehende<br />

Leistungserbringung im Fall der Dienstleistungsfreiheit.<br />

b) Arbeitnehmerfreizügigkeit – Niederlassungsfreiheit (2P)<br />

Unselbständige Tätigkeit im Fall der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Selbständige Tätigkeit<br />

im Fall der Niederlassungsfreiheit.<br />

c) Warenverkehrsfreiheit – Dienstleistungsfreiheit (2P)<br />

Körperliche Sache im Falle der Warenverkehrsfreiheit. Nicht körperliche Sache im<br />

Falle der Dienstleistungsfreiheit.<br />

Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV)<br />

-) Ziel: Es gibt einen einheitlichen europäischen Finanzraum. Unionsbürger und<br />

Unternehmen haben freien Zugang zu den Finanzdienstleistungen in allen Mitgliedstaaten.<br />

-) Art. 63 AEUV verbietet nationale Maßnahmen, die ausländische Kapitalanlagen<br />

diskriminieren und den Kapitalverkehr beschränken. Dieses Verbot gilt innerhalb<br />

der EU und zwischen Mitgliedstaaten und dritten Staaten. Es wirkt unmittelbar.<br />

-) Kapitalverkehr ist die einseitige Wertübertragung in Form von Sach- oder Geldkapital<br />

aus einem Mitgliedstaat in einen anderen.<br />

Wirtschafts- und Währungsunion (Art. 3 Abs 3 EUV)<br />

-) Die Währungsunion ist rechtlich gewährleistet. Die EU ist ausschließlich zuständig<br />

für die Währungsunion. Das Europäische System der Zentralbanken (ESZB)<br />

vollzieht die Währungsunion.<br />

Das ESZB legt die Geldpolitik der EU fest. Es hält und verwaltet die Währungsreserven<br />

der Mitgliedstaaten. Es ist verpflichtet, die Preisstabilität zu wahren. Es übt<br />

die europäische Finanzaufsicht aus.<br />

Das ESZB besteht aus der Europäischen Zentralbank (EZB) und den nationalen<br />

Zentralbanken.<br />

Das Direktorium der EZB überwacht die Tagesgeschäfte. Der Rat der EZB legt die<br />

Währungspolitik für den Euroraum fest und bestimmt die Zinssätze, zu denen sich<br />

Geschäftsbanken Geld von der Bank beschaffen können.<br />

Die EZB sowie die nationalen Zentralbanken als Glieder <strong>des</strong> ESZB sind unabhängig<br />

und weisungsfrei.<br />

-) Die Wirtschaftsunion ist nicht rechtlich gewährleistet. Europäischer Rat und Ministerrat<br />

koordinieren die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten.<br />

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