studien zum west-östlichen divan - von Katharina Mommsen
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SITZUNGSBERICHTE DER DEUTSCHEN AKADEMIE<br />
DER WISSENSCHAFTEN ZU BERLIN<br />
Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst<br />
Jahrgang I962 • Nr. I<br />
MOMME MOMMSEN<br />
STUDIEN ZUM<br />
WEST-ÖSTLICHEN DIVAN<br />
AKADEMIE-VERLAG· BERLIN
')<br />
I<br />
INHALT<br />
Vorgc:tr3gcn und für die Sit:tungsberichte 3ngcnommen<br />
in der Sitzung ocr Klasse für S pra c hcn~ Literatur und Kunst am 12. 10. 1961<br />
A usgegeben am 3. August I96:a<br />
Goethe und Ferid-eddin Attar .<br />
Bruchstück nach Hariri<br />
,.Sommernacht"<br />
1. überblick<br />
H. Das pädagogische E lement in "Sommernacht"<br />
IH. Entstehung<br />
IV. Lebensanregungen<br />
V. Quellen<br />
I<br />
)<br />
"Herr! laß dir gefallen"<br />
Verse <strong>zum</strong> Wiener Kongreß<br />
1. "Verschon uns Gott mit deinem' Grimme!"<br />
II. "Keinen Reimer wird man finden" .<br />
9<br />
25<br />
29<br />
31<br />
47<br />
49<br />
54<br />
77<br />
87<br />
102<br />
Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />
1. Burdachs Datierung der Kräuterschen Reinschrift<br />
II. Die Entstehungsgeschichte der Sammlung "Sprichwörtlich"<br />
Verhältnis <strong>zum</strong> Buch der Sprüche<br />
III. Die Entstehung der Kräuterschen Reinschrift<br />
"Abraxas" ("Süßes Kind, die Perlenreihen")<br />
Nachwort<br />
und ihr<br />
109<br />
n6<br />
126<br />
139<br />
153<br />
Abbildung: Aufzeichnungen Goethes aus Chardin, Voyages en Perse<br />
.86/87<br />
":rschicncn im Akadcll li c - Vcrbg (;mbll, Bcrlin \\'8. Lcipziger Straße 3-4<br />
Cnpyri p:hr 19(,2 hy Akademie-Verlag GmbH<br />
Li zcnztlun1lllcr: 202 . 100/184/62<br />
Cc s~H )1t hc rst cllun A: I)ru
\<br />
GOETHE UND FERID-EDDIN ATTAR<br />
Die Gedichte des West-<strong>östlichen</strong> Divan enthalten eine Fülle bedeutsamer<br />
Äußerungen über das Wesen der Dichtung und des Dichters.<br />
Diese beziehen sich auf Allgemeines und Einzelnes, sind bald<br />
didaktisch, bald polemisch gehalten, in vielfachen Abwandlungen bilden<br />
sie jedenfalls einen wesentlichen Bestandteil der Thematik des<br />
Werks. Besonders treten sie hervor in den ersten bei den Büchern,<br />
dem Buch des Sängers und dem Buch Hafls. Aber auch in andern<br />
Teilen trifft man sie, vor allem im Buch Suleika und im Schenkenbuch,<br />
wo die vielen Gedichte, in denen Goethe aus der Maske des<br />
"Dichters" oder "Hatems" spricht, oft genug das genannte Thema<br />
berühren.<br />
In den Bereich dieser Gedichte gehört auch der folgende Vi erz eil er<br />
aus dem Buch der Sprüche:<br />
Die Fluth der Leidenschaft sie stürmt vergebens<br />
An's unbezwungne, feste Land. -<br />
Sie wirft poetische Perlen an den Strand,<br />
Und das ist schon Gewinn des Lebens.<br />
Wie sämtliche Äußerungen über Poesie im Divan tragen auch diese<br />
Bekenntnischarakter . Goethe spricht hier über das Verhältnis der<br />
Dichtung zur Leidenschaft und berührt damit Allgemeingültiges und<br />
Persönliches zugleich. Leidenschaft ist an sich Ursprung aller Poesie.<br />
Ohne "furor" ist schon nach antiker Vorstellung überhaupt kein Dichter<br />
denkbar. i ) Doch eignet Goethe in ganz besonderem Sinne ein<br />
1) Cicero de divin. I 38, 80: nach Demokrit und Plato.
10 Goethe und Ferid-eddin Attar<br />
Affinitätsverhältnis zur Leidenschaft: als Verfasser des Werther, der<br />
Marienbader Elegie, des Faust II und vieles auf der Ebene dieser<br />
Werke Liegendem ist er ein Dichter der Leidenschaft schlechthin, in<br />
dieser Beziehung nur wenigen vergleichbar.<br />
Ebenso auf Goethe selbst weist in dem Vierzeiler noch ein anderer<br />
Zug. Es ist die unbefriedigte Leidenschaft, die - so wird uns darin<br />
einschränkend bedeutet - den Dichter produktiv macht. Indem das<br />
Meer "vergebens" ans "feste Land stürmt", hinterläßt es doch als<br />
Bleibendes: "poetische Perlen". Das erinnert an den Unmögliches begehrenden<br />
Faust ebensosehr wie an den ganzen Bereich des Entsagens,<br />
der in Goethes Leben und Schaffen eine so große Rolle spielt.<br />
Es ist also eine Charakteristik vor allem seines eigenen Dichtens, die<br />
Goethe in den vier Versen gibt. Als persönliches, zentrale Dinge berührendes<br />
Bekenntnis haben sie hervorragende Bedeutung.<br />
In seinen wesentlichen Partien ist gerade der West-östliche Divan<br />
eine Dichtung der Leidenschaft, Dichtung, die zugleich erwuchs aus<br />
mancher Not des Entsagens. Insofern hätten die obigen Verse auch<br />
wohl ein Motto für das Werk abgeben können, und in der Tat wurden<br />
sie einmal in ähnlicher Funktion verwendet. Als Goethe zu Anfang<br />
des Jahres 1816 eine Anzahl <strong>von</strong> D ivan-Gedichten im "Morgenblatt<br />
für gebildete Stände" drucken ließ, um eine Vorprobe des <strong>von</strong><br />
ihm geplanten Ganzen zu geben, stand der Vierzeiler "Die Fluth der<br />
Leidenschaft" vorweg - als Motto. In der ersten Ausgabe des Divan<br />
<strong>von</strong> r819 erhielt das Gedicht immer noch einen Platz, der die Bedeutung<br />
seines Inhalts unterstrich: mit ihm endigte das Buch der Sprüche,<br />
sehr wirkungsvoll, wie seitens der Kommentatoren stets · hervorgehoben<br />
wurde. (In der zweiten Ausgabe des Divan <strong>von</strong> 1827 blieb es<br />
nicht bei dieser Anordnung. Hier ließ Goethe noch drei weitere Gedichte<br />
folgen, unbekümmert darum, daß diese Maßnahme den Schluß<br />
des Buchs der Sprüche in kompositorischer Hinsicht eher beeinträchtigte.)<br />
Vom Dichterischen her betrachtet zeichnet sich der Vierzeiler durch<br />
Schönheit und Höhe des T ons aus, wie sie innerhalb der Goetheschen<br />
Spruchdichtung nur in den besten Stücken anzutreffen ist. D en Aus-<br />
"Die Fluth der Leidenschaft" 11<br />
schlag gibt aber die besondere Pracht der Metaphern. Von den Bildern<br />
geht die eigentliche Wirkung des Gedichts aus. Da wir uns im<br />
Divan befinden, erhebt sich die natürliche Frage, ob diese Bilder<br />
orientalischer Herkunft sind oder nicht. Der gesamte Charakter des<br />
Vierzeilers erweckt sehr stark den Eindruck, daß Goethe hier orientalisiert.<br />
Doch ist ein wirkliches Vorbild, das es angeregt haben<br />
könnte, bisher nicht bekannt. Das ist in diesem Fall schon deswegen<br />
besonders unbefriedigend, weil Goethe selbst gerade bezüglich des<br />
Buchs der Sprüche ausdrücklich erklärte, zu dessen Gedichten hätten<br />
"orientalische Sinnreden meist den Anlaß gegeben".2) Es erschiene<br />
befremdlich, wenn <strong>von</strong> dieser so deutlich verkündeten Regel das<br />
wichtige und schöne Gedicht <strong>von</strong> den "poetischen Perlen" eine Ausnahme<br />
bilden sollte. Die folgenden Untersuchungen möchten Klarheit<br />
darüber bringen, welche "orientalische Sinnrede" in diesem Fall inspirierend<br />
auf Goethe wirkte.<br />
Der Vergleich <strong>von</strong> Versen, Gedichten mit Perlen ist dem Orientalen<br />
geläufig. Goethe fand ihn, wie schon Chr. Wurm nachwies, 3)<br />
bei Hafis mehrmals, auch bei Jones. 4) Doch damit ist die Metapher<br />
in unserm Vierzeiler nicht erklärt. Hier ist das Wesentliche die Verbindung<br />
<strong>von</strong> Perlen und Meer - Meer als Sinnbild für Leid und<br />
Leidenschaft. D afür ließ sich in den orientalischen Werken, die<br />
Goethe bis zur Abfassung des Gedichts vor Augen gekommen waren,<br />
nichts Entsprechendes aufzeigen. Unseren Nachforschungen dient als<br />
fester Ausgangspunkt folgendes.<br />
Es gibt unter den Divan-Papieren eine Goethesche Notiz, die, wie<br />
Burdach richtig erkannte, in engem Zusammenhang mit unserem Gedicht<br />
steht: 5)<br />
2) Anzeige des West-<strong>östlichen</strong> Divan im Morgenblatt für gebildete Stände vom<br />
24. Februar 1816. W A (= Weimarer Ausgabe) I 41 (I) S. 88.<br />
3) Chr. Wurm: Commentar zu Göthe's <strong>west</strong>-östlichem Divan. Nürnberg 1834.<br />
S. 1)9 f. Wurms Hinweis au f Hammers 1818 erschienene Geschichte der schönen<br />
Redekünste Persiens (ebd.) ist aus chronologischen Gründen unbrauchbar.<br />
4) Vgl. unten S. )).<br />
5) WA I 6, S. 409; 474. Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 1)7.
12 Goethe und Ferid-eddin Attar<br />
"Die Fluth der Leidenschaft"<br />
13<br />
Poetische Perlen ans Ufer geworfner<br />
Gewinnst des Lebens.<br />
[IV]<br />
Wenn du dieses hörst, so achte sie alt die Welt<br />
Viele Jahre sind seitdem über Berge und Thäler<br />
Verflossen, und so werden noch viele verfliesen.<br />
Der Satz enthält offensichtlich das Aperc;:u zu unserm Gedicht, vor<br />
allem auch die ihm zugrunde licgenden metaphorischen Elemente.<br />
Burdach wußte nicht zu sagen, was es sonst mit dieser Notiz auf sich<br />
hatte, ob sie Goethes Phantasie oder literarischer Anregung ihre<br />
Existenz verdankt. Bei genauerer Betrachtung wird sich erweisen,<br />
daß das letztere zutrifft. Auf jeden Fall haben wir bei unserer Untersuchung<br />
<strong>von</strong> dem obigen Satz auszugehen.<br />
Die Notiz <strong>von</strong> den "poetischen Perlen" findet sich auf einer Handschrift,<br />
die eine Reihe <strong>von</strong> verschiedenen Aufzeichnungen enthält,<br />
insgesamt sechs. Da diese Aufzeichnungen niemals im vollständigen<br />
Zusammenhang gedruckt worden sind, geben wir sie wieder bis <strong>zum</strong><br />
Anfang der letzten, sechsten Notiz, die umfangreicher und hier im<br />
Gesamtwortlaut zu entbehren ist. Es kommt für unsere Zwecke darauf<br />
an, daß wir die sechs Einzelteile der Handschrift in ihrer Reihenfolge<br />
überblicken können. Ein <strong>von</strong> Goethe nur einseitig beschriebenes<br />
Folioblatt enthält folgendes: 6)<br />
[I]<br />
[II]<br />
[III]<br />
Ferid-eddin. <strong>von</strong> 6137)<br />
Guten Ruf musst du dir machen<br />
Unterscheiden wohl die Sachcn<br />
Wer was weiter will verdirbt.<br />
Poetische Perlen ans Ufer geworfner<br />
Gewinnst des Lebens.<br />
Traue nicht dem Truncken Weisen<br />
Denn er stielt dir dein Geheimniß.<br />
P·9·<br />
[V]<br />
[VI]<br />
Liber Nigaristan.<br />
Luscinia captiva cui nomen est anima<br />
Non inservit corpori, quod vlees retis gerit.<br />
~<br />
Fundgr. II. 360.<br />
N estorianer. Jacobiten<br />
[Es folgen längere Notizen, niedergeschrieben im<br />
Anschluß an obige Stellenangabe.]<br />
. Sämtliches ist mit Tinte geschrieben. Die Aufzeichnungen I und II<br />
sind <strong>von</strong> Goethe durchgestrichen <strong>zum</strong> Zeichen der Erledigung, d. h.<br />
in diesem Fall der dichterischen Verwendung. Über die sechs Einzelteile<br />
der Handschrift ist bisher soviel bekannt:<br />
Nr. I ist gleichlautend mit dem Gedicht im Buch der Sprüche, das<br />
unmittelbar vor dem Vierzeiler "Die Fluth der Leidenschaft" steht.<br />
Loeper wies nach, daß den drei Versen ein französischer Satz aus<br />
Band 2 der Fundgruben des Orients (S. 9) zugrunde liegt,8) nämlich<br />
ein Gedicht <strong>von</strong> Ferid-eddin Attar in Silvestre de Sacy's Übersetzung.<br />
Nr. II und III sind der Herkunft nach ungeklärt.<br />
Nr. IV schrieb Goethe fast wörtlich ab nach einer in Band 2 der<br />
Fundgruben des Orients (S. 63) enthaltenen Übersetzungsprobe aus<br />
Firdusis Schah Namch (Übersetzer Ludolf). Das entging Burdach,<br />
obwohl gerade er Goethes Beschäftigung mit dem Schah Nameh ein-<br />
U) WA I 6, S. 474; Divan. Akademie-Ausgabe 3. S. '51 f.<br />
7) Die Zahl 613 als Geburtsjahr <strong>von</strong> Fcrid-eddin Attar entnahm Goethe Bd. 2 der<br />
Fundgruben des Orients. S. 6. Sie ist dort Druckfehler, statt 513 (I119).<br />
8) Fundgruben des Orients bearbeitet durch eine Gesellschaft <strong>von</strong> Liebhabern.<br />
[Hrsg. <strong>von</strong> ]oseph v. HammeL] Wien 1809 ff.
14 Goethe und Ferid-eddin Attar<br />
gehend untersuchte 9 ) und den Einfluß Firdusis sogar überschätzteiO).<br />
Weitz kennzeichnete in der Insel-Ausgabe des Divan die drei Zeilen<br />
durch Kursivdruck als Zitat, ohne jedoch die Herkunft anzugeben.!!)<br />
Nr. V stellt elll wörtliches Zitat aus Band 2 der Fundgruben des<br />
Orients dar (S. 108). Bereits Christi an Wurm - der natürlich das in<br />
Frage stehende Paralipomenon noch nicht kannte - zeigte, daß nach<br />
dem lateinischen Satz die Parabel "Bulbuls Nachtlied" gebildet<br />
ward. 12)<br />
Nr. VI bringt stichwortartige Notizen nach Fundgruben des Orients<br />
Band 2 S. 360 ff.<br />
Im ganzen ergibt sich folgendes Bild: die ihrer Herkunft nach geklärten<br />
Partien der Handschrift - Nr. I, IV bis VI - beruhen sämtlich<br />
auf Band 2 der Fundgruben des Orients. Prüft man die Zahlen<br />
der <strong>von</strong> Goethe benutzten Seiten, so entspricht die Reihenfolge<br />
in der Quelle dem Aufeinanderfolgen der Niederschriften auf unserem<br />
Folioblatt; es beginnt mit S. 9 (Nr. I), dann folgen S. 63, 108,<br />
360 ff. (Nr. IV-VI).<br />
Offenbar sind die Notizen so entstanden, daß Goethe jenen zwei-<br />
. ten Band der Fundgruben <strong>von</strong> vorn nach hinten durchsah, und im<br />
Zuge der Lektüre bei interessanten Stellen zu Niederschriften veranlaßt<br />
wurde. Angesichts dieser Sachlage· kommt man zu der Vermutung,<br />
daß auch die bisher ungeklärten Aufzeichnungen Nr. II und<br />
III der gleichen Quelle entstammen. Weiter erscheint es geboten, besonders<br />
die Partie des Fundgruben-Bandes sorgfältig zu prüfen, die<br />
zwischen S. 9 (Aufzeichnung Nr. I) und S. 63 (Aufzeichnung Nr. IV)<br />
!I) Noch in dem 1937 erschienenen Divan-Band der Welt-Goethe-Ausgabc (Bd. 5,<br />
S. 328) druckte Burdach die drei Zeilen als Goetheschen Gedichtentwurf.<br />
10) Vgl. unten S. 65.<br />
H) Die St:dJcnangaben verdanke ich <strong>Katharina</strong> <strong>Mommsen</strong>.<br />
12) A. a. O. S. 235.<br />
"Die Fluth der Leidenschaft" 15<br />
liegt. In ihr sollten, wenn Goethe der Reihe nach las und notierte, die<br />
Anregungen zu den Aufzeichnungen Nr. II und III zu finden sein.<br />
Tatsächlich kommen wir so zu dem gesuchten Resultat. Nicht selten<br />
läßt sich Unbekanntes in Goetheschen Notizblättern auf dem<br />
Wege erschließen, den wir hier einschlugen: durch Beachtung des<br />
Nacheinander in der Handschrift.<br />
Die Aufzeichnung Nr. III behandeln wir gesondert im nächsten<br />
Abschnitt dieser Untersuchung. Wenden wir uns zu Nr. 11. Der Satz<br />
<strong>von</strong> den "poetischen Perlen" wurde angeregt durch eine Stelle auf<br />
S. 10 des zweiten Bandes der Fundgruben. Das entspricht also durchaus<br />
unserer Annahme bezüglich der Reihenfolge; <strong>von</strong> S. 9 stammt<br />
Aufzeichnung Nr. 1.<br />
Auf S. 5-12 des zweiten Fundgruben-Bandes findet sich eine Biographie<br />
des persischen Dichters Ferid-eddin Attar. Es handelt sich um<br />
einen Abschnitt aus der Tadkire des Amir Daulat-Säh aus Samarkand,13)<br />
den Silvestre de Sa~y in französischer Übersetzung darbot:<br />
"Vie de Ferid-eddin Attar, auteur du Pend-nameh, extraite de<br />
l'histoire des poetes persans de Dauletschah Samarkandi". Innerhalb<br />
dieser Biographie wird nun <strong>von</strong> Ferid-eddin Attar, im Anschluß an<br />
eine Aufzählung seiner Werke, gesagt: 14)<br />
"Le n"cueil des pocsies de Ferid-eddin, non compris Ics collections de distiques, est<br />
de 4°,000 vers. On campte dans ce nombre 12,000 quatrains ... Les poemes, les<br />
chansons, les petites picces du scheikh, avec ses quatrains et ses recueils de distiques,<br />
forment plus de 10,000 vers. Q u e II e m e r q u e c eil e don t I e s f lot s<br />
ont j etc sur le ri vage de la vie tant de perles d'une valeur<br />
ine sti mable!"<br />
Hier findet sich also die Anregung zu Goethes Notiz, der Aufzeichnung<br />
Nr. II unserer Handschrift:<br />
13) Gestorben 1494195 [?].<br />
1r.) Fundgruben Bd. 2, S. 9 f.<br />
Poetische Perlen ans Ufer geworfner<br />
Gewinnst des Lebens.
16 G oethe und Ferid-eddin Attar<br />
Wie bei der Aufzeichnung Nr. I, die durch die vorhergehende<br />
Seite der Fundgruben angeregt war, erfolgte die Niederschrift im<br />
Hinblick auf ein Gedicht. Im Falle <strong>von</strong> Nr. I formte Goethe einen<br />
französischen Prosasatz - Zitat eines Gedichtes <strong>von</strong> Ferid-eddin<br />
Attar - sogleich zu drei Versen um, die er unverändert in den Divan<br />
aufnehmen konnte. Bei Nr. rr notierte er sich nur ein Apen;u, um<br />
daraus später - vermutlich sehr bald - einen Vierzeiler zu bilden.<br />
Beide Gedichte stehen im Divan wie hier in der Handschrift hinterein<br />
ander; das geht noch letzten Endes auf die Reihenfolge der Anregungen<br />
in den Fundgruben zurück. 15)<br />
In dem schönen Gleichnis des Gedichts "Die Fluth der Leidenschaft"<br />
liegt also wirklich ein Orientalisieren Goethes vor. Anregung<br />
gab die metaphernfreudige Sprache eines alten persischen Biographen.<br />
Goethesche Zutat ist, sehr bezeichnend, die Einbeziehung der "Leidenschaft"<br />
in die Metapher. Hier<strong>von</strong> findet sich nichts in dem oben<br />
angeführten Satz Daulat-Sähs. Doch scheint eine innere Beziehung<br />
nid1t ganz zu fehlen: in seiner Biographie berichtet Daulat-Säh <strong>von</strong><br />
Ferid-eddin Attar, wie dieser das Leben eines wohlhabenden Apothekers<br />
aufgab und in ein Kloster ging. Verbunden mit dieser Abkehr<br />
<strong>von</strong> der Welt war notwendigerweise ein völliges Entsagen (renoncement)<br />
. Ferid-eddin nahm den "Kampf mit seinen Leidenschaften"<br />
auf. Da<strong>von</strong> berichtet die Biographie ausführlich in Wendungen wie: 16)<br />
.. A Ja /i n dc sa vie il etoit parvenu au supreme d egre dans la science du r e -<br />
11 0 n c e m e n t et de I' a b n e g a ti 0 n de soi-meme . .. Au lieu que la cup i -<br />
cl i r (, le domin oit auparavant, il devint esclave d'une passion, de cette passion qui<br />
p!'oclIre infa illiblemcnt la liberte . .. En un mot, Ferid-eddin ayant dit adieu au<br />
mondc .. . sc rctira dans le monastere. " II .. . s'appliqua serieusement a c o m -<br />
b at t res es p a s s i o n s et a pratiquer les exercices de piete."<br />
Spricht Goethes Gedicht <strong>von</strong> Leidenschaft und Entsagen auch mit<br />
eigenen Akzenten, so ist doch die Tatsache, daß das Thema des Ent-<br />
Ir.) Auch eine E inzcl handschrift enthielt beide Gedichte hintereinander; vgl. WA 16,<br />
s. 34) zu 1'1.:18•<br />
1ü) Fun dgrubcn Bel. 2, S. 6 1.<br />
"Die Fluth der Leidenschaft" 17<br />
sagens in der orientalischen Schrift eine sO große Rolle spielt, interessant<br />
und für Goethes Art, QueUen zu benutzen, kennzeichnend.<br />
Seine Phantasie wurde durch das Gesamt der Vorlage angeregt, nicht<br />
nur durch ein im engsten Sinn als Quelle benutztes Teilstück. Wenn<br />
es bei Daulat-Säh vom Meer deklamatorisch unbestimmt hieß:<br />
"Quelle mer que celLe dont les flots ont jete sur le rivage de la vie<br />
tant de perles ... !", so ergänzt Goethe aus dem Gesamtzusammenhangselbständig:<br />
"Die Fluth der Leidenschaft"!<br />
Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch, daß das Gleichnis<br />
vom Meer in Daulat-Sähs Biographie wiederholt auftaucht in jeweils<br />
abgewandelten Bedeutungen: 17)<br />
"On peut dire dc lui [Ferid-eddin Attar], qu'il etoit abyme dans I' 0 c e a n de la<br />
contemplation, et qu'il plongeoit dans les profondeurs de l'intuition de la divinite . ..<br />
Aucun des hommes ... n' a aussi parfaitement saisi les pensees les plus sublimes et<br />
les plus subtiles de la spiritualite. C'etoit pour I'etendue de ses connoissances un<br />
o c e a n immense, et toute son energie n' etoit employee qu' a dompter ses inclinations<br />
... [Aus einem Gedicht Ferid-eddin Attars:] La ou un 0 c e ansans bornes<br />
agite I'immensite de ses flots, une goutte de rosee produite par la fraicheur de la<br />
nuit pourroit-elle pretendre a etre apper~ue? "<br />
Diese dicht aufeinanderfolgenden Wiederholungen des Meer<br />
Gleichnisses mögen bei Goethe die Bereitschaft erhöht haben, sich<br />
durch die ein e Stelle - die sonst nichts unbedingt Auffälliges hat -<br />
inspirieren zu lassen. Jedenfalls konnte er gewiß sein, daß sein Orientalisieren<br />
den charakteristischen Zug eines persischen Schriftstellers<br />
aufgriff.<br />
Wir stehen nun vor einem überraschenden Resultat. Der Vierzeiler,<br />
der so Bedeutsames über Goethes eigenes Dichten aussagt, entstand<br />
bei der Betrachtung der Vita eines anderen großen Dichters aus dem<br />
Orient. Er wurde angeregt durch die Stelle der Biographie, an der<br />
die Summe des gesamten Schaffens <strong>von</strong> Ferid-eddin Attar gezogen<br />
wird. In gewissem Sinne aber zieht ja Goethes Gedicht auch die<br />
Summe seines eigenen Schaffens, wie wir sahen. Es ist kein Zweifel:<br />
17) A. a. 0. S. 5 f., 8, 10.<br />
2 <strong>Mommsen</strong> . Divan-Studien
18 G oethe und Ferid-eddin Attar<br />
Goethe wurde durch Ferid-eddin Attar sehr intensiv an sich selbst<br />
erinnert, er setzte sich mit dem orientalischen Dichter in Parallele.<br />
Den Ausschlag gab, daß F e r~d-eddin Attar nach Ausweis seines<br />
Lebensganges im stärksten Sinne ein Entsagender war, der die Leidenschaften<br />
(passions, cupidite) hinter sich ließ. Dennoch blieb ihm<br />
auch nach diesem Verzicht (renoncement, abnegation), blieb ihm<br />
selbst als armer Mönch ein unermeßlicher Reichtum: die Zehntausende<br />
<strong>von</strong> Gedichten, eben jene "Perlen" <strong>von</strong> "unermeßlichem Wert"<br />
(valeur inestimable), die ihm das "Meer" ans "Ufer des Lebens" geworfen<br />
hatte. Am Mythos dieses Dichterlebens bemaß Goethe sich<br />
selbst und den eigenen "Gewinnst", der ihm aus Leidenschaft und<br />
E ntsagen erwuchs.<br />
D ie erste Begegnung Goethes mit Ferid-eddin Attar fällt in den<br />
Dezember 1814. D amals studierte er - nach allem, was wir wis'sen,<br />
<strong>zum</strong> erstenmal - die Fundgruben des Orients. Im zweiten Band stieß<br />
er auf Ferid-eddin Attars Pend Nameh in französischer Prosaüber ~<br />
setzung <strong>von</strong> Silvestre de Sacy; innerhalb der Einleitung zu dieser<br />
ü bersetzung findet sich auch die Biographie Daulat-Sähs.<br />
Angeregt durch das"Fend Nameh Ferid-eddin Attars schrieb Goethc,<br />
wie man weiß, im Dezember 1814 mehrere Divan-Gedichte, <strong>von</strong><br />
denen noch zu sprechen sein wird. Damals entstand sicherlich auch<br />
die Handschrift mit der Notiz <strong>von</strong> den "poetischen Perlen"; die sechs<br />
Aufzeidll1 ungen auf jenem Blatt erwecken durchaus den Eindruck, als<br />
rührten sie <strong>von</strong> der ersten Durchsicht der Fundgruben des Orients<br />
her. Dos edicht "Die Fluth der Leidenschaft" mag bald darauf ausgeführt<br />
worden ,sein. 18)<br />
Die Metapher vom Meer, das "poetische Perlen" an den Strand<br />
wirft findet sidl im Divan noch ein zweites Mal. Auf diese Parallele<br />
p fleg~n die Kommentatoren mit Recht hinzuweisen. In dem durch die<br />
leidenschaftliche Sprache seiner freien Rhythmen besonders erregen-<br />
J8) Das frü hstc Zeugn is <strong>von</strong> der Existenz dieses Gedichts stammt <strong>von</strong> Anfang 1816:<br />
der Druck im "MorgcnblMt für gebildete Stände" vom 22. März 1816. (Manuskript<br />
an Cotta abgesandt am I I. März.)<br />
"Die schön geschriebenen •.. " 19<br />
den Gedicht des Buchs Suleika: "Die schön geschriebene~, I Herrlich<br />
umgüldeten, I Belächeltest Du I Die anmaßlichen Blätter" beginnt die<br />
letzte Strophe:<br />
'<br />
Hier nun dagegen<br />
Dichtrisehe Perlen,<br />
Die mir deiner Leidenschaft<br />
Gewaltige Brandung<br />
Warf an des Lebens<br />
Verödeten Strand aus ...<br />
Das Gedicht stammt vom 21. September 1815. Es ist eine Huldigung<br />
an Marianne v. Willemer. Das Zusammensein mit ihr hatte Goethe<br />
soeben in beglückender Weise produktiv gemacht: ihm verdankte das<br />
Buch Suleika Ursprung und Entstehung. Dafür sagt das Gedicht<br />
Dank. Die Verse sind im übrigen "Dichtung vom Dichten" 19), Goethe<br />
spricht darin über sein eigenes Schaffen. Es ist bezeichnend, daß<br />
gerade durch diese Thematik wieder die Erinnerung an die Ferideddin-Attar-Biographie<br />
in Goethe lebendig wurde. Sie tritt in den<br />
zitierten Versen ganz besonders deutlich hervor. Die Wendung:<br />
" .. . Warf an des Lebens verödeten Strand" stimmt wörtlich zusammen<br />
mit dem Text Daulat-5ähs: " ... ont jete sur le rivage de la vie"<br />
(vgl. oben S. 15) .<br />
Die Verse des Heidelberger Gedichts entstanden ohne Zuhanden ..<br />
sein der Fundgruben des Orients. Hier ward Goethe <strong>von</strong> der Erinnerung<br />
geleitet. Dies darf als Argument dafür gelten, daß "Die<br />
Fluth der Leidenschaft" bereits im Dezember 1814 oder bald darauf<br />
geschrieben wurde. Gerade durch die frühere dichterische Verwendung<br />
mag die orientalische Metapher <strong>von</strong> Perlen und Meer sich Goethe<br />
so eingeprägt haben, daß sie ihm auf Reisen gleich wieder zur<br />
Verfügung stand. D ie starke innere Erregung, in der das Heidelberger<br />
Gedicht gesch rieben ward, ließ es ihm natürlicherweise gleichgültig<br />
erscheinen, ob durch einige Verse eine Verdoppelung mit Frü-<br />
19) Erich Trunz, Goethes W erk e, Bd. 2, vierte Auf!. Ha~burg 1958. S. 569.<br />
2*
20 Gocthe und Ferid-eddin Attar<br />
herem entstand. Dagegen wäre es schwierig, sich vorzustellen, daß<br />
der Vierzeiler erst nach dem Heidelberger Gedicht entstand. Für ihn<br />
bildete di e Metapher die Grundlage des Ganzen. Die Tatsache, daß<br />
sie schon einmal verwendet war, hätte bei der Abfassung in ganz<br />
anderer Weise bedenklich erscheinen müssen.<br />
Mit Ferid-eddin Attar hat Goethe sich eingehend beschäftigt,<br />
namentlich in der Frühzeit des Divan. Hier ist vor allem einiger<br />
durch das Pend N ameh angeregten Gedichte zu gedenken, die zur<br />
selben Zeit entstanden, als die Notiz <strong>von</strong> den "poetischen Perlen"<br />
niedergeschrieben ward.<br />
Das Pend Nameh - "Buch der Ratschläge" - ist eine Sammlung<br />
moralischer Lehren, die ihrem ganZlen Charakter nach bestätigen<br />
konnte, was GOl'!the in der Vita Daulat-Sahs über das Leben des<br />
Dichters las. Hier finden sich praktische Lebensregeln vermischt mit<br />
religiösen Vorschriften <strong>von</strong> weltflüchtig asketischer Strenge. Durch<br />
das Pend Nameh wurde zunächst Goethes Vorstellung <strong>von</strong> Ferideddin<br />
Attar bestimmt.19a)<br />
Am 15. Dezember 1814 entstand das Gedicht "Fünf Dinge" (Buch<br />
der Betrachtungen); ihm liegt das 46. Kapitel des Pend Nameh zugrunde,<br />
wie in der Handschrift ausdrücklich vermerkt ist. Tags darauf,<br />
am 16. Dezember 1814, schrieb Goethe das Seitenstück zu diesem<br />
Gedicht: "Fünf andere". Darin wird zwar das Pend Nameh nicht<br />
wiederum direkt zitiert, wohl aber in formaler Hinsicht nachgeahmt.<br />
Ein großer Teil der Kapitel des Pend Nameh besteht aus Aufzählun<br />
gen <strong>von</strong> "Dingen", "Eigenschaften", "Fehlern" und dergleichen.<br />
Typisch si nd Überschriften wie: "De quatres choses dangereuses" ...<br />
"De cinq choses qui abregent la dun~e de la vie" ... "De six choses<br />
d'un grand prix" etc. D abei wechseln in den Titeln positive und<br />
negative Formulierungen ab. Das Kapitel 46, das Goethe in "Fünf<br />
Wo) In den Studien papieren <strong>zum</strong> Divan findet sich ein Blatt, auf dem Goethe sich<br />
die Seitenzahlen des Fundgruben-Bandes 2 notierte, die auf das Pend Nameh<br />
Bezug haben. (Beginn der drei Abteilungen <strong>von</strong> Silvestre de Sacy's Übersetzung.)<br />
WA I 7. S. 281. BI. 37. Divan. Akademie-Ausgabe 3. S. 97. Paralip. 1I5·<br />
Goethe und Ferid-eddin Attar 21<br />
Dinge" benutzt, trägt die negativ gehaltene Überschrift: "De cinq<br />
choses qui ne 'se trouvent jamais avec cinq au t res c h 0 s e .s". (In<br />
den letzten Worten liegt der Titel zu "Fünf andere" vorgebildet!)<br />
Darauf folgen wieder Kapitel mit ausgesprochen positiver Tendenz:<br />
Kap. 47: "Des vertus qui assurent le bonheur et la felicite";<br />
Kap. 48: "Des mQyens d'assurer son salut". Ganz entsprechend läßt<br />
Goethe auf das negative Gedicht "Fünf Dinge" das positive "Fünf<br />
andere" folgen. Ursprünglich trugen beide bezeichnenderweise die<br />
Titel: "Fünf Dinge unfruchtbar" und "Fünf Dinge fruch!Qar".20) Dieser<br />
Wechsel <strong>von</strong> Negativ und Positiv bedeutet eine bewußte Imitationdes<br />
Pend Nameh. Das positiv gehaltene Gedicht benutzte Goethe,<br />
um eigene Lieblingsgedanken darin niederzulegen, die zugleich<br />
aber auch mit Ferid-eddin Attars Gedanken kontrastieren sollten.<br />
Gleichfalls <strong>von</strong> Dezember 1814 stammt vermutlich das Gedicht:<br />
"Und was im Pe n d - N a m e h steht", das, wie abermals in der<br />
Handschrift vermerkt ist, durch Kapitel 69 des Pend Nameh angeregt<br />
wurde.<br />
Das Gedicht, zu dem es keine handschriftliche Datierung gibt,<br />
wurde <strong>von</strong> Riemer und Eckermann ,in der Quartausgabe <strong>von</strong> 1836 auf<br />
den gleichen Tag datiert wie das im Divan vorhergehende "Lieblich<br />
ist des Mädchens Blick der winket", nämlich auf den 26. Juli 1814.<br />
Obgleich beide Gedichte inhaltlich zusammengehören - ,sie wurden<br />
unter dem Titel "Wonne des Gebens" <strong>von</strong> Goethe 1817 einmal vorveröffentlicht<br />
-, ist es doch undenkbar, daß sie zugleich am 26. Juli<br />
1814 geschrieben seien. Für die Entstehung des zweiten ist das Zuhandensein<br />
der Fundgruben des Orients unbedingt Voraussetzung,<br />
wie schon die N ennung des Pend-Nameh-Kapitels in der Handschrift<br />
zeigt. Am 26. Juli 1814 aber befand Goethe sich auf der Reise <strong>von</strong><br />
Eisenach nach Fulda. Es darf als ausgeschlossen gelten, daß er da die<br />
riesigen Fundgruben-Bände mit sich führte, die er doch - wir sprachen<br />
da<strong>von</strong> - offenbar erst im Dezember 1814 zu studieren begann.<br />
Im übrigen entstand an jenem Reisetag, dem 26. Juli 1814, sehr: vie-<br />
20) Im Wiesbadener Register vom 30. Mai 1815: Nr. 86 und 87. Vgl. WA I 6, S. 315.
22 Goethe und Ferid-eddin Attar<br />
les - nachweislich neun z. T. umfangreiche Gedichte. Verständlicherweise<br />
beruhen diese alle nicht auf diversen Quellen, sondern sind<br />
spontane E rlebnisdichtung. Nur Hafis-Anklänge finden sich: die kleinen<br />
Bändchen der Hammersehen Hafis-Übersetzung führte Goethe<br />
allerdings als Brevier mit sich. Was das Gedicht "Und was im<br />
Pe n d - N a m e h steht" betrifft, so wird es im Dezember 1814 als<br />
Nachtrag und Ergänzung zu "Lieblich ist des Mädchens Blick" entstanden<br />
sein, angeregt durch die Begegnung mit Ferid-eddin Attar. 21)<br />
Gerade der Dezember 18I4 ist die Zeit, in der Goethe eine ganze<br />
Reihe der im Juni und Juli entstandenen frühsten Divan-Gedichte<br />
überarbeitete und ergänzte.<br />
Das Pend N ameh wirkte schließlich auch noch ein auf die Gestaltung<br />
des Gedichts "Sommernacht" (Schenkenbuch), das an denselben<br />
Tagen entstand wie "Fünf Dinge" und "Fünf andere": am 15. und<br />
16. Dezember 1814. Da<strong>von</strong> wird weiter unten zu sprechen sein.<br />
Zusammenfassend läßt sich sagen: nach der ersten Beschäftigung<br />
mit dem Pend Nameh sah Goethe in Ferid-eddin Attar vor allem<br />
einen sittlich-pädagogischen Dichter. Insofern Goethes eigene Dicht<br />
un g vielerlei sittliche Tendenzen aufwies, durfte er sich wohl zu<br />
einem Verglcich mit dem Verfasser des Pend Nameh aufgefordert<br />
fühlen (wie auch offenkundig das Gedicht "Die Fluth der Leidenschaft"<br />
einen solchen Vergleich enthält). Übrigens erinnerte ihn die<br />
strenge E thik des Pend Nameh gelegentlich an Kant. Auf einem<br />
Divan-Studienblatt vom Frühjahr 1815 findet sich die - vielleicht erst<br />
in späterer Zeit hinzugefügte - Randbemerkung: 22 )<br />
"Einem aechten Kantiane[rL<br />
ist Pe nd nameh was gemeins"<br />
21) Frühstes ei ndeutiges Zeugnis <strong>von</strong> der Existenz des Gedichts ist der Druck in<br />
Gubitz' "Gaben der Milde" [8[7. (Manuskript an Gubitz gesandt s m 26. Dezember<br />
1816.)<br />
22) WAl 7. S. 3°5: BI. 9211; Divan. Akademie-Ausgabe 3. S. 100.<br />
Goethe und Ferid-eddin Attar 23<br />
Die Wendung "was gemeins" bedeutet natürlich: etwas gewöhnliches,<br />
alltägliches, ist also nicht völlig negativ aufzufassen. Doch<br />
scheint Goethe hier anzudeuten, daß seine Bewunderung für Ferideddin<br />
Attar auch gewisse Grenzen ' hatte. Im ganzen aber stand er<br />
dem Pend Nameh mit Achtung und Sympathie gegenüber. Ein charakter;istisches<br />
Denkmal dafür, welchen Wert Goethe dem Werk zu<br />
jener Zeit beimaß, ist das sogenannte Huldigungs-Blatt <strong>von</strong> (etwa)<br />
Mai 1815. Dies Blatt, das ursprunglich 'dem Divan vorangesetzt werden<br />
sollte - die Absicht wurde später aufgegeben -, enthielt eine<br />
Lobpreisung derjenigen orientalischen Dichtungen, die bi~ dahin für<br />
Goethe und seinen Divan die größte Bedeutung gewonnen hatten.<br />
Darauf finden wir gleich an oberster Stelle den Passus: 23)<br />
Verehrung sey!<br />
dem<br />
sittlichen<br />
Pend-Nameh<br />
des<br />
Firadeddin<br />
Mit sehr viel mehr Distanz spricht Goethe in den Noten und Abhandlungen<br />
<strong>von</strong> Ferid-eddin Attar. Inzwischen hatte er mehr <strong>von</strong><br />
ihm erfahren durch Hammers Geschichte der schönen Redekünste<br />
Persiens. Ferid-eddin Attars "Vögelgespräche" erwähnt Goethe jetzt<br />
lobend aIs "Beispiel" der orientalischen "Gesprächsform".24) Eine<br />
Gesamtcharakteristik des Dichters gibt er im Abschnitt "Dschelaleddin-Rumi".<br />
Hier sieht er ihn, zusammen mit Dschelal-eddin-Rumi,<br />
als typischen Vertreter des persischen Mystizismus. "Mysticismus persischer<br />
Dichtkunst : :Attar, Rumi",so heißt es bezeichnenderweise in<br />
Goethes Tagebuch vom 21. Oktober 1818, mit Bezug auf die Abfassung<br />
jenes Kapitels der Noten und Abhandlungen. Für diesen<br />
Mystizismus bringt Goethe nun zwar Verständnis und historisches<br />
23) WA I 6, S. 482.<br />
2.\) Kapitel "Nachtrag". WA I 7. S. 121.
24 Goethe und Ferid-eddin Attar<br />
-' --_<br />
Interesse auf, doch bewahrt er ihm gegenüber eine gewisse Reserve.<br />
Hatte ihn früher Ferid-eddin Attar als Bezwinger der Leidenschaf-<br />
.._- -----_ .. -'" '._ .., _.--'<br />
tSE. ~ udi9'Jteri schem Vergleich angeregt, so überdenkt er jetzt nur<br />
noch seine literargeschichtliche Zuordnung. Er unterscheidet die weltflüchtigen<br />
Dichter <strong>von</strong> den "weltlichen", nämlich den persischen<br />
Panegyrikern, und sagt: 25) "Und wenn der weltliche Dichter die ihm<br />
vorschwebenden Vollkommenheiten an vorzügliche Personen verwendet,<br />
so flüchtet 'sich der gottergebene in das unpersönliche Wesen, das<br />
<strong>von</strong> Ewigkeit her alles durchdringt. So flüchtet sich Attar vom Hofe<br />
zur Beschaulichkeit ..."<br />
20) WA I 7. S. 59.<br />
BRUCHSTÜCK NACH HARIRI<br />
Traue nicht dem Truncken Weisen<br />
[zuerst: Klugen]<br />
Denn er stielt dir dein Geheimniß<br />
[zuerst: deine Worte]<br />
Diese beiden trochäischen Ver'se werden in den Divan-Ausgaben<br />
unter die Gedicht-Bruchstücke eingereiht, deren Bestimmung unbekannt<br />
ist. 26) Mit ihrem Inhalt weiß man nichts anzufangen. Es bestehen<br />
sogar Zweifel, welchem Buch des Divan der Gedichtentwurf<br />
- denn um einen solchen handelt es sich doch wohl - zuzuordnen ist.<br />
Um einigen Aufschluß über das Fragment zu erhalten, müssen wir<br />
uns mit der bisher nicht ermittelten Quelle befassen. Die beiden Zeilen<br />
stehen auf ,der Handschrift mit den sechs Notizen, die wir oben<br />
bespmchen, als dritte Aufzeichnung [Nr. III]. 27) Zwecks Auffindung<br />
der QueUe sollte - da<strong>von</strong> war die Rede - besonders die Partie des<br />
zweiten Bandes der Fundgruben des Orients untersucht werden, die<br />
zwischen S. 9 und S. 63 liegt. In diesem Fall ergibt nun die Nachprüfung,<br />
daß wirklich an sehr verborgener Stelle dasjenige anzutreffen<br />
ist, was Goethe inspiriert hat.<br />
Abermals führt uns das auf die Beschäftigung Goethes mit einem<br />
bekannten orientalischen Dichter, diesmal einem arabischen. Auf den<br />
Seiten 52 bis 57 des zweiten Fundgruben-Bandes findet sich eine Übersetzung<br />
der 12. Makame des Hariri: "Douzieme assemblee d'Aboulcassem<br />
Al Hariri, intirulCe la Goutiye. Traduite par Mr. Fn!deric<br />
26) In der Weimarer Ausgabe: I 6. S. 474.<br />
27) V gl. oben S. IZ.
26 Bruchstück nach Hariri<br />
Pisani." (In Rückerts Übersetzung der Makamen des Hariri: Nr. 10.)<br />
Es ist eine Stelle aus dieser Makame, die Goethe offenbar besonders<br />
interessierte und zur Niederschrift der obigen zwei Zeilen <strong>von</strong> dem<br />
"trunken Weisen" veranlaßte.<br />
Folgendes wird in der Makame berichtet: Hareth ben Hemmam,<br />
der Held und Erzähler sämtlicher Makamen, begibt sich, "wohl versehen<br />
mit Geld und Gut", wie es bei Rückert heißt, vom Irak nach<br />
einem Ort nahe <strong>von</strong> Damaskus. Hier verbringt er in paradiesischer<br />
Umgebung eine Zeit der Erholung und des Genusses. Als schließlich<br />
der Wunsch in ihm erwacht, die Rückkehr in seine Heimat , den Irak ,<br />
anzutreten, schließt er sich mehreren Reisenden an, die das gleiche<br />
Ziel haben wie er. Jetzt aber kommt die Reisegesellschaft in Verlegenheit.<br />
Man benötigt für den langen, schwierigen Weg durch die<br />
Wüste einen Führer, "un homme qui put nous servir de garde". Ein<br />
solcher aber ist, auch nach wochenlangem Suchen, nirgends aufzutreiben.<br />
Eines Tages versammeln sich die Reisegenossen bei einem Stadttor<br />
und mtschlagen, was zu tun sei. Die verschiedensten Meinungen<br />
werden vorgetragen, man kommt 2U keiner Lösung. In dieser Situation<br />
nun wird folgendes erzählt - wir zitieren nach dem französischen<br />
Text, der Goethe vorgelegen hat: 28)<br />
"Ccpcndunt, vis-il-vis d'eux etoit un hommc qui paroissoit etre dans la vigeur de<br />
1'age, portant un habit de moine, et tenant un chapelet iI la main. On lisoit dans<br />
scs yeux qu'il etoit un i v r 0 g n e. Il avoit fixe ses regards sur eux, et prete<br />
I'oreille pour d e I: 0 b c r I eu r s par 0 I e s. Quand iIs furent sur Ie point de<br />
,'cn retourncr, ce qu c 1 c urs c c r e t f u t par v e n u a s a co n n 0 i s<br />
sa n c c , il les aborcla, ct kur paria en ces termes: ..."<br />
Der merkwürdige Mann, der halb wie ein Mönch, halb wie ein<br />
Trunkenbold (ivrogne) aussieht, bietet sich nun in wohlgesetzter Rede<br />
als Führer an und preist seine diesbezüglichen Qualitäten. Bis hierher<br />
vor allem hat uns die Geschichte zu interessieren. Doch sei auch der<br />
weitere Verlauf in Kürze skizziert.<br />
28) Fundgruben Bd. 2, S. 52 f.<br />
Bruchstück nach Hariri 27<br />
Die Reisenden akzeptieren den Führer: der lehrt sie ein bestimmtes<br />
Gebet, das, oft wiederholt, ,sich als schützendes "Amulett" erweist.<br />
So bringt er seine Klienten sicher durch die Wüste bis <strong>zum</strong> Irak. Ein<br />
reiches Entgelt, das man ihm zahlt, vertrinkt er sofort. Die Reisenden<br />
finden ihn - so endet die Geschichte - in einer Schenke beim Wein,<br />
bedient <strong>von</strong> anmutigen Knaben. Blumen und Musik verschönern ihm<br />
sein Fest. Auf die verwunderten Fragen seiner Reisegenossen erklärt<br />
er - und das mag uns nochmals angehen -: er habe sie getäuscht. Mit<br />
seiner Frömmigkeit sei es nicht weit her. Er sei ein Mann, der nur<br />
einer Leidenschaft lebe, dem Trunk: 29)<br />
"Aussi sans Ia passion de boire, n'aurois-je pas depIoye tant d'eJoquence; n'aurois-je<br />
pas entrepris cI'en imposer a mes compagnons, en portant un chapeIet, pour venir<br />
a I'Yrac."<br />
Hareth ben Hemmam erkennt schließlich in dem ivrogne - Abu<br />
Seid, den in allen Makamen des Hariri unter verschiedenen Masken<br />
wiederkehrenden Helden und Landstreicher.<br />
Über das rätselhafte Goethesche Fragment wissen wir nun doch<br />
einiges mehr. Da's Vorbild des "trunken Weisen" findet sich in dieser<br />
Makame Hariris: es ist der ivrogne, der die Reisenden belauscht,<br />
täuscht und - zu seinem und ihrem Vorteil - ausnutzt. Übereinstimmungen<br />
zeigen sich bis in den Wortlaut hinein. Wenn es , bei Goethe<br />
ursprünglich heißt: "denn er stielt dir deine Worte", so entspricht das<br />
dem Text der französischen Übel'setzung in den Fundg.ruben des<br />
Orients : "derober leurs paroles", lesen wir dort. Goethe änderte dann<br />
"Worte" in "Geheimniß" - und auch dafür bietet die Vorlage das<br />
ehtsprechende Wort: "leur sec r e t fut parvenu a sa connoissance."<br />
Bei Hariri hängt die Schlauheit des Abu Seid..:. man sehe das zweite<br />
französische Zitat, das wir oben brachten - engstens zusammen mit<br />
der passion aboire. Goethe hält also ein Hauptmotiv der Makame<br />
fest, wenn er <strong>von</strong> dem "Truncken Weisen [Klugen]" spricht.<br />
Aus der Quelle läßt sich nun auch ersehen, in welchen Bereich des<br />
T.l) A. a. O. S. 55.
28 Bruchstück nach Hariri<br />
Divan dieses Paralipomenon gehört: nicht etwa ins Buch der Sprüche,<br />
wie vermutet worden ist, 30) sondern ins Schenkenbuch. Was im übrigen<br />
Goethes Interesse an der Figur des gefährlich schlauen Trunkenbolds,<br />
der einem das "Geheimni-s stiehlt", hervorrief, wissen wir nicht.<br />
Möglicherweise kamen ihm dabei Ereignisse und Typen aus seiner<br />
eigenen Lebenssphäre in den Sinn~ Hierüber kann man nicht einmal<br />
etwas vermuten. Bezeichnend bleibt es auf jeden Fall, daß es die<br />
Hauptgestalt einer berühmten arabischen Dichtung war, die schon<br />
nach dem wenigen, was Goethe hier <strong>von</strong> ihr las, solche Faszination<br />
auf ihn ausübte. So begreift nur der Dichter den Dichter. Im ersten<br />
Band der Fundgruben fand Goethe noch eine weitere, die achte<br />
Makame Hariris, ebenfalls in französische Prosa übersetzt. Auch darin<br />
tritt Abu Seid in einer anderen Rolle auf, doch wird sein Name nicht<br />
genannt. Die Identität mit dem Abu Seid der 12. Makame war also<br />
nicht ohne weiteres erkennbar. Ob Goethe weitere Makamen kannte,<br />
ist nicht festzustellen. Auch <strong>von</strong> sonstigen Anregungen durch Hariri<br />
i-st nichts bekannt. 31)<br />
Blicken w,ir noch einmal zurück auf die Handschrift, die unser Gedicht-Fragment<br />
enthält, das Blatt mit den sechs verschiedenen Notizen,<br />
so erweist es sich, daß tatsächlich alles, was Goethe hier niederschrieb,<br />
zurückgeht auf den zweiten Band der Fundgmben des Orients.<br />
Die Folge der Aufzeichnungen in der Handschrift entspricht, wie sich<br />
nun vollständig übersehen läßt, den Seitenzahlen 9, 10, 52, 63,108,360.<br />
30) E . Grumach. Divan. Akademie-Ausgabe 3. 22. Richtige Zuordnung <strong>zum</strong> Schenkenbuch<br />
bei Weitz: Goethe. West-östlicher Divan. Leipzig 1949. S. 297.<br />
31) Im ersten Band der F undgruben werden die bis dahin existierenden übersetzungen<br />
einzelner Makamen J-Iari ris aufgezählt (S. 22). Es ist nicht ausgeschlossen.<br />
daß Goethe sich die eine oder andere angesehen hat. In den Studienpapieren<br />
<strong>zum</strong> Divan gibt es ein Blatt mit Aufzeichnungen über Hariri aus<br />
Fundgruben Bd. I (S. 22) und Herbelot (Divan. Akademie-Ausgabe 3. S. 90.<br />
Paralip. m). Auf einem weiteren Blatt finden sich die Seitenzahlen der Fundgruben-Bände<br />
I und 2 notiert. die auf Hariri Bezug haben (Akademie-Ausgabe 3.<br />
S. 157. Paralip. 152) .<br />
"SOMMERNACHT"<br />
1. Überblick<br />
Mit "Sommernacht", dem bedeutendsten Gedicht des Schenkenbuchs,<br />
hat sich die Divan-Forschung in neuerer Zeit besonders intensiv<br />
befaßt. Emil Staiger widmete dem Gedicht eine richtungweisende<br />
Studie, die Reiz und Eigentümlichkeiten Goethescher Kunst meisterhaft<br />
verdeutlichte.1) Auf den <strong>von</strong> Staiger geschaffenen Grundlagen<br />
fußend gaben Kommerell 2) und mehrere Kommentatoren des Divan<br />
ausführliche Analysen <strong>von</strong> "Sommernacht". Vergleicht man sämtliche<br />
Interpretationen, ältere und neuere, aber auch die neueren untereinander,<br />
so zeigt sich, daß das Gedicht in auffällig verschiedener Weise<br />
ausgelegt worden ist - wie sollte das bei -einem Werk dieses Schwierigkeitsgrades<br />
anders sein. Die Divergenz der Meinungen beginnt bei so<br />
elementaren Fragen wie denen der Datierung oder der Bewertung<br />
<strong>von</strong> Quellen. Sie erstreckt sich aber auch auf wesentlichste Probleme<br />
der Deutung.<br />
Ein Teil der Kommentatoren glaubt, Burdach folgend, als Hauptgedanke<br />
läge dem Gedicht ein Anspielen auf islamische Gebetsbräuche<br />
zugru nde. Damit wird der Schwerpunkt einseitig auf den<br />
Bereich des Religiösen verschoben. 3) Andere lassen Religion und<br />
1) Emil Staiger: Goethe: .. Sommernacht"; in: E. Staiger. Meisterwerke deutscher<br />
Sprache. 3. Auf! . Zürich 1957. S. H8-H. Zuerst in: Corona. Jg. 10 (1940) H. 1.<br />
S. 76-95 (Zu einem Goetheschen Gedicht).<br />
2) Max KommereII : Gedanken über Gedichte. Frankfurt a. M. 1943. S. 282 f.<br />
3) Vgl. Konrad Burdach. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläumsausg. Bd. 5 (1905).<br />
S. 406 f. - Emil Ermatinger. G oethes Werke. Berlin: Bong. Anmerkungen zu<br />
Bd. 1-4 (1913), S. 224 f. - E rn st Beutler: Goethe, West-östlicher Divan. Bremen<br />
1956. S. 702. 705. - Max Rychner : Goethe, West-östlicher Divan. Zürich 1952.<br />
S. 538 f.
30 "Sommernacht"<br />
Islam bewußt aus dem Spiel, nachdem Emil Staiger die Berechtigung<br />
<strong>von</strong> Burdachs These in Zweifel zog. Man sieht nun - und hierin wies<br />
ebenfalls Staiger den Weg - das Wesentliche <strong>von</strong> "Sommernacht"<br />
überhaupt mehr in der reizvollen Vielfalt <strong>von</strong> Themen und Tönen,<br />
Klängen und Farben, Stimmungen und Schwingungen, als in der<br />
Präponderanz einer bestimmten Thematik. Das Ironische besonders<br />
wurde jetzt stärker empfunden und bewertet. 4) .<br />
Endlich wurde auch die formale Seite des Gedichts zur Debatte<br />
gestellt. Staiger wies darauf hin, daß "Sommernacht" keinen einheitlichen<br />
Aufbau im üblichen Sinne habe. Es sei insofern gerade ein<br />
Gegenbeispiel zu Goethes "klassischer" Dichtung, als darin "keine<br />
Einheit" sei, "die <strong>zum</strong> Ganzen sich entfalten würde, kein Bezug der<br />
Teile aufeinander und auf eine Mitte, keine Linie, keine Gestalt,<br />
keine in sich geschlossene Welt". 5) Man hat sich bisher - soweit ich<br />
sehe - mit dieser interessanten Beobachtung nicht weiter befaßt.<br />
So begegnen wir bei der Interpretation eines der bedeutendsten<br />
Divan-Gedichte noch vielen Problemen erster Ordnung. Mit diesen<br />
werden sich die folgenden Untersuchungen zu beschäftigen haben.<br />
Auf zwei verschiedenen Wegen hoffen wir, zur Erörterung wichtiger<br />
Fragen etwas beitragen zu können. Wir wollen zunächst einmal<br />
"Sommernacht" unter einem Gesichtspunkt betrachten, der bisher<br />
seltsamerweise wenig Beachtung fand: unter dem des Pädagogischen.<br />
Welche Rolle - so möchten wir fragen - spielt in dem Gedicht, das<br />
doch offensichtlich als Gespräch eines älteren Lehrenden mit einem<br />
jüngeren Lernenden viel mit Erzieherischem zu tun hat, das pädagogische<br />
Element? Als zweites soll dann weiter versucht werden,<br />
aus einer Betrachtung der Ent,stehungsgeschichte und vor allem der<br />
Quelleneinwirkung neue Aufschlüsse zu erhalten.<br />
") Vgl. Kommerell a. a. o. S. 282 f.<br />
!i) Vgl. Stuigcr u. u. O. S. 120 (= Corona X I, S. 78).<br />
Charakter des Schenkenbuchs 31<br />
H. Das p ä d ag 0 gis ehe EIe m e n tin "S 0 m m ern ach t "<br />
"Das prachtvolle Zwiegespräch zwischen Dichter und Schenken<br />
zeigt die Pädagogik des Dichters in lebendiger Ausübung, in ihrer<br />
Wirkung auf den zutraulichen, liebend lernenden Schüler, den Schenken,<br />
in einer dramatischen Szene, die in herrlicher Bewegung Dämmerung,<br />
Nacht und Morgenrot der nordischen Sommernacht vorüberführt."6)<br />
Burdach bezeugt mit diesen Worten, wie lebhaft er noch<br />
den pädagogischen Aspekt des "Sommernacht"-Gedichts empfand.<br />
Einen ganz ähnlichen Eindruck machte das Gedicht auf Boisseree, als<br />
Goethe es ihm erstmals vorlas. Unter dem 8. August I8I5 findet sich<br />
in Boisserees Tagebuch die folgende Notiz:<br />
,,[Goethe las in Wiesbaden] abends wieder Stücke aus dem Divan. D [e r ]<br />
S c h e n k e . . . D as Ganze 7) als ein edles, freies paedagogisches Verhältniß, als<br />
Liebe und Ehrfurcht der Jugend gegen das Alter genommen vorzüglich schön ausgesprochen<br />
in einem Gcdicht: die kürzeste Nacht, wo Morgenroth und Abendroth<br />
zugleich am Himmel sind. Astronomie. Ethik."S)<br />
Die Boissereesche Aufzeichnung - wir werden noch auf sie zurückkommen<br />
- findet sich gewöhnlich mit einigen anderen Goetheschen<br />
Zeugnis'sen in den Kommentaren zu "Sommernacht" angeführt.<br />
Zum Thema des "Pädagogischen" ist das aber auch meist alles, was<br />
man vorbringt. Offenbar erschien alles Mögliche an dem Gepicht viel<br />
wichtiger als gerade das Pädagogische. Den Hauptanstoß hierzu gab<br />
Burdach. Denn die Worte, die wir <strong>von</strong> ihm anführten, stehen auch<br />
bei ihm nur vereinzelt da, allenfalls als Zeugnis eines u~befangenen<br />
Gesamteindrucks. Die eigentliche Aufmerksamkeit lenkt er auf andere<br />
Dinge, denen er nun eine vorherrschende Bedeutung gibt.<br />
6) K. Burdach : Die älteste Gestalt des West-<strong>östlichen</strong> Divans. Akademievortrag<br />
<strong>von</strong> 1904. In : K. Burdach: Zur Entstehungsgeschichte des West-<strong>östlichen</strong> Divans.<br />
3 Akademievorträge. Berlin 1955. = Dt. Akad. d. Wiss. zu Berlin, Veröffentl.<br />
d. Inst. f. dt. Spr. u. Lit., 6. (Im Folgenden zitiert: Burdach, Akademievorträge.)<br />
S·37.<br />
7) Gemeint ist: die auf den Schenken bezüglichen Gedichte.<br />
8) Ed. Firmenich-Richartz: Die Brüder Boisseree. Bd. I. Jena 1916. S. 402 f.
32 Das pädagogische Element in "Sommernacht"<br />
Daß dies möglich war, daß das Pädagogische in "Sommernacht"<br />
der Aufmerksamkeit so entschwinden, durch anderes so vergessen gemacht<br />
werden konnte, ist allerdings kein Zufall. Offenbar hat es<br />
etwas mit dem Gedicht selbst zu tun. Es scheint, daß das Pädagogische<br />
darin in zwiefacher Weise behandelt wird: sich manifestierend,<br />
sich zugleich aber auch wieder verbergend. Es wird eine Art Versteckspiel<br />
damit getrieben. Das erschwert das Erkennen und Bewerten.<br />
Inwiefern dies Versteckspiel ein besonderes Goethesches Kunstmittel<br />
bedeutet, wird noch zu erörtern sein. Wesentlich ist, daß wir<br />
uns zunächst einmal vor Augen führen, in welcher Weise sich in "Sommernacht"<br />
ein pädagogisches Element tatsächlich manifestiert, welche<br />
Rolle es in dem Gedicht spielt.<br />
Vieles ist hierüber 2!U erfahren, wenn man das Gedicht im Zusammenhang<br />
mit dem Buch betrachtet, in dem es steht. Eine Charakteristik<br />
des Schenkenbuchs gab Goethe im Kapitel "Künftiger Divan"<br />
der Noten und Abhandlungen. Dabei sprach er - dies darf uns interessieren<br />
- beinahe ausschließlich über den Anteil des Erotisch-Pädagogischen<br />
an diesen Gedichten: 9)<br />
"D asS ehe n k e n - B u c h. Weder die unmäßige Neigung zu<br />
dem halbverbotenen Weine, noch das Zartgefühl für die Schönheit<br />
eines heranwachsenden Knaben durfte im Divan vermißt<br />
werden; letzteres wollte jedoch unseren Sitten gemäß in aller<br />
Reinheit behandelt seyn.<br />
Die Wechselneigung des früheren und späteren Alters deutet<br />
eigentlich auf ein ächt pädagogisches Verhältniß. Eine leidenschaftliche<br />
Neigung des Kindes <strong>zum</strong> Greise ist keineswegs eine<br />
seltene, aber selten benutzte Erscheinung. Hier gewahre man<br />
den Bezug des Enkels <strong>zum</strong> Großvater, des spätgebornen Erben<br />
<strong>zum</strong> überraschten zärtLichen Vater. In diesem Verhältniß entwickelt<br />
sich eigentlich der Klugsinn der Kinder; sie sind aufmerksam<br />
auf Würde, Erfahrung, Gewalt des Älteren; rein<br />
geborne Seelen empfinden dabei das Bedürfniß einer ehrfurchts-<br />
9) WAl 7, S. 146 f.<br />
Charakter des Schenkenbuchs 33<br />
vollen Neigung; das Alter wird hie<strong>von</strong> ergriffen und festgehalten.<br />
Empfindet und benutzt die Jugend ihr Übergewicht um<br />
kindliche Zwecke zu erreichen, kindische Bedürfnisse zu b~friedigen,<br />
so versöhnt uns die Anmuth mit frühzeitiger Schalkheit.<br />
10 ) Höchst rührend aber bleibt das heran strebende Gefühl<br />
~es Knaben, der, <strong>von</strong> dem hohen Geiste des Alters erregt, in<br />
s1ch selbst ein Staunen fühlt, das ihm weissagt, auch dergleichen<br />
könne sich in ihm entwickeln. Wir versuchten so schöne Verhältnisse<br />
im Schenkenbuche anzudeuten und gegenwärtig weiter<br />
auszulegen." [Anschließend folgen zwei längere Geschichten aus<br />
Saadis Gulistan zu besserem Verständnis jenes pädagogischen<br />
Verhältnisses.]<br />
Es ist nicht uninteressant, mit dieser Charakteristik des Schenkenbuchs<br />
den realen Gehalt seiner Gedichte zu vergleichen. Von den<br />
22 Gedichten des Buchs nimmt nur die Hälfte - genau II - überhaupt<br />
Bezug auf das Verhältnis des Dichters <strong>zum</strong> Schenken. (Die andere<br />
Hälfte umspielt das Thema "Neigung zu dem halbverbotenen Wein".)<br />
Ein pädagogisches Element zeigt sich innerhalb jener II Gedichte nur<br />
bei einer Minderzahl, nämlich bei 5 - zu diesen 5, die den Schluß des<br />
Buches bilden, gehört "Sommernacht". Bei 4 Gedichten aus derselben<br />
Elfergruppe erscheint das pädagogische Verhältnis sogar in humorvoller<br />
Umkehr: hier tritt der Schenke als Ermahner des Dichters<br />
auf!i1)<br />
. Betrachten wir nun die 5 Gedichte, in denen das Alter die pädagog1sche<br />
Führung hat, so ergibt sich auch da ein merkwül'diges Bild. In<br />
zwei <strong>von</strong> diesen Gedichten bleibt es bei ganz geringfügigen Andeutungen;<br />
da heißt es lediglich, daß der Schenke "gerne hört", wenn der<br />
10) Vgl. unten Anm. 11.<br />
11) Der Schenke zeigt Merkmale der "Schalkheit": vgl. den oben zitierten Text der<br />
NA. "Schalkheit" bedeutet in dem prägnanten Sinn, welchen Goethe dem Wort<br />
seit 1797 oft zu geben licbte: beharrliches intelligentes Verneinen. V gl. M. <strong>Mommsen</strong>:<br />
Der "Schalk" in den Guten Weibern und im Faust. Jahrbuch Goethe 14/15<br />
(r952(l3) S. 171-202.<br />
3 <strong>Mommsen</strong>. Divan-Studien
34 Das pädagogische Element in "Sommernacht"<br />
Die Frage des "Dichters"·<br />
35<br />
Dichter "singe" oder "rede" .12) Von den restlichen drei Gedichten<br />
erschienen zwei jedoch erst in der Ausgabe des Divan <strong>von</strong> 1827P3)<br />
So bleibt für die erste Ausgabe des Divan (<strong>von</strong> 1819) allein "Sommernacht"<br />
übrig als das Gedicht, das überhaupt in ausgeführter Weise<br />
das Verhältnis des Dichters <strong>zum</strong> Schenken als "pädagogisch" darstellt.<br />
Nur dies Gedicht konnte zunächst verständlich machen, was in der<br />
Charakteristik der Noten und Abhandlungen über das Schenkenbuch<br />
gesagt war.<br />
Vergleicht man die beiden in der zweiten Ausgabe des Divan hinzugekommenen<br />
"pädagogischen" Gedichte mit "Sommernacht", so<br />
bleibt das Übergewicht des letzteren immer noch evident. In "Sommernacht"<br />
tritt das Pädagogische ohne weiteres erkennbar in einer<br />
ganzen Anzahl <strong>von</strong> Strophen auf, in den beiden anderen Gedichten<br />
zeigt es sich nur in einzelnen Versen. (Übrigens erscheint in einem,<br />
dem drittletzten Gedicht des Buchs der Schenke auch gleichzeitig als<br />
Ermahner des Dichters.)<br />
Es war nötig, das Faktische in diesen ganzen Verhältnissen deutlich<br />
ins Auge zu fassen, weil es zu der wichtigen Erkenntnis führt, daß<br />
"Sommernacht" im Rahmen des gesamten Schenkenbuchs sich als das<br />
eigentlich pädagogische Gedicht erweist. Es vertritt somit mehr als<br />
jedes andere das in den Noten und Abhandlungen ausgesprochene<br />
Goethesche Programm! 14.)<br />
Diese Lage dcr Dingc läßt cs um so notwendiger und berechtigter<br />
erscheincn, das Gedicht selbst einmal darauf hin zu prüfen, was an<br />
ihm eigentlich als pädagogisch zu gelten hat und was nicht. Schon ein<br />
Blick auf die ersten Versc zeigt, daß wir hier keine müßige Frage<br />
stellen. "Sommernacht" beginnt mit diesen Worten des Dichters:<br />
12) Vgl. "Nennen dich dcn großen Dichter" und "Schenke komm! Noch einen<br />
Becher!"<br />
13) "Denk', 0 Herr! wcnn du gctrunkcn" und "So hab' ich cndlich <strong>von</strong> dir erharrt".<br />
11,) Daß "Sommernacht" das am meistcn pädagogische Gedicht des Schenkenbuchs<br />
ist, hat auch H. G . Gräf richtig gesehen. (Goethe über seine Dichtungen III 2,<br />
S. 237.)<br />
Dichter.<br />
Niedergangen ist die Sonne,<br />
Doch im Westen glänzt es immer,<br />
Wissen möcht' ich wohl, wie lange<br />
[Zuerst: Möcht ich wissen doch wie lange]<br />
Dauert noch der goldne Schimmer?<br />
Die beiden letzten Verse dieser Strophe (V. 3.4.) gehören zu den<br />
umstrittensten des ganzen Gedichts. Es waltet um sie ein Mißverstehen,<br />
das sich auf die Interpretation des Ganzen abträglich auswirkte.<br />
Was bedeutet die Frage des Dichters? Zieht man den Gesamtcharakter<br />
des Gedichts in Betracht, so sollte das überaus leicht zu bestimmen<br />
sein. Der Dichter leitet mit dieser Frage ein pädagogisches Gespräch<br />
ein. Er fragt den Schenken nach den astronomischen Verhältnissen<br />
der Mittsommernacht. Der Knabe zeigt sich nicht informiert<br />
und wird daraufhin <strong>von</strong> dem Älteren belehrt. Es läßt sich eigentlich<br />
nichts Einfacheres denken als diese Erklärung. "Sommernacht" ist ein<br />
pädagogisches Gespräch, und dessen Einleitung - jedes Gespräch muß<br />
ja irgendwie eingeleitet werden - besteht in der Frage des Dichters.<br />
Das Thema des Gesprächs ist herausgegriffen - das hielt auch Boisseree<br />
in seinem Tagebuch fest nach Goethes Vorlesung - aus dem<br />
weiten Bereich dcr "Astronomie".<br />
Diese Erkenntnis, daß es eine pädagogische Frage ist, die ein päd-<br />
'\<br />
agogisches Gespräch einleitet, ist in den Kommentaren mehr und<br />
mehr verloren gegangen. Für Loeper war sie noch selbstverständlich.<br />
Seit Düntzer abcr begann man, die Verse 3 und 4 zu einem Problem<br />
werden zu lassen, indem man alles mögliche Psychologische in sie hineindeutete.<br />
Düntzer 15) gab folgende Version : Der Dichter ist "überrascht [!], daß heute das<br />
Abendroth bis <strong>zum</strong> Morgenroth dauert, und er belehrt darüber launig den jungen<br />
Schenken. .. Sei n e V c r W LI n der u n g [!] s p r ich t sie hin der Fra g e<br />
15) Erläuterungen zu den deutschen Klassikern. Abth. r, Bdch. XXXI-:XXXIII, Goethes<br />
West-östlicher Divan. Leipzig r878. S. 379.<br />
3*
36 Das pädagogische Element in "Sommernacht"<br />
aus, wie lange dies [der Dämmerungsvorgang] noch dauern werde." Das Unlogische<br />
dieser Interpretation liegt auf der Hand. Gerade der Dichter weiß um die<br />
Verhältnisse der kürzesten N ach t. Wie wäre er sonst imstande, den Schenken Zu<br />
"belehren"? Infolgedessen kann er nicht überrascht und seine Frage (V. 3. 4) nicht<br />
Ausdruck der Ver w und e run g sein.<br />
Burdach 16) setzte das durch Düntzer in die Interpretation hineingebrachte Psychologisieren<br />
fort. Für ihn stellen nun die Verse 3 und 4 überhaupt keine Frage mehr<br />
dar, sondern lediglich einen "in Pragcform sich kleidenden Ausruf". Diesen "Ausruf"<br />
habe der Schenke "als Ausdruck der Ungeduld" mißverstanden. Daraufhin bemühe<br />
er sich, den Eintritt der Mitternacht festzustellen, weil sie die vom Islam<br />
empfohlene Gebetsstunde bringe, bei der "der Andächtige mit dem Gesicht die<br />
Richtung nach Mekka einzuhalten habe" etc. Man sieht, die durch nichts zu rechtfertigende<br />
Umdeutung der Frage in einen "Ausruf" hat für Burdach in Wahrheit<br />
nur den Zweck, seine Lieblingsidee <strong>von</strong> den islamischen Gebetspflichten heranzubringen.<br />
(Wieweit wirklich in "Sommern acht" die Stelle vom Anschauen des<br />
Sternenhimmels [V. 9-16] durch Mohammed-Srrüche der "Sunna" inspiriert sein<br />
könnte, soll unten bei Behandlung der Quellen erörtert werden.)<br />
Staiger kommt darauf zurück, daß der Dichter in den Versen 3 und 4 tatsächlich<br />
den "Wunsch" äußere, etwas zu wissen. "Der Knabe", so führt er weiter aus,<br />
"schickt sich an, den Wunsch mit aller Aufmerksamkeit zu erfüllen." Allerdings sei<br />
des Dichters "Frage nur rhetorisch aufzufassen". Denn es stelle sich heraus, daß er<br />
"längst Bescheid weiß über die Dämmerung" .lI) Dem wäre nur hinzuzufügen: der<br />
Schenke legt in der Tat großen Eifer an den Tag - wir werden darauf noch zurückkommen.<br />
Bezüglich dessen, was der Dichter eigentlidl zu wissen wünscht, bleibt er<br />
jedoch die Antwort schuldig. Hierin, besonders aber .auch in dem Umstand, daß der<br />
Dichter wirklich "Bescheid weiß" über das, was er "wissen möchte", scheinen uns<br />
wesentliche Argumente dafür zu liegen, daß die "rhetorische" Frage zugleich auch<br />
eine p ä d a g 0 g i s ehe ist. Jede pädagogische Frage setzt ja das Wissen des<br />
Lehrenden vuraus: in sofern ist jede pädagogische Frage eine rhetorische.<br />
Beutler hält gleichfa ll s - gegenüber Burdach - daran fest, daß die Verse 3 und 4<br />
eine Frage enthalten. Über das Verhältnis dieser Frage <strong>zum</strong> Wissen des Dichters<br />
sagt er nur: "Der Greis weiß, daß es diesmal kein volles Dunkel geben, daß der<br />
Schimmer der gesunkenen Sonne vom Westen über den nördlichen Horizont nach<br />
Osten gleiten wird. Seine Frage gilt nur der Dauer der Helligkeit im Westen." 18)<br />
Hi) Jubiläumsa usgabe a. a. O.<br />
17) Staiger a. a. O. S. 127 (= Corona X I, S. 84).<br />
18) Beutler a. a. O. S. 699 ff.<br />
Rede des Schenken 37<br />
Die Frage ist also für Beutler nicht pädagogischen, sondern rein informativen Charakters.<br />
Der Dichter will erfahren, wann Mitternacht eintritt, denn dann möchte er<br />
- hier sind wir wieder bei Burdachs islamischem Gebet - zusammen mit dem<br />
Knaben seine Andacht verrichten . Wie Burdach und Düntzer legt Beutler der Frage<br />
einen Sinn unter, den sie nicht hat: man darf es Goethe zutrauen, daß er einen so<br />
spezifischen Inhalt auch kl ar <strong>zum</strong> Ausdruck hätte bringen können. Übrigens findet die<br />
gemeinsame Andacht nach Beutlers Meinung in der "Sommernacht" wirklich statt!<br />
("Dann schickt der Greis den Knaben zur Ruhe.") 19) Hier wird jene Verlagerung des<br />
Schwerpunkts auf das Religiöse, <strong>von</strong> der wir in der Einleitung sprachen, ins Extrem<br />
gesteigert. Mit eigenen Lieblingsvorstellungen dichtet man an dem Gedicht weiter.<br />
Überblickt man die verschiedenen Auffassungen der Eingangsfrage,<br />
so ergibt sich: einzig Staiger ist es um eine wirkliche Kongruenz mit<br />
dem Wortlaut der Dichtung zu tun. Doch gerade sein Hinweis, die<br />
Frage habe nur rhetorischen Charakter, durfte uns darin bekräftigen,<br />
sie als pädagogisdl aufzufassen. Betrachten wir nun, wie der weitere<br />
Verlauf des Gedichts sich darstellt, wenn wir da<strong>von</strong> ausgehen, daß<br />
die Eingangsfrage ein pädagogisches Gespräch einleite. Die Antwort<br />
des Schenken lautet:<br />
10<br />
S eh enke.<br />
Willst du, Herr, so will ich bleiben,<br />
Warten außer diesen Zelten,<br />
Ist die Nacht des Schimmers Herrin,<br />
Komm' ich gleich es dir zu melden.<br />
Denn ich weiß du liebst das Droben,<br />
Das Unendliche zu schauen,<br />
Wenn sie sich einander loben<br />
Jene Feuer in dem Blauen.<br />
Und das hellste will nur sagen:<br />
Jetzo glänz' ich meiner Stelle,<br />
15 Wollte Gott euch mehr betagen,<br />
Glänztet ihr wie ich so helle.<br />
I") A. a. o. S. 702.
38<br />
20<br />
Das pädagogische Element in "Sommernacht"<br />
Denn vor Gott ist alles herrlich,<br />
Eben weil er ist der beste;<br />
Und so schläft nun aller Vogel<br />
In dem groß und kleinen Neste.<br />
Einer sitzt auch wohl gestängelt<br />
Auf den Ästen der Cypresse,<br />
Wo der laue Wind ihn gängelt,<br />
Bis zu Thaues luft'ger Nässe.<br />
25 Solches hast du mich gelehret,<br />
Oder etwas auch dergleichen;<br />
Was ich je dir abgehöret<br />
Wird dem Herzen nicht ent.weichen.<br />
Eule will ich, deinetwege n,<br />
30 Kauzen hier auf der Terrasse,<br />
Bis ich erst des 'Nordgesti rn es<br />
Zwillings-Wendung wohl er passe.<br />
Und da wird es Mitternadlt seyn,<br />
[Zuerst: Und da wird es denn wohl Nacht seyn,]<br />
Wo du oft zu früh ermunterst,<br />
35 Und dann wird es eine Pracht seyn,<br />
Wenn das All mit mir bewunderst.<br />
In der Rede des Schenken finden wir zwei dem Inhalt nach ganz<br />
verschiedene Teile: einmal eine Erwiderung auf die an ihn gerichtete<br />
Frage - sie umfaßt ,die erste Strophe (V. 5-8) und die beiden letzten<br />
(V. 29-36); sodann, als E inschub, eine phantasievolle Digression, die,<br />
wie wir sehen werden, wesentlich diplomatischen _Charakter hat: die<br />
fünf Strophen V. 9 bis 28.<br />
Was die eigentliche Erwiderung betrifft, so enthält sie ein indirektes<br />
Eingeständnis des Nichtwissens. Der Knabe kann die ihm gestellte<br />
Rede des Schenken 39<br />
astronomische Frage nicht beantworten. Er gibt das aber nicht geradewegs<br />
zu, sondern überspielt geschickt seine Verlegenheit indem er<br />
aktivsten Lerneifer zeigt und sich anerbietet, sofort auf e~pirischeni<br />
Wege die fehlende Kenntnis zu erwerben. Er will die Nacht im Freien<br />
wachend verbringen, bis -<br />
Bis ich erst des Nordgestirnes<br />
Zwillings-Wendung wohl erpasse.<br />
Und da wird es Mitternacht seyn,<br />
[Zuerst: Und da wird es denn wohl Nacht seyn]<br />
Deutlich bekunden diese Verse, daß der Knabe genau erkannt hat,<br />
worum es eigentlich geht: nach etwas Astronomischem ist er gefragt<br />
worden. Und wenn er auch die eigentliche Antwort nicht weiß so<br />
will er doch demonstrieren, daß er 'schon genügend Astronomie' beherrscht,<br />
um der Sache nachgehen 2U können. So prunkt er mitastronomischer<br />
Terminologie. Trotzdem gibt er sich eine wirkliche Blöße.<br />
Irrig glaubt er, wenn er nur lange genug warte, werde es zweifellos<br />
am Ende "wohl Nacht seyn". Die handschriftlich überlieferte Fassung<br />
~es Verses 33 ist aufschlußreich. Im Stadium der Gedichtkonzeption<br />
heß Goethe den Schenken gar nicht speziell vom Eintritt der "Mitternacltt",<br />
-sondern einfach <strong>von</strong> dem der Nacht, der Dunkelheit reden.<br />
Dies sollte uns zur Vorsicht mahnen gegenüber allen Thesen <strong>von</strong> mitternächtlichen<br />
islamischen Gebeten etc.<br />
Wie das Verhalten des Schenken im Erwiderungs-Teil seiner Rede<br />
dargestellt ist, das trägt alle Merkmale des Goetheschen Realismus.<br />
So reagieren Knaben, wenn eine Frage, die sie nicht beantworten können,<br />
sie in die Enge treibt. Sie suchen das Blamiertsein zu überspielen<br />
durch Bekundung <strong>von</strong> Lerneifer, durch Demonstration sonstigen Wissens.<br />
Bei Platon gibt es vielfache Beispiele dafür. Überhaupt darf des<br />
Sokrates Lehrweise als Hintergrund zu dem pädagogischen Gespräch<br />
der "Somtnernacht" gedacht werden: durch Fragen die Schüler in die<br />
Situation des Blamiertseins zu bringen, das gehört ja <strong>zum</strong> Wesen der<br />
sokratischen Elenktik.
40 Das pädagogische Element in "Sommernacht"<br />
Durch Staiger sind wir glücklicherweise der Mühe überhoben, das astronomische<br />
Nichtwissen des Schenken mit seiner persischen Abstammung in Verbindung zu<br />
bringen. Burdach wollte nämlich genau wissen, der Schauplatz des Gedichts sei "im<br />
Norden" gelegen, der Schenke sei Perser, weile zu Besuch bei dem deutschen Dichter<br />
und kenne als Orientale die europäischen Sommernächte nicht. Staigers Verdienst<br />
ist es, die ganz freie Behandlung des Räumlichen in "Sommernacht" aufgezeigt<br />
zu haben. Mehrere Bereiche, Orient, Norden, Antike seien darin wiedergespiegeit.<br />
Diese Erkenntnis Staigers hat mit Recht allgemeine Aufnahme gefunden.<br />
Die gleichen Elemente, die wir in der eigentlichen Erwiderung des<br />
Schenken fanden, zeigen sidl, nur anders abgewandelt, in der eingeschobenen<br />
D i g res s ion (V. 9- 28): auch hier prunkt der Schenke<br />
mit Wissen und bekundet seinen Lerneifer. Um sich aus der Situation<br />
des Blamiertseins zu befreien, kramt der Knabe aus, was er bereits<br />
dem Dichter über Gestirne, den nächtlichen Himmel etc. alles ,;abgehöret"<br />
hat. Er macht aufmerksam auf die vielen Kenntnisse, die er<br />
auf dem in Frage stehenden Gebiet schon besitzt. Bezeichnenderweise<br />
wird diese ganze Digression eingeleitet durch die geflissentliche Beteuerung:<br />
"Denn ich weiß ... "<br />
Das Ausbreiten seiner Kenntnisse beginnt der Knabe mit einem<br />
geschickten diplomatischen Schachzug. Da doch <strong>von</strong> Sternen die Rede<br />
sein soll, spricht er über sie gleich vom denkbar höchsten Gesichtspunkt<br />
aus. Naturkunde, Astronomie, das nächste Sachliche, wonach er<br />
gefragt ist, läßt er weit unter sich und geht gleich ins Große, Allgemeine,<br />
Feierliche. So kann er imponieren, einen guten Eindruck<br />
machen. Allerdings weiß er <strong>von</strong> der Verehrung, mit welcher der Dichter<br />
"das Droben, das Unendliche" anzuschauen pflegt; er ahnt allerlei<br />
<strong>von</strong> Gedanken und Gefühlen, frommen, ethischen etc., die solches<br />
Anschaun begleiten. Gern und wortreich gibt er da<strong>von</strong> Rechenschaft:<br />
hierüber hat er schon Lektionen bekommen. Freilich zeigt er damit<br />
unfreiwillig zugleich die Merkmale des Jugendlichen, des Anfängers<br />
und Dilettanten. Denn für diese ist es ganz charakteristisch, das<br />
Ahnen großer Zusammenhänge mit Wissen zu verwechseln, im Ideellen<br />
zu schwelgen noch bevor das nötigste Einzelne, Konkrete erlernt<br />
ist. Der Ausflug ins Erhabene, Feierliche steht somit doch auch ganz<br />
Rede des Schenken 41<br />
im Zeich,en des Knabenhaften - und es ist durchaus folgerichtig, wenn<br />
der "Dichter" auf dies Feierliche später gar nicht eingeht.<br />
Wie jugendlich das Denken und Wissen des Schenken ist, zeigt die<br />
Weiterführungseiner Rede: unmittelbar, ohne Übergang schließt er<br />
ans Höchste das beinahe Nichtige. Daß groß und klein nachts schläft,<br />
wird, an den Vögeln exemplifiziert, mit gleicher Wichtigkeit behandelt<br />
wie das kosmische Hochgefühl des Dichters. Der Knabe bezeugt<br />
damit, daß er - ganz in Goethes Sinn - Naturbeobachtung getrieben<br />
hat. Dennoch ist hier das festgestellte und mit vid Anmut geschilderte<br />
Detail vergleichsweise <strong>von</strong> solcher Belanglosigkeit, daß man sich fragt:<br />
sind das überhaupt noch Weisheiten, 2!U deren Vermittlung es eines<br />
Lehrers bedarf? Am Schluß der Digression verrät sich eine diesbezügliche<br />
Unsicherheit des Schenken (V. 25 ff.):<br />
Solches hast du mich gelehret,<br />
Oder etwas auch dergleichen;<br />
Was ich je dir abgehöret,<br />
Wird dem Herzen nicht entweichen.<br />
In den fünf Strophen der Digression, die wir besprachen, tritt Goethes<br />
Kunst des Charakterisierens aufs großartigste in Erscheinung. Da<br />
kommt einmal die Haltung des Knaben <strong>zum</strong> Ausdruck, der bisher<br />
mehr mit dem Herzen als mit dem Verstand gelernt hat. Zugleich<br />
wird aber auch die Gestalt des "Dichters" mit wesentlichen Zügen<br />
ausgestattet, die das Schenkenbuch sonst nirgends bietet. Schließlich<br />
geben die Strophen den entscheidenden· Einblick in das schöne Verhältnis<br />
zwischen Lehrer und Schüler. Wie auch das Atmosphärische<br />
dieser Verse auf das gesamte "Sommernacht"-Gedicht bestimmend<br />
ausstrahlt - wobei die eigentümlichen Prägungen des Goetheschen<br />
Spätstils mitwirken -, ist öfters geschildert worden, am schönsten <strong>von</strong><br />
Staiger. So können wir hier da<strong>von</strong> schweigen. Betrachten wir nun die<br />
Antwort des Dichters:
42 Das pädagogische Element in .. Sommernacht"<br />
Die h t e r.<br />
Zwar in diesem Duft und Garten<br />
Tönet Bulbul ganze Nächte~<br />
Doch du könntest lange warten<br />
40 Bis die N acht so viel vermöchte.<br />
Denn in dieser Zeit der Flora,<br />
Wie das Griechen-Volk sie nennet,<br />
Die Strohwitwe, die Aurora<br />
Ist in Hesperus entbrennet.<br />
45 Sieh dich uml sie kommt! wie schnelle!<br />
Über Blumenfelds Gelänge I -<br />
Hüben hell und drüben helle,<br />
Ja die N acht kommt in's Gedränge.<br />
Und auf rothen leichten Sohlen<br />
50 Ihn, der mit der Sonn' entlaufen,<br />
Eilt sie irrig einzuholen j<br />
Fühlst du nicht ein Liebe-Schnaufen?<br />
Geh nur, lieblichster der Söhne,<br />
Tief in's l nnre schließ die Thürenj<br />
55 D enn sie möchte ,deine Schöne<br />
Als dcn Hcsperus entfüh ren.<br />
In ihrer Gesamthaltung ist die Redc des Dichters durchaus pädagogisch.<br />
Im einzelnen aber wird das Pädagogische mit der größten<br />
Freiheit, Leichtigkeit, Lockerheit behandelt.<br />
Der Dichter nimmt nur auf zwei Dinge in der Rede des Schenken<br />
Bezug: auf dessen Eingeständnis des Nichtwissens und auf sein Anerbieten,<br />
nachts draußen zu bleiben. Ganz unbeachtet bleibt, daß der<br />
Schenke gemeinsam mit dem Dichter in der Nacht "das All bewun-<br />
Die Antwort des .. Dichters" 43<br />
dern möchte", somit auch jener ganze Ausflug ins Feierliche, Erhabene,<br />
den man so gerne als das Wesentlichste des Gedichts ansehen<br />
wollte (V. 9-18). Nicht Erbauung steht hier zur Debatte, sondern Wissen,<br />
Naturkunde, Astronomie. Folglich knüpft der Dichter gen au bei<br />
dem Punkt an, auf den seine Eingangsfrage zielte. Er belehrt den<br />
Schenken über die Verhältnisse der kürZesten Nacht, stellt den Irrtum<br />
richtig, den dessen letzte Worte enthielten. Völlige Dunkelheit könne<br />
nicht eintreten, die Ursachen werden genannt. Das war es, was der<br />
Knabe nicht beantworten konnte.<br />
Die Lehre, die astronomische Begründung allerdings wird nicht<br />
ernsthaft dozierend erteilt, sondern mit freundlicher Ironie, im Gewand<br />
des heiteren Mythos - es ist ein Dichter, der hier unterrichtet,<br />
kein beflis,sener Schulmann. Staiger betrachtete es als einen be-'<br />
sonderen Vorzug des Schenkcenbuchs, daß darin das "pädagogische<br />
Verhältnis nie pedantisch" werde. Wenn dieser Vorzug auch in "Sommernacht"<br />
zutage tritt - und das am meisten pädagogische Gedicht<br />
zeigt ihn natürlicherweise irf erhöhtem Maß -, so liegt das vor allem<br />
an der über die gesamte Antwortrede des Dichters ausgebreiteten Ironie.<br />
Mit ihr wird das Lehrhafte absichtsvoll gemildert, überdeckt, es<br />
wird fast dahinter versteckt. Einen wesentlichen Zauber verdankt<br />
"Sommernacht" dieser Dezenz in der Behandlung des Pädagogischen.<br />
Nur hin und wieder wird es unmittelbar manifest - auch in der Rede<br />
des Schenken lassen es die diplomatischen Künste des Knaben bisweilen<br />
ganz vergessen.<br />
In der Antwort des Dichters versteckt sich das Pädagogische so<br />
weit hinter der Ironie-Einkleidung, daß man gezweifelt hat, ob es<br />
überhaupt ernst gemeint sei. "Wahrhaftig, wenn es galt, den Knaben<br />
zu belehren, so wurde das hier nicht gewissenhaft besorgt", bemerkt<br />
Staiger zu dem gewagten <strong>west</strong>-<strong>östlichen</strong> Durcheinander in' dem astronomischen<br />
Mythos. Aber gerade darin, daß das Dozieren "nicht gewissenhaft"<br />
betrieben wird, liegt zugleich auch ein überaus wirkungsvoller<br />
K:unstgriff: so hält Goethe das Pedantische aus dem pädagogischen<br />
Verhältnis heraus. Unbeschadet dessen bleibt das Verhältnis als<br />
solches doch, was es ist: ein pädagogisches.
44 Das pädagogische Element in "Sommernacht"<br />
Am Schluß der Dichter-Antwort steht - sehr bezeichnend - ewe<br />
pädagogische Maßnahme. Auch hierfür fand Goethe eine behutsame<br />
und anmutige Einkleidung. Des Schenken Ersuchen, die Nacht im<br />
Freien verbringen zu dürfen, wird abgewiesen. Unter Anspielung auf<br />
eine orientalische Lehre: Knaben müßten bei Einbruch der Nacht im<br />
Hause gehalten werden, um sie vor herumirrenden Teufeln zu schützen,<br />
fordert der Dichter den Schenken auf, hineinzugehen. Aus den<br />
orientalischen "Teufeln" - wir sprechen unten <strong>von</strong> der Quelle -<br />
macht Goethe griechische Göttergestalten. Diese Art der Umsetzung<br />
<strong>von</strong> Orientalischem in Antikes fi ndet sich bei ihm oft, noch im Faust II<br />
ist sie anzutreffen.20) In "Sommernacht" dient sie vor allem wieder<br />
dazu, den pädagogischen E rnst ab<strong>zum</strong>ildern, den Schluß des Gedichts<br />
heiter zu gestalten. D enn eigentlich handelt es sich bei der pädagogischen<br />
Maßnahme um E rnstes: Im alten Orient hatte man guten<br />
Grund, Knaben nachts im Hause zu halten: man mußte ,sie vor Verführern<br />
schützen. Goethe bildet hieraus das zauberhafte Motiv:<br />
Aurora möchte den Schenken "als den Hesperus entführen."<br />
Nun aber dürfen wir uns besinnen. Wir fa nden: am Anfang des<br />
Gedichts eine pädagogische Frage; am E nde eine pädagogische Maßnahme;<br />
dazwischen heitre Belehrung. E s scheint, daß wir im Laufe<br />
unserer Betrachtungen di e Einheit des Gedichts entdeckt haben -<br />
oder doch ein wichtiges, das Ganze einheitlich umfassendes Element.<br />
Wir erinnern uns an den eingangs erwähn ten Hinweis Staigers, daß<br />
gerade dies: Einheit, Linie, Mitte der Goetheschen "Sommernacht"<br />
fehlen sollten. Staiger sah in den einzelnen Teilen des Gedichts nur<br />
"unzusammenhängende F ragmente". Nun müssen wir feststellen: gewisse<br />
Merkmale eines einheitlichen Aufbaus lassen sich doch nicht<br />
verkennen. Das Pädagogische erweist sich als ein das Gesamte verknüpfendes<br />
Band. Eingang und Ausgang des Gedichts stehen ganz in<br />
seinem Zeichen und bilden so die Grund- und Eckpfeiler - darüber<br />
wölbt sich die Brücke des pädagogischen Gesprächs. Wenn in man-<br />
20) Vgl. <strong>Katharina</strong> <strong>Mommsen</strong>, Goethe und IOOI Nacht. Berlin I960. S. I8) ff.<br />
Die Einheit des Gedichts 45<br />
ehen Partien das Pädagogische scheinbar zurücktritt, so werden wir<br />
das nicht als ein Zeichen der Inkohärenz deuten. Hier hat Goethe<br />
durch Abschweifungen, Verkleidungen etc. absichtlich aufgelockert,<br />
um nicht das Pedantische aufkommen zu lassen. Übrigens zeigen alle<br />
diese Teile bei genauerem Betrachten völlig logischen Bezug auf die<br />
Thematik des Ganzen.<br />
Ein Beispiel mag noch verdeutlichen, wie Goethe sogar durch besonders<br />
gründliche Motivierung die Teile untereinander verknüpft.<br />
Die pädagogische Maßnahme a.,m Schluß des Gedichts nimmt Bezug<br />
auf den Vorschlag des Schenken, die Nacht im Freien verbringen<br />
zu dürfen. Dieser Vorschlag selbst wird sehr kunstvoll behandelt. Der<br />
Schenke bringt ihn am Anfang seiner Rede vor. Er spricht dann, bei<br />
Erwähnung der schlafenden Vögel in der Digression, <strong>von</strong> dem "einen"<br />
Vogel, der nicht wie alle andern die Nacht im Nest verbringt, sondern<br />
"gestängelt / Auf den Ästen der eypresse, / Wo der laue Wind<br />
ihn gängelt". Auf dies beinah genüßlich ausgemalte Bild greift er zurück,<br />
als er am Schluß seiner Rede jenen Vorschlag wiederholt (V. 290:<br />
Eule will ich, deinetwegen,<br />
Kauzen hier auf der Terrasse ...<br />
Durch die Verknüpfung der Bilder verrät der Knabe, wie sehr ihm<br />
dies: einmal allein nachts im Freien 2JU bleiben, wenn alles schläft, inzwischen<br />
als interessant, reizvoll, lockend erscheint. Damit wird sein<br />
Vorschlag intens,iviert, er ist schon fast Bitte. Um ein Entsprechendes<br />
erscheint nun auch die Ablehnung dieser Bitte stärker begründet und<br />
akzentuiert. Durch so besonders sorgfältige motivische Vorbereitung<br />
verbindet Goethe die pädagogische Maßnahme am Schluß mit der<br />
Mittelpartie. Auch dies dient sehr wesentlich der Einheit des Ganzen.<br />
Freilich ist "Sommernacht" nicht in der Weise schlicht einheitlich<br />
gebautwie beispielsweise die gleichzeitig entstandenen Divan-Gedichte<br />
"Siebenschläfer" und "Der Winter und Timur". Bei diesen handelt es<br />
sich um mehr epische Gedichte. Hier ist die Einheit schon gewährleistet<br />
durch den erzählerischen Ablauf, der , der Quellenvorlage ent-
46 Das pädagogische Element in "Sommernacht"<br />
spricht. In "Sommernacht" erforderte einmal die Gesprächsform, vor<br />
allem aber auch die eigenartige Thematik eine andere Lösung. Das<br />
pädagogische Verhältnis, wie es in dem Zwiegespräch zwischen Dichter<br />
und Schenken <strong>zum</strong> Ausdruck kommt, sollte zart behandelt sein,<br />
unpedantisch, dezent. Dem wird die Form angepaßt: man möchte <strong>von</strong><br />
verdeckter, verkleideter Einheit sprechen.<br />
Allerdings ist das eine Lösung, wie sie Goethe in jüngeren Jahren<br />
schwerlich geglückt wäre. Staigers Hinweis auf den Unterschied zwischen<br />
"Sommernacht" und den Gedichten der klassischen Zeit deckt<br />
den Wandel auf, der hier stattfand. Es ist aber - ähnlich sieht es auch<br />
Staiger - nicht nur ein Wandel des Id eals, sondern auch des Könnens.<br />
Gewisse sehr komplizierte fo rmale Lösungen gelingen in der Kunst<br />
nur dem hohen Alter. D arin liegt die überragende Bedeutung der<br />
Schöpfungen etwa des späten Beethoven, Michelangelo, Rembrandt.<br />
Im dichterischen Bereich ist das Gocthesche Spätwerk eine Fundstelle<br />
solcher Kostbarkeiten <strong>von</strong> sublimierter Form.<br />
Führen wir uns jetzt noch einmal vor A ugen, was Boisseree in seinem<br />
Tagebuch als das Wesentliche an dem "Somm ernacht"-Gedicht<br />
bezeichnet hat: das "edle pädagogische Verhältniß ... Astronomie.<br />
Ethik." Nicht treffender, so scheint es nach allem was wir sahen,<br />
könnte der Gehalt des Gedichts resümiert werden. Man möchte meinen,<br />
daß hier wie auch sonst den Aufzeichn ungen Boisserees Goethesche<br />
Äußerungen zugrunde liegen, nicht nur eigene Reflexionen.<br />
"Astronomie. Ethik": die W orte würden durchaus den Gang des<br />
Zwiegesprächs, auf eine lakonische Formel gebracht, bezeichnen. Von<br />
der astronomischen Frage geht es aus, mit einer sittlichen Maßnahme<br />
schließt es - auch dazwischen sind Ethik und Astronomie Gesprächsgegenstand,<br />
wie immer verkl eidet.<br />
Daß es gerade eine naturkundlich-astronomische Frage ist, mit der<br />
das Gedicht eröffnet wird, weist übrigens noch in einem ganz speziellen<br />
Sinn ins Feld des Pädagogischen. Man darf sich daran erinnern,<br />
welche erzieherische Rolle in den Schulen des Pythagoras und Platon<br />
die Mathematik - in weitestem Sinne - spielte. Goethe wußte hier-<br />
Die Entstehung <strong>von</strong> "Sommernacht" 47<br />
<strong>von</strong>, wie ein Satz aus der "Italienischen Reise" zeigt:21) "Plato wollte<br />
keinen ocye:w[J.E-rp"fJ't"o'l in seiner Schule leiden ;22) wäre ich im Stande<br />
eine zu machen, ich litte keinen, der sich nicht irgend ein Naturstudium<br />
ernst und eigentlich gewählt." Es steht mit diesem Satz, es steht<br />
aber überhaupt mit Goethes Denkweise völlig in Einklang, wenn das<br />
programmatisch pädagogische Gedicht des Divan mit einer Frage der<br />
Naturkunde eröffnet wird. Eine fernere Legitimation hierfür konnte<br />
Goethe in den <strong>von</strong> ihm benutzten orientalischen Quellenwerken finden.<br />
Da<strong>von</strong> wird im Folgenden zu sprechen sein.<br />
IH. E n t s t e h u n g<br />
"Sommernacht" ist entstanden am 15. und 16. Dezember 1814. Goethes<br />
Tagebuch enthält unterm Datum des 15. Dezember die Eintragung:<br />
"Sommernacht", die Handschrift trägt das Datum: "Jena d.<br />
16 Dec 1814." Man hat wiederholt die Frage aufgeworfen, was Goethe<br />
veranlaßt haben könnte, ausgerechnet an den kürzesten Tagen des<br />
Jahres ein Gedicht über die "kürzeste Nacht" zu schreiben. In der<br />
Tat ist das seltsam genug, Verwunderung darüber ist berechtigt.<br />
Denn Goethe erlebte die Jahreszeiten bewußt, und die dunklen<br />
Dezemberwochen empfand e'r, besonders in höherem Alter, als bedrückend<br />
und der dichterischen Produktion hinderlich. Es ist versucht<br />
worden, das Problem der winterlichen Entstehung <strong>von</strong> "Sommernacht"<br />
dadurch zu lösen, daß man die These aufstellte, der Anfang<br />
des Gedichts sei bereits im Sommer 1814 geschrieben, die Ausführung<br />
dann im Dezember erfolgt. Aber diese These ist nicht haltbar. Auf<br />
diese Weise ist der ganzen Frage nicht beizukommen.<br />
Die These stützt sich auf eine handschriftliche Sonderüberlieferung<br />
für die erste Strophe <strong>von</strong> "Sommernacht". Diese findet sich - mit der<br />
~ I) Zweiter Römischer Aufenthalt. Albano den 5. Oktober 1787. WA I 32, S. 106 f.<br />
22) Zur Sache und den Quellen vgl. E. Zeller, Die Philosophie der Griechen, Bd. i:1,<br />
Abt. I, S. 357.
48 Die Entstehung <strong>von</strong> "Sommernacht"<br />
<strong>von</strong> uns angeführten Abweichung im Wortlaut23) - auf einer Sammelhandschrift,<br />
die unter der Überschrift "Fragmente" II verschiedene<br />
Gedichtbruchstücke und Entwürfe enthält. Diese Handschrift - H 10<br />
der Weimarer Ausgabe - ist aber undatiert und zeitlich schwer zu<br />
bestimmen. Burdach behauptete, die "Stücke dieser Sammelhandschl}ift"<br />
bewiesen es, daß das Ganze "nicht später als 26. Juli 1814 entstanden<br />
sei".24) Das trifft nicht zu.<br />
Die Ir Aufzeichnungen stellen offenbar Reinschriften <strong>von</strong> Entwürfen<br />
dar, die an sich aus verschiedenen Zeiten stammen können. Nur<br />
die dritte Aufzeichnung hat Burdach überhaupt auf ihre Datierbarkeit<br />
untersucht und besprochen. Hier handelt es sich um Strophe 3 des<br />
Gedichts "Keinen ... Reimer , wird man finden". Aber diese Verse geben<br />
uns keineswegs, wie BUl'dach wollte, ein eindeutiges Datierungsindiz.<br />
Denn das vollständige Gedicht trägt die Doppeldatierung : ,,26. Jul.<br />
23. Dec. 1814". Jene dl'itte Strophe kann also auch im Dezember<br />
hinzugefügt sein. Ihr politisch gefäl'bter Inhalt nimmt do~hl Bezug<br />
auf den im September zusammengetretenen Wiener Kongreß,<br />
worüber Goethe November/Dezember r814 - nach seiner Rückkehr<br />
<strong>von</strong> der Rhein-Mainreise - mündliche und schriftliche Nachrichten<br />
erhielt. Wahrscheinlich wurde die Strophe ange regt durch einen Brief<br />
<strong>von</strong> G. Sartorius aus Wien und einen gleichfalls <strong>von</strong> Sartorius verfaßten<br />
Aufsatz über den Wien er Kongreß; beide trafen Anfang Dezember<br />
1814 bei Goethe ein. 25)<br />
Ein anderes sehr wichtiges Datierungsindiz, <strong>von</strong> dem BUl'dach nicht<br />
spricht, würde gleichfalls auf Entstehung der S,"!.mmdhandschrift im<br />
Dezember schließen lassen. Als siebentes "Fragment" erscheint in der<br />
Handschrift die dritte Strophe des Gedichts ,,~dung" (Buch<br />
Hafis). "Nachbildung" aber entstand, wie aus Goethes Tagebuch<br />
bekannt ist, am 7. Dezember 18141<br />
Die "Sommernacht"-Strophe steht in der Handschrift an letzter,<br />
elfter Stelle, also hinter der dritten Strophe <strong>von</strong> "Nachbildung". Das<br />
23) V gl. oben S. 35.<br />
21,) WA I 6, S. 475, zu Paralip. 13.<br />
25) V gl. unten S. 103 f.<br />
Lebensanregungen zu "Sommern acht" 49<br />
weist doch recht deutlich auf ihre Entstehungs2Jeit: Dezember r814,<br />
und hierher ist auch - nach allem, was wir bisher wissen - die Sammelhandschrift<br />
2JU datieren: zwischen 7. Dezember (Datum <strong>von</strong><br />
"Nachbildung") und 15. Dezember (Datum <strong>von</strong> "Sommernacht"). Unrichtig<br />
ist es jedenfalls, wenn Beutler, gestützt auf Burdach, behauptet,<br />
der Anfang <strong>von</strong> "Sommernacht" sei "während des Aufenthalts in<br />
Berka (13. Mai bis 28. Juni), also wirklich zur Zeit der kürzesten<br />
Nächte gedichtet".2G)<br />
Um das Problem der winterlichen Entstehung <strong>von</strong> "Sommernacht"<br />
zu lösen, muß man nach anderen Möglichkeiten Ausschau halten. Zu<br />
vermuten ist, daß sehr bedeutsame Anregungen mitwirkten. Diese<br />
gilt es zu finden. Zunächst soll darum untersucht werden, wieweit<br />
etwa lebendige Eindrücke, Vorgänge, Erinnerungen auf die Entstehung<br />
des Gedichts Einfluß hatten. Sodann sind Anregungen durch<br />
Quellen in Betracht zu ziehen.<br />
IV.Lebensanregungen<br />
Unmittelbare Anregungen durch Lebenseindrücke kann, wenn auch<br />
in begrenztem Maße, der Jenaer Aufenthalt im Dezember ~8r4 gebr~cht<br />
haben. Mehrmals besuchte Goethe das Observatorium. Am<br />
17· Dezember 1814 vermerkt sein Tagebuch: "Sternwarte. Zwey Sonnenflecken.<br />
Durchgang der Sonne durch den Meridian." Häufige Gespräche<br />
mit dem Jenaer Astronomen v. Münchow haben mit Sicherheit<br />
in jenen Tagen das Interesse auf astronomische Fragen und Erscheinungen<br />
gelenkt.<br />
Bedeutsamer ist noch etwas anderes. Einen Tag vor Beginn der<br />
Arbeit an "Sommernacht" kam es "bey Tisch" zu einem Gespräch<br />
über den "Pestaluzzischen Rechen-Unterricht" (Tagebuch 14. Dezember<br />
1814). Dabei wurden Goethes Gedanken in den Bereich des Päd-<br />
..4 .<br />
2(;) West-östlicher Divan. Hrsg. voo Ernst Beutler. Bremen 1956. S. 704.<br />
4: <strong>Mommsen</strong>, Divan·Studien
so<br />
Lebensanregungen zu "Sommernacht"<br />
Die Pestalozzischule 51<br />
agogischen gelenkt, und zwar durch ein Thema, das ihn seit längerer<br />
Zeit beschäftigte.<br />
. i~ Im August I814 hatte er eine .Pestalozzische Schule in Wiesbaden<br />
.', besJcht und mit deren Leiter wiederholt über die dortangewandte<br />
Erziehungsmethode diskutiert. Ausdrücklich überliefert ist, daß Goethe<br />
sich dabei speziell für "die Kopfalgebra und überhaupt das Kopfrech-<br />
. nen" interessierte.27) Damals las Goethe auch "Lienhard und Gertrud"<br />
(Tagebuch). Die Pestalozzischule fand allgemein bei den Badegästen<br />
ir: Wiesbaden große Beachtung. In Frankfurt, das Goethe<br />
anschließend besuchte, war anderseits Willemer ein überzeugter<br />
Pestalozzianhänger. 28)<br />
Als Goethe sich im Sommer J815 wieder in Wiesbaden aufhielt, war<br />
sein Interesse für die dortige Schule und Pestalozzi eher noch gestiegen.<br />
Oberb~rgrat C~mer, selbst ein Pes~alozzienthusiast, berichtete,<br />
der Dichter habe immer <strong>von</strong> jenen Erziehungsmethoden gesprochen.29)<br />
Mit Boisseree führte Goethe am 5. August I8I5 ein langes<br />
Gespräch über die Pestalozzische Schule, nachdem Cramers Tochter<br />
eine Probe ihres dort erworbenen Könnens ablegte durch virtuoses<br />
Lösen einer komplizierten Rechenaufgabe. Aus Boisserees Aufzeichnungen<br />
<strong>von</strong> jenem Tag geht hervor, daß Goethe Pestalozzis Erziehungssystem<br />
mit Leidenschaft ablehnte. Zwei Dingen gilt dabei seine<br />
Polemik vor allem: dem Mathematikunterricht mit der Bevorzugung<br />
der "Kopfalgebra" ; das Rechnen "mit unbekannten Größen, leeren<br />
Zahlen und Formen" ist Goethe ein Greue\. Dann aber wettert er<br />
auch gegen die falsche "Selbständigkeit", zu der man die Jugend hier<br />
erziehe: 30) "Und nun gar dazu der D ü n k e I, den dieses verfluchte<br />
Erziehungswesen errege, da soll ich nur einmal die Dreistigkeit der<br />
kleinen Buben hier in der Schule sehen, die vor keinem Fremden<br />
erschrecken, sondern ihn in Schrecken setzen! Da falle aller Respect,<br />
alles was die Menschen unter einander zu Menschen macht weg. Was<br />
27) Biedermann, Goethes Gcspr ächc ~ Bel. 2, S. 268.<br />
28) Kar! Muthesius, Goethc und Pcst:1lozzi. S. 258 ff.<br />
29) Biedermann a. a. O. Bd. 2, S. 3,8; Firmenich-Richartz S. 400.<br />
30) Firmenich-Richartz S. 399.<br />
wäre denn aus mir geworden, sagte er, wenn ich nicht immer genöthigt<br />
gewesen wäre, Respect vor andern zu haben. Und diese Menschen<br />
mit ihrer Verriicktheit und Wuth, alles auf das einzelne Individuum<br />
zu reduzieren, und lauter Götter der Selbständigkeit zuseyn,<br />
diese wollen ein Volk bilden ... " etc.<br />
Drei Tage nach diesem Gespräch fand die Vorlesung der Schen- I<br />
kengedichte und <strong>von</strong> "Sommernacht" statt, deren Boisserees Tagebuch<br />
gedenkt. (8. August I8I5; vgl. oben S. 3I.) Man muß Goethes<br />
Ausbrüche gegen Pestalozzi vom 5. August in Vergleich setzen zu<br />
Boisserees Aufzeichnungen vom 8 . . August I8I5. Dann erst wird man<br />
die Akzente richtig bewerten, mit denen im Zusammenhang der<br />
Schenkengedichte vom Pädagogischen gesprochen wird: "Das Ganze<br />
als ein edles, freies paedagogisches Verhältniß, als Liebe und Ehrfurcht<br />
der Jugend gegen das Alter genommen vorzüglich schön ausgesprochen<br />
in einem Gedicht: die kürzeste Nacht, wo Morgenroth<br />
und Abendroth zugleich am Himmel sind. Astronomie. Ethik." Hier<br />
wird deutlich, daß im Schenkenbuch, besonders aber in "Sommernacht"<br />
auch jene Stimmung gegen Pestalozzi ihren Ausdruck fand,<br />
die Goethe in den Jahren I8I4I1815 beherrschte. Wie woft, spricht<br />
Goethe in diesen Gedichten auch aus einer Kampfposition heraus.<br />
Wenn darin "Ehrfurcht der Jugend gegen das Alter" zur Darstellung<br />
kommt, so hat das einen verborgenen Bezug auf die entgegengesetzten<br />
Tendenzen eines modernen Schulsystems. Ein gleicher Bezug 'findet<br />
sich in der Schenkenbuch-Charakteristik der Noten und Abhandlungen,<br />
wo ausdrücklich gewünscht wird, daß "ehrfurchtsvolle Neigung"<br />
und "Staunen" das Verhältnis der Jugend <strong>zum</strong> "hohen Geiste<br />
des Alters" bestimmen müssen.31) Noch die Lehre <strong>von</strong> den drei Ehrfurchten<br />
in der pädagogischen Provinz der Wanderjahre schließt<br />
etwas <strong>von</strong> jener Pestalozzipolemik ein.32)<br />
:J1) V gl. oben S. 32 f.<br />
:12) Das Kapitel <strong>von</strong> den drei E hrfurchten entstand November r820. Aus einem<br />
Brief Goethes an Fellenberg <strong>von</strong> April r8r7 ist zu entnehmen, daß die Ablehnung<br />
Pestalozzis weiterhin die Einstellung des Dichters Zu pädagogischen<br />
Problemen bestimmt. (W A IV 28, S. 79.) Durch Fellenbergs Erziehungsinstitut<br />
4*
52 Lebensanregungen Zu "Sommernacht"<br />
Aber auch etwas anderes stellt sich nun klarer heraus: wirklich<br />
darf man die Eingangsfrage <strong>von</strong> "Sommernacht" als pädagogisch bezeichnen.<br />
Die Erinnerungen an das Pestalozzische Bevorzugen der<br />
Mathematik haben bei ihrer G estaltung mitgewirkt. In der Frage<br />
nach den Verhältnissen der "kürzesten Nacht", in der "Astronomie"<br />
liegt ein gewollter Kontrast zu Pestalozzis Algebraaufgaben. Auch<br />
hier geht es um eine Rechnung; nur wird sie nicht mit "leeren Zahlen<br />
und Formen" gelöst, sondern durch Anschauung, Erfahrung, Naturbeobachten.<br />
Dies alles in Betracht gezogen wird es nicht bedeutungslos erscheinen,<br />
daß einen Tag vor der E ntstehung <strong>von</strong> "Sommernacht" das<br />
Pestalozzi-Thema im Zusammensein mit Jenaer Gelehrten zur Sprache<br />
kam. Hier<strong>von</strong> dürfte eine lebendige Anregung zur Abfassung des pädagogischsten<br />
aller Schenkengedichte ausgegangen sein.<br />
Spricht man <strong>von</strong> Lebenseinflüssen auf das Schenkenbuch, so muß<br />
auch des jungen Paulus :\:3) gedacht werden, des wichtigsten menschlichen<br />
Urbilds für die Gestalt des Schenken. Goethe lernte ihn, den<br />
damals zwölf jährigen Sohn des Heidc.lberger Orientalisten H. E. G.<br />
Paulus, kennen im Oktober 1814. D er Knabe vereinte in seinem Wesen<br />
Charme, Intelligenz und etwas "mun teres, neckisches".34) All das<br />
sind Züge, die sich in den Schenkengeclichten widerspiegeln, besonders<br />
in vieren, die nachweislich während oder kurz nach Goethes Heidelberger<br />
Aufenthalt im Oktober 1814 entstanden.<br />
Goethes Interesse für den jungen Paulus hing natürlich in erster<br />
Linie damit zusammen, daß er damals die Welt mit den Augen des<br />
Hafis sah. So war er dankbar für ein lebendiges Beispiel jener Knabenschönheit,<br />
der der persische Dichter so vielfach huldigt. Doch<br />
konnte es nicht aJUsbleiben, daß im Umgang mit dem Zwölf jährigen<br />
auch Gedanken wiederkehrten, wie sie kurz vorher der Wiesbadener<br />
wurden anderseits einzelne Züge in der Pädagogischen Provinz der W anderjahre<br />
angeregt.<br />
33) August Wilhe1m Paulus (JS02- IS19).<br />
34) An Christiane. 6. Oktober ISI4. WA IV 25. S. 49.<br />
Der junge Paulus 53<br />
Aufenthalt mit dem Besuch der Pestalozzischule erweckt hatte. Hinsichtlich<br />
all dessen, was dort Goethes Mißfallen erregte, war der<br />
junge Paulus vermutlich besser geraten und erzogen. Der Vergleich<br />
mag in eindrucksvoller Weise zu seinen Gunsten ausgefallen sein. Auf<br />
jeden Fall fehlt in Goethes Verhältnis zu ihm nicht ein gewisses pädagogisches<br />
Element. Zu Neujahr 1815 - kurz nach Entstehung <strong>von</strong><br />
Sommernacht" - schickte er dem Heidelberger "Schenken" ein<br />
::Schwänchen", das "bemahlte und bereimte Blätter" enthielt.35) Am<br />
17. März 1815 erfolgte eine neue "Sendung", <strong>von</strong> der Goethe hofft, daß<br />
sie "angenehmer und nützlicher" sein solle: nämlich "Mineralien".<br />
Goethes Begleitschreiben - es ist der einzige erhaltene Brief an den<br />
jungen Paulus - ist nun ganz auf einen pädagogischen Ton eingestellt<br />
:36)<br />
" ... Da du N eigung hast zu Mineralien, so wird es wohlgethan<br />
seyn, wenn du sie in einer gewissen Folge und Ordnung kennen<br />
lernst. Wirst du die in der gegenwärtigen Sammlung enthaltenen<br />
Stücke hübsch <strong>von</strong> einander unterscheiden lernen, und dir nebst<br />
ihrer Gestalt auch ihren Namen einprägen, so wirst du schon einen<br />
guten Schritt gethan haben, und wirst dich im Mineralreiche nicht<br />
ganz fremd finden. Ich wünsche nichts mehr als daß ich diesen<br />
Sommer möge persönlich ein Zeuge deiner Fortschritte seyn ... "<br />
Der Brief zeigt, daß in den Gesprächen mit dem jungen Paulus<br />
auch Naturkunde eine Rolle gespielt hat. Das hat eine Entsprechung<br />
in der Situation <strong>von</strong> "Sommernacht". Ob dabei auch das Gebiet der<br />
Astronomie berührt wurde, wissen wir nicht. Immerhin ist zu erwähnen:<br />
in einem (undatierten) Brief des Vaters Paulus gibt dieser Goethe<br />
Auskunft über as tronomische Fragen und Termini, die in einem<br />
35) Darunter wohl das au f den jungen Paulus bezügliche Gedicht "Heute hast du<br />
gut gegessen". Vgl. M. <strong>Mommsen</strong> : "Schwänchen und Schwan". Jahrbuch "Goethe"<br />
13 (1951) S. 290-95.<br />
36) W A IV 25, S. 236.
54 Quellen zu "Sommernacht"<br />
"französisch-teutschen", auf den Orient bezüglichen "Werckchen"<br />
Schwierigkeiten ber.eiteten.37)<br />
Zur Zeit des zweiten Heidelberger Aufenthalts September/Oktober<br />
1815 wird in Goethes Tagebüchern des jungen Paulus mehrmals unter<br />
der Bezeichnung des "Schenken" gedacht. Dann reißt die unmittelbare<br />
Verbindung offenbar ab. Gelegentlich erwähnen noch die Eltern<br />
ihren Sohn in Briefen an Goethe: "Der kleine Schenke will noch besonders<br />
empfohlen seyn", heißt es in einem Schreiben <strong>von</strong> Caroline<br />
Paulus (3. August 1816).38) Der Vater berichtet Ostern 1817: "Der kleine<br />
Schenke hat diesen Winter viel mit Religion u. Kirche Zu thun gehabt,<br />
ist nun aber zu den Quasimodogenitis durchgedrungen. Kommt gleich<br />
der Spiritus als der lezte, so hoffe ich doch, Er soll desto gewisser<br />
auch bey ihm bleiben. Wenigstens adspirirt der neubefestigte Chrrst<br />
mit sichtbarer Anstrengung <strong>zum</strong> Übergang in die Geseztheit. Gegenwaertig<br />
ist er ganz in high spirits bey seiner "gnaedigen Frau" (<strong>von</strong><br />
Reizenstein) welche seit mehreren Wochen nach Mannheim zog ... " 39)<br />
Bereits 1819 starb der "Schenke"siebzehnjährig, früh wie die Lieblinge<br />
der Götter.<br />
Es könnte durchaus sein, daß einzelne Motive in "Sommernacht"<br />
auf Erinnerung an Erlebnisse mit dem j1ungen Paulus im Oktober 1814<br />
zurückgehen: etwa der Wunsch des Schenken, nicht schlafen gehen zu<br />
müssen, oder das gemeinsame Betrachten des Sternhimmels. Vielleicht<br />
hat Goethe ähnliche Fragen naturkundlidler Art an den Knaben gerichtet,<br />
wie sie die Eingan"sstrophe enthält. Feststellen läßt ,sich das<br />
nicht. Es genügt, auf die Möglichkeit verwiesen zu haben.<br />
V. Q u eIl e n<br />
Wenden wir uns nun der Frage zu, welche Rolle Lektüre und Quellen<br />
bei der Entstehung <strong>von</strong> "Sommernacht" gespielt haben. Wir sind<br />
37) Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 289 fI.<br />
38) Goethe- und Schiller-Archiv W cim Jr, E ing. Br. alph.<br />
39) Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Eing. Br. alph.<br />
Sunna-Verse 55<br />
einigermaßen orientiert darüber, welche Orientalia Goethe zur Zeit<br />
der Abfassung des Gedichts las. Der Jenaer Aufenthalt - vom 4. bis<br />
21. Dezember 18I4 - ist in der Geschichte des Divans eine markante<br />
Epoche. Damals erweiterte Goethe - soweit man das auf Grund <strong>von</strong><br />
Zeugnissen sagen kann - erstmals seine Kenntnisse des Orients planmäßig<br />
über Hafis hinaus, der bis dahin seine Hauptquelle gewesen<br />
war. Drei Werke begann er jetzt intensiv zu studieren: Sir William<br />
Jones' Poeseos Asiaticae commentariorum libri sex (hrsg. <strong>von</strong> J. G.<br />
Eichhorn, Leipzig 1787), Thomas Hyde: Historia religionis veterum<br />
Persarum (Oxford 1700) und die Fundgruben des Orients (Bd. 1-4,<br />
H. I. 2.). Diese Lektüre war ein starkes Erlebnis, wie die unmittelbare<br />
Auswirkung auf Goethes Produktion bezeugt. Damals entstanden,<br />
durch jene drei Werke inspiriert, viele Gedichte. Die meisten<br />
<strong>von</strong> ihnen wurden angeregt durch die Fundgruben des Orients; wir<br />
haben oben <strong>von</strong> einigen gesprochen. 40) Diese Situation gilt es zu berücksichtigen,<br />
auch wenn man die Entstehung <strong>von</strong> "Sommernacht"<br />
ins Auge faßt. Und zwar sind es gleichfalls die Fundgruben des<br />
Orients, die uns hier wieder begegnen werden.<br />
Betrachten wir zunächst, was bisher an Quellen für "Sommernacht"<br />
nachgewiesen wurde. Es ist nicht viel, insgesamt zwei Stellen. Burdach<br />
zeigte, daß der Schluß des Gedichts angeregt wurde durch einen<br />
Vers der "Sunna", der mündlichen Überlieferung des Islam.' Goethe<br />
fand ihn im ersten Band der Fundgruben, in einer Übersetzung <strong>von</strong><br />
Hammer (S. 277):<br />
375. "Wenn die Nacht einbricht haltet euere Knaben zu Hause, denn die Teufel<br />
irren herum zu dieser Stunde; schließe dein Thor, rufe den Herrn an, lösche deine<br />
Lampe aus, und rufe den Herrn an ... "<br />
Wir haben oben da<strong>von</strong> gesprochen, in welcher Weise Goethe diese<br />
Stelle verwertete. 41) Sie gab ihm die Idee zu dem Schluß der<br />
"Sommernacht", der mythologisch eingekleideten pädagogischen Maßnahme.<br />
1,0) V gl. oben S. 9-28, besonders auch S. 20 If.<br />
/,1) V gl. oben S. 44.
56 Quellen zu "Sommernacht"<br />
Beutler wies später darauf hin, daß auf der gleichen Seite der<br />
Fundgruben des Orients innerhalb der Sunna folgender Vers zu lesen<br />
ist - er steht zwei Verse vor dem soeben zitierten -:<br />
373. "Wenn die Sonne aufgeht, betet bis sie beraufgestiegen, und wenn die Sonne<br />
untergeht, betet bis sie hinabgesunken ; vernachlässiget nicht das Morgen- und<br />
Abendgebet, denn zwischen bei den zeigt sich das Horn des Teufels."<br />
Es war ganz berechtigt, daß Beutler diesen Vers in Verbindung<br />
brachte mit Burdachs These <strong>von</strong> den islamischen Gebetspflichten, auf<br />
die in "Sommernacht" angespielt sei. Burdach hatte daran erinnert,<br />
daß der Islam den Gläubigen Gebete bei Sonnenauf- und Untergang<br />
zur Pflicht macht, aber auch zur Mitternachtsstunde freiwillige Gebete<br />
empfiehlt. Wir sahen, wie dieser Gedanke die Interpretation des<br />
Gedichts lange Zeit weitgehend und allzu einseitig beeinflußt hat.<br />
Seltsamerweise gab jedoch Burdach im Zusammenhang mit seiner<br />
These keine eigentliche Quelle an - auch ni cht den <strong>von</strong> Beutler zitierten<br />
Vers -, sondern er verwies lediglich auf ein <strong>von</strong> Goethe gar nicht<br />
gekanntes Werk eines neueren Orientalisten (August Müller, Der<br />
Islam im Morgen- und Abendland. Bcrlin 1885 - r887). Es wäre indessen<br />
möglich gewesen, innerhalb der in elen P unelgruben gedruckten<br />
Sunna-Übersetzung eine ganze Reihe <strong>von</strong> Versen aufzuzeigen, die auf<br />
jene Gebetspflichten anspielen. Darunter findet sich auch die Erwähnung<br />
eies freiwilligen Mitternachtsgebets, dessen der <strong>von</strong> Beutler<br />
angeführte Vers ni cht gedenkt. Auf diese Stellen hätte Bmdach verweisen<br />
sollen, denn sie hat Goethc wirklich gelesen. Um dies Versäumnis<br />
nachzuholen, aber auch, um uns ein Bild darüber machen zu<br />
können, welche Bedeutung die Gebets-These für Goethes Gedicht<br />
eigentlich hat, zitieren wir jetzt die wichtigsten der Sunna-Verse 111<br />
der Reihenfolge, wie sie in den F undgruben auftauchen:<br />
,,74. Einer fragte den Propheten, wns er vom Gebete bey der Nacht hielte, er antwortete:<br />
Doppelt, doppelt, lind wenn du den Morgen sch~ust, so verricht es einfach<br />
und abgesondert. [So In)<br />
77 ... Wenn ihr euer Gebet verrichten könnt vor So n n e n auf g a n g, und<br />
vor Sonnenuntergang, so thut es: Lob dem Herrn bey S 0 n n e n auf g a n g ,<br />
und Lob ihm vor S 0 n n e nun t e r g a n g. [So In f.)<br />
Sunna-Verse 57<br />
9 1 •.. Wenn die Menschen ... wüßten, welches Verdienst in der !,!rßten und letzten<br />
Nachtwache liegt, so würden sie dieselbe im Gebete zubringen, und wäre es auch<br />
nur sitzend. [So 159)<br />
93. Kein Gebet fällt dem Heuchler schwerer, als das der Nacht und der erste.n<br />
Morgenröthe, und wenn sie wüßten was darinnen Verdienstliches ist, so würden sie<br />
gerne dabey erscheinen, und wäre es auch nur sitzend. [So 159]<br />
145. Wenn der Prophet ' Na c h t sau f w ach t e, pflegte er so zu beten: Herr<br />
unser Gott, dir gebühret Lob und Preis: Durch dich besteht Himmel und Erde, und<br />
was darinnen. Dir gebühret Lob und Preis: Denn du bist das Licht der Himmeln<br />
und der Erde, und dessen was darinnen .. . [So 164)<br />
148. Ich liebe das Gebet zu Gott, wie David gebetet, und ich liebe die Fasten<br />
Gottes, wie David gefastet; Er schlief nur die halbe Nacht, und stand dann auf,<br />
als der dritte Theil derselben noch übrig war, oder er schlief gar nur den sechsten<br />
Theil derselben ; dann fastete er den Tag hindurch. [So 165]<br />
154. Ich erhöre das Gebet desj enigen, der sich in der Nacht zu mir flücht:t s.agend:<br />
Es ist kein Gott außer Gott dem Einigen der keines Gleichen hat ... sein ISt Lob<br />
und Preis ... Lob dem Herrn. [So 166]<br />
233 .. • Nach dem Morgengebet bey der D ä m m e run g is~ kein~s m e ~r bis<br />
11 ach S 0 n n e n auf g a n g, und nach dem Nachmittagsgebet Ist kellles biS z u<br />
S 0 n n e nun t erg a n g . . . [So I74)<br />
666. Der Prophet pflegte öfters Nachts aufzustehen und zu beten ... [So 3I2]<br />
667. Wenn er sonst bel' Nacht wach war, pflegte er zu sagen: Gott! Lob dir, du<br />
bist das Licht der Himmeln und der Erde und dessen wa.5 darinnen; Lob dir! ... "<br />
[S· 312)<br />
Prüft man an Hand dieses Quellenmaterials, was <strong>von</strong> dem ganzen<br />
Komplex der Morgen-, Abend- und Mitternachtsgebete i~ Go e't~~s<br />
Gedicht eingegangen ist, so ergibt sich folgendes. Vieles spncht dafur,<br />
daß in der Tat zwei Stellen <strong>von</strong> "Sommernacht" durch die Sunna<br />
Verse angeregt sind: I. die Verse 9 bis 18, die vom Anschaun des<br />
Sternenhimmels handeln (mit den obligaten andächtigen Gefühlen<br />
und Gedanken); 2. Vers 33 f.: des Schenken Erinnerungen daran, daß<br />
der Dichter "oft" des nachts aufwacht, "zu früh ermuntert". (Wir<br />
sahen oben: es hieß ursprünglich V. 33 "Nacht", nicht "Mitternacht".)<br />
Eins steht aber fest: an beiden Stellen ist nicht <strong>von</strong> Gebet die<br />
Rede. Gebetet wird in "Sommernacht" überhaupt nicht. Das "Unendliche"<br />
wird "geschaut", das All "bewundert". Daran schließen
58 Quellen zu "Sommernacht"<br />
sich Betrachtungen: die Gestirne "loben sich einander", sie sind <strong>von</strong><br />
Gott mit verschiedener Helle "betagt", vor Gott - so heißt es schließlich<br />
- "ist alles herrlich, / Eben weiler ist de~ te". Alles das ist<br />
kein Gebet. Vielmehr erscheint als das W ese~tliche: das Motiv des<br />
islamischen Gebets hat zwar eine gewisse anregende Kraft auf Goethe<br />
ausgeübt, es tritt aber im Gedicht durcha:us verändert zutage. Es<br />
ist völlig entdogmatisiert, nichts erinnert mehr an religiösen Brauch<br />
und Zeremonie. Eine tiefgehende Übertragung, Umsetzung hat stattgefunden.<br />
Was übrigbleibt, ist kaum mehr Islamisches, sondern etwas,<br />
das ganz Goethe gemäß ist: Anschauung der Natur, wobei die begleitenden<br />
Andachtsgedanken eher <strong>von</strong> Kant und Spinoza als <strong>von</strong><br />
irgendeiner religiösen Doktrin her inspiriert sein könnten.<br />
Diese Verwendung des religiösen Motivs in gänzlicher Abwandlung<br />
und Umsetzung erscheint uns darum als besonders bedeutungsvoll,<br />
weil sie als paradigmatisch für Goethes Benutzen <strong>von</strong> Quellen<br />
im Divan überhaupt gelten darf. Man hat noch zu wenig beachtet,<br />
welche Freiheit und Selbständigkeit der Dichter seinen orientalischen<br />
Vorlagen gegenüber bewahrt. Mit voller Bewußtheit ändert er, setzt·<br />
um, wählt eigenwillig aus. Oft ist es gerade am interessantesten, zu<br />
sehen, was Goethe wegläßt. Das können unter Umständen entscheidend<br />
wichtige Dinge sein. Besonders charakteristisch zeigt sich das<br />
auf religiösem Gebiet. So bleibt beispielsweise bei seiner Darstellung<br />
"altparsischen" GLaubens, obgleich sie <strong>von</strong> besonderer Anteilnahme<br />
zeugt, der zoroastrische Dualismus ganz im Hintergrund. Die Anspielungen<br />
auf ihn sind so geringfügig, daß sie dem Nichteingeweihten<br />
schwerlich einen Begriff vermitteln können. O!:~~~~jll.ld Ahriman<br />
nennt Goethe auffälligerweise nirge nd s, auch nicht in den Noten und<br />
..-<br />
Abhandlungen, obwohl er oin guter Kenner des Zend-Avesta war.<br />
Was seinem eigenen Weltbild zu ferne stand, ließ er auf sich beruhen.<br />
In gleicher Weise wird auch das Islamische frei und nur mit bewußter<br />
Auswahl in den Divan hineingenommen.<br />
Kehren wir aber nochmals zu Burdachs und Beutlers Quellennachweisen<br />
zurück. Zitiert wurden <strong>von</strong> beiden die Verse 373 und 375 der<br />
Sunna. Es findet sich nun ganz in der Nähe noch eine andere Stelle,<br />
Sunna-Verse<br />
59<br />
die Beachtung verdient. Lesen wir ein paar Verse weiter zurück; so<br />
beaeanen wir in V. 370 folgenden Sätzen:<br />
b b<br />
_ D Feuer der Hölle vereinigt in sich den höchsten Grad der schneidendsten<br />
,,3/°. as h H . h<br />
Kälte und der brennendsten Hitze. Es beklagte sich bey Gott und sprac: crr lC<br />
verzehre mich selbst, gieb mir im Jahre nur zwey Augenblicke aus z u s c h ~ a u -<br />
f e n. Der Herr ertheilte dem Feuer die Erlaubniß. Es s c h n auf e t aus emmal a:<br />
im Winter und einmal im S 0 m m er, und daher die schneidendste Kälte des<br />
Winters und die b ren n end s t e Hit z c des Sommers." [So 188]<br />
Wir erinnern uns: in der mythologischen Szene des Schlusses <strong>von</strong><br />
"Sommernacht" heißt es, bezüglich auf die Verfolgung des Hesperus<br />
durch Aurora (V. 49 ff.):<br />
Und auf rothen leichten Sohlen<br />
Ihn, der mit der Sonn' entlaufen,<br />
Eilt sie irrig einzuholen;<br />
Fühlst du nicht ein Liebe - S c h n auf e n ?<br />
Man hat sich über das Wort "Liebe-Schnaufen" gewundert; eine<br />
wenig anmutende Prägung" nennt es E. Staiger. Nun ist innerhalb<br />
des Goetheschen Spätstils mit allen möglichen Härten zu rechnen. In<br />
diesem Fall könnte sie in das Gedicht eingedrungen sein durch eine<br />
Quellenanregung. Hier in der Sunna begegnet uns das W. ort :,Schnaufen",<br />
ähnlich sonderbar gebraucht, und an einer Stelle, dle lllcht ohne<br />
innere Beziehung ist zu den <strong>von</strong> Goethe benutzten Nachbarversen.<br />
Der Aurora-Hesperus-Mythos, so sahen wir,42) stellt eine Umsetzung ·<br />
der herumirrenden Teufel" <strong>von</strong> V. 375 der Sunna ins Antike dar:<br />
Teuf~l gefährden nachts aushäusige Knaben. In Vers 370 - wie übri<br />
"ens auch in V. 371 und 372 - wird vom gefährdenden Höllenfeuer<br />
:esprochen. Ist es losgelassen auf die Welt - wofür ihm Gott ähnlich<br />
Permission erteilt wie dem Teufel in der Hiob-Legende - , so "schnaufet<br />
es aus". Dies Bild scheint sich in Goethes Phantasie mit dem der<br />
herumirrenden Teufel vereinigt :w haben. Nun ist es seine "Teufelin"<br />
1,2) V gl. oben S. 44.
60 Quellen zu "Sommernacht"<br />
Aurora, der das Wort "Schnaufen" eine Charakteristik ins Derbe und<br />
Dämonisch-Gefährliche gibt.<br />
Sehr auffällig ist, daß im gleichen Vers 375 auch vom Sommer, und<br />
zwar <strong>von</strong> des Sommer,s "brennend ster Hitze" im Gegensatz zu schneidendster<br />
Winterkälte gesprochen wird. Sollte hierin eine Anregung<br />
zu der zeitlichen Situation unseres Gedichts liegen, das am längsten,<br />
hellsten Tage des Sommers spielt? Damit wäre eine erste Möglichkeit<br />
gegeben, die winterliche Entstehung des "Sommernacht"-Gedichts<br />
durch Quellenanregung verständlicher zu machen.<br />
Wenn die pädagogische Wendung am Schluß <strong>von</strong> "Sommernacht"<br />
durch die Sunna-Stelle der Fundgruben inspiriert ward, so ist hierzu<br />
noch etwas ergänzend nachzutragen. Sehr ähnlichen Lehren wie in<br />
der Sunna begegnete Goethe in den Fundgruben nochmals: nämlich<br />
am Schluß des Pend Nameh. Wir hatten da<strong>von</strong> gesprochen, daß die<br />
Übersetzung <strong>von</strong> Ferid-eddin Attars Pend Nameh in den Jenaer<br />
Dezembertagen des Jahres 1814 mehrere Divan-Gedichte anregte. Es<br />
scheint, daß auch "Sommernacht" <strong>von</strong> diesem Werk nicht unbeeinflußt<br />
blieb. Im Pend Nameh traf Goethe erstmals auf eine orientalische<br />
Schrift, in der das Verhältnis des Mannes <strong>zum</strong> K naben, des<br />
Alters zur Jugend, sich unter ganz erzieherischem Aspekt zeigt. In<br />
Hafis' Gedichten erscheint es vorzugsweise erotisch gefärbt. Das Pend<br />
Nameh dagegen hat einen grundsätzlich pädagogischen Charakter.<br />
Das gesamte W erk ist an einen Jüngling gerichtet, dem Ferid-eddin<br />
Attar Lebensregeln, besonders moralischen Inhalts, mitteilt. Silvestre<br />
de Sacy schildert in der Vorrede zu seiner Übersetzung diesen Grundzug<br />
des Pend N ameh wie folgt: ":l) "Ferid-eddin Attar ... Il semble<br />
partout adresser la parole a Ull disci ple cheri et avide d'instruction;<br />
ill'appelle son ami, son frere, e t p i u s sou v e n t, so n f i I s."<br />
Im Hinblick auf diese Charakteristik verdient es beachtet zu werden,<br />
daß einzig in "Sommern acht" der Schenke einmal als "Sohn"<br />
angeredet wird (V. 53): "Geh nur, lieblichster der S ö h n e." In allen<br />
1.3) Fundgruben des Orients Bd. 2, S. 2.<br />
Pend Nameh<br />
61<br />
übrigen Gedichten, die vom Schenken handeln, wird dieser ge~ebenen ~<br />
falls bezeichnet als: "Knabe, Schelm, Liebchen". Das entspncht eher<br />
der heiteren Hafis-Atmosphäre, ~ährend die Benennung "Sohn" tatsächlich<br />
im Pend Nameh vorherrscht, dem streng pädagogischen Charakter<br />
des Werkes entsprechend.<br />
Am Schluß des Pe nd Nameh nun findet sich ein Kapitel, das unter<br />
dem Titel "Avis sur divers sujets" eine große Zahl verschiedener<br />
pädagogischer Maximen enthält. Aus ihnen heben wir einige heraus,<br />
weil sie inhaltlich dem sehr nahe stehn, was Goethe aus der Sunna<br />
für das "Sommernacht"-Gedicht aufgriff: 44)<br />
"Il n'est pas bon dc dormir aussitöt que le jour se retire ; c'est une preva~ication de<br />
se livrer au so mmeil avant !es tenebres. Le sage regarde comme un cnme de se<br />
livrer au sommeil dans l e t c m p s q u i se p a r e la cl a rt e du j 0 u r d e<br />
I 'o bscurit e d es o m brcs ,d,e l a n uit .<br />
Si tu veux meriter les faveurs du T r es - Hau t, et augmenter en me rite devant<br />
IUf, co n s a c r e Ics jours et I e s nu i t s a I a p r i e r e ...<br />
L' exces d u sommet<br />
' 1<br />
atttre<br />
' I<br />
a<br />
pauvrete" , abre' ge ton sommeil, mon fil s, et<br />
pr o mpt a t ' e vei ll e r.<br />
Ne balaie point ta maiso n p e nd a n t la nu i t, so u S ta p 0 r t e ...<br />
s o i s<br />
M o n fils , n e d eme ure pas ass i s so u s le seuil de ta porte;<br />
cette conduite diminu croit ta fortune .. .<br />
N e t'appuie pas sur Ic jambage de la porte."<br />
Das sind tatsächlich etwa die gleichen Lehren wie in der Sunna,<br />
nur daß hier alles ganz und gar den Charakter des. Pädagogis~en,<br />
der Knabenerziehung trägt. Wieder wird das VerdIenst des na~htlichen<br />
Wachens und Betens gepriesen. Keine Stelle der Sunna spnc~t<br />
übrigens ,so ausdrücklich in diesem Zusam~enha?g <strong>von</strong> der "Zelt,<br />
die des Tages Helligkeit scheidet <strong>von</strong> der F1I1sterms der Scha~ten der<br />
Nacht". Genau um diese Zeit handelt es sich ja in der E1I1gangs-<br />
44) A. a. O. S. 460 f.
62<br />
Quellen zu "Sommernacht"<br />
strophe <strong>von</strong> "Sommernacht" : nach ihrer "Dauer" fragt dort der Dichter.<br />
Sollte die pädagogische Frage, mit der das Gedicht eino-eleitet<br />
wird, nicht mit dieser Stelle des pädagogischen Pend Nameh ;n Verbindung<br />
stehen?<br />
Doch auch für den Vers 34: "Wo du oft zu früh ermunterst" findet<br />
~a,l~ hi~r ei,l~e ähnliche Wendung: "abrege ton sommeil ... sois prompt<br />
a t e~etller ! Wenn <strong>von</strong> Gott als dem "Tres-Haut" gesprochen wird,<br />
so erInnert uns das an die "Sommernacht"-Verse:<br />
Denn ich weiß du liebst das D r 0 ben ,<br />
Das Unendliche zu schauen.<br />
Dabei mag ins Gewicht fallen, daß die Wendung "Tres-Haut" in<br />
Silvestre de Sacys Pend-Nameh-Übersetzung sehr oft vorkommt es<br />
ist dort die meist gebrauchte Bezeichnung für Gott. ("Que tes y~uX<br />
soient fixes vers le palais du Tres-Haut", heißt es beispielsweise<br />
Fundgruben 2, S. 24.)<br />
Endlich enthält das Pend-Nameh-Kapitcl, mehrfach abgewandelt,<br />
das Gebot: Knaben sollen sich nicht "vor der Tür", der "Schwelle"<br />
aufhalten, namentlich nicht nachts. Durch das Erscheinen dieses Gebots<br />
in dem Werk <strong>von</strong> so ausgesprochen pädagogischer Prägung wird<br />
es deutlich, welche Wichtigkeit es im ()rientalischen Alltag hatte; es<br />
war eine selbstverständlich erforderliche Maßnahme, um die Jugend<br />
vor N achsteHungen zu schützen.<br />
Für vieles, was un s an "Som mernacht" bedeutungsvoll erschien,<br />
nicht zuletzt für Eingang und Sch luß des Gedichts, die Eck- und<br />
Brückenpfeiler des Ganzen, bietet a lso auch das Pend Nameh o-ee<br />
dankliehe Elemente un d Wortprägun gen, ähnlich an einem Ort zusammengedrängt<br />
wie in der Sunna. Was Goethe in der Sunna als<br />
religiöse Vorschrift las, begegnete ihm im Pend Nameh wieder als<br />
pädagogische Devise. Das mag den Ausschlag gegeben haben für das<br />
Verwenden dieser Gedanken.<br />
Jedenfalls hat das Pend Nameh zweifellos bei der Entstehung <strong>von</strong><br />
"Sommernacht" eine gewisse inspirierende Rolle gespielt. Erinnern<br />
Hammers astronomischer Aufsatz 63<br />
wir uns: es war ein aktuelles Interesse an pädagogischen Fragen, das<br />
bei der Konzeption des Gedichts ausschlaggebend mitwirkte. Da lag<br />
es nahe, daß Goethe das berühmte pädagogische Werk eines orientalischen<br />
Dichters, das er soeben kennengelernt und für andere Divan<br />
Gedichte als Quelle benutzt hatte, zu Rate zog. Wenn das "sittliche<br />
Pend-nameh des Firadeddin" bald darauf im Huldigungsblatt des<br />
Divan mit so besonderer "Verehrung" genannt ward,45) so dürfte<br />
dabei noch mitspielen, daß dieses Werk auch das pädagogischste Gedicht<br />
des Schenken buchs maßgeblich mit beeinflußt hatte.<br />
Die Fundgruben des Orients lenkten Goethes Aufmerksamkeit<br />
übrigens auch auf das Gebiet der Astronomie. In den ersten Bänden<br />
finden sich mehrere astronomische Aufsätze. Band I wird sogar eröffnet<br />
mit einer ,derartigen Abhandlung. Sie stammt aus der Feder<br />
Joseph v. Hammers: "Über die Sternbilder der Araber und ihre eigenen<br />
Namen fü r ei nzelne Sterne." Das Motto dieses Aufsatzes 46) hat<br />
Goethe, wie man weiß, benutzt für die zweite Strophe <strong>von</strong> "Freisinn"<br />
im Buch des Sängers:<br />
Er hat euch die Gestirne gesetzt<br />
Als Leiter zu Land und See;<br />
Damit ihr euch daran ergetzt,<br />
Stets blickend in die Höh.<br />
Der dritte und vierte Vers erinnert an "Sommernacht" V. 9 f. und 36:<br />
beidemal ist d er Sternhimmel Gegenstand verehrenden "Schauens"<br />
im Sinne <strong>von</strong> Kant.<br />
In dem Hammersehen Aufsatz fand Goethe auch Belehrung darüber<br />
, welche Rolle die Astronomie überhaupt im islamischen Orient<br />
spielt: 47)<br />
1,5) V gl. oben S. 23.<br />
46) Fundgrube; Bd. J, S. I: "Er hat Euch die Gestirne gesetzt, als Leiter in der<br />
Finsterniß zu Land und Sec. Koran, Sura 98. Vers 2I."<br />
47) A. a. O. S. j .
64<br />
Quellen zu "Sommernacht"<br />
"Wiewohl nlso die Sternkunde bey den Arabern nach Mohammed<br />
d Ib I nicht, wie vor<br />
emse cn, ;!LlC 1 zugleich Religionslehre war so bl" b . d h .<br />
r h '. W' ,. . ,1e Sle oe elne der vorzügle<br />
ste ll " sensehaften dle an mensch li che E' 'ch .<br />
V ' r lOS1 t gewann was Sle an göttI" h<br />
erehrung verlor; und wiewohl der Nimbus, mit dem die 'Lehre d . Sb" 1e ~r<br />
Sterne Ulll 'eb ' d h d I I .. er a aer d1e<br />
g en, ure en s am großtcntheils zerstöret ward so strahlt . d<br />
J1l1dl ni cht I G ' cn Sle en-<br />
, ' . nur asegenstände d es a lten Kultus, sondern auch al B ' I d<br />
111 C 11 sc h 11 ehe n Wir k e n s in di e Re g ion end s 1 er<br />
se t zt d A b h es Himmels ver-<br />
, " em ra er ohe Verehrung ins Gemüth."<br />
Diese Sätze durften es legitimieren, wenn Goeth ' S<br />
I " dem " ommern<br />
:C1~ gera e a~.tronomj sch e Fragen <strong>zum</strong> Gegenstand eines pädaoogischen<br />
Gesprachs machcn und damit orientalisieren wollte: Sternk.un~e,<br />
so ler~te er hi er, war im Orient immer noch "eine der vorzuglrchsten<br />
WIssenschaften". Im übri en erscheinen die <strong>von</strong> den Sternen<br />
handelnden Partien in "Somm ern acht" durch Hammers Sätze<br />
a~fs beste kommentiert. Nur "hohe V crehrung" wird dem SternhImmel<br />
gezollt, nicht "Gebet" - das i 111 engern Sinne Religiöse bleibt<br />
ferngehalten. Entsprechendes berichtet llammer <strong>von</strong> den A b<br />
nach Mohammed".<br />
" ra ern<br />
Eine mer~würdi ge<br />
Hammers zeIgen noch di e Verse 15. f. <strong>von</strong> "Som mernacht":<br />
Übereinstimmung mit den angeführten Worten<br />
Wollte Gott euch mehr betngen,<br />
G länztet ihr wie ich so hell e.<br />
Wi ~ hi er ~o n elen Sterncn anthropomorphisierend gesprochen wird<br />
das ,stImmt 1m G I,'undsiitzlichen übcrei n mit der Darstellung Ham~<br />
mers, nach dcr bel elen Arabern die Stcrne als BI'lder de h<br />
1· h . " s mensc -<br />
IC en Wirkens stra hl en".<br />
Der gleiche Ham mcrsche<br />
Aufsatz belehrt aber auch darüber ,<br />
daß die Astronom ic<br />
bci den Arabcrn noch griechische Sternnamen<br />
kennt: 48)<br />
~so wie uns hier. die gri echi schen N;Hnen einheimisch erscheinen und die arabischen<br />
~emd"so erschelnen dort die :Jrnbischen a ls einheimische, und die griechischen als<br />
elngeburgerte Fremdlinge."<br />
1,8) A. a. O. S. 1.<br />
Enweri 65<br />
Man hat es als em Charakteristikum des Goetheschen Spätstils<br />
betrachtet, daß in "Sommernacht" durch Einbeziehung griechischer<br />
und lateinischer Namen eine seltsame Vermischung der Sphären erzeugt<br />
wird. Nach Obigem sollte doch auch die Möglichkeit in Betracht<br />
gezogen werden, daß Goethe gerade damit bewußt orientalisiert.<br />
Vom Abendstern als "Hesperus" zu reden war nicht so abwegig,<br />
wie es zunächst erscheint. Und "Aurora", da<strong>von</strong> wird jetzt<br />
noch zu sprechen sein, fand Goethe in Übersetzungen aus berühmten<br />
orientalischen Dichtern. Vor allem natürlich in lateinischen ("aurora"<br />
z. B. bei William Jones des öfteren) und französischen ("aurore" u. a.<br />
in den Fundgruben) .<br />
Es gibt aber a uch den Fall, daß innerhalb der deutschen Übersetzung<br />
eines orientalischen Dichters, die Goethe gerade im Dezember<br />
1814 las, Aurora auftaucht - sogar, was uns im Hinblick auf<br />
"Sommernacht" interessieren muß, in der Situation der "Strohwitwe".<br />
Diese Übersetzun g gilt es noch näher zu betrachten, denn sie war<br />
geeignet, Goethe Anregungen für das Landschaftliche, Jahreszeitliche,<br />
überhaupt das Atmosphärische des Gedichts zu geben. Noch immer<br />
fehlt uns ja die rechte Erklärung dafür, wieso "Sommernacht" gerade<br />
im lichtlosen D ezember entstehen konnte.<br />
Abermals müssen wir die Fundgruben des Orients aufschlagen.<br />
Die ersten drei Bände enthielten nicht allzuviel <strong>von</strong> orientalischer<br />
Dichtung, brachten aber immerhin Proben <strong>von</strong> vier der sieben Hauptdichter,<br />
die Goethe in den Noten und Abhandlungen charakterisiert:<br />
<strong>von</strong> Firdusi, Enweri, .Dscheläl-eddin Rumi und Dschami. Diesen<br />
Proben schenkte Goethe natürlich Aufmerksamkeit, weil sie ihm eine<br />
erste Orientierung, um die es ihm ging, ermöglichten. Aber nicht<br />
Firdusi hat damals auf das "Sommernacht"-Gedicht anregend gewirkt,<br />
wie Burdach wollte,49) sondern eher Enweri.<br />
qiJ) V gl. Burdach, Akademievorträge S. 38 ff. Burdach wies richtig darauf hin, daß<br />
Goethe damals Firdusi in den Fundgruben kennenlernte. In der Geschichte <strong>von</strong><br />
Firdusis Tod, die seiner Meinung nach auf "Sommernacht" eingewirkt haben<br />
soll, vermag ich jedoch keinerlei Bezug zu dem Gedicht zu finden. Auch konnte<br />
5 <strong>Mommsen</strong> . Divan-Studien
66 Quellen zu "Sommern acht"<br />
Von Enweri enthält der erste Band der Fundgruben des Orients<br />
ein Gedicht, und zwar eine deutsche Übertragung <strong>von</strong> Helmina<br />
v. Chezy: "Das Lob Melekschah's und Bagdad's" (S. 85-93). Das<br />
Gedicht ist sehr umfangreich, in der Übersetzung umfaßt es 36 Stanzen.<br />
Es war geeignet, Goethe erstmals einen wirklichen Eindruck <strong>von</strong><br />
dem persischen Dichter zu geben. Bei Jones fand er <strong>von</strong> ihm nur<br />
wenige dürftige Bruchstücke.<br />
In dem Enweri-Gedicht sind große Partien ganz deskriptiv gehalten.<br />
Von ihnen geht ein bedeutender Reiz aus. Und zwar sind<br />
es orientalische Sommerlandschaft und Sommerzeit, die beschrieben<br />
werden. Eine auffallend große Rolle spielen Sonnenauf- und Untergänge<br />
- in dem Zusammenhang begegnen wir auch der Bezeichnung<br />
Aurora. Daneben stehen wieder prächtige Schilderungen <strong>von</strong> Nacht<br />
und Sternen. So vieles erinnert in dem Gedicht an "Sommernacht" ,<br />
daß wir uns das Wichtigste daraus vor Augen führen müssen.<br />
Enweri<br />
3·<br />
Dort, an des Tigris kühlem B I urne n r a n d e<br />
Scherzt frohen Spiels der schönen Knaben Schaar ...<br />
4·<br />
Und wenn im May beym crs te n Mo r gen s c he i n e<br />
D er Weste bunt Geleit hervorgegangen ...<br />
j .<br />
Beym S 0 n n e nun t erg a n g, im Widerscheine<br />
Von Millionen Rosen hold erglühend,<br />
Erschein t der Himmel, gleich dem B lu m e n h a i n e ,<br />
In voller Pracht des jungen Frühlings blühend:<br />
Und wenn A u r 0 r a kom m t mit Pur pur s ehe i n e<br />
Den Blumenschmelz d 'er Fluren überglüh end,<br />
Dann strahlt die Wiese herrlich wohl <strong>von</strong> ferne,<br />
Als schmückten sie des Himmels schönste Sterne.<br />
67<br />
Enweri beginnt mit einer Schilderung der Stadt ß(lfldad , nt/cb der er sich sehnt ;<br />
Strophe I bis H.<br />
J.<br />
\V'ie herrlich, Bagdad, bist du anzuschaucn,<br />
Du Sitz der Tugend, Städteköniginn I<br />
Wie selig wogt auf deinen B I u m e n n u c n<br />
Im Farbenstrom der trunkne Blick dnhin I<br />
Da schlüpfen in der Blüthe Schoofl die schlauen<br />
Zephyre fri sch und suchen Düfte dri nn<br />
Und streun sie aus mit li ndern Frühlingshauche,<br />
Dafl sich in Lust die Seele schmelzend tauche ...<br />
Burdach keine Quelle angeben, wo Gocthe da<strong>von</strong> gelesen haben sollte, außer<br />
Hammers Geschichte der schönen Redekünste Persiens. Diese erschien aber erst<br />
1818, vier Jahre nach Entstehung <strong>von</strong> "Sommernacht". Burdachs These stützt sich<br />
zudem auf seine irrtümliche Auslegung des Worts "Paradies" in Goethes Tagebuch<br />
vom 16. D ezember 1814, worüber er sich selbst in einem "Nachtrag" berichtigte<br />
(a. a. O. S. 38). Auf Firdusi sollte jedenfalls in den Kommentaren nicht<br />
mehr im Zusammenhang mit den Quellen <strong>von</strong> "Sommernacht" hingewiesen<br />
werden.<br />
6.<br />
Dort glüht die Rose, frisch wie Mädchenwangen,<br />
Im Perlen t hau, vom Laube halb verhüllet ...<br />
7·<br />
Dir, Bagdnd I mußte solche Schönheit werden.<br />
Wie trieb mich hin der Wünsche süß Geheiß! . . .<br />
Schon sen k t die S 0 n n e sie h zu m R a n d der Erd e n ,<br />
Wo einsam schwebend sie am Himmelsgleis<br />
Ein go i den Schiff erschien .. .<br />
8.<br />
Dann ward i m Wes t <strong>von</strong> go I d n e m Purpur f I 0 r<br />
Die blaue Himmelswölbung schön umwunden;<br />
Wie lichte Peris kommen S t ern' empor,<br />
Im Schleyer, w]uernd, dall die S 0 n n' e n t s c h w und e n.<br />
Und Naachs Töchter schön gereihter Chor,<br />
Da er im Tanz sich um den Pol ge w und e n,<br />
Ließ hold zurück auf bl aue n Ac t her s Fluren<br />
Der lei c h t e n Tri t t e demanthelle Spuren.<br />
5*
68 Quellen zu "Sommernacht"<br />
9·<br />
Ein V ei l c h e n f eId, durchsäet mit Narzissen,<br />
Erscheint der Milchweg, und zur z w ö 1ft e n S tun d e<br />
S t rah I t der PIe j ade n Reih' aus Finsternissen,<br />
Gleich sieben Perlen hell auf b lau e m G run d e ..<br />
10.<br />
S a t u r n u s s t rah I t dort in des S t ein b 0 c k s Bilde,<br />
G lei c h ein e r L a m pe, hoch in stillen Hallen;<br />
Es leu c h t e t J u p i t er, ein Auge milde<br />
Deß duft' ge Silberflore leicht umwallen;<br />
M ars fun k e I t in der W a g e Lichtgebilde,<br />
Wie Purpurwein in glänzenden Kristallen,<br />
Da in des S c h ü t zen Zeichen, hold vereint,<br />
Ein L i e b e s p aar, M e r kur u n cl V e n u s scheint.<br />
11.<br />
Indeß das Firmament die Lichtgestalten<br />
Im Spiele, wie ein Z a u b r er, leicht und schnelle<br />
In Her r I ich k e i t sich w e c h seI n cl I ä ß t e n t f alt e n .<br />
Einer orientalischen Landschaftsschildcl.'ung wie dieser war Goethe<br />
noch nicht begegnet. Bei Hafis finden sich zwar landschaftliche Elemente<br />
vielfach einzeln, besonders metaphorisch, verwendet, aber die<br />
detaillierte SchiLderung einer bestimmten Landschaft, zu einer breiten<br />
Idylle ausgestaltet, wie sie Enweris Gedicht cnthält, ist Hafis fremd.<br />
Schon dies mußte Goethe interessiercn. Nun aber ist es wirklich eine<br />
Sommerlandschaft, die Enweri mit intensivsten Farben charakterisiert.<br />
Übereinstimmungen im AlIgcmeinen und Besonderen zeigen,<br />
wieviel da<strong>von</strong> sich Goethe eingeprägt hat.<br />
Stark ins Auge fällt zunächst der Wechsel <strong>von</strong> Tag und Nacht, und<br />
die Schilderung des jeweiligen Übergangs: dieser Wechsel und Übergang<br />
ist ja in "Sommernacht" ein Hauptrnotiv. Man sieht, nachdem<br />
sich "die Sonne senkt", den "goldnen Purpurflor", wie in den ersten<br />
Versen <strong>von</strong> "Sommernacht" den "goldnen Schimmer", nachdem die<br />
Sonne "niedergangen ist".<br />
Zwischen die beiden Abenddämmerungen stellt Enweri auch das<br />
Erscheinen des Morgens: und hier tritt in dem Gedicht des Persers<br />
Enweri 69<br />
"Aurora" auf: " Au r 0 r a kom m t mit Purpurscheine / Den<br />
B lu m e n sc h m e I z der Fluren übe r g 1 ü h end" heißt es bei<br />
Enweri. Die Verse 45 ff. <strong>von</strong> "Sommernacht" lauten:<br />
Aurora ...<br />
sie kom m t ! wie schnelle!<br />
Übe r B I urne n feld s Gelänge!<br />
... auf rothen leichten Sohlen ...<br />
Vom "Blumenfeld" zu sprechen, dazu scheint Goethe doch hier die<br />
Anregung erhalten zu haben, wo auch sonst so oft <strong>von</strong> "Blumenauen",<br />
vom "Blumenrande", "Blumenh'aine", "Blumen schmelz" , "Veilchenfe<br />
I d" [I] die Rede ist.<br />
Endlich gehört zu Enweris Schilderung der sommerlichen Landschaft<br />
auch die Einbeziehung der Sommernacht : der Sternhimmel<br />
wird mit Ausführlichkeit geschildert. Und hier zeigt sich schon im allgemeinen<br />
eine höchst merkwürdige Korrespondenz: auch bei Enweri<br />
tritt stark und verselbständigt wie in Goethes "Sommernacht" hervor<br />
das Element"Astronomie". Übereinstimmungen gibt es dabei auch im<br />
besonderen. In "Sommernacht" glänzen die Sterne nicht etwa am<br />
dunklen, oder schwarzen Himmel, sondern - viel schöner und dichterischer<br />
- am "blauen" (V. II f.) :<br />
Wenn sie sich einander loben<br />
Jene Feuer in dem BI aue n ...<br />
So sieht aber auch der orientalische Dichter das "Strahlen" der<br />
Sterne "auf bl aue n Aethers Fluren" (Strophe 8), "auf bl aue m<br />
Grunde" (Strophe 9). Die Bezeichnung "Feuer" für Sterne bei Goethe<br />
mag noch verglichen werden mit Strophe JO <strong>von</strong> Enweris Gedicht,<br />
wo Saturn "gleich einer La m p e strahlt". In Strophe II fällt auf,<br />
daß <strong>von</strong> einem "Zauberer" die Rede ist, der die Stetne ("Lichtgestalten")<br />
"sich in Her r 1 ich k e i t entfalten", und zwar "w e c h<br />
sei n d" entfalten läßt. Der "Zauberer" ist das Firmament. Bei
70 Quellen zu "Sommernacht"<br />
Goethe tritt Gott in gleicher Funktion auf: er, vor dem "alles her r -<br />
1 ich [!]ist", gibt den Sternen bald helleres, bald dunkleres Licht<br />
(V. 13 ff.):<br />
Und das hellste will nur sagen:<br />
Jetzo glänz' ich meiner Stelle,<br />
Wollte Gott euch mehr beta gen,<br />
Glänztet ihr wie ich so helle.<br />
Denn vor Gott ist alles her r 1 ich .. :<br />
An Goethes Worte (V. 31 ff.):<br />
Bis ich erst des N 0 r d g e s t i r n e s<br />
Z will i n g s - Wen dun g erst erpasse.<br />
Und da wird es Mit t ern ach t seyn . . .<br />
erinnert bei Enweri (Strophe 8) der "Chor" <strong>von</strong> Sternen, die sich<br />
"im Tanz um den Pol gewunden". "Leichte Tritte" hat dieser Chor,<br />
wie Goethes Aurora auf "leichten Sohlen" kommt. Der Tanz der<br />
Sterne um den Pol (bei Goethe sind gemeint Großer und Kleiner<br />
Bär) bezeichnet in beiden Gedichten den Eintritt der Nacht, ja der<br />
"Mitternacht": die "zwölfte Stunde" wird auch bei Enweri gleich im<br />
Anschluß erwähnt (Strophe 9)!<br />
Enweri<br />
Zur Fahrt nach Bagdad mich bereit zu halten;<br />
Da plötzlich rauscht' es leis auf meiner Schwelle:<br />
Ich sah mein Mädchen, wie A u r 0 r a schön,<br />
Wenn sie erwachend grüßt die stillen Höhn.<br />
12.<br />
Doch läßt sie, ach I verstört: mit düste rn Blicken<br />
Die Rosenfinger grausam schmähend wüthen<br />
Auf zarter Wang', und ohne Rast zerpflürken<br />
Der Hyazinthen-Lorken duft'ge Blüthen.<br />
Die Perlenzähn e b~ l?ure n drürken<br />
Auf frischer Lippen süße Purpurblüthen,<br />
Da <strong>von</strong> Narzissen-Augen Thränen sinken,<br />
Die auf dem Haar wie Thau an Gräsern blinken.<br />
13·<br />
So kannst du , ruft sie, g rau sam mi c h ver las sen I<br />
Dich fühllos gar der Liebe Arm entreißen!<br />
So könnte ja mich selbst mein Feind nicht hassen,<br />
Ist das die Trcu, die du so hoch verheißen?<br />
Mich willst .du ganz den Qualen überlassen,<br />
Des Glürkes duft'gen Blüthenkranz zerreißen?<br />
0, bleib zurürk l Sieh meine heißen Zähren,<br />
Laß mich die 6üßen Blirke nicht entbehren!<br />
14·<br />
Wie magst du dicses Z e I t e s schützend Dach<br />
Vertauschen mit dem Wald in Sturm und Nacht?<br />
71<br />
Der Dichter beschließt, 1web Dagdad ZI/. reisen. Da besucht ihn seine Geliebte, die<br />
mit Aurora verglichen wird. Sil1 ist vcrzwei/ell , Hagt vorwurfsvoll, daß der Freund<br />
sie verlassen will, bäll ibm die Bescbwerclen der Reise vor und propbezeit, m,zn<br />
werde den Dichter in Bagdad Ilicbt zu sc/Jiitzen wissen; Strophe II bis 16.<br />
Indeß das Firmament die Lichtgestalten<br />
Im Spiele, wie ein Zaubrer, leicht und schnelle<br />
I n Her r I ich k e i t sich wechselnd heißt entfalten,<br />
Schirkt' ich mich an, mit e r s t e r M 0 r gen hell e<br />
II.<br />
Abermals schildert Enweri eine Morgendämmerung. Wieder erscheint<br />
eine "Aurora", diesmal die Geliebte des Dichters. Wie die<br />
Situation .der Verlassenen bei Enweri ausführlich dargestellt wird,<br />
das scheint doch bei Goethe zu dem Bild der "Strohwitwe" Aurora<br />
geführt zu haben. Auch hier zeigt sich Übereinstimmung: bei Goethe<br />
"entläuft" Hesperus "mit der Sonne", bei Enweri bricht der Dichter<br />
"mit erster Morgenhelle" auf - das wird in den nächsten Versen , die<br />
wir nun betrachten, noch ausgeführt.
72 Quellen zu "Sommernacht"<br />
Der Dichter vertröstet seine Geliebte auf das Wiedersehn bei seiner Rüclekehr.<br />
Ehrgeiz treibt ihn jetzt fort; Strophe 17 f.<br />
18.<br />
So mußte sie gerührt, besänftigt scheiden,<br />
Doch schon erb I ich der S 0 n n e Z i t t ern d L ich t ,<br />
Den Himmel kam im fernen Ost bekleiden<br />
Ein Si I b e r s t r e i f, der zart durch Wolken bricht;<br />
A u r 0 rag i eng dan n auf, verhüllt, bescheiden,<br />
Im Rosenflor ihr strahlend Angesicht.<br />
Dem Sklaven gleich, des Winkes schnell gewärtig,<br />
Macht ich mich nun sogleich <strong>zum</strong> Aufbruch fertig.<br />
Die Sonne gibt dem Dichter "den Wink" <strong>zum</strong> Aufbruch, dem er<br />
"Sklaven gleich" Folge leistet. Wirklich "entläuft" also der Dichter<br />
seiner Aurora "mit der Sonne". Die Ähnlichkeit dieses bei Enweri so<br />
stark betonten Zuges mit Goethes Aurora-Hesperus-Mythos ist augenfällig.<br />
Immer wieder schildert Enweridie Morgendämmerung, das<br />
, Zwischenstadium zwischen Tag und N acht, das auch in "Sommernacht"<br />
die Grundsituation bildet. Und noch mals tritt hier die echte<br />
Aurora als Verkörpemng der Morgenröte auf, der antike Name 1m<br />
persischen Bereich.<br />
Reise nach Bagdad. D er Dichter wird dort, wie: seine Aurora vorausgesehen, enttäuscht.<br />
Er findet keinen Anklanf!., selbst 17icbt mit einem Loblied auf den König;<br />
Strophe 19 bis 25· S(!ine Geliebte besucht ibn in /J(l f!.dad, wirft ihm seine Treulosigkeit<br />
vor; Stropbe 26 bis 2.1.<br />
26.<br />
So klagt' ich unmuthsvo ll , dem Spott cin Ziel,<br />
Einsam durchwachend ma nchc stille Nacht,<br />
Als ein e s M 0 r ge n s, da dcr Weste Spiel<br />
Mit Balsamduft die Sinn cn trunkcn macht',<br />
Und sanfter Schlummer thauend auf mich fiel,<br />
Von zärtlichcr Berührung ich erwacht'.<br />
Die Augen öffnend, noch <strong>von</strong> Schlaf befangen,<br />
Sah ich mein M ä d ehe n mit den R 0 sen w a n gen.<br />
Enweri 73<br />
Wie in "Sommernacht" Aurora den Hesperus frühmorgens "einzuholen<br />
eilt" (V. 51), so verfolgt bei Enweri das mit Aurora verglichene<br />
Mädchen den Dichter; zur Morgenzeit steht sie plötzlich vor<br />
ihm "mit den Rosenwangen", wodurch wieder auf den Aurora-Vergleich<br />
angespielt ist.<br />
Enweris Gedicht endigt damit, daß der Dichter durch seine Geliebte<br />
wegen seiner bisherigen Fehlschläge getröstet und zu einem<br />
neuen Loblied auf den König ermuntert wird. Das Lied - die letzten<br />
sechs Stanzen in der Übersetzung - weist die typischen Merkmale der<br />
Panegyrik auf.<br />
Was es für Gocthc bedeutete, in den Dezembertagen <strong>von</strong> 1814 dem<br />
Enweri-Gedicht zu begegnen, läßt sich nun klar erkennen. Es gab<br />
seiner dichterischen Phantasie Nahrung und lenkte sie in eine bestimmte<br />
Richtung. Die Schilderung eines orientalischen Sommers mit<br />
all seinem Zauber versetzte ihn in die Stimmung, selbst ein orientalisierendes<br />
sommerliches Gedicht zu schreiben mitten in trüber nordischer<br />
Winterzeit . .Jenes Rätsel um die Entstehung <strong>von</strong> ;,Sommernacht"<br />
klärt sich damit auf. Das so intensiv jahreszeitlich gefärbte Gedicht<br />
kam - wie kaum anders zu erwarten - nicht ohne besonderen Anlaß<br />
zustande. Ein großer persischer Dichter war der Vermittler, er Jud<br />
Goethe ein in seine sonnige Welt. 50)<br />
Gerade <strong>von</strong> der hellen, sommerlichen Atmosphäre des Enwerischen<br />
Gedichts ging offenbar eine spezielle Anziehungskraft aus. Man weiß,<br />
wie Goethe sich vor negativen Eindrücken - Trauerveranstaltungen,<br />
Beerdigungen etc., aber auch tristen Büchern - zu bewahren wußte.<br />
Entsprechend willig suchte er auf, was positiv machen konnte. So<br />
50) Für Enweri hatte Gocthc eine ausgesprochene Vorliebe. Mehrere Kapitel der<br />
Noten und Abhandlungen befassen sich, wie neuerdings festgestellt wurde, mit<br />
einer Verteidigung Enweris gegen Hammers Kritik in der Geschichte der schönen<br />
Redekünste Persiens. Vgl. <strong>Katharina</strong> <strong>Mommsen</strong>, Goethe und Diez. Quellenuntersuchungen<br />
zu Gedichten der Divan-Epoche (Sitzungsbericht der Deutschen<br />
Akademie dcr Wisscnschaften zu Berlin. Klasse für Sprache, Literatur und<br />
Kunst Jahrg. 1961. Nr. 4) S. 44- 47.
74 Quellen Zu "Sommernacht"<br />
Enweri<br />
75<br />
griff er gern, wenn winterliche Depression übermächtig zu werden<br />
drohte, zu besonders erfreulichen, lichtvollen Büchern. Homer, Tausendundeine<br />
Nacht - solche Lektüre bedeutete ihm dann eine willkommene<br />
Hilfe. In dieser Weise mag auch Enweris Gedicht gewirkt<br />
haben: die Phantasie erheiternd und damit produktive Kräfte freimachend.<br />
Im übrigen war überhaupt die erste Begegnung mit den Fundgruben<br />
des Orients damals ein beglückendes Ereignis. Da<strong>von</strong> zeugen<br />
die mannigfachen in folge dieser Begegnung entstandenen Gedichte,<br />
zu denen auch "Sommernacht" gehört. Alles, was wir an literarischen<br />
/Anregungen für "Sommernacht" feststellen konnten : Sunna, Pend<br />
i Nameh, H~mmers astronomischer Aufsatz, El,1weris._Gecfi~ht; stand<br />
I · . . -_. -..<br />
i Ja 10 den Fundgruben. "So haben mich die Fundgruben unbeschreib-<br />
I lieh aufgeregt und alles was im Sinn und Gedächtniß veraltet war<br />
wieder belebt und erneut." Das schrieb Goethe später im Rückblick<br />
auf die Epoche, mit deren Anfängen wir uns gerade befaßten. 51)<br />
Goethe las Enweris Gedicht mit hungrigen und dankbaren Augen,<br />
dazu mit jenem fabelhaften Gedächtnis des Eidetikers, dem nichts<br />
Bezeichnendes, Wesentliches verlorengeht. Mit meisterlichem Griff<br />
wählte er das Beste, Essentiellste aus, um es in seinem Gedicht zu<br />
verwerten. Nur den Schmelz des Ganzen schöpft er ab.<br />
Dabei sind es nicht ausschließlich Stimmungsclemente, die Goethe<br />
sich zunutze macht. Enweri brachte ihm auch Ideen, wie die, <strong>von</strong> der<br />
"Strohwitwe" Aurora zu sprec~en. In diesem Zusammenhang sei<br />
noch auf die Übereinstimmung hingewiesen, daß bei Enweri wie bei<br />
Goethe gleicherweise im Gedicht ein Zwiegespräch stattfindet, und<br />
zwar das Gespräch zwischen einem "Dichter" und einer ihm befreundeten<br />
jugendlichen Person. In bei den Gedichten sieht diese Person<br />
bewundernd, verehrend zu dem Dichter auf als zu einem großen<br />
Weisheitslehrer. Das zeigt sich bei Enweri in einer Strophe, die wir<br />
hier nachtragen.<br />
51) Entwurf <strong>zum</strong> Abschnitt "Von H ammer" der Noten und Abhandlungen; WA I 7,<br />
302; Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 128.<br />
Ihr Bitten und Beschwören, sie doch nicht Zu verlassen, nicht nach Bagdad Zu gehen,<br />
begründet die Geliebte des Dichters so:<br />
16.<br />
Und wie mag man nach Würden dort dich ehren,<br />
Wo dir an W eisheit keiner zu vergleichen?<br />
Selbst Plato müßte horchen deinen Lehren;<br />
Und wessen Geist in Ostens weiten Reichen<br />
Ergründet so wie du den Lauf der Sphären?<br />
Selbst Ptolcmäus Ruhm muß deinem weichen;<br />
Ist doch kein Weiser hier im Orient,<br />
D er deiner Füße Staub nicht köstlich nennt.<br />
Das Verhältnis zwischen dem Dichter und seiner Freundin trägt<br />
hier ganz ähnliche Züge wie das zwischen Dichter und Schenken in<br />
"Sommernacht". Ein pädagogisches Element zeigt sich auch bei Enweri.<br />
Der Dichter ist zugleich ein großer Lehrer. Dabei verdient es<br />
bemerkt zu werden: auch an Enweris "Dichter" werden Mathematik<br />
und Astronomie als Hauptgebiete seiner Gelehrsamkeit hervorgehoben.<br />
Hierauf zielt der Vergleich mit Ptolemaios. Wie eng berührt<br />
sich das, nach allem, was wir sahen, mit der Situation <strong>von</strong><br />
"Sommernacht" !<br />
Es kommt nun nicht so sehr darauf an, wie wir die Übereinstimmungen<br />
zwischen Enweri und Goethe im einzelnen zählen, messen,<br />
bewerten. Wesentlicher ist die Erkenntnis: in der Gesaintstimmung<br />
<strong>von</strong> "Sommernacht" schwingt viel <strong>von</strong> Dank mit an diesen großen<br />
persischen Dichter.<br />
Wie Goethe in "Sommernacht" die verschiedensten Eindrücke aus<br />
Lektüre und Leben zu einer Einheit verschmilzt, das ist eine Leistung,<br />
die so nur ihm gelingen konnte. Durch die Quellenanregungen vor<br />
allem erhält das Gedicht jene Mannigfaltigkeit, die man an ihm bewundert,<br />
die Ausweitung ins W elthaltige und Kosmische. Aber das<br />
kosmische Gedicht ist 2ugleich ein Kosmos. Was entstand, war kein<br />
Konglomerat, kein formloses Quodlibet, sondern ein geordnetes<br />
Ganze. Darin unterscheidet sich "Sommernacht" <strong>von</strong> andern, ähnlich<br />
aus verschiedenen Elementen zusammengebauten Divan-Gedichten;
76<br />
Quellen zu "Sommern acht"<br />
in ih~en zeigt si~h die Form des Aggregats, der locker gefügten Reihung.<br />
·) Auch dIese Form handhabte Goethe ml't " M .<br />
ch e10Zlger elsters<br />
:ft. In .bewußter Anlehnung an orientalische Vorbilder schuf er<br />
dann<br />
.<br />
GedIchte<br />
. '.<br />
<strong>von</strong> hohem Reiz<br />
.<br />
In<br />
"<br />
Sommernacht" d<br />
agegen<br />
. E'<br />
1st 10-<br />
helt errel~ht. NIcht dIe schlichte Einheit allerdings, wie sie etwa der<br />
Verfolg etnes erzählerischen Fadens ergibt. Vielmehr l·st d· E'<br />
h' . es le Inelt<br />
e1Oe~ Kosmos, in dem alles einzelne, so verschieden es untereinand~r<br />
se10 mag, letztlich organisch gefügt und strukturell verbunden<br />
1st.<br />
1) Beispiele: "Hör' und bewahre / Sechs Li ebespaare" ,.<br />
verlange".<br />
"Nur wenig ist's was ich<br />
"HERR! LASS DIR GEFALLEN .. "<br />
Herr! laß dir gefallen<br />
Dieses kleine Haus,<br />
Größre kann man bauen,<br />
Mehr kommt nicht heraus.<br />
Eine Quelle zu diesem Gedicht, das dem Buch der Sprüche angehört,<br />
ist bisher ni cht bekannt. Christian Wurm, der erste Kommentator<br />
des ~ es t -öst li chen Divan, wies nur allgemein auf den orientalisierenden<br />
Charakter des Vierzeilers hin :1)<br />
"Die Persischen D ichter bedienen sich häufig des Gleichnisses eines Hauses <strong>von</strong><br />
ihren Gedichten. So Snadi in seinem Baumgarten, Vorrede: Nachdem ich dieses<br />
ansehnliche Haus :1ufzubauen begunnte, habe ich darin zehn lehrreiche Pforten (d. i.<br />
Bücher oder Ablhcilungen) verfertiget."<br />
Hiernach bestimmte sich die Auffassung des Gedichts bei späteren<br />
Interpreten. Lange bevor es durch Veröffentlichung eines Goetheschen<br />
Briefs an Kosegarten evident wurde, daß mit dem kleinen<br />
Haus auf die Divan-Dichtung angespielt ist,2) hatte Wurm schon die<br />
richtige Deutung gegeben. Seltsamerweise entging es seiner Aufmerksamkeit,<br />
daß Saacl is Bustan (Baumgarten), aus dessen Vorrede er<br />
zitiert, an anderem Ort auch die Quelle zu Goethes Gedicht enthält.<br />
Es handelt sich um eine kleine Geschichte, die sich am Ende des<br />
6. Buchs findet: :J)<br />
1) A. a. O. S. 155.<br />
2) V gl. unten S. 83.<br />
3) In der <strong>von</strong> Goethe benutzten, weiter unten <strong>von</strong> uns genannten Übersetzung: S.72.
78<br />
"Herr 1 laß dir gefallen"<br />
E j n e r i s t mit e in e m k lei n e n Hau s e z u f r i e den.<br />
Mir ist erzehlct / daß einmahl ein frommer Mann gewesen / der ein Hauß nach<br />
d e~ Maaß seiner Länge bauen lassen / weßhalber ein ander Zu ihm sprach : Ich<br />
":CIß / daß du ein reicher Mann und gutes Vermögens bist / warum lästu denn<br />
~ I cse Wohnung nicht w e i t e run d h ö her bau e n? Jener antwortete : D i ß<br />
I s t v o r .. m ich gnu g I aus was Ursache solte ich mich dann b',mühen / diß<br />
Ha u s h 0 her auf f z u f ü h ren / oder außzuziehren? Die s e F 0 r m ist<br />
J a g nug darinnen zu wohne n / und dasselbe wied e r z u<br />
ve r l as sen. Bauet kein Haus auff ein fli eßend Wasser I denn niemand wird es<br />
vollführen. Es ist keine Weißheit / und kompt mit der Lehre der Verständi"cn<br />
nicht überein / ein Haus an den Weg zu bauen / denn ein solches leidet viel Anst~ß.<br />
Goethes Gedicht faßt den Inhalt <strong>von</strong> Saadis Geschichte zusammen.<br />
Vers für Vers sind die Übereinstimmungen mit der Vorlage zu erkennen.<br />
1. Das entscheidende Motiv: Zufriedenhei t mit dem kleinen Haus<br />
findet sich bei Saadi schon in der Kapitelüberschrift. In der Vorlaae<br />
ist diese mit schönen großen Lettern fett gedruckt. 0<br />
2. Wenn Goethe das Gedicht mit dem Anruf beginnt: "Herr! laß dir<br />
gefallen". und ihm dadurch quasi einen religiösen Hintergrund gibt,<br />
so entsprIcht das auch dem Eingang der Geschichte bei Saadi wo es<br />
heißt: "Es war einmal ein fr 0 m m e r Mann", der ein Hau: bauen<br />
ließ.<br />
3· Vers 3 lautet in Goethes Gedicht : "Größre kann man bauen." Auch<br />
b~i Saadi ist da<strong>von</strong> die Rede., daß der Bauherr das Haus "weiter und<br />
hoher bauen", bzw. "höher aufführen" könnte. Ausdrücklich wird bei<br />
Saadi darauf hingewiesen, daß der Bauherr "reich" ist, daß er "gutes<br />
Vermögen" hat. Goethes Vers "Größre kann man bauen" setzt in<br />
ähnlicher Weise Reichtum und Vermögen vOraJus, nur daß da<strong>von</strong><br />
- ebenso wie in Saadis Geschi chte - kein Gebrauch gemacht wird.<br />
4· Auch die Schlußwendung <strong>von</strong> Goethes Gedicht hat ihre Parallele<br />
in der Saadi-Geschichte. "G rößre kann man bauen, I Me h r kom mt<br />
"Herr 1 laß dir gefallen" 79<br />
nie h t her aus", so endet das Gedicht. Der fromme Bauherr<br />
Saadis bringt das gleiche Argument vor. Die Form des Hauses ist ja<br />
"gnug darinnen zu wohnen, und das sei b e wie der z u verlas<br />
sen ". "Mehr kommt nicht heraus" (Goethe) - "und dasselbe<br />
wieder zu verlassen" (Saadi) -: wir sehen, wie in beiden Texten das<br />
Motiv des Herausgehens aus dem Hause am Ende steht.<br />
Es läßt sich nun auch die Schlußpointe in Goethes Gedicht noch<br />
genauer verstehen. Bei dem Wort "Mehr" (V. 4: "Mehr kommt nicht<br />
heraus") ist an den Bewohner des Hauses gedacht. Dieser geht immer<br />
als derselbe zur Tür heraus, ob er sein Haus größer oder kleiner baut.<br />
Er wird nicht "mehr" dadurch, daß er etwa sein Haus vergrößert.<br />
Das Divan-Gedicht erinnert hier an die Worte des Mephistopheles<br />
1m "Faust":<br />
Du bist am Ende - was du bist.<br />
Setz' dir Perrücken auf <strong>von</strong> Millionen Locken,<br />
Setz' deinen Fuß auf ellenhohe Socken,<br />
Du bleibst doch immer was du bist.<br />
Deutet man das G leichnis vom kleinen Haus auf den Divan, so<br />
ergibt sich etwa: in den Gedichten, dem "Haus", wohnt ein bestimmter<br />
Geist, an ,dem sich grundsätzlich nichts mehr verändert, auch wenn<br />
die Anzahl der Gedichte noch vergrößert würde. 4) -<br />
Das Gleichn is gibt dem Gedicht etwas vom Charakter einer orientalischen<br />
D emutsformel. Doch verbirgt sich in der metaphorischen<br />
Einkleidung auch Selbstbewußtsein, Stolz auf das Erreichte. Goethe<br />
konstatiert, daß der Divan seinem geistigen Gepräge nach ausgereift<br />
~) Beutler (a. a. O. S. 537 f.) faßt die Schlußpointe des Gedichts anders auf. E r<br />
gibt ihr den Sinn: "Wie der Mensch sich auch mühen möge: ,Mehr kommt nicht<br />
heraus.'" Unter Bezugnahm e auf V. 68 ff. <strong>von</strong> "Vermächtnis altpersischen Glaubens"<br />
interpretiert er weiter: "Gott gegenüber bleibt alles irdische Lobsingen<br />
Stammeln. ,Mehr kommt nich t heraus.'" Das ist ein herangetragener Gedanke,<br />
<strong>von</strong> dem im Text ni chts steht. Durch den Vergleich mit der Quelle läßt sich der<br />
Sinn <strong>von</strong> V. 4 genauer bestimmen.
80 "Herr! laß dir gefallen"<br />
ist. Darum kann er bestehen, auch wenn sein äußerer Umfang noch<br />
"klein" ist. Der Blick, den der Dichter so auf sein Werk wirft, setzt<br />
ein gewisses Stadium der Abgeschlossenheit, der Vollendung voraus.<br />
Damit stimmt überein, was sich bezüglich der Entstehungszeit des<br />
Gedichts sagen läßt.<br />
Saadis Bustan las Goethe in einer deutschen Übersetzung, die der<br />
"Colligirten und viel vermehrten Reise-Beschreibung" des Adam<br />
Olearius, Ausgabe Hamburg 1696, anhangsweise beigegeben war. 5)<br />
Goethe entlieh dies Buch erstmals aus der Weimarer Bibliothek vom<br />
II. März bis 1. April 181;. Durch die Entleihungsdaten ist auch die<br />
Zeit der Konzeption <strong>von</strong> "Herr! laß dir gefallen" bestimmt. Das Gedicht<br />
enstand zweite Hälfte, wenn nicht Ende März 181;.6)<br />
Ende März 181; war Goethe mit der Arbeit am Divan tatsächlich<br />
in eine Phase gekommen, die ihm erstmals einen Blick auf das vorhandene<br />
Ganze ermöglichte, wie er in "Herr! laß dir gefallen" getan<br />
wird. Die Gedichtsammlung, an der er seit Sommer 1814 arbeitete<br />
- sie trug damals noch den Titel "Deutscher Divan" -, war jetzt<br />
etwa auf den Bestand angewachsen, wie ihn das "Wiesbadener Register"<br />
<strong>von</strong> Ende Mai 181; skizziert. Eine entscheidende Erweiterung<br />
hatte sich ergeben, nachdem Goethe seit Dezember 1814 über Hafis<br />
hinaus auch andere orientalische Literatur für sein Werk in Betracht<br />
gezogen hatte. Bis März 1815 war durch Lektüre und daraus sich ergebende<br />
Produktion der Kreis abgesteckt, der dem endgültigen Charakter<br />
des Divan im großen und ganze n entsprach.<br />
5) Die Bustan-Übcrsetzung is t nnonym, C\lIS dem Holl ändischen.<br />
6) Die herkömmliche Datierung lnutet:: vor 26. Januar 1815. Daß sie unrichtig ist,<br />
wird durch den Quellennachweis ev ident:. Das oben genannte Entleihungsdatum,<br />
der II. März 1815, ist notwendi g Terminus a quo. Keine der übrigen <strong>von</strong> Goethe<br />
aus der Weimarer Bibli othek entli ehenen Saadi-, bzw. Oleariusausgaben enthielt<br />
den Bustan, auch nicht etwa das am 8. Januar 1815 entliehene "Persianische Rosenthai"<br />
Saadis, übersetzt <strong>von</strong> Olcarius, Schleswig 1654. - Die Datierung: vor<br />
26. Januar 1815 beruht auf irrtümlichen Auffassungen über eine Handschrift,<br />
wo<strong>von</strong> wir im vorletzten Abschnitt dieser Studien weiter zu sprechen haben.<br />
(V gl. unten S. 109 H.)<br />
"Herr! laß dir gefallen" 81<br />
Im März 181; trat eine Stockung ein. Etwa um den 6. März herum<br />
befiel Goethe ein "böser Katarrh" (Tagebuch), der ihn viele Wochen<br />
am Arbeiten hinderte. 7) Einige Zeit vermochte er, sich gegen die<br />
Krankheit zur Wehr zu setzen und produktiv zu bleiben. So entstand<br />
noch am 13. und 14. März das "Vermächtnis altpersischen Glaubens",<br />
mit dem wieder ein neuer Bereich für die Divan-Dichtung erschlossen<br />
war. Dann aber kam ein völliger Stillstand. 8) Bis zur Abreise<br />
nach Wiesbaden (24. Mai) wurde am Divan kaum noch etwas getan,<br />
im April und Mai wandte sich Goethe, noch unter den Nachwirkungen<br />
der Krankheit leidend, leichteren Arbeiten zu, der Italienischen<br />
Reise und einigen Aufsätzen über Themen der Literatur.<br />
In dieser Zeit der Stockung, Ende März bis Mitte Mai 181;, stellte<br />
Goethe Betrachtunge n an über das bis dahin für den Divan Geleistete.<br />
Jetzt war es ihm erstmals möglich, über den "Sinn des Ganzen"<br />
zu reflektieren, er konnte dem Freunde Zelter da<strong>von</strong> erzählen, 9)<br />
dem Verleger darüber berichten, Am 16. Mai 18i; skizzierte er Inhalt<br />
und Charakter des Werks für Cotta, ohne sich doch entschließen zu<br />
können, diese Skizze abzusenden. 10) Offenbar wollte er noch nichts<br />
unternehmen, was einen Abschluß näher rückte. Sowohl dem Verleger<br />
als auch Zclter gegenüber sprach er ausdrücklich <strong>von</strong> der Absicht,<br />
die vorliegenden "ungefähr hundert" Gedichte noch ~u vermehren.<br />
Unter ,dem Titel "Des deutschen Divans mannigfaltige Glieder"<br />
hält dann das "Wiesbadener Register" vom 30. Mai 181; die vorläufige<br />
Gestalt des Ganzen fest.<br />
In diese Periode des Reflektierens und Planens fällt unser Gedicht.<br />
Gerade als Goethe begann, den Divan erstmals als Organismus an-<br />
7) Vgl. Goethe an Knebel, 22. April 1815: "Mein vierwöchentlicher Katarrh hat mich<br />
in allen Dingen se hr retardirt." (WA IV 25, S. 279.)<br />
8) Vgl. Goethe an K nebel, 5. April 1815: "Ich muß .. . dir anzeigen, daß ich <strong>von</strong><br />
dem schrecklichsten Katarrh , der mich schon seit vier Wochen, unter hundert<br />
Formen, quält, mich endlich zu erholen anfange. Ich habe leider die Zeit über,<br />
weder nach außen noch innen, etwas geleistet." (WA IV 25, S. 251.)<br />
D) Goethe an Zelter, 17. Mai 1815. (WA IV 25, S. 333.)<br />
10) Goethe an Cotta, nicht abgesandtes Konzept, 16. Mai 1815. (WA IV 25, S. 414 H.)<br />
6 <strong>Mommsen</strong>, Divan-Studien
82 "Herr I laß dir gefallen"<br />
zusehen, über Abschluß und Vermehrung nachzudenken, Umfang<br />
und Drsposition, aber auch die geistige Struktur des Werks zu erwägen,<br />
gewann die Saadi-Geschichte <strong>von</strong> dem ErbaJUer des kleinen,<br />
bescheidenen Hauses sein Interesse. Auch <strong>von</strong> seinem dichterischen<br />
"Haus" konnte er nun feststellen, daß der bescheidene erreichte Umfang<br />
genügen durfte. Es ließ sich noch vergrößern, gewiß, aber da<strong>von</strong><br />
wurde der "Sinn des Ganzen" nicht mehr entscheidend beeinflußt.<br />
Das geistige Gepräge des Werks stand fest, in dieser Hinsicht war<br />
ein "mehr" anscheinend kaum noch zu erwarten.<br />
Wie all solche Überlegungen in den Versen ihren Ausdruck fanden:<br />
Größre kann man bauen,<br />
Mehr kommt nicht heraus,<br />
das hat noch unverkennbar einen gewissen Ton des Unmuts an sich.<br />
Offenbar klingt hier die hypochondrische Stimmung der ersten Krankheitswochen<br />
mit. l1) Sie mochte Goethe zunächst auf den Gedanken<br />
bringen: zur Not könnte man das Werk auch abschließen, das Wesentliche<br />
daran ist getan.<br />
Überhaupt hat der Vierzeiler vom kleinen Haus alle Eigenschaften,<br />
die ihn zu einem Abschlußgedicht für den Divan hätten geeignet erscheinen<br />
lassen. Nur dem Umstand, daß bereits ein anderes Gedicht<br />
vorhanden war, das sich noch besser für den Ausklang des Werks<br />
eignete ("Nun so legt euch, liebe Lieder"), ist es wohl zu verdanken,<br />
wenn in der Anordnung de s "Wiesbadener Registers" nicht "Herr!<br />
laß dir gefallen" den Schluß des "Deutschen Divan" bildete.<br />
Ein Zeugnis aus späterer Zeit bestätigt, wie geeignet Goethe gerade<br />
dies Gedicht für den Schluß des Ganzen erschien. Als er im Juli 1819<br />
die letzten Druckbogen des Divan revidierte, richtete er an seinen<br />
bewährten Helfer, den Jenaer Orientalisten Kosegarten folgende Anfrage<br />
(16. Juli 1819): 12)<br />
11) "Verzeihung meiner catharralischen Hypochondrie", lautet das Nachwort eines<br />
Briefs an C. G. v. Voigt <strong>von</strong> E nde März oder Anfang April 1815 . (WA IV 25,<br />
S. 247.) .<br />
12) Goethe an Kosegarten, 16. Juli 1819. (WA IV 31, S. 230 f.)<br />
"Herr! laß dir gefallen" 83<br />
"Ew. Wohlgeboren übersende einstweilen ein Exemplar [des Divan]<br />
zu geneigter Beachtung, die letzten Bogen folgen zunächst.<br />
Ganz <strong>zum</strong> Schluß wünschte ich noch einen orientalischen Spruch,<br />
ohngefähr des Inhalts:<br />
Herr laß dir gefallen<br />
Dieses kleine Haus<br />
Auf die Größe kommts nicht an,<br />
Die Frömmigkeit macht den Tempel,<br />
oder wenn Ihnen etwas Schicklicheres einfällt. Mögen Sie vielleicht<br />
heut Abend um 7 Uhr einige Stunden bey mir zubringen."<br />
Wir wissen jetzt, welchem orientalischen Dichter der "Spruch" angehört,<br />
auf den hier angespielt ist. 13) Der Zeitpunkt, zu dem Goethe<br />
wieder auf das Gedicht vom kleinen Haus zurückkommt - er zitiert<br />
es jetzt mit Veränderung der etwas hypochondrischen zweiten Hälfte-,<br />
. ist außerordentlich charakteristisch. Wieder war ein Stadium des<br />
Fertigwerdens erreicht. Ganz ähnlich wie im Frühjahr 1815 betrachtet<br />
der Dichter auch jetzt sein Werk nicht als etwas endgültig Abgeschlossenes.<br />
In den Noten und Abhandlungen kündigt er bereits die<br />
Fortsetzung an. Da meldet sich der alte Gedanke: Goethe möchte<br />
demütig auf die "Kleinheit" des Hauses, und zugleich stoli auf den<br />
innewohnenden Geist hinweisen. Dieser ist <strong>von</strong> den äußeren Ausmaßen<br />
unabhängig, ist stark und lebenskräftig genug. So reicht der vorläufige<br />
Bau aus. Er könnte auch vergrößert werden, damit änderte<br />
sich aber nichts mehr am geistigen Gepräge des Werks.<br />
Die Varianten <strong>von</strong> V. 3 und 4 im Brief an Kosegarten nehmen<br />
jeden Zweifel an der Bedeutung der ursprünglichen Fassung. "Mehr<br />
kommt nicht heraus" heißt tatsächlich soviel wie: der Bewohner des<br />
Hauses wird nicht "mehr" durch dessen etwaige Vergrößerung.<br />
:t3) Vgl. H . G. Gräf zu obigem Brief: "Welchem orientalischen Dichter dieser Spruch<br />
angehört, ist mir unbekan nt." (Goethc über seine Dichtungen Irr 2, S. 264·)<br />
6*
84 "Herr! laß dir gefallen"<br />
Wenn in den Varianten <strong>von</strong> "Frömmigkeit" die Rede ist, so ist das<br />
natürlich im wesentlichen metaphorisch gemeint. Es deutet aber auch<br />
zurück auf den Wortlaut der Saadi-Geschichte, die <strong>von</strong> jenem "frommen"<br />
Mann handelt. Goethe war ihr vor kurzem wieder begegnet. Im<br />
April 1819 entlieh er aus der Weimarer Bibliothek wiedemm die Oleariussche<br />
Reisebeschreibung, der Saadis Gülistan und Bustan angehängt<br />
waren. 14) Er entnahm den Saadi-Übersetzungen jetzt die Geschichten,<br />
die zur Charakteristik des Schenkenbuchs im Kapitel "Künftiger Divan"<br />
der Noten und Abhandlungen dienen.<br />
Beim Wiederlesen der Geschichte vom kleinen Haus mag der<br />
Wunsch rege geworden sein, eine ähnlich geeignete Vorlage für Verse<br />
<strong>zum</strong> endgültigen Abschluß des Divan, d. h. der Noten und Abhandlungen,<br />
zu finden. Ein äußerer Umstand verhinderte es abermals, daß<br />
"Herr! laß dir gefallen" den Abschluß bilden konnte. Das Gedicht<br />
war bereits innerhalb des Buchs der Sprüche gedruckt. Offensichtlich<br />
bedauerte Goethe das, daher seine Bitte an Kosegarten um einen ähnlichen<br />
Schluß gedanken.<br />
Gemäß der in Goethes Brief ausgesprochenen Einladung besuchte<br />
Kosegarten den Dichter am Abend des 16. Juli 1819. Dabei überbrachte<br />
er ihm vermutlich das Blatt mit seinen Vorschlägen für ein<br />
Abschlußgedicht, das sich noch heute in G oethes Papieren befindet.<br />
Unter der Überschrift "Sadi sagt" führt Koscgarten hier sieben verschiedene<br />
Sprüche auf.H') Bezeichnenderweise brachte er also Worte<br />
desselben Dichters in Vorschlag, der die Vorlage für "Herr! laß dir<br />
gefallen" hergegeben hatte. Nun ist allerdings Saadi bis in die heutige<br />
Zeit ein Dichter, aus dem man im O rient mit Vorliebe Sentenzart:iges<br />
zitiert. Das mag Koscgartens Wahl bes timmt haben. Doch möchte<br />
man fast glauben, da ß er Saadis Bustan als Quelle <strong>zum</strong> Vierzeiler<br />
vom kleinen Haus erkannt hatte und darum Goethe zuliebe bei diesem<br />
Autor blieb. Einer der <strong>von</strong> Kosegarten vorgeschlagenen Saadi-<br />
H) Die "Colligirte Reise-Beschreibung" , Ausgabe Hamburg 1696, entlieh Goethe<br />
wieder vom 15. April bis 8. Juni 1819.<br />
15) WAl 7, S. 293. Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 280 f.<br />
"Übermüthig sieht's nicht aus" 85<br />
Sprüche wurde dann auch an den Schluß der Noten und Abhandlungen<br />
gestellt.<br />
Einen Nachklang zu unserm Gedicht vom kleinen Haus bilden noch<br />
die bekannten Verse auf das Gartenhaus am Stern, geschrieben kurz<br />
nach Erscheinen des Divan, Ende Januar 1820 :16)<br />
Übermüthig sieht's nicht aus<br />
Dieses kleine Gartenhaus,<br />
Allen die sich drin genährt<br />
Ward ein guter Muth bescheert.<br />
Das Gartenhaus am Stern war so klein, daß Goethe mit seinem<br />
Diener in einem Zimmer schlafen mußte. Es wurden aber darin Iphigenie<br />
und Tasso geschrieben. Auf solcherlei Kontraste spielen die<br />
obigen Verse an mit ganz ähnlicher Mischung <strong>von</strong> Demut und Selbstbewußtsein,<br />
wie sie das Divan-Gedicht vom kleinen Haus charakterisiert.<br />
Abermals werden einander gegenübergestellt: das bescheidene<br />
Ausmaß des Baus und die Gesinnung der Bewohner. Wenn Goethe<br />
im Brief an Kosegarten <strong>von</strong> der "Frömmigkeit" sprach, die "den Tempel<br />
macht", so entspricht dem hier der "gute Mut" derer, die sich in<br />
dem "nicht übermütigen" kleinen Gartenhaus "genährt" haben. Letzten<br />
Endes geht diese Kontrastierung noch immer zurück auf die Geschichte<br />
<strong>von</strong> Saadis frommem Mann, der sich bewußt mit dem kleinen<br />
Haus begnügt.<br />
Die Pointe, daß es auf Geist und Gesinnung der Bewohner, nicht<br />
auf die Größe -des Hauses ankomme, zeigen nochmals vier Verse, mit<br />
denen Goethe das Gedicht auf das Gartenhaus später (1827) erweiterte.<br />
Nun lautete das Ganze:17)<br />
16) WA I 3, S. 135. - Zu der oben gegebenen Datierung: die Verse stehen, mit Bleistift<br />
geschrieben, auf ein er Handschrift, die zugleich die ersten 4 Verse des Gedichts<br />
"Sanftes Bild dem sanften Bilde" enthält. Das letztgenannte Gedicht. entstand<br />
nachweislich Ende Januar 1820.<br />
17) WA I 4, S. 142.
86 "Übcrmüthig sieht's nicht aus"<br />
Übermüthig sieht's nicht aus,<br />
Hohes Dach und niedres Haus;<br />
Allen die daselbst verkehrt<br />
Ward ein guter Muth bescheert.<br />
Schlanker Bäume grüner Flor,<br />
Selbstgepflanzter, wuchs empor.<br />
Geistig ging zugleich alldort<br />
Schaffen, Hegen, Wachsen fort.
VERSE ZUM WIENER KONGRESS<br />
I. "Ve r s eh 0 nun s G 0 t t m i t dei n e m G r im me !"<br />
Im Buch der Sprüche gibt es noch immer eine ganze Anzahl <strong>von</strong><br />
Gedichten, für die sich bisher keine Quelle feststellen ließ. Ein besonders<br />
mißlicher Fall dieser Art liegt vor in den Versen:<br />
Verschon uns Gott mit deinem Grimme!<br />
Zaunkönige gewinnen Stimme.<br />
Auf die alte Fabel vom Adler und Zaunkönig zu verweisen, wie Burdach<br />
es tat, liegt nahe, genügt aber doch nicht, die Besonderheit dieses<br />
Spruchgedichts zu erklären. ehr. Wurm zog eine Stelle aus Diez'<br />
Denkwürdigkeiten <strong>von</strong> Asien heran, wo es im Rahmen einer arabischen<br />
Schrift über "Kriegskunst" heißt :1)<br />
[Über gewisse Arten <strong>von</strong> "tapferen" Soldaten) " .. . Es giebt wieder andere, welche<br />
mit der Zitternadel [E hrenzeichen] am Kopfe, dem Streithammer in der Hand und<br />
Hufeisen und Sporn am Fuß, bald vorne bald hinten rennen und lauten und doch<br />
zu nichts taugen. Diese nennt man Zaunkönigstapfere oder im Türkischen schlechtweg<br />
Zaunkönige."<br />
In diesem Falle ist auch Wurm kein brauchbarer Quellennachweis<br />
gelungen. Für unser Gedicht können diese Sätze nicht die Anregung<br />
gegeben haben. Wir führen die Stelle nur an, weil Wurm sie als die<br />
einzige bezeichnet, in der er "Zaunkönige unter den Morgenländern<br />
genannt gefunden" habe. Nach intensivem Durchforschen der <strong>von</strong><br />
Goethe nachweislich benutzten Orientschriften standen wir vor dem<br />
gleichen Ergebnis: Zaunkönige ließen sich nicht ausfindig machen.<br />
1) H. F. v. Diez: Denkwürdigkeiten <strong>von</strong> Asien. Th. 1. Berlin IBlI. S. 142.
88 Verse <strong>zum</strong> Wiener Kongreß<br />
"Verschon uns Gott mit deinem Grimme"<br />
89<br />
Eine rechte Crux wurde der Fall des Zaunkönig-Gedichts, nachdem<br />
die Weimarer Ausgabe ein Blatt aus den Goetheschen Divan-Papieren<br />
veröffentlichte, das eigentlich eine Lösung des Quellenproblems erhoffen<br />
lassen durfte. Auf diesem Blatt nämlich, das eine Reihe <strong>von</strong> Notizen<br />
enthält, die der Dichter sich aus Chardins Voyages en Perse<br />
machte, steht auch der folgende Satz:<br />
[V]<br />
[VI]<br />
Alles jagt man mit Falcken<br />
Nur nicht das wilde Schwein<br />
~<br />
Persischer Meerbusen Fischerei,<br />
III 44<br />
Nichts so fischreich<br />
~<br />
Zaunkönige gewinnen Stimme.<br />
Hier hatte man offensichtlich den Keim des Gedichts vor sich, und<br />
es mußte als überaus wahrscheinlich gelten, daß Goethe durch Lektüre<br />
<strong>von</strong> Chardins Reisebeschreibung zu der Aufzeichnung angeregt<br />
wurde. Indessen ist es bis heute niemand gelungen, die Quelle bei<br />
Chardin LiU finden. Von Zaunkönigen ist in den Voyages en Perse,<br />
die ,Goethe übrigens sorgfältig studierte, nirgends die Rede.<br />
Dennoch ist es möglich, zu zeigen, wie jene Aufzeichnung <strong>von</strong> den<br />
"Zaunkönigen", die "Stimme gewinnen", zustande gekommen ist.<br />
Wollen wir sie, und damit zugleich die Herkunft unseres Gedichts,<br />
verstehen lernen, so müssen wir die Handschrift genauer betrachten,<br />
<strong>von</strong> der wir sprachen. Auf einem Folioblatt - siehe Abbilduno'<br />
'"<br />
S. 86/ 87 - schrieb Goethe mit Bleistift fol gende Notizen nieder: 2)<br />
[I]<br />
[II]<br />
[III]<br />
[IV]<br />
An Gottes Tisch sitzen Freund und Feinde<br />
Zaunkönige gewin nen Stimme.<br />
'----v--"<br />
Perle<br />
Nahmen III 3I.<br />
~<br />
Carbunkcl<br />
2) Vgl. WAI6, S. 483 f., Paralip. 3j. Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 149, Paralip.138.<br />
Das Folioblatt diente ursprünglich zur Niederschrift des Wochenreper,<br />
toires und Probenzettels für das Weimarer Theater vom 26.-31. Dezember 1814.<br />
Diese war datiert: ,,22. Dezember".<br />
[VII]<br />
[VIII]<br />
Blut [gestr.] Geblüte aus Georgien<br />
und Circassien<br />
Er speist seinen Hunger<br />
Für vier Gedichte des Buchs der Sprüche findet sich auf dieser<br />
Handschrift die erste keimhafte Skizze. Es entstand:<br />
aus Nr. I: "Welch eine bunte Gemeinde!",<br />
aus Nr. II: "Verschon uns Gott mit deinem Grimme!",<br />
aus Nr. V: "Sich im Respect zu erhalten",<br />
aus Nr. VIII: "Will der Neid sich doch zerreißen".<br />
Entsprechend sind Nr. I, II und VIII mit Tinte, Nr. V mit Bleistift<br />
durchstrichen worden, Lium Zeichen der Erledigung.<br />
Das Verständnis der gesamten handschriftlichen Aufzeichn;ungen<br />
ist dadurch beeinträchtigt, daß bislang ihre Herkunft aus Chardins<br />
Voyages en Perse nicht vollständig erkannt wurde. Nur für Nr. III<br />
bis Vln steht sie fest. 3)<br />
Für Nr. I mußte bisher als Quelle gelten eine Partie aus der deutschen<br />
Übersetzung <strong>von</strong> Saadis Bustan, die an die "Colligirte Reise<br />
Beschreibung" des Adam Olearius in der Ausgabe <strong>von</strong> 1696 angehängt<br />
war.4) Wurm hatte hier in der Vorrede <strong>zum</strong> Bustan die Anregung<br />
für das (aus Nr. I geformte) Gedicht "Welch eine bunte Gemeinde!"<br />
3) Die Nachweise für Nr. IV und VII stammen <strong>von</strong> <strong>Katharina</strong> <strong>Mommsen</strong>. Für<br />
Nr. VII findet sich bei Burdach eine unrichtige Stellenangabe (a. a. 0 .) .<br />
") V gl. oben S. 80.
90 Verse <strong>zum</strong> Wien er Kongreß<br />
gefunden. Die späteren Kommentatoren übernahmen diesen Nachweis.5)<br />
Wenn nun der Anfang (Nr. I) der in Frage stehenden Goetheschen<br />
Aufzeichnungen nicht aus Chardin, sondern aus einem anderen Buch<br />
stammte, so war damit zugleich für die ungeklärte Aufzeichnung<br />
Nr. II alles unsicher geworden. Da bei Chardin keine Zaunkönige<br />
vorkommen, konnte mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß Nr. II<br />
ebenso wie Nr. I durch ein anderweitiges Quellenwerk angeregt<br />
wurde; womöglich durch Olearius oder deutsche Übersetzungen <strong>von</strong><br />
Saadis Gülistan und Bustan - jedoch auch dort findet sich nichts Entsprechendes.<br />
Hier aber läßt sich ein Ausweg zeigen, der eine neue Perspektive<br />
eröffnet. Dieselbe Stelle aus der Vorrede zu Saadis Bustan, die Wurm<br />
als Quelle für den Vers: "An Gottes Tisch sitzen Freund und Feinde"<br />
in jener deutschen Übersetzung nachwies, steht auch in französischer<br />
Übersetzung bei Chardin. Innerhalb eines Kapitels "De la Poesie"<br />
brachte Chardin als größeres Musterbeispiel persischer Dichtung die<br />
Vorrede zu Saadis Bustan. Die betreffenden Sätze stehen ziemlich zu<br />
Anfang. Sie lauten: 6)<br />
"Mais encore que Dieu soit en haut, en bas ct aux cotcz,<br />
11 ne ferme a nul des Pecheurs la porte de l'Officc,*<br />
La face de I a t e r r e e s t I a N a p [p] c des c s C r c a t ur e s ,<br />
Eta c e t t eta b I e dei arg e s s e r e gar d e t' 0 n I' a mi 0 u I' e n n e m i. **"<br />
[Zu * bemerkt Chardin: "Lieu OU l'on garde le manger." Zu **: "On re~oit tout<br />
le monde."]<br />
Es kann kein Zweifel sein: dies ist die wirkliche, unmittelbare Vorlage<br />
zu der Aufzeichnung I unseres Exzerptenblattes : "An Gottes<br />
5) Burdach äußert sich bei BcsprcdlUng der Handschrift nicht über die Herkunft<br />
<strong>von</strong> Nr. I (und II). Saadis Bustan in der <strong>von</strong> Wurm angegebenen deutschen<br />
Übersetzung nennt er aber als Quelle für "Welch eine bunte Gemeinde!." in der<br />
Jubiläumsausgabe (Bd. 5, S. 369).<br />
G) In der <strong>von</strong> Goethe benutzten Ausgabe (Amsterdam 1735): Bd. 3, S. 262.<br />
"Verschon uns Gott mit deinem Grimme" 91<br />
Tisch sitzen Freund und Feinde." Nicht zufällig steht dies auf einem<br />
Blatt mit andern Chardin-Notizen zusammen. In Chardins französischem<br />
Text tritt sogar das Spezielle, was Goethe beeindruckt hat, noch<br />
deutlicher in Erscheinung als in der deutschen Übersetzung eines<br />
Anonymus. 7) So ist in letzterer <strong>von</strong> "Tischtuch" (nappe) nicht die<br />
Rede. Das Wort verstärkt aber den bildlichen Eindruck erheblich.<br />
Gleiches ist <strong>von</strong> Chardins Anmerkungen zu sagen. Eine Übereinstimmung<br />
zeigt sich auch darin, daß in der französischen Übersetzung die<br />
entscheidende Wendung "I'ami ou l'ennemi" am Versende steht, wie<br />
"Freund und Feinde" bei Goethe.<br />
Daß Goethe durch Chardins Übertragung zu der Aufzeichnung<br />
"An Gottes Tisch sitzen Freund und Feinde" angeregt wurde, findet<br />
auch noch durch etwas anderes eine Bestätigung. Auf das Kapitel "De<br />
la Poesie", innerha1b dessen die obige Saadi-Partif!' steht, bezieht sich<br />
ausschließlich ein weiteres Blatt mit Goetheschen Exzerpten nach<br />
Chardin. An dem Kapitel fand Goethe offenbar besonderes Gefallen.<br />
So bemerkt er beifällig, es sei darin das "Naturel des Poeten<br />
schoen ausgedrukt."8) Am Schluß dieses Exzerptenblatts findet sich<br />
die Notiz:<br />
Saadi Anfang Chard. III 261.<br />
Das ist ein Hinweis auf die Vorrede <strong>von</strong> Saadis Bustan, dessen<br />
"Anfang" auf der vermerkten Seite steht. Die <strong>von</strong> uns als Vorlage für<br />
An Gottes Tisch sitzen Freund und Feinde" zitierte Partie gehört<br />
"<br />
aber noch <strong>zum</strong> Anfang jenes "Anfangs", sie beginnt mit der 19. Zeile<br />
(S. 262).<br />
Goethe war also auf die Bustan-Vorrede aufmerksam geworden.<br />
Wir können an Hand der beiden Exzerptenblätter verfolgen, welchen<br />
7) In der deutschen übersetzung lautet die Stelle: "Der große GOTT Himmels und<br />
der Erden aber schleust umb der Sünde willen vor niemanden die Gnaden-Thür<br />
zu; Die gegenwärtige und zukünfftige Welt ist ihm als ein Wasser-Tröpflein: Er<br />
schicbet den Vorhang sanfftmüthig zu; Die Erde ist alsdann sein Tisch vor alle<br />
Menschen / worinnen zwischen Freund und Feind kein Unterscheid befindlich."<br />
8) V gl. Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 149 f., Paralip. 139·
92 Verse zu m Wiener Kongreß<br />
Weg er bei seinen Arbeiten einschlug. Im dritten Teil der Chardinschen<br />
Reisebeschreibung interessierte ihn offenbar das Kapitel "De la<br />
Poesie" am meisten, was durch seine Thematik ohne weiteres verständlich<br />
ist. Infolgedessen las er dieses Kapitel vorweg. E s geschah<br />
das vermutlich am 6. Februar 1815. An diesem Tag entstand das ebenfalls<br />
durch Chardins Kapitel "De la Poesie" angeregte Gedicht "Vier<br />
Gnaden".9)<br />
Zu einem späteren Zeitpunkt - vielleicht erst im März 181 5 - kam<br />
Goethe nochmals auf die Stelle zurück, die er sich notiert hatte; er las<br />
jetzt "Saadi Anfang"sorgfältiger und schrieb daraufhin die Skizze für<br />
ein Gedicht nieder: "An Gottes Tisch sitzen Freund und Feinde". Mit<br />
dieser Skizze begann nun ein zweites Exzerptenblatt nach Chardin,<br />
auf dem weiter unten Aufzeichnungen aus andern, vorhergehenden<br />
Kapiteln des drit~n Teils der Voyages ·en Perse zu stehen kamen.<br />
Offenbar war Goethe an ·dem Tag, an dem er diese Aufzeichnungen<br />
machte, in besonders dichterischer Stimmung. In nicht weniger als vier<br />
Fällen, so sahen wir, formten sich die Lektüreeindrücke unmittelbar<br />
zu Gedichtskizzen. Darin unterscheidet sich dies Exzerptenblatt völlig<br />
<strong>von</strong> fünf andern mit Chardin-Notize n angefüllten Blättern, die auf<br />
uns gekommen sind. Hier dienen die N otizen fast ausschließlich der<br />
Gedächtnishilfe und Belehrung: interessante Stel len mit ihren Seitenzahlen<br />
werden festgehalt:en.9a)<br />
Kehren wir zu unserer Frage zurück, vo n woher die Aufzeichnung<br />
Nr. II des uns interessierenden Exzerptenblattes stammt, so kann die<br />
Antwort jetzt nicht mehr schwer sei n: sie muß gleichf~lls auf Chardin<br />
beruhen, da sich nunmehr der gesamte übrige Inhalt des Blattes als<br />
auf diesen Autor bezüglich erweist.<br />
Wir haben oben bei einem ähnlichen Fall gesagt, daß Rätselhaftes<br />
auf Goetheschen Notizblättern sich u. U. durch Beachtung des Nacheinander<br />
in der Handschrift klären läßt.10) Genau dieser Weg führt<br />
9) Goethe entlieh Chardins Voyagcs cn Perse aus der Weimarer Bibliothek 2). Januar.<br />
bis 19. Mai 181). Vgl. unten S. II4.<br />
9 a ) V gl. WA I 7, S. 28) ; Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 146 H.<br />
10) V gl. oben S. 1).<br />
"Verschon uns Gott mit deinem Grimme" 93<br />
uns auch hier <strong>zum</strong> Ziel. Wenn die auf solche Weise gefundene V orlage<br />
zu der Aufzeichnung: "Zaunkönige gewinnen Stimme" etwas<br />
anders aussieht, als man zunächst er·wartet, so wird uns das nicht<br />
wundernehmen. Wäre sie <strong>von</strong> einfacherer Beschaffenheit, so hätte sie<br />
nicht so lange verborgen bleiben können.<br />
Lesen wir unmittelbar ansch ließend an die Partie aus der französischen<br />
Übersetzung der Bustan-Vorrede <strong>von</strong> Saadi, welche die Aufzeichnung<br />
Nr. I eingegeben hat, weiter, so treffen wir sehr bald auf<br />
die Vorlage <strong>von</strong> Aufzeichnung Nr. II unseres Exzerptenblatts. Es<br />
heißt darin - auf derselben Seite 262 des dritten Teils <strong>von</strong> Chardin,<br />
aus der wir oben zitierten -:<br />
"E t ace t t eta b I e dei arg c s s c r e ga r cl c t' 0 n I ' a m i 0 u I' c n n e m i.<br />
Que si quelque malfaisant etoit saisi par sa ma in victoricuse,<br />
Qui est ce qui se tireroit sain et sauf d e I a m ai n des a c 0 I e r e ?<br />
Tous les etres, <strong>von</strong>t parfaisant ses ordres<br />
Tant Fils des H ommes, qu'Oiseaux, Fourmis ct MOllches,<br />
Et a l a t a b I e des a b ci: n ci: f i c e a I'hellre dll ma nger<br />
L'Oiseau SIMOURG vient du munt de Kaf prcndrc sa refection ...<br />
[Es folgen nun antithetische Beispiele vom Zorn und der Milde Gottes.]<br />
Si pour r e v e i Il e r s a c r a i n te dans !es ames i I t ire I' c p e e<br />
de sajLlst i ce,<br />
Les An g e s qui en sont les Mi n ist r es d e v i e n n e n t SOLI r d s<br />
et mLl ets;<br />
Mais s'il profere Lln 0 c t r 0 i dem i s e r i c 0 r d e :<br />
L e pet i t H e Z fl Z i l* c r i e r a, j' e n v e LI x fa ire la pro c I a m a t ion.<br />
[Zu * bemerkt Chardin: 0 i s e a LI p ILI S pet i t q LI ' LI n Mo i Cl e a u, renomme<br />
en Perse pOllr son plLlmage et pour son ra mag e.]<br />
Stellen wir fest, was hier alles mit Goethes Versen:<br />
Verschon uns Gott mit deinem Grimme!<br />
Zaunkönige gewinnen Stimme<br />
übereinstimmt, so ergibt sich:
94 Verse <strong>zum</strong> Wien er Kongreß<br />
I. Im Anschluß an die Stelle, die den Satz "An Gottes Tisch sitzen<br />
Freund und Feinde" inspirierte, spricht die Bustan-Vorrede Saadis<br />
<strong>von</strong> einem persischen Vogel, an dem seine Kleinheit das Besondere<br />
ist: <strong>von</strong> dem "petit Hezazil". Wie klein der Vogel ist, wird in Chardins<br />
Anmerkung eigens hervorgehoben: kleiner als ein Spatz. Des<br />
Zaunkönigs bezeichnende Eigenschaft ist gleichfalls seine Kleinheit.<br />
Die Fabel vom Adler und Zaunkönig basiert auf dieser Eigenschaft.<br />
2. Die charakteristische Tätigkeit des sehr kleinen Vogels ist in Saadis<br />
Schilderung das Rufen, Ausrufen (crier, faire la proclamation). Chardins<br />
Anmerkung unterstreicht auch diesen Zug: der persische Vogel<br />
ist berühmt durch seinen Gesang (ramage).<br />
3· Gleichfalls - und dies Zusammentreffen ist entscheidend - ist bei<br />
Saadi die Rede <strong>von</strong> Gottes "Grimm" (colere) - die ganze Partie der<br />
Bustan-Vorrede kreist um dies Thema. Und zwar wird dabei in vielfacher<br />
Wiederholung antithetisch gegenübergestellt: Gott vermag zu<br />
zürnen, er vermag aber auch <strong>von</strong> seinem Zorn abzusehen und milde<br />
zu erscheinen. In Goethes Vers "Verschon uns Gott mit deinem<br />
Grimme!" sind die bei den Elemente enthalten, nur ist aus der Antithese<br />
eine Synthese geworden. Das antithetische Hin und Her, das<br />
wir oben ausließen - vgl. die eckige Klammer im Zitat -, nimmt sich<br />
bei Saadi so aus:<br />
... Il pose it I'UIl une couronne de gloirc Sur la tete,<br />
Il jette I'autrc eil bas du Throne dans Ja poussiere:<br />
Il pare I'un d'un manteau dc fclicite.<br />
II couvre I'autre d'un sac de malheurs,<br />
Il rend Je feu dans lcqucJ Abraham cst jette un rasier,<br />
II consume Je peuplc cnncmi dans un feu tin~ des eaux<br />
du Nil,<br />
S'il fait le premier, c'est un e manifestation de son<br />
soin paternei,<br />
S'il fait l'autre, c'est pour etabJi[ la main de son pouvoir.<br />
II perce pleinement le voile dont on couvre les actions<br />
mauvaises;<br />
"Verschon uns Gott mit deinem Grimme" 95<br />
Mais il etend dessus ces actions le voile de sa misericorde:<br />
Si pour [(!veiller . .. [Weiter wie oben.]<br />
Am Ende di,eser <strong>von</strong> Gottes "Grimm" und seinem "Verschonen"<br />
handelnden Antithesen steht dann bei Saadi das Beispiel <strong>von</strong> den<br />
Engeln, den "Ministres", die "stumm und taub" bleiben beim Zorn,<br />
vom kleinen Vogel Hezazil, der "schreien wird" beim Eintritt der<br />
Milde Gottes. Damit ist der Höhepunkt der ganzen Partie und ein<br />
Abschnitt erreicht. Die Behandlung des Themas bei Saadi wechselt<br />
nun.<br />
Diesen Höhepunkt hat Goethe festgehalten in der Aufzeichnung<br />
"Zaunkönige gewinnen Stimme", die er später ergänzte durch die<br />
Zeile "Verschon uns Gott mit deinem Grimme!". Daß er den hübschen<br />
Namen des persischen Vogels "Hezazil" nicht brauchen konnte,<br />
liegt auf der Hand. Er änderte ihn, gemäß einer Gepflogenheit, die<br />
im Bereich des Divan öfter zu beobachten ist: allzu Exotisches - an<br />
Namen beispielsweise - wurde gelegentlich durch vertrauter Klingendes<br />
ersetzt.<br />
Das Nacheinander der beiden Aufzeichnungen Nr. I und II in dem<br />
Exzerptenblatt, <strong>von</strong> dem wir ausgingen, hat also seine Entsprechung<br />
in der Quelle. Auch dort stehen beide Anregungsstellen dicht hintereinander.<br />
Wir verstehen nun auch, warum Goethe in der Handschrift<br />
eine Schlußklammer erst hinter Aufzeichnung Nr. II setzte. :Die beiden<br />
Notizen werden dadurch zusammengcfaßt, weil sie auf dieselbe Stelle<br />
bei Chardin zurückgehen. Von Aufzeichnung Nr. Irr ab begann Goethe<br />
dann aus einer andern Partie der Voyages en Perse Aufzeichnungen<br />
zu machen. Er sprang zurück <strong>von</strong> Seite 261 auf Seite 3I.<br />
Was gewinnen wir nun an Aufschlüssen über die Bedeutung des<br />
Goetheschen Zweizeilers <strong>von</strong> den Zaunkönigen, nachdem wir die<br />
Möglichkeit haben, die Quelle zur Interpretation mit heranzuziehen?<br />
Das Gedicht bereitete dem Verständnis <strong>von</strong> jeher Schwierigkeiten. Es<br />
gehört, so kurz und unscheinbar es ist, zu den dunkelsten des ganzen<br />
Divan.
96 Verse <strong>zum</strong> Wien er Kongreß<br />
Gehen wir aus <strong>von</strong> dem Wort Zaunkönig, das zweifellos zentrale<br />
Bedeutung hat. Der Zaunkönig ist ein notorisch kleiner Vogel, auch<br />
eignet ihm eine besonders kräftige "Stimme". Mit diesen Eigenschaften<br />
konnte er Saadis "petit Hezazil" recht gut repräsentieren. Doch ist<br />
noch weiteres in Betracht zu ziehen. Mit dem Zaunkönig wird gewohnheitsmäßig<br />
in Verbindung gebracht - dafür sorgt die bekannte<br />
Fabel - der Adler, sein großer gegensätzlicher Partner. Bei dem<br />
Allerkleinsten denkt man zugleich an den Größten, Vornehmsten,<br />
Erhabensten. Nun steht aber auch bei Saadi der "petit Hezazil" in<br />
Gegensatz zu etwas sehr G roßem: nämlich zu den "Engeln", den<br />
"Ministres". Auf diesem Gegensatz beruht die Pointe: wenn Gottes<br />
Zorn sich zeigt, dann werden diese Engel und "Ministres" stumm<br />
und taub. Läßt er nach, dann "schreit" der kleine Hezazil begeistert.<br />
D ieser Zug der Quelle mag vor allem in Goethes Phantasie das Bild<br />
des Zaunkönigs hervorgerufen haben. 10a)<br />
Und nun müssen wir uns erinnern : auch Goethe hat sich während<br />
einer langen Periode, in der "Gottes G rimm" schlimme Zeiten schuf,<br />
stumm und taub verhalten gleich jenen "Ministres" bei Saadi. Das<br />
im Sommer 1814 gedichtete Festspiel "Des E pimenides Erwachen"<br />
legt hier<strong>von</strong> Bekenntnis ab: darin weist Goethe auf sich und sein Verhalten<br />
während der napoleonischen Kriege - in der Gestalt des Weisen,<br />
dcr Zeiten äußerster Wirren im Sc h l a f vcrbrachte. An diese<br />
Epimenides-Situatio n wurde Goethe offcnbar erinnert, als er im Frühjahr<br />
1815 Saadis Bustan-Vorrede bei Chard in las.<br />
"Des Epimcnides Erwachen" beschäftigte Gocthe gerade in dieser<br />
Zeit aufs neue. "Epimenides spukte", heißt es am 4. März 1815 in seinem<br />
Tagebuch. E s stand näml ich ·d ie Uraufführung des Festspiels in<br />
Berlin bevor, doch waren seit längerer Zeit Gerüchte in Umlauf, sie<br />
könnte aus politischen Gründen inhibiert werden. Da ist es wohl verständlich,<br />
daß unter solchen Sorgen die innere Nähe zu seinem Stück<br />
Goethe doppelt empfänglich machte für die Parallele, die er bei Saadi<br />
10a) Auch die Erwähnung des Vogels Simurg (oben S. 93) war geeignet, an den<br />
Bereich der ornithologischen Fabel zu gemahnen. Beim Simurg handelt es sich<br />
NB um einen Wundervogel <strong>von</strong> sagenhafter Größe.<br />
"Verschon uns Gott mit deinem Grimme" 97<br />
fand. Auch der orientalische Dichter, so sah man hier, wußte etwas<br />
da<strong>von</strong>, daß unter Umständen in schlimmer Zeit gerade die Größten<br />
paralysiert, stumm und taub sind. Saadi fügte dem nun einen reizvoll<br />
eigenartigen Zug hinzu: die Kleinen und Kleinsten erheben sogleich<br />
ihre Stimme, werden laut, wenn göttliche Milde eintritt und die Wolken<br />
sich verziehen. Goethes Gedicht <strong>von</strong> den Zaunkönigen greift das<br />
Motiv vom Schreien der Kleinen auf, bringt aber eine neue, mit Saadi<br />
kontrastierende Wendung hinzu. Bei Goethe ist das "Stimme Gewinnen"<br />
der "Zaunkön ige" nicht ein Zeichen, daß bessere Zeiten gekommen<br />
sind, sondern daß womöglich Gottes "Grimm" jetzt ganz unmittelbar<br />
droht. D as Sichwichtigmachen der Zaunkönige ist erst recht<br />
unerträglich.<br />
Genau genommen setzt Goethe sich zu Saadis Gedanken in Widerspruch,<br />
während er dessen Bild benutzt. Das Zaunkönig-Gedicht steht<br />
somit in replikartigem Verhältnis zu der Vorlage. Fälle dieser Art<br />
sind im Bereich <strong>von</strong> Goethes Quellenbenutzung keine Seltenheit. Gerade<br />
Autoren, die ihm wichtig sind, reizen ihn gelegentlich zu dichterischer<br />
Replik. Es entsteht dann eine lebhafte Auseinanderset~ung,<br />
ein geheimes Gespräch.11)<br />
Die Zusammenhänge mit Saadis Bustan-Vorrede machen es deutlieh:<br />
"Verschon uns Gott mit deinem Grimme!" ist ein politisches<br />
Gedicht. Es ist nun auch leicht zu erkennen, worauf darin angespielt<br />
wird: auf das Ereignis, das im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses<br />
stand, als das Gedicht geschrieben w urde - den Wiener Kongreß. Dieser<br />
stellte, mit Goethes Augen gesehen, gerade das dar, worauf seine<br />
Spottverse hindeuten: eine Versammlung <strong>von</strong> Zaunkönigen, die<br />
"Stimme gewinnen", politisieren d ürfen, nachdem der Adler Napoleon<br />
seinen Flug beendet hatte.<br />
Goethes kritische Einstellung gegenüber dem Wiener Kongreß ist<br />
zur Genüge bekannt, wenn er auch aus begreiflichen Gründen mit<br />
Meinungsbekundungen vorsichtig sein mußte. In den Briefen <strong>von</strong><br />
1814/ 1815 findet sich manche Äußerung der tiefen Skepsis über den<br />
11) V gl. <strong>Katharina</strong> <strong>Mommsen</strong>: Goethe und Diez. Berlin 1961. S. 317 fI.<br />
7 <strong>Mommsen</strong>, Divan-Studien
98 Verse <strong>zum</strong> Wiener Kongreß<br />
W · W' "12) d ß<br />
" lener lrrwarr ,en "gro en Hexenkessel" 13), den er stets nur<br />
"furchtsam und ungläubig" betrachtete.14) Deutlicher gab er seinem<br />
Unwillen Ausdruck in einer Anzahl <strong>von</strong> derben Spottgedichten, die er<br />
jedoch sorgfältig sekretierte. Sie wurden erst nach seinem Tode veröffentlicht<br />
und stehen jetzt in den Nachlaßabteilungen 8 und 9 der<br />
Zahmen Xenien.<br />
Ein Gedicht erschien allerdings schon bei Goethes Lebzeiten, innerhalb<br />
der Abteilung "Gott, Gemüth und Welt". Und dies wirkt geradezu<br />
wie eine Parallele zu dem Zaunkönigs-Gedicht des Divan:<br />
Sind Könige je zusammengekommen,<br />
So hat man immer nur Unheil vernommen.15)<br />
Ausgerechnet die Ausgabe <strong>von</strong> Goethes Werken, die I8I6 in Wien<br />
erschien, enthielt bekanntlich als einzige diese Verse. In der Stuttgarter<br />
Ausgabe <strong>von</strong> I8I5 waren sie - vom Zensor oder Korrektor -<br />
unterdrückt, und Goethe hat sie auch später nicht mehr veröffentlicht.<br />
Die Pointe des Gedichts, liest man es im Zusammenhang mit seiner<br />
Umgebung in "Gott, Gemüth und Welt", liegt darin, daß das "Unheil"<br />
resultiert aus dem Fehlen der eigentlichen Autorität über den<br />
Königen.16)<br />
12) An earl August, 27. Dezember 1814. WA IV 25, S. " 7.<br />
13) An G . Sartorius, Mitte Januar 1815. WA IV 25, S. ' 5 r.<br />
110) An C. G . v. V oigt, ' 3. M ai 1815: "Zu den Wicncr Nachrichten läßt sich freylich<br />
nichts sagen als daß man wohl recht beha lten wird insofern man furchtsam und<br />
ungläubig war." (W A IV 25, S. )26.)<br />
15) WA I 5 (2), S. 396.<br />
16) Im Anschluß an das Gedicht <strong>von</strong> den "Königen" heißt es:<br />
Dagegcn die Ba uern in d er Schenke<br />
Prügeln sich gleich mit den Beinen der Bänke.<br />
Der Amtma nn schnell das Übel stillt,<br />
Weil er nicht für ihres Gleichen gilt.<br />
"Verschon uns Gott mit deinem Grimme" 99<br />
Gleichfalls eine Parallele zu dem Zaunkönigs-Gedicht findet sich<br />
in einem Bericht, betitelt "Wiener Congreß", den Goethe wohl im<br />
Frühjahr 18I5 auf Grund ihm zugegangen er Privatnachrichten zusammenstellte.<br />
Hier heißt es: 17)<br />
"Die Mi n der m ä c h ti ge n e r heb e n ihr e S tim m e am<br />
I6 November gedrängt durch eine Note der M ä c h t i gen vom<br />
nten die <strong>von</strong> Etats provenciaux tutelaires spricht."<br />
Die Wendung "Zaunkönige gewinnen Stimme" steht dem nahe.<br />
An die Zweizeiler <strong>von</strong> den "Könige n" und den "Zaunkönigen" erinnert<br />
auch die Art und Weise, wie hier in dem sachlichen Bericht auf<br />
die "Macht"-Frage hingedeutet wird. Offenbar liegt allen drei Zeugnissen<br />
eine gemeinsame Denk- und Betrachtensweise zugmnde. Sie<br />
lassen im Querschnitt Goethes politische Meinung erkennen auf einem<br />
ganz bestimmten Gebiet: dem seiner Einstellung <strong>zum</strong> Wiener Kongreß.<br />
Es erklärt sich nun auch, warum das Zaunkönig-Gedicht sich so<br />
dunkel und sybillinisch ausnimmt. Es ist ei n Politicum, vergleichbar<br />
Heines Spöttereien über die 36 Fürsten Germaniens. Darum ist seine<br />
Sprache geheimnisvoll, versteckt. Träte die Ironie deutlicher zutage,<br />
so hätte es nicht veröffentlicht werden können, es wäre, wie 'üblich,<br />
sekretiert worden. Mit Gedichten dieser Art pflegte Goethe sich im<br />
Stillen "Dinge vom Halse zu schaffen", wie Boisseree berichtet auf<br />
Grund <strong>von</strong> Gesprächen im Sommer 181 5: 18)<br />
" So habe er seinen Aerger, Kummer u. Vcrdruß über die Angelegenheit [en] des<br />
Tages, Politik u. s. w . gewöhnlich in eincm Gedicht ausgelassen, es sey eine Art<br />
Bedürfniß und Herzcns-Erleichterung, Sedes poeticae. Er schaffe sich so die Dinge<br />
vom Halsc, wenn er sie in Gcdichde] bringe. Sonst habe er dergleich[en] immer<br />
verbrannt ... "<br />
Bei dcn Königen fehlt der "Amtmann", der Autorität genug hätte, ihre Händel<br />
zu schlichten.<br />
1'7) WA 153, S. 415 .<br />
18) Biedermann 2, )23. Firmenich-Richartz S. 404.<br />
7*
100 Verse <strong>zum</strong> Wiener Kongreß<br />
Als Goethe an einem Tag des Februar oder März 1815 jene Aufzeichnungen<br />
nach Chardin machte, die gleich in vier Fällen zu Gedichtskizzen<br />
führten, war er, wir sagten es, in besonders dichterischer<br />
Stimmung. Anscheinend war es aber speziell eine politische Stimmung,<br />
die ihn beherrschte. Denn die vier Gedichte, die er so entwarf, tragen<br />
alle, wenn man es recht besieht, eine politische Note. Das wird besonders<br />
evident, wenn man den Schlüssel zur Deutung des Zaunkönig<br />
Gedichts besitzt. Wir setzen die vier Gedichte <strong>zum</strong> Abschluß hierher,<br />
weil sie sämtlich jetzt mehr <strong>von</strong> ihrer eigentlichen Tendenz verraten.<br />
(Übrigens stehen die drei letzten Gedichte auch im Divan hintereinander.<br />
Das erste wurde dort ersetzt durch den Vierzeiler: "Überall<br />
will jeder obenauf seyn, / Wie's eben in der Welt so geht", der in seinem<br />
Anfang jedenfalls auch nach Politik klingt.)<br />
"Verschon uns Gott mit deinem Grimme" 101<br />
den Wien er Kongreß erhielt, findet sich ein Passus, der an die Wendung<br />
"bunte Gemeinde" in dem etwa gleichzeitigen Gedicht erinnert.<br />
Hier schreibt Goethe (16. Februar 1815): "Unsere gnädigsten Herrschaften<br />
sind noch in Wien, wir haben wenig Hoffnung sie so bald<br />
wiederzusehen. Wie es übrigens mit der europäischen Christenheit<br />
steht, wissen Sie besser als ich, und haben gewiß daran so wenig<br />
Freude als ich." 19.)<br />
19a) WA IV 25, S. 193. Die letzten neun Worte stehen nur im Konzept, im Original<br />
wurden sie bezeichnenderweise gestrichen.<br />
Welch eine bunte Gemeinde!<br />
An Gottes Tisch sitzen Freund und Feinde.<br />
Verschon uns Gott mit deinem Grimme!<br />
Zaunkönige gewinnen Stimme.<br />
Will der Neid sich doch zerreißen,<br />
Laß ihn seinen Hunger speisen.<br />
Sich im Respect zu erhalten<br />
Muß man recht borst!g seyn.<br />
Alles jagt man mit Falken,<br />
Nur nicht das wilde Schwein.<br />
Das erste Gedicht dürfte gleichfalls eine Anspielung auf den Wiener<br />
Kongreß enthalten. So wie Freund und Feind an "Gottes Tisch"<br />
sitzen, so kamen in Wien am runden Tisch die Parteien zusammen als<br />
ebenfalls recht "bunte Gemeinde". In einem Brief an den Göttinger<br />
Historiker Sartorius,19) durch den Goethe private Informationen über<br />
HJ) V gl. unten S. 104.
"Keinen Reimer wird man finden"<br />
103<br />
VERSE ZUM WIENER KONGRESS<br />
11. "K ein e n Re im er wir d man f in den"<br />
Keinen Reimer wird man finden<br />
Der sich nicht den besten hielte,<br />
Keinen Fiedler der nicht lieber<br />
Eigne Melodieen spielte.<br />
Und ich konnte sie nicht tadeln;<br />
Wenn wir andern Ehre geben<br />
Müssen wir uns selbstentadeln.<br />
Lebt man denn wenn andre leben?<br />
Und so fand ich's denn auch juste<br />
[Hl0: Und so sah ich es auch juste]<br />
In gewissen Antichambern,<br />
Wo man nicht zu sondern wußte<br />
Mäusedreck <strong>von</strong> Koriandern.<br />
Das Gewes'ne wollte hassen<br />
Solche rüstige neue Besen,<br />
Diese dann nicht gelten lassen<br />
Was sonst Besen war gewesen.<br />
Und wo sich die Völker trennen,<br />
Gegenseitig im Verachten,<br />
Keins <strong>von</strong> bei den wird bekennen<br />
Daß sie nach demselben trachten.<br />
Und das grobe Selbstempfinden<br />
Haben Leute hart gescholten,<br />
Die am wenigsten verwinden,<br />
Wenn die andern was gegolten.<br />
Als Goethe sich 1814 auf seine Fahrt an Rhein und Main begab,<br />
entstanden am zweiten Reisetag, dem 26. Juli, zwei längere politische<br />
Gedichte, die später im Buch des Unmuts des West-<strong>östlichen</strong> Divan<br />
plaziert wurden: "Keinen Reimer wird man finden" und "Übermacht,<br />
ihr könnt es spüren". Die Gedichte drücken manches aus <strong>von</strong> der<br />
Trutz- und Fluchtstimmung, die Goethe damals beherrschte, der Stimmung,<br />
die einerseits durch das soeben beendete Festspiel "Des Epimenides<br />
Erwachen" gekennzeichnet ward, anderseits durch das den<br />
Divan einleitende Gedicht "Hegire".<br />
Das Gedicht "Keinen Reimer wird man finden" wurde am 23. Dezember<br />
1814 nochmals überarbeitet. Wie das im einzelnen geschah, ist<br />
nicht bekannt. Auf jeden Fall kam damals die dritte Strophe erst<br />
hinzu, mit der wir uns im folgenden beschäftigen wollen. Wir hatten<br />
oben da<strong>von</strong> gesprochen, daß diese Strophe sich gesondert auf einer<br />
Handschrift - H 10 - findet, die wir datieren konnten auf die Zeit<br />
zwischen 7. und 15. Dezember 1814.1) Im Zusammenhang mit dieser<br />
Datierung läßt sich über Inhalt und Entstehung der merkwürdigen<br />
vier Verse etwas Näheres sagen.<br />
Die dritte Strophe <strong>von</strong> "Keinen Reimer wird man finden" fällt<br />
auf durch besonders eigentümliche Wendungen: Antichambre, Mäusedreck,<br />
Koriander - man gewinnt den Eindruck, als handele es sich<br />
hier um mehr als allgemeines Politisieren, als verbärgen sich Anspielungen<br />
dahinter, die auf ganz Bestimmtes zielen. Nachdem wir eine<br />
Vorstellung haben, aus welcher Zeit die Verse stammen, eröffnet sich<br />
eine Möglichkeit, ,den Sinn dieser Anspielungen zu verstehen. Sie beziehen<br />
sich allem Anschein nach auf den Wiener Kongreß, und zwar<br />
genauer: auf Mitteilungen über den Kongreß, die Goethe Anfang<br />
Dezember 1814 erhielt.<br />
1) Vgl. oben S. 48 f.
I<br />
104 Verse <strong>zum</strong> Wiener Kongreß<br />
"Keinen Reimer wird man finden"<br />
105<br />
Der Göttinger Historiker Georg Sartorius, ein Freund Goethes,<br />
später verehrter Lehrer Heines, nahm eine Zeitlang am Wien er Kongreß<br />
teil. Er begleitete Carl August dorthin auf Wunsch Goethes und<br />
der Herzogin Luise, reiste aber schon Ende Dezember 1814 wieder ab,<br />
nachdem er manche unerfreuliche Erfahrungen gemacht hatte. Interessant<br />
in unserem Zusammenhang sind zwei Sendungen, die Goethc<br />
Anfang Dezember 1814 <strong>von</strong> Sartorius aus Wien erhielt: ein Brief vom<br />
17· November 1814, in dem Sartorius einen Aufsatz über die Wiener<br />
Kongreß-Politik ankündigt, und dann dieser Aufsatz selbst. In Sartorius'<br />
Brief stehen nun Wendungen, die in auffälliger Weise an die<br />
dritte Strophe <strong>von</strong> "Keinen Reimer wird man finden" erinnern. Hier<br />
lesen wir: 2)<br />
"Wir werden hier in einer Hex e n k ü ehe ge s eh m 0 r t, gegen welche die,<br />
so im Faust zu schauen steht, eine Art <strong>von</strong> boudoir ist. über die K ü ehe und<br />
die K ö ehe, so wie über das, was daselbst b e r e i t e t wir d, habe ich ein<br />
kleines Werk geschrieben, welches zu seiner Zeit Ihnen, Verehrtester, und sonst niemanden<br />
mitgetheilt werden soll." Ein "gemildertes Compendium" aus dem "Werk",<br />
für die Herzogin, Minister Voigt und Goethe bestimmt, gehe mit gleicher Post ab.<br />
Sartorius klagt dann über Schwierigkeiten in seiner persönlichen Situation beim<br />
Kongreß; er konnte sich im Gefolge Carl Augusts gegen Intrigen nicht durchsetzen,<br />
besonders wohl nicht gegen den einflußreichen, preußen freundlichen Minister<br />
v. Gersdorff. Hierüber schreibt er u. a.: "Unter dem seltsamen Vorwande, ich könne<br />
als Hannoveraner nicht zu des Herzogs Gefolg gezä hlt werden .. . bin ich wirklich<br />
ausgeschlossen worden, ich habe ihn nirgends hin begleiten dürfen und bin nirgends<br />
vorgestellt worden, so daß ich ungefähr d a z u S c h a u e nd a r f, woK a m _<br />
merdienern und Lakaien auch der Z utritt unversagt<br />
bl ei b t." D as heißt: in der Antichambrel Sartorius schließt seinen Brief: "Gott<br />
aber wolle Sie vor solcher Hex e n k ü e h e bewahren; wie weise haben Sie gehandelt,<br />
nicht hierher zu kommen I"<br />
Diese Mitteilungen des Mannes, der so etwas wie ein persönlicher<br />
Gesandter Goethes auf dem Wiener Kongreß war, haben offenbar<br />
jene dritte Strophe <strong>von</strong> "Keinen Reimer wird man finden" inspiriert: 3)<br />
2) Goethe Briefwechsel mit Georg und Caroline Sartorius. Weimar 193I. S. 14) ff.<br />
3) Wortlaut und Schreibung wie in HlO (siehe oben S. 48 und 103).<br />
Und so sah ich es auch juste<br />
In gewissen Antichambern<br />
Wo man nicht zu sondern wusste<br />
Mäusedrek <strong>von</strong> Coriandern.<br />
Auf dem Kongreß, in den "gewissen Antichambern", dies ist der<br />
Sinn, geht alles durcheinander. Das unwürdige Antichambrieren des<br />
Freundes Sartorius ist symptomatisch für das ganze chaotische Kongreßwesen.<br />
Man erkennt dort das Echte und Wichtige ("Koriander")<br />
nicht, das Schlechte ("Mäusedrcck") wird mit ihm verwechselt und<br />
bevorzugt. Durch Sartorius' Erwähnungen der Hexenküche im Faust<br />
kam Goethc wohl auf das Gleichnis <strong>von</strong> Mäusedreck und Koriander.<br />
Auch dieses ist ja der Küchenspradle entnommen. Und zwar deutet<br />
es auf Chaos und Unordnung in der Küche, wenn Gewürz und Unrat<br />
vom Koch durcheinandergemengt werden. In diesem Sinn war die<br />
Wendung "Mäusedreck und Pfeff·er" früher sprichwörtlich (Luther,<br />
Hans Sachs).4)<br />
Wie stark der Vergleich des Wicner Kongresses mit der Hexenküche<br />
in Sartorius' Brief sich Goethe eingeprägt hat, bezeugt sein Antwortbrief<br />
<strong>von</strong> Anfang/Mitte Januar 1815."") "Ihr Aufsatz", so schreibt er<br />
an Sartorius, "hatte mich freylich sdlon mit dem Re c i p e des g r 0 -<br />
ß e n Hex e n k e s se i s bekannt gemacht, allein ich hätte denn doch<br />
die nähern I n g red i e n z i e nun d di e W ü r z e zu erfahren gewünscht."<br />
(Sartorius hatte den Dichter inzwischen auf der Durchreise<br />
in Weimar verfehlt.) Wie hier vom Rezept des Hexenkessels, <strong>von</strong><br />
Ingredienzien und Würze gesprodlen wird, das erklärt uns am besten<br />
den Inhalt jener Strophe -darin wird auf solche Ingredienzien und<br />
Würzen angespielt.5) Übrigens tröstet Goethe in seinem Schreiben<br />
~) Vgl. West-östlicher D ivan <strong>von</strong> Goethe. Hrsg. <strong>von</strong> G. v. Loeper. Berlin 1872.<br />
S. 79. Max Morris, Der junge Goethe, Bd. 6. Leipzig 1912. S. 302.<br />
F,a) WA IV 2l, S. III ff.<br />
5) Als "Z a u b e r k e s sei der Interessen" wird der Wiener Kongreß auch bezeichnet<br />
in einem Brief des Weimarischen Ministers v. Gersdorff an Goethe<br />
(17. Nov. 1814. Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar. Eing. Br. 1814, 442).
106 Verse · <strong>zum</strong> Wiener Kongreß<br />
Sartorius auch über dessen aufgezwungenes Antichambrieren: "DUN<br />
Unangenehme, was Sie erduldet, wird in kurzer Zeit verschwinden<br />
gegen die Vortheile, die Ihnen für's ganze Leben zurückbleiben . . . ':<br />
. Die Wendung "Mäusedreck und Coriander" brauchte schon d r<br />
Ju~ge Goethe in seinem "Fastnachtsspiel vom Pater Brey". In den<br />
DIvan-Kommentaren wird hierauf mit Recht regelmäßig verwiesen.<br />
Offenbar erinnerte sich Goethe durch Sartorius' Erwähnung der Hexenküche<br />
im Faust an das barocke, der Küchensprache entlehnt<br />
Gleichnis in dem anderen Jugendwerk und ward angeregt, es zu zitieren.<br />
Im "Pater Brey" deutet die Metapher ganz ähnlich wie im Divan<br />
hin auf eine Art Durcheinander im "Gouvernement" (V. 181):<br />
Ich bin ein reicher Edelmann<br />
Habe gar viel Gut und Geld<br />
Die schönsten Dörfer auf der Welt<br />
Aber mir fehlts am rechten Mann<br />
Der all das guberniren kann.<br />
Es geht, geht alles durcheinander<br />
Wie Mäusedreck und Coriander<br />
Die Nachbarn leben in Zank und Streit<br />
Unter Brüdern ist keine Einigkeit ...<br />
Chaos im Bereich des Obrigkeitlichen, Fehlen der leitenden Autorität<br />
- das waren Dinge, die Goethe auch am Wiener Kongreß kritisierte.<br />
Wir begegneten oben einigen Versen, die gerade unter diesen<br />
Aspekten das "Zusammenkommen der Könige" bespotteten.6) Es läßt<br />
sich jetzt besser begreifen, warum dem Dichter durch Sartorius' Brief<br />
diese Stelle des "Pater Brey" ins Gedächtnis kam: sie drückt präzis<br />
Gedanken aus, die sich ihm in jenen Tagen bei Erhalt der Nachrichten<br />
aus Wien aufdrangen.<br />
Ü) V gl. oben S. 98.<br />
"Spricht man mit jedermann"<br />
107<br />
Dafür, daß die dritte Strophe <strong>von</strong> "Keinen Reimer wird man finden"<br />
durch Sartorius' Sendungen angeregt wurde, sprechen aber wei-.<br />
I ("I" au ch die gut übersehbaren chronologischen Verhältnisse. Der <strong>von</strong><br />
Ilcxcnküche und Antichambrieren handelnde Brief traf wohl am<br />
I. Dezember 1814 in Weimar ein.7) Sartorius' Aufsatz über die Wiener<br />
Kll ngreß-Politik ging zunächst an die Adresse der Herzogin Luise.<br />
N:lchdem diese ihn gelesen hatte, wurde er durch C. G. v. Voigt an<br />
l ;' H.:the geschickt, der sich inzwischen in Jena aufhielt,s) Goethe erhielt<br />
ih ll am 6. Dezember und las ihn alsbald am 7· Dezember 1814 (Tagehllch).<br />
Zwischen 7. und 15. Dezember entstand aber - wie wir oben<br />
,liI hen _ die Handschrift H10, auf der die dritte Strophe <strong>von</strong> "Keinen<br />
I{ 'imer wird man finden" niedergeschrieben ist. Das läßt darauf<br />
/,chließen, daß die Verse mit den Parallelen zu dem Sartoriusbrief<br />
IIl1nüttelbar unterm Eindruck der Lektüre des Aufsatzes über die<br />
Wicner Kongreß-Politik geschrieben wurden: am 6. oder 7· Dezember<br />
IHI4 oder an den nächstfolgenden Tagen.<br />
Auf der gleichen Handschrift H 10 steht unmittelbar unter der<br />
SI rophe "Und so sah ich es auch juste" folgendes Fragment: 9)<br />
wenn alle sprechen<br />
Ganz gewiss da hört man keinen.<br />
,) Vgl. Goethes Tagebuch 1. Dezember 1814: "Briefe <strong>von</strong> Wien." Auch den oben<br />
S. 105 Anm. 5 erwähnten Brief Gersdorffs wird Goethe an diesem Tage erhalten<br />
haben.<br />
01) Vgl. C. G . v. Voigt an Goethe 5. Dez. 1814: "Ew. Excell. übermache ich die <strong>von</strong><br />
Sartorius der Herzogin zugesendete Beurtheilung der CongreßPolitik. Nach sei<br />
"ern bey liegenden Brief sollte dieser Aufsatz nur Ew. Excell. und mir, commu<br />
"icirt werden. Allerdings gehört er auch für vertraute Leser; denn er tritt derb<br />
II"d unverholen auf _ Obgleich manche Aeußerung nicht ganz unbefangen erscheint<br />
_ und wie wäre das möglich - so ist das Ganze doch gewiß vortrefflich<br />
zusammengestellt. Die HauptResultate sind uns auch schon nicht fremd geblieben.<br />
Ich wünschte etwas vorzulegen, was eine ruhigere Zukunft verspräch[el."<br />
(Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar. Eing. Br. 1814, 45 2.)<br />
!I) WA I 6, S. 475. Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 52.
108 Verse <strong>zum</strong> Wien er Kongreß<br />
Eine Quelle für diese Zeilen kennen wir nicht. So mögen auch in<br />
ihnen sich Reflexionen widerspiegeln, die durch die Nachrichten vom<br />
Wiener Kongreß Anfang Dezember 1814 hervorgerufen wurden. Ihrer<br />
Haltung nach passen sie in das Bild, das sich in den andern auf den<br />
Wiener Kongreß bezüglichen Versen abzeichnet, die wir oben betrachteten.<br />
10 ) Später formte Goethe aus dem Fragment das Gedicht<br />
"Vielrath". In ihm würden dann noch politische Gedanken des Winters<br />
181411815 nachklingen: 11)<br />
10) V gl. oben S. 98.<br />
Spricht man mit jedermann<br />
Da hört man keinen,<br />
Stets wird ein andrer Mann<br />
Auch anders meinen.<br />
Was wäre Rath sodann<br />
Vor unsern Ohren?<br />
Kennst du nicht Mann für Mann<br />
Du bist verloren.<br />
11) WAl 3, S. 156. Das Gedicht erschien 1827 in Band 3 der Ausgabe letzter Hand<br />
i~ ~biger. Form (Abteilung "Epigrammatisch"); gleichfalls 1827 in Band 4, mit<br />
ellllgen Anderungen, obne Titel (Abteilung IV der "Zabmen Xenien").<br />
ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES<br />
BUCHS DER SPRÜCHE<br />
1. Burdachs Datierung der Kräutersehen Reinschrift<br />
Betrachtet man die 56 Gedichte des Buchs der Sprüche <strong>von</strong> ihrer<br />
Entstehungsgeschichte her, so zerfallen sie in drei verschiedene Gruppen:<br />
1. Eine Gruppe <strong>von</strong> 31 Gedichten bildet die chronologisch früheste<br />
Schicht. Diese Gedichve stehen zusammen in einer Reinschrift <strong>von</strong><br />
F. Th. D. Kräuter, die aus dem Jahre 1815 stammt.<br />
2. Eine Gruppe <strong>von</strong> 13 Gedichten trat im Erstdruck des Divan (1819)<br />
zu den eben genannten 31 Gedichten hinzu. Die meisten dieser Gedichte<br />
stammen <strong>von</strong> Frühjahr 1816.<br />
3. Eine weitere Gruppe <strong>von</strong> 12 Gedichten wurde erst in der zweiten<br />
Ausgabe des Divan (1827) hinzugefügt. Von diesen 12 entstand eine<br />
Reihe 1818, andere stammen aber auch aus früherer oder späterer Zeit.<br />
Wir wollen uns im Folgenden mit der ersten der genan~ten Gruppen<br />
beschäftigen. Über die Entstehung und Datierung der Kräuterschen<br />
Reinschrift herrschen in der Divan-Forschung seit Burdach<br />
Vorstellungen, die im Widerspruch stehen zu gewichtigen entstehungsgeschichtlichen<br />
Tatsachen. Hierdurch wurde für viele Gedichte des<br />
Buchs der Sprüche eine Datierung festgelegt, die sich bei näherer Prüfung<br />
als unmöglich erweist. Es gilt, einen folgenschweren Irrtum zu<br />
berichtigen.<br />
Die Kräutersehe Reinschri ft besteht aus 10 unpaginierten, einseitig<br />
beschriebenen Folioblättern. Auf diesen Blättern finden sich insgesamt<br />
36 Spruchgedichte,l) verteilt in Gruppen zu jeweils 5, 4, 3 oder auch 2.<br />
1) "Getretncr Quark", das in neueren Divan-Ausgaben als einheitliches sechszeiliges
110 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />
Fünf dieser Gedichte wurden nicht ins Buch der Sprüche aufgenommen;<br />
eins da<strong>von</strong> stellte Goethe ins Buch des Sängers, drei ins Buch<br />
Suleika, ein weiteres blieb <strong>von</strong> der Aufnahme in den Divan ausgeschlossen.<br />
2)<br />
Bei der Redaktion des Buchs der Sprüche schaltete Goethe das später<br />
Entstandene in der Weise ein, daß dadurch die Gedichte der<br />
Kräuterschen Reinschrift unterbrochen, die Reihenfolge auf den einzelnen<br />
Blättern derselben jedoch möglichst nicht geändert wurde. Die<br />
Kräutersche Reinschrift enthält also eine erste Vorordnung des Buchs<br />
der Sprüche.<br />
In dem 1888 erschienenen Band 6 der Weimarer Ausgabe, der die<br />
Gedichte des West-<strong>östlichen</strong> Divan brachte, stellte Burdach die These<br />
auf, die Kräutersche Reinschrift sei am 26. Januar 1815 entstanden.3)<br />
Er glaubte dies aus einer Goetheschen Tagebuchnotiz folgern ;m dürfen.<br />
Zwar meldete kein geringerer als H. G. Gräf gegen diese Datierung<br />
Bedenken an und gab zu verstehen, daß Burdach sich bei der<br />
Interpretation des Goetheschen Tagebuchtextes vermutlich geirrt<br />
hatte. 4 ) Dennoch wurde <strong>von</strong> der Forschung Burdachs These übernommen,<br />
als handle es sich um etwas endgültig Bewiesenes. Das hatte zur<br />
Folge, daß die Divan-Kommentare nun für sämtliche in der Kräuterschen<br />
Reinschrift enthaltenen Gedichte das unhaltbare Entstehungsdatum<br />
angaben: vor 26. Januar 181 5.<br />
Es wiJ:1d unsere Aufgabe sein, nachzuweisen, daß die Kräutersche<br />
Reinschrift keinesfalls schon am 26. Januar 1815 entstanden sein kann,<br />
daß sie vielmehr erst zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt hergestellt<br />
wurde. Es läßt sich zeigen, daß der 26. Januar 1815 als Ter-<br />
Gedicht wiedergegeben zu werden pflegt, erscheint in der Kräuterschen Reinschrift<br />
ebenso wie in den bei den <strong>von</strong> Goethe veranstalteten Drucken noch zweigeteilt<br />
(2 + 4 Zeilen).<br />
2) V gl. WA I 6, S. 373, 414, 453.<br />
3) WA I 6, S. 401.<br />
4) H. G. Gräf: Goethe über seine Dichtungen. T. 3, Die lyrischen Dichtungen,<br />
Bd. 2. Frankfurt a. M. 1914. S. 9.<br />
Burdachs Datierung der Kräutersehen Reinschrift 111<br />
minus ad quem für viele Gedichte, die sich auf dieser Handschrift<br />
finden, unwahrscheinlich, für eine größere Anzahl sogar schlechthin<br />
unmöglich ist.<br />
Ein erstes und allgemeinstes Bedenken gegen Burdachs These muß<br />
sich schon erheben, wenn man das Datum des 26. Januar 1815 nicht<br />
isoliert, sondern im Zusammenhang mit dem zugehörigen Abschnitt<br />
der Entstehungsgeschichte des Divan betrachtet. Nachdem Goethe im<br />
Juni, Juli und August 1814 einen ersten Anlauf nahm zu einer Sammlung<br />
orientalisierender Gedichte, wobei Hafis die ausschlaggebende<br />
Quelle war, ging er im Dezember 1814 nach mehrmonatiger Pause<br />
daran, seine Kenntnis des Orients zu erweitern. Es begann nun eine<br />
zweite Epoche der Divan-Entstehungsgeschichte, die im Zeichen ausgedehnter<br />
Umschau und Forschung steht. Goethe studierte zahlreiche<br />
Orientwerke, Übersetzungen, Reisebeschreibungen etc. und entfaltete,<br />
angeregt durch die neuen Eindrücke, eine reiche dichterische Produktivität.<br />
Diese Arbeitsperiode erstreckt sich <strong>von</strong> Dezember 1814 bis<br />
Ende Mai 1815 (Abreise nach Wiesbaden). Goethes Schaffensintensität<br />
hielt ganz unvermindert an bis Mitte März, wo dann durch Krankheit<br />
ein allmähliches Nachlassen einsetzte.5)<br />
Auf jeden Fall ist die Zeit <strong>von</strong> Dezember 1814 bis <strong>zum</strong> Frühsommer<br />
1815 eine der Hauptepochen in der Entstehungsgeschichte des<br />
Di~an. Viele Gedichte verschiedensten Charakters und Umfangs entstanden<br />
im Laufe dieser sechs Monate, die Goethe selbst als 'eine zusammenhängende<br />
Arbeitsperiode ansah. G) Vergegenwärtigt man sich<br />
nun, daß das Datum des 26. Januar 1815, an dem die Kräutersche Reinschrift<br />
<strong>von</strong> drei Dutzend Spruchgedichten angeblich entstanden sein<br />
soll, nicht etwa am Ende, sondern in der Mitte, ja fast noch am Anfang<br />
jener Epoche steht, so ergibt sich ein unmögliches Bild. Es<br />
erscheint als eine Absurdität, annehmen zu wollen, Goethe habe, wäh-<br />
5) V gl. oben S. 8r.<br />
6) Vgl. das - nicht verwendete - Titelblatt <strong>zum</strong> "Deutschen Divan" (<strong>von</strong> 1315).<br />
Darin erwähnt Goethe zwei Phase n der Arbeit am Divan in den Jahren 1814/1815;<br />
die erste: Juni bis August 1814; die zweite: Dezember 1814 bis Juni 181). (W~ I6 ,<br />
S. 361; Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. r.)
112 Zu!' Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />
rend er sämtliche übrigen Gattungen <strong>von</strong> Divan-Gedichten noch Monate<br />
lang planmäßig weiter ausbaute, auf dem einzigen Gebiet der<br />
Spruchdichtung bereits am 26. Januar 1815 bewußt ein: Bis hierher und<br />
nicht weiter gesprochen und sich dann daran wie an eine strikte Weisung<br />
gehalten. Ende Januar 1815 war die Arbeit am Divan gerade voll<br />
in Gang gekommen. Viele Quellenwerke begann Goethe erst nach<br />
diesem Zeitpunkt intensiver zu studieren und für seine Dichtung auszuschöpfen,<br />
nicht zuletzt solche, die ihm nachweislich Anregungen zu<br />
Spruchgedichten gaben.<br />
Vor allem bleibt zu beachten, wie sehr die Kräutersehe Reinschrift<br />
abschließenden Charakter trägt. Eine Fixierung des Bestands, wie<br />
Goethe sie damit vornahm, gehört apriori ans Ende einer Arbeitsepoche,<br />
nicht an ihren Anfang. In Hinblick auf die Spruchdichtung des<br />
Divan war aber der Januar 1815 Frühstadium, Beginn und nicht Ende.<br />
Charakteristisch dafür ist die Freizügigkeit, mit der Goethe damals<br />
noch dem Divan-Projekt einzelne Stücke entzog, um sie unverzüglich<br />
innerhalb der Sammlung "Sprichwörtlich" (1815) zu veröffentlichen.<br />
Hätte er in dieser Zeit bereits an die Vereinigung <strong>von</strong> orientalisierenden<br />
Spl'uchgedichten zu einem Korpus gedacht, wie es sich in der<br />
Kräuterschen Reinschrift realisiert, so wäre doch logischerweise alles<br />
Einschlägige hier zusammengefaßt worden.<br />
Aus diesem allgemeinen Überblick ergibt sich schon, daß mit grÖßter<br />
Wahrscheinlichkeit vieles <strong>von</strong> dem, was die Kräutersche Reinschrift<br />
enthält, erst in der Zeit <strong>von</strong> Februar bis Mai 1815 entstand.<br />
Man kann unmöglich bei der Vorstellung bleiben, daß Goethe in diesen<br />
Monaten keinerlei Spruchgedichte mehr schrieb. Es kommt aber<br />
noch etwas anderes hinzu. Zieht man die Quellen in Betracht, die den<br />
Gedichten der Kräuterschen Reinschrift zugrunde liegen, so läßt sich<br />
erkennen, daß eine große Anzahl dieser Gedichte am 26. Januar 1815<br />
noch gar nicht existiert haben können.<br />
Für die meisten Gedichte, die sich auf der Kräuterschen Reinschrift<br />
befinden, gilt, daß sie "orientalische Sinnreden" zur Vorlage haben.7)<br />
7) V gl. oben S. H.<br />
Burdachs Datierung der Kräuterschen Reinschrift 113<br />
Prüft man nun auf Grund der Entleihungsdaten und Tagebuchzeugnisse,<br />
wann Goethe erstmals die Quellenschriften las, so kommt man<br />
bei <strong>zum</strong>indest neun - also bei einem Viertel der Gesamtzahl - in<br />
chronologische Schwierigkeiten durch Burdachs Terminus vom 26. Januar<br />
1815.<br />
Drei Gedichte wurden angeregt durch Lektüre eines Buchs, das<br />
Goethe erst am 11. März 1815 aus der Weimarer Bibliothek entlieh (bis<br />
1. April 1815). E s handelt sich um die "Colligirte Reise-Beschreibung"<br />
des Adam Olearius, Ausgabe Hamburg 1696. In dieser Ausgabe waren<br />
der bekannten Reisebeschreibung mehrere andere Schriften angehängt,8)<br />
und diese enthalten die Quellen zu folgenden Gedichten:<br />
1. "Was brachte Lokman nicht hervor." Chr. Wurm wies nach, daß<br />
Saadis Bustan und Gülistan zugrundeliegt. Dem Bustan begegnete<br />
Goethe erst in der oben genannten Olearius-Ausgabe.<br />
2. "Als ich einmal eine Spinne erschlagen." Das Gedicht wurde, wie<br />
<strong>Katharina</strong> <strong>Mommsen</strong> zeigte, angeregt durch die Reisebeschreibungen<br />
<strong>von</strong> Mandelslo und Volquard Iversen, die beide an die Olearius-Ausgabe<br />
<strong>von</strong> 1696 angehängt waren.9)<br />
3. "Herr! laß dir gefallen." Den Nachweis, daß auch hier Saadis Bustan<br />
- wie bei Nr. 1 - die Quelle bot, gaben wir oben (S. 78),<br />
Das Datum des H. März 1815 - der ersten Entleihung jener Olearius<br />
Ausgabe <strong>von</strong> 1696 - muß folglich als ungefährer Terminus a quo für<br />
diese drei Gedichte gelten. Zwar stimmen die Entleihungsdaten nicht<br />
immer auf den Tag gen au liberein mit dem Datum der ersten Benutzung<br />
eines Buchs; gelegentlich kann man beobachten, daß Goethe ein<br />
Werk schon ein paar Tage vor eiern offiziellen Ausleiheelatum in Händen<br />
hatte. Aber bei diesen Fällen ist der chronologische Spielraum<br />
8) V gl. oben S. 80.<br />
9) Vgl. K. <strong>Mommsen</strong>: "Indisches" im West-<strong>östlichen</strong> Divan. In: Jahrbuch Goethe i2<br />
(1960) S. 294-97.<br />
8 <strong>Mommsen</strong> , Divan-Studien
114 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />
erfahrungsgemäß begrenzt. Eine Zeitspanne vo.n fast sieben Wo.chen<br />
wäre als Differenz undenkbar.<br />
Bei sechs weiteren Gedichten, die in de): Kräuterschen Reinschrift<br />
enthalten sind, entstehen durch den Entleihungstermin des Quellenwerks<br />
- bei Zugrundelegung vo.n Burdachs Datierung - ähnliche chrono.lo.gische<br />
Schwierigkeiten. Diese Gedichte wurden angeregt durch<br />
Chardins V o.yages en Perse:<br />
r. "Vo.m heut'gen Tag, vün heut'ger Nacht."<br />
2. "Verschün uns Gütt mit deinem Grimme!"<br />
3. "Will der Neid sich düch zerreißen."<br />
4. "Sich im Respect 2)U erhalten."<br />
5. "Welch eine bunte Gemeinde!"<br />
6. "Wer auf die Welt ko.mmt baut ein neu es Haus."<br />
Güethe entlieh Chardins Vüyages en Perse vüm 25. Januar bis<br />
19. Mai 1815. In seinem Tagebuch wird das Werk erstmals erwähnt am<br />
24· Januar 1815, dann wieder am 3. und 7. Februar, süwie am 15., 17.<br />
und 18. März. Datiert man nun die Kräutersche Reinschrift auf den<br />
26. Januar 1815, so. müßten die sechs Gedichte nach Chardin entstanden<br />
sein in der Zeit zwischen dem Abend des 24. Januar und dem<br />
Mürgen des 26. Januar I815! Süfürt müßte Goethe sie in eine Reinschrift<br />
übernommen haben, die einen so abschließend endgültigen<br />
Charakter hat wie die Kräutersche! Das ist schün aus prinzipiellen Erwägungen<br />
heraus unglaubhaft. Mindestens gäbe es erneut <strong>zum</strong> Staunen<br />
Anlaß über die Herstellung der Reinschrift in so. unerklärbarer<br />
Hast und Vürzeitigkeit, mitten aus dem Prüduzieren heraus. Es sprechen<br />
aber auch andere Gründe gegen die Entstehung der sechs Chardin-Gedichte<br />
am 24./26. Januar 18J5.<br />
Güethe hat sich bei der Lektüre <strong>von</strong> Chardins Vüyages en Perse<br />
umfangreiche Notizen gemacht. Eine Anzahl handschriftlicher Blätter<br />
mit Stichwürten, Seiten angaben ihn interessierender Stellen nach<br />
Chardin etc. hat sich erhalten. Auf einer dieser Handschriften 10) -<br />
Burdachs Datierung der Kräuterschen Reinschrift 115<br />
wir haben üben bei Gelegenheit des Zaunkönig-Gedichts vün ihr gesprochen<br />
- finden sich fragmentarische Skizzen zu vier <strong>von</strong> den auf<br />
der Kräuterschen Reinschrift enthaltenen Chardin-Gedichten, nämlich<br />
zu Nr. 2, 3, 4 und 5:<br />
An Go.ttes Tisch sitzen Freund und Feinde [vgl. Nr. 5·]<br />
Zaunkönige gewinnen Stimme. [vgl. Nr. 2.]<br />
Alles jagt man mit Falcken<br />
Nur nicht das wilde Schwein [vgl. Nr. 4.]<br />
Er speist seinen Hunger [vgl. Nr. 3·]<br />
Auf einer weiteren Handschrift mit Nütizen aus Chardin und<br />
Klaprüths Asiatischem Magazin findet sich folgender Vermerk: 11)<br />
Schüene Sprüche<br />
II 17. 29<br />
Die Seitenangabe II 17 weist auf die Stelle in Chardins Voyages<br />
en Perse, wo. sich die Anregung zu dem Gedicht Nr. 1 findet ("Vüm<br />
heut'gen Tag, vort heut'ger Nacht").<br />
Für unseren Zusammenhang ergibt sich: vor der eigentlichen Abfassung<br />
der Gedichte Nr. 1, 2, 3, 4 und 5 liegen noch die übigen Nütizen.<br />
Hier sind also. noch Zwischenstufen, mit denen wir zu rechnen<br />
haben. Es darf als ausgeschlossen gelten, daß alles miteinander: Lektüre,<br />
Beschäftigung mit den Zwischenstufen, Abfassung der sechs Gedichte<br />
und ihre Einreihung in die Kräutersche Reinschrift sich im<br />
Zeitraum <strong>von</strong> noch nicht 48 Stunden abgespielt haben soll, der ersten<br />
48 Stunden, in d enen Chardins "Voyages en Perse" Güethe zuhanden<br />
10) Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 149. Vgl. oben S. 88 mit Abb. S. 86/ 87.<br />
11) Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 185 .<br />
S*
116 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />
waren. Allein für die Exzerptenblätter mit den Zwischenstufen sind<br />
mindestens zwei getrennte Arbeitstage anzusetzen. Nachdem Chardin<br />
am 25. bzw. 24. Januar 1815 entliehen wurde, befaßte Goethe sich ausgiebig<br />
mit dem Werk erst im Februar und besonders im März 1815,<br />
dann nochmals im Mai. Das zeigen die oben zitierten Tagebuchnotizen,<br />
ferner aber auch die Daten <strong>von</strong> vier größeren Divan-Gedichten,<br />
die durch Chardin angeregt wurden. 12) In dieser Zeit, wahrscheinlich<br />
erst im Februar oder März, werden auch die sechs Chardin<br />
Gedichte - mit ihren jeweiligen Vorstufen - entstanden sein, die wir<br />
auf der Kräuterschen Reinschrift finden. Gerade am Beispiel dieser<br />
Gedichte bestätigt es sich, daß mit dem 26. Januar 1815 ein grundsätzlich<br />
viel zu frühes Datum für die Entstehung der Kräuterschen Reinschrift<br />
angesetzt wurde. Hier war die Arbeit am Divan in vollem<br />
Gang, noch in der Expansion begriffen. Von irgendeinem Stadium<br />
des Endes oder Einschnittes, wie es notwendige Voraussetzung zur<br />
Herstellung der Kräuterschen Reinschrift wäre, kann noch keine Rede<br />
sein. Derartiges ist erst viel später festzustellen.<br />
Bei Berücksichtigung der Quellen ergibt sich also: am 26. Januar<br />
1815 hat mindestens ein Viertel der auf der Kräuterschen Reinschrift<br />
enthaltenen Gedichte noch gar nicht existiert, sechs nach Chardin,<br />
drei nach Saadi, Mandelslo und Iversen gedichtete. Burdachs These,<br />
der 26. Januar 1815 sei das Entstehungsdatum der Kräuterschen Reinschrift,<br />
ist im Hinblick ,auf diese Tatsachen nicht aufrechtzuerhalten.<br />
II. Die E n t s t e h u n g s g e s chi c h t e<br />
der Sammlung "Sprichwörtlich" und ihr<br />
Verhältnis <strong>zum</strong> Buch der Sprüche<br />
Prüfen wir nun einmal die Argumente nach, die Burdach für die<br />
Datierung der Kräutevschen Reinschrift vorbrachte. Am 19. Januar<br />
12) Es entstanden: am 6. Februar 1815 das Gedicht "Vier Gnaden" ("Daß Araber an<br />
ihrem Theil"); am 17. März und 17. Mai 1815: "Nur wenig ist's was ich verlange";<br />
Entstehungsgeschichte der Sammlung "Sprichwörtlich" 117<br />
1815 findet sich in Goethes Tagebuch der Vermerk: "Gnomen"; am<br />
26. Januar 1815 heißt es ebendort: "Kreiter Gnomen Abschr[ift]".<br />
Beide Notizen, so meinte Burdach, dürfe man auf das Buch der<br />
Sprüche beziehen, die zweite auf die Entstehung der Kräuterschen<br />
Reinschrift. Mit dem Ausdruck "Gnomen" nämlich habe Goethe die<br />
Gedichte des Buchs der Sprüche bezeichnet. Hierfür glaubte Burdach<br />
einen Beweis zu finden in dem Umstand, daß sich unter den Divan<br />
Papieren eine mit der Aufschrift "Gnomen" versehene Papierkapsel<br />
befindet, die zur Sammlung <strong>von</strong> Handschriften für das Buch der<br />
Sprüche dienen sollte.<br />
In Wirklichkeit ist damit gar nichts bewiesen. Mit dem Wort<br />
"Gnomen" bezeichnete Goethe zu den verschiedensten Zeiten alles<br />
mögliche Spruch- und Sentenzartige, durchaus nicht nur die Gedichte<br />
des Buchs der Sprüche. (Gerade im Januar 1815 taucht beispielsweise<br />
das Wort in seinem Tagebuch noch mehrmals auf - was Burdach<br />
hätte erwähnen sollen - und dort bezieht es sich auf die Sammlung<br />
"Sprichwörtlich".) Was aber die Papierkapsel mit der Aufschrift<br />
"Gnomen" betrifft, so stammt sie nicht etwa <strong>von</strong> 1815, sondern aus<br />
dem Jahre 1825! Goethe legte zu fast allen Büchern des Divan derartige<br />
Papiertaschen an. Durch sichere Indizien steht fest, daß dies<br />
erst Anfang 1825 geschah. Darauf hat Burdach selbst aufmerksam gemacht.<br />
13) Wenn Goethe aber 1825 das Wort "Gnomen" für Gedichte<br />
des Buchs der Sprüche gebrauchte, so bedeutet das wenig für die<br />
Verhältnisse <strong>von</strong> 1815.<br />
Es war Burdach vor allem entgangen, daß Goethe in den Jahren<br />
1814/ 1815 mit "Gnomen" vorzugsweise die damals im Entstehen begriffene<br />
Sammlung "Sprichwörtlich" bezeichnete. Hätte er wenigstens<br />
alle TagebuchsteJlen in Betracht gezogen, an denen im Januar 1815 das<br />
am 24. Mai 18Tj: " Vom Ilimme.:! steigend J esus bracht'" (Reinschrift) und "Wenn<br />
der Mensch die Erde Sdliitzct" (Reinschrift).<br />
13) WA I 6, S. 339. Goethe b"nu tzte Zu den Taschen Papier, das aus der Zeit der<br />
Arbeit an dem Aufsatz "Serbische Lieder" stammte. Die Papierkapseln legte er<br />
an, als er Januar 1825 hegann, den Divan <strong>zum</strong> Druck in der Ausgabe letzter<br />
Hand vorzubereiten.
118 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />
Wort "Gnomen" vorkommt - es sind nicht zwei, sondern insgesamt<br />
sechs! - so wäre ihm vielleicht ihr Zusammenhang mit "Sprichwörtlich"<br />
klargeworden. Da er es unterließ und nur zwei Stellen isoliert<br />
herausgriff, bezog er die Tagebuchaufzeichnung vom 26. Januar 1815<br />
"Kreiter Gnomen Abschr[ift]" statt auf "Sprichwörtlich" auf das<br />
Buch der Sprüche des Divan. Hier liegt die Quelle seines Irrtums.<br />
Als Burdach die Goetheschen Tagebuchnotizen durchging, hatte<br />
er nur ein Augenmerk auf das eine Werk, dessen Herausgabe ihm<br />
oblag: den West-<strong>östlichen</strong> Divan. So achtete er zuwenig auf das,<br />
womit Goethe sich gleichzeitig beschäftigte. Dabei ist allerdings ein<br />
Umstand zu beachten. Als Burdach in den achtziger Jahren des vorigen<br />
Jahrhunderts an dem Divan-Band der Weimarer Ausgabe arbeitete,<br />
standen ihm Goethes Tagebücher noch nicht gedruckt zur Verfügung.<br />
13a) Er war auf die sehr unübersichtlichen Originalhandschriften<br />
angewiesen, es fehlte ihm zudem das Hilfsmittel, das für die Klärung<br />
entstehungsgeschichtlicher Fragen praktisch unentbehrlich ist: das<br />
Register der Tagebücher. Man darf also den Grund seines Irrtums<br />
im wesentlichen darin sehen, daß seine Informationsmöglichkeiten<br />
unzureichend waren. Gräf war bereits in wesentlich besserer Lage.<br />
E r verfügte immerhin über die gedruckten Tagebücher, als er die<br />
Lyrik-Bände seines Werks "Goethe über seine Dichtungen" bearbeitete.<br />
Mit der Entstehungsgeschichte sämtlicher Goethescher Dichtungen<br />
befaßt, mußte er sich jederzeit Rechenschaft geben über die<br />
jeweilige Zugehörigkeit der Zeugnisse. D as führte ihn notwendig<br />
dazu, daß er auch die Tagebuchnotiz vom 26. Januar 1815 richtiger<br />
interpretierte als Burdach. Er wies auf die Möglichkeit des Zusammenhangs<br />
mit der Sammlung "Sprichwörtlich" hin.<br />
Schwerer verständlich mag es erscheinen, daß Burdach sich später<br />
nicht revidiert hat, als die nötigen Hilfsmittel vorlagen, beispielsweise<br />
auch das wichtige W erk "Goethe als Benutzer der Weimarer<br />
Bibliothek" (<strong>von</strong> Keudell und Deetjen, 1931), das über die Lektüre<br />
13a) Die Jahrgänge 1815 und 1816 der Goetheschen Tagebücher erschienen gedruckt<br />
erst 1893, in Abt. III, Bd. 5 der W A.<br />
Entstehungsgeschichte der Sammlung "Sprichwörtlich" 119<br />
der Quellenwerke Auskunft gibt. D och hielt Burdach sogar noch in<br />
dem 1937 erschienenen D ivan-Band der Welt-Goethe-Ausgabe an<br />
seiner unrichtigen D atierun g der Kräuterschen Reinschrift fest.<br />
Leider bekannte sich Gräf zu seiner besseren E insicht nicht mit<br />
der nötigen Entschiedenh eit. D iesem Umstand dürfte es vor allem zu<br />
verdanken sein, daß Burdachs These sich bis heute unangefochten<br />
behaupten konnte. In ein er Anmerkung sprach Gräf zwar deutlich<br />
aus, daß er entgegen "Burdachs Ann ahme" glaube, die E rwähnung<br />
der "Gnomen" in oe tb es Tagebuch vom 19. und f6. Januar 1815 bezöge<br />
sich auf "Sprichwörtli ch". H) Er wies dabei auch auf die vier<br />
TagebuchsteIlen hin , <strong>von</strong> denen Burdach nicht Notiz nahm. Bei der<br />
Interpretation der ei nzel nen Zeugni sse wich er aber einer klaren Entscheidung<br />
aus. Er nannte sowohl "S prichwörtlich" als auch den Divan<br />
als mögliche Beziehung.<br />
Auch im Register zu den Lyrik-Bänden <strong>von</strong> "Goethe über seine<br />
Dichtungen" gab Gräf seiner eigentli chen Meinung nicht Ausdruck.<br />
Die sechs Tagebuch-Zeugnisse <strong>von</strong> Janu ar 1815, die <strong>von</strong> "Gnomen"<br />
sprechen, führte er dort sowohl unter "Sprichwörtlich" auf (S. 1170),<br />
als auch unter dem Buch der Sprüche des Divan (S. 1213). Bei beiden<br />
Werken versah er sie sämtlich mit Fragezeichen. Allerdings verstand<br />
er sich nicht dazu, in der "Chronologischen Übersicht" (S. 890) unter<br />
dem Datum des 26. Januar 1815 die 36 Gedichte der Kräuterschen<br />
Handschrift zu nennen, wie das in den Divan-Kommentaren seit<br />
Burdach üblich wurde. Offe nbar gla ubte er nicht an diesen Terminus<br />
ad quem.<br />
Aufschlußreich ist, daß Gräf im Register zur 3. Abteilung der Weimarer<br />
Ausgabe (Tagebücher), das 1919 erschien - fünf Jahre nach<br />
dem Register sei ner Lyrik-Bünde -(deutlicher wurde. Die "Gnomen"<br />
Stellen <strong>von</strong> Januar 1815 te il te er zwar wiederum heiden Werken zu;<br />
Fragezeichen setzte er aber dies mal nur beim Buch der Sprüche hinzu,<br />
bei "Sprichwörtlich" ließ er sie fort!<br />
Man wird nicht fehlgehen in der Annahme, daß es vor allem Rück-<br />
11,) Vgl. oben S. u o Anm. 4.
120 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />
sicht auf Burdach war, die Gräf daran hinderte, seine Meinung klarer<br />
zu bekunden. Polemik suchte er stets zu vermeiden oder aufs Notwendigste<br />
zu beschränken. Um seine Ansicht durch zusätzliche Beweise<br />
stützen und sie dadurch energischer vortragen zu können, hätte<br />
er im übrigen seine Beobachtungen auf die Quellenverhältnisse bei<br />
den Gedichten der Kräutersehen Reinschrift ausdehnen müssen, wie<br />
wir das oben taten. Das hätte ihn im Rahmen der großen ihm obliegenden<br />
Aufgabe zu weit geführt.<br />
Gestützt auf die Erkenntnis, daß die Gedichte der Kräutersehen<br />
Reinschrift am 26. Januar 1815 schon im Hinblick auf die <strong>von</strong> Goethe<br />
benutzten Quellen <strong>zum</strong> Teil noch nicht existiert haben können, wollen<br />
wir uns nun nochmals mit der Frage beschäftigen, wie es mit den<br />
entstehungsgeschichtlichen Zeugnissen wirklich bestellt ist, die bisher<br />
noch mit Zweifeln behaftet erscheinen. Die ersten Spruchgedichte für<br />
den Divan schrieb Goethe gerade zu jener Zeit, als er aufs intensivste<br />
mit dem Abschluß der Sammlung "Sprichwörtlich" befaßt war. Infolgedessen<br />
überschneiden sich die Entstehungsgeschichten beider<br />
Spruchsammlungen in einer prägnanten Epoche, und aus dieser Überschneidung<br />
resultieren die Irrtümer und Unsicherheiten, denen wir<br />
begegneten.<br />
Die nötige Klarheit läßt sich nur gewinnen, wenn wir zunächst<br />
einmal die gesamte Entstehungsgeschichte der Sammlung "Sprichwörtlich"<br />
vor Augen führen. Es wird sich dann zeigen, daß die uns<br />
besonders interessierenden Zeugnisse des Januar 1815 in diesem Rahmen<br />
ihre notwendige Funktion haben: sie betreffen nämlich die H erstellung<br />
der Druckvorlage für dies sehr umfangreiche Korpus <strong>von</strong><br />
Spruchgedichten und haben nichts mit dem ,Divan zu tun. Erst wenn<br />
uns diese Verhältnisse bei "Sprichwörtlich" eindeutig klar geworden<br />
sind, läßt sich die Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche richtig<br />
verstehen.<br />
Die verfügbaren Zeugnisse für die Entstehung <strong>von</strong> "Sprichwörtlieh"<br />
mögen hier einmal in ihrem eigenen Zusammenhang erscheinen.<br />
Sie werden damit eine Übersichtlichkeit gewinnen, die Gräf ihnen im<br />
Rahmen seines Sammelwerkes nicht geben konnte. Auch lassen sich<br />
Entstehungsgeschichte der Sammlung "Sprichwörtlich" 121<br />
heute wichtige Zeugnisse zusätzlich anführen, die Gräf noch nicht zur<br />
Verfügung standen.<br />
Die Sammlung "Sprichwörtlich" erschien zuerst 1816 - der Titel<br />
nennt als Druckjahr 1815 - im zweiten Band der Ausgabe B <strong>von</strong><br />
Cotta. 15) Dieser Band enthält viele bis dahin ungedruckte Gedichte,<br />
wofür eine Anzahl neuer Abteilungen eingerichtet wurden. Mit ihren<br />
209 Gedichten ist die Sammlung "Sprichwörtlich" die weitaus umfangreichste<br />
dieser Abteilungen, diejenige jedenfalls, die Goethe am<br />
meisten Arbeit machte. Auch befand sie sich noch bis <strong>zum</strong> Schluß<br />
im Ausbau. Die letzten Gedichte für "Sprichwörtlich" wurden Anfang<br />
1815 geschrieben, unmittelbar vor Herstellung des Druckmanuskripts.<br />
Mehrere <strong>von</strong> den neuen Abteilungen jenes zweiten Bandes brachten<br />
Gedichte <strong>von</strong> verhältnismäßig geringem Umfang, so z. B. "Epigrammatisch",<br />
"Gott, Gemüth und Welt", "An Personen". Für das<br />
Verständnis der folgenden Zeugnisse ist es wichtig, zu berücksichtigen,<br />
daß die mehrfach auftauchende Bezeichnung "Kleine Gedichte" sich<br />
gelegentlich auch auf diese Abteilungen beziehen kann, für die sonst<br />
weiter keine unmittelbaren Entstehungszeugnisse existieren. 16)<br />
Jan.<br />
1814<br />
1. Zu Mittag Riemer. Ernst und Scherz Reden aller Sprachen un? Art sortirt.<br />
I. Riemer Tagebuch QbSK17) 3, j6 f.): N ach Tisch mit Goethe im Deckenzim ·<br />
mer. Las ich ihm einige Refl exion cn <strong>von</strong> mir vor, die er billigte. Dies bewog<br />
ihn , seine auf Karten und sonst notierten Sinnsprüche und Reime hervorzuholen.<br />
Wir ordneten sie bi s 8 Uhr.<br />
2. Mittag Riemcr. Gedichte und Aufsätze sortirt.<br />
3. Manches geordnet. [?)<br />
3. An Riemer (WA IV 24, 8): Mögen Sie, mein lieber Professor, beyliegende<br />
15) Die Herausgabe verzögerte sich bi s P rühjahr 1816. Die ersten beiden Bände der<br />
Ausgabe erschienen auch gesond ert unter dem Titel "Goethe's Gedichte".<br />
16) Unter Umständen bedeutet "Kleine Gedichte" auch: Gedichte überhaupt, im<br />
Gegensatz zu größercn W erken. Vgl. unten 21. Dez. 1814: an Cotta.<br />
17) = Jahrbuch der Sammlung Kippenberg. Bd. 3. Leipzig 1923.
I<br />
/<br />
122 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />
Jan.<br />
Febr.<br />
Juli<br />
Gedichte nach Muster des gleichfalls <strong>von</strong> Ihrer Hand bey liegenden, nach<br />
Maaßgabe der Länge entweder ein blättrig oder zweyblättrig abschreiben;<br />
so werden wir unsere Redaction dadurch sehr .6efördert sehen. Da Sie de.'!<br />
heutigen Abend wohl für sich zu thun haben, ich aber die morgende ganze<br />
Zeit versagt bin, so wäre es hübsch wenn Sie sich einrichteten daß wir<br />
Mittwoch (Jan. j.) abends eine recht ernstliche Session halten könnten .<br />
4. Riemer Tagebuch (JbSK 3, 57): Schrieb ich für Goethe einige seiner Gedichte<br />
ab zur neuen Ausgabe.<br />
j. [Abends} Riemer. Kleine Gedichte ausgesucht und revidirt.<br />
6. Abend für mich Sinn- und Sitten sprüche.<br />
7. Riemer Tagebuch (JbSK 3, 57): Abends bei Goethe, alte Poesien <strong>von</strong> ihm<br />
und andern. [?}<br />
S.<br />
10.<br />
n.<br />
u.<br />
3·<br />
13·<br />
14·<br />
IS.<br />
IS.<br />
19·<br />
(Aus der Weimarer Bibliothek - bis? -: Sprichwörter aller Nationen.<br />
[Wahrscheinlich verschiedene Einzelausgaben.]) 18)<br />
Adagia.<br />
Sitten Sprüche.<br />
[Abends} Gnomen.<br />
Abends für mich. Tagesreime.<br />
Riemer Tagebuch (JbSK 3, 6o): Früh Abschrift Goethescher Gedichte. [?]<br />
[Abends} Riemer ... Gnomen.<br />
[Abends} Riemer. Sonderung des Babylonischen. 19)<br />
Riemer Tagebuch (JbSK 3, 6o) : Zu Goethe ... Den Abend Gnomen u.·<br />
dgl. rangiert.<br />
Redaction meiner ersten Bände. Mittag Riemer. 11l)<br />
19· Riemer Tagebuch (JbSK 3, 71): Auf Goethes Zimmer an seinen Werken.<br />
Dez. 21. An Cotta (WA IV 2j, 103): [Cotta habe gewünscht, Goethes "Werke 'wieder<br />
hervortreten Zu sehen". Einverständnis und Honorarforderung: 16000<br />
18) Zitiert aus: Goethe als Benutzer der Weimarer Bibliothek. Bearb. <strong>von</strong> Elise<br />
v. Keudell. Hrsg. <strong>von</strong> Werner Deetjen. Weimar 1931.<br />
19) Das letzte Wort deutete Gräf irrig auf : Sonderung <strong>von</strong> Jugendgedichten für<br />
Bd. I und 2 der Ausgabe Cotta B. Aus dem folgenden Riemerschen Zeugnis, das<br />
Gräf noch nicht kannte, geht hervor, daß Gedichte der Sammlung ,,~prichwörtlich"<br />
gemeint sind. Zu "Babylonisch" vgl. oben I. Jan. ISI4: ."Ernst und Scherz<br />
Reden aller Sprachen."<br />
20) Über die "Redaction" berichtet das Tagebuch weiter am ~o., ';""'24. Juli ISI ~ Sie I·<br />
betraf jedoch wesentlich "Lyrische und Gemischte Gedichte" (Tagebuch . 23. Juli).<br />
Jan.<br />
Entstehungsgeschichte der Sammlung "Sprichwörtlich" 123<br />
Taler.} ... Ich werde die erste Sendung [Manuskript zu Ausgabe Cotta B<br />
Bd. 1 bis 4} bereit halten, daß sie auf ei ne gefällige Erklärung sogleich<br />
abgehen kann, ob mi r gleich die Redaction der kleineren Gedichte, wel~~le<br />
ihren ersten Platz behaupten wollen, noch immer zu schaffen macht;-)<br />
sie sind dergestalt angewachsen, da l) ich sie in zwey Bände zu theilen<br />
genöthiget bin.<br />
18 I5<br />
2. Gedichte 2. BanJ.<br />
6. Sprichwörtliches gesammelt . . . [Nachmittags} Wie Morgens.<br />
7. Redaction der kleinen Gedichte. [?]<br />
7. An G. H. L. Nicolovius (W A IV 25, 13~): Eine neue Ausgabe meiner<br />
Schriften beschäftigt mich . ..<br />
16. An Schelling (WA IV 25, 159): Eine frische Ausgabe meiner Werke, die<br />
ich so eben vorbereite, wird manches N eue bringen.<br />
17. [Nachmittags} Redaction der kleinen Gedichte. [?}<br />
IS. Bearbeitung der Gnomen.<br />
19. Gnomen.<br />
20. Kreiter Gnomen. Nachricht <strong>von</strong> Cottas Acceptation. 22 )<br />
21. (Aus der Weimarer Bibliothek - bis ; . Miirz ,8'j -: Zincgref, Julius Wilh.:<br />
... Apophthegmata. Straßburg 162SI3' oder Frankfurt u. Leipzig 1653.) 23)<br />
21. (Aus der Weimarer Bibliothek - bis ;0. Jan. IS15 - : Cardani, Hieronymi,<br />
Operum T. I. 2. Lugduni 166;.) 2:1)<br />
22. Gnomen.<br />
23. Gnomen redigirt.<br />
21) Statt des Folgenden hieß es im Konze pt ursprünglich: "indem gar manches eingeschaltet<br />
und deshalb das frühere nndcrs geordnet werden muß."<br />
22) Vgl. oben 21. Dez. ,S'4: an Cottn. ..<br />
23) Die Entleihung <strong>von</strong> Zincgrcf und Cardanus dürfte ver anlaßt sein durch Lekture<br />
<strong>von</strong> H. F. v. Diez' Einleitung <strong>zum</strong> Buch des Kabus. Dort werden die Werke<br />
der beiden Autorcn fi ls Muster <strong>von</strong> Sentenzensammlungen erwähnt (S. 4j und<br />
160). In der Liebe Zu Sp ri chwiirtcrn tcuf sich Goethe 1,I1it Diez. Dessen Denkwürdigkeiten<br />
<strong>von</strong> Asicn CO, die er im Januar ISlj las, regten noch einige Gedichte<br />
an, die in letzter Stunde der Sammlung "Sprichwörtlich" zugefügt wurden.<br />
Wahrscheinlich verspro.ch Gocthe sich weitere Anregungen <strong>von</strong> den beiden bei<br />
Diez genannten Büchern, die er dann aus der Bibliothek entlieh. V gl. <strong>Katharina</strong><br />
<strong>Mommsen</strong>: Goethe und D iez. Berlin 1961. S. s6 ff.
124 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />
Jan.<br />
23. An Zelter (W A IV 25, 169): Meine ernstlichste Betrachtung ist jetzt die<br />
neuste Ausgabe meiner Leb e n s - S pur e n , welche man, damit das<br />
Kind einen Namen habe, Wer k e zu nennen pflegt. In den zwey ersten<br />
Bänden wirst du manches finden das quellenhaft ist, du wirst es sammeln<br />
und auf deine Mühle leiten.<br />
26. Kreiter Gnomen Abschr[ift].<br />
Febr. 12. Gedichte zweyter Thei!.<br />
13. An den beyden ersten Bänden.<br />
14. Wie gestern früh.<br />
15. Redaction der Gedichte.<br />
16. Arbeiten wie gestern.<br />
17. Arbeiten fortgesetzt.<br />
20. An Cotta (WA IV 25, 200): [Inhaltsverzeichnis für Bd. 2 der Ausgabe<br />
Cotta B]: ... Sprichwörtlich, über zwey Hundert.<br />
März 27. [Absendung des Manuskripts an Cotta.]<br />
Wir sehen, wie die Entstehungsgeschichte <strong>von</strong> "Sprichwörtlich" nur<br />
durch verhältnismäßig wenig Zeugnisse charakterisiert ist. Die Abteilung<br />
enstand in zwei kurzen Arbeitsepochen. Riemer gab am I. Januar<br />
1814 den ersten Anstoß <strong>zum</strong> "Hervorholen" der "Sinnsprüche<br />
und Reime", die Goethe seit mehreren Jahren gelegentlich, aber<br />
wohl nicht ohne einen bestimmten ihm vorschwebenden Plan o "e-<br />
schrieben hatte. (Die wichtigen Riemerschen Tagebuchzeugnisse stan-<br />
.den Gräf noch'· nicht zur Verfügung.) Bis <strong>zum</strong> 18. Februar 1814 beschäftigte<br />
Goethe sich nun mit den "Sittensprüchen", den "Gnomen"<br />
- der Ausdruck fällt schon hier mehrmals! Sicherlich entstand damals<br />
noch vieles Neue. Hierauf läßt die Bibliotheksentleihung vom 8. Januar<br />
1814 schließen. (Auch die oben angeführten Zeugnisse über<br />
. Bibliotheksentleihungen fehlen noch bei Gräf.)<br />
Der Abschluß dieser Arbeitsepoche ist bezeichnet durch die Worte<br />
"Sondern" und, "Rangieren" des "Babylonischen" (18. ~gIr r 1814).<br />
Das weist darauf hin, daß das handschriftliche Material, das Goethe<br />
gemeinsam mit Riemer durchsah, zu diesem Zeitpunkt no,ch aus vielen<br />
Einzelblättern bestand. Eine Gesamtreinschrift existierte offensichtlich<br />
noch nicht, denn Auswahl und Ordnung (" Sonder" n , " R an-<br />
Entstehungsgeschichte der Sammlung "Sprichwörtlich"<br />
125<br />
gieren") sind Arbeitsvorgänge, die eine solche Reinschrift erst vorbereiten.<br />
Die zweite Arbeitsepoche fällt in den Anfang des Jahres 1815. Auf<br />
Vereinbarungen mit Cotta hin 2/,) ging Goethe im Januar dieses Jahres<br />
an die endgültige Redaktion der ersten Bände der neuen Ausgabe.<br />
Vor allem waren Band T und 2, die Gedichtbände, jetzt fertigzustellen.<br />
In den V ordergru nd trat als größte noch zu bewältigende<br />
Aufgabe die absch li eßende Arbeit an "Sprichwörtlich", der umfangreichsten<br />
neuen Abte.ilun ' in Band 2.<br />
Und jetzt steHt es sich klnr heraus, welche Bewandtnis es damit<br />
hat, wenn Goethes Tagebuch im Januar 1815 so oft <strong>von</strong> "Gnomen"<br />
spricht (18.-20 ., 22., 23-, 26. Januar). Bezug genommen wird damit auf<br />
die Anfertigung des noch fehlenden Druckmanuskripts für "Sprichwörtlich"!<br />
Ein paarmal ist zu lesen, daß Goethe "Sprichwörtliches gesammelt"<br />
hat (6.), daß Gnomen "bearbeitet" (18.), "redigirt" werden<br />
(23.): Beweis, daß die Reinschrift nidlt vorliegt, sondern erst im Werden<br />
ist. huch Neues kommt jetzt noch hinzu. 25 ) Doch am 20. Januar<br />
ist Kräuter bereits mit der Herstellun des Druckmanuskripts befaßt<br />
und am 26. Januar schließt er die Arbeit daran ab.<br />
Mit dem 26. Januar 1815 - dem uns besonders interessierenden<br />
Datum - endigt die eigentliche Entstehungsgeschichte <strong>von</strong> "Sprichwörtlich".<br />
Am Schluß steht, wie es bei einem umfangreichen Goetheschen<br />
Werk üblich zu sein pflegt, die Herstellung der Reinschrift für .<br />
den Druck. Daß das Tagebuch hi er<strong>von</strong> berichtet, ist natürlich und<br />
notwendig. Man würde entsprechen le Zeugnisse mit Recht vermissen<br />
oder nach ihnen suchen, falls sie hi er nicht klar gegeben wären. Durch<br />
die irrtümliche Inanspruchnahme dieser Zeugnisse für den Divan<br />
wurde die Entstehungsgeschichte eines anderen Goetheschen Werks<br />
in ihrer entscheidenden Phase geplündert und entsprechend entstellt.<br />
Die Zeugnisse vom Februar 18J5 dürften nur mehr die übrigen Abteilungen<br />
der beiden Gedichtbände betreffen, die zwar auch Neues,<br />
2~) V g!. 21. Dezember 1814: an Cotta.<br />
25) V gl. oben S. 123 Anm. 2,.
126 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />
, doch in jeweils kleinerem Umfang brachten. (So könnten sich auch<br />
die Tagebuchzeugnisse vom 7. und r7. Januar r8r5 auf andere Abteilungen,<br />
"Epigrammatisch" etc., beziehen.) Am 27. März wurde das<br />
Manuskript für die ersten vier Bände der neuen Ausgabe <strong>zum</strong> Druck<br />
gesandt. Band rund 2 erschienen im April r8r6; Cotta hatte die Auslieferung<br />
aus merkantilischen Gründen ,solange hinausgeschoben.<br />
IH. Die E n t s t e h u n g der K r ä u t e r s c h e n R eins c h r i f t<br />
Nach der im vorigen Abschnitt angestellten Untersuchung ist nunmehr<br />
Klarheit darüber geschaffen: es gibt im Januar r8r5 überhaupt<br />
kein Zeugnis in Goethes Tagebüchern, das sich auf die in der Kräuterschen<br />
Reinschrift enthaltenen Gedichte beziehen läßt. Die Erwähnung<br />
der "Gnomen" und "Kleinen Gedichte" betrifft nicht Spruchgedichte<br />
des West-<strong>östlichen</strong> Divan, ,sondern die Sammlung Sprichwörtlich<br />
und ihre letzte Redaktion. Damit sind die Hindernisse beseitigt,<br />
die das Verständnis für den Werdeprozeß des Buchs der<br />
Sprüche so sehr beeinträchtigten. Wir sind befreit <strong>von</strong> der unmöglichen<br />
Forderung, annehmen zu müssen, die Hauptmasse der Gedichte<br />
dieses Buchs sei einzig und allein in der Anfangsphase der<br />
lang andauernden Schaffensperiode des Frühjahrs r8r5 gedichtet - als<br />
habe Goethe vorsätzlich und unbegreiflich früh am 26. Januar r8r5<br />
mit der Pflege dieser Gedichtgattung Schluß gemacht. Jetzt endlich<br />
steht nichts mehr im Wege, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich<br />
waren. Die Arbeit an den Spruchgedichten erstreckte sich über das<br />
gesamte Frühjahr, den Zeitraum <strong>von</strong> Dezember r8r4 bis Mai r8r;.<br />
Hiermit stimmen nun . auch die sonstigen Tatsachen überein, mit<br />
denen wir zu rechnen haben. Wir sahen, daß gewisse Gedichte der<br />
Kräuterschen Reinschrift auf Grund ihrer Quellen späteren Ursprungs<br />
als Januar r8r5 sein mußten. In diesem Zusammenhang spielten die<br />
Entleihungsdaten eine ausschlaggebende Rolle. Betrachten wir diese<br />
Entleihungsdaten aber nochmals im Überblick, so ergibt sich: gerade<br />
diejenigen Orientwerke, <strong>von</strong> denen die meisten Anregungen zu<br />
Die Entstehung der Kräutcrschcn Reinschrift 127<br />
Spruchgedichten ausgingen, wurden <strong>von</strong> Goethe nicht etwa nur im<br />
Januar, sondern bis in den Mai 18r5 <strong>von</strong> der Weimarer Bibliothek entliehen:<br />
nämlich bis zur Abreise nach Wiesbaden, die der Arbeitsperiode<br />
des Frühjahrs r815 erst ein E nde setzte. So entlieh der Dichter<br />
beispielsweise <strong>von</strong> Januar bis Mai 181 5: Saadis G ulistan, Chardins<br />
Voyages en Perse, die Fundgruben des Orients, Diez' Denkwürdigkeiten<br />
<strong>von</strong> Asien Bd. 1 un d das Buch des Kabus. Dies waren Hauptquellenwerke<br />
für die D iv un-Spruchgedichte, und nichts hindert um<br />
mehr, anzunehmen, daß oethe bis in den Mai r8r5 hinein Anregungen<br />
<strong>von</strong> ihnen empfangen hat.<br />
Anderseits ist der größte Teil des auf der Kräuterschen Reinschrift<br />
Enthaltenen sicherlich bereits bis zur Abreise nach Wiesbaden (Mai<br />
r8r5) entstanden. N ach diesem Zeitpunkt ~A~ Goethe die Quellenwerke<br />
nicht mehr zur Verfügun g. A ll enfalls könnte einzelnes, das<br />
nach Hafis, nach unbekannten Vorlagen oder ausnahmsweise ohne<br />
zugrundeliegende "orientalische Sinnreden" gedichtet war, noch später<br />
entstanden seih.<br />
Die ersten sicheren Zeugnisse, die etwas über Divan-Spruchgedichte<br />
aussagen, stammen <strong>von</strong> Mai 18r5, aus der Zeit kurz vor und<br />
kurz nach der Abreise nach Wiesbadel1. In der für Cotta bestimmten<br />
Charakteristik des Divan-Plans vom 16. Mai 18r5 schrieb Goethe -<br />
der Brief an Cotta wurde nicht abgesandt - : 2G)<br />
"Mein D ivan besteht gegenwärtig schon ohngefähr aus hundert<br />
größe rn Gedichten <strong>von</strong> mehreren Strophen und Zeilen, und <strong>von</strong><br />
vielleicht ebensovicl kl eil1l:ren, vo n acht Zeilen und drunter."27)<br />
Mit den letzten W orten ist natürlich auf die Spruchgedichte hingedeutet.<br />
Au ffä lli g ist, daß oethe sich weder über ihre Form noch<br />
ihre Zahl im klaren war. D ie Gedichte, auf die er hier anspielt, waren<br />
in Wirklichkeit a lle Vier- oder Zweizeiler! Dann aber ist auch die<br />
Angabe hundert viel zu hoch gegriffen. Offensichtlich lag die Kräuter ~<br />
2(~ Siehe obcn S. 8, m. Anm. JO.<br />
27) WA IV 25 . S. 41 6.
128 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />
sehe Reinschrift noch nicht vor. Sie hätte mit dem besseren Überblick<br />
eine genauere Formulierung ermöglicht. Burdach meinte, es seien in<br />
dem Brief an Cotta Gedichte mit in Betracht gezogen, die später<br />
unter die Zahmen Xenien gestellt wurden. 28) Aber diese Erklärung<br />
steht auf schwachen Füßen. So viel orientalisierende Zahme Xenien<br />
- es müßten an die 60 sein - kennen wir gar nicht. Zu damaliger<br />
Zeit dürften überhaupt nur wenige existiert haben.<br />
Ähnliche Unsicherheit tritt auch in einer weiteren Erwähnung der<br />
Spruchgedichte zutage, die <strong>von</strong> Ende Mai 1815 stammt. Am 31. Mai<br />
1815 schrieb Goethe an Christiane und August <strong>von</strong> Goethe aus Wiesbaden:28a)<br />
"Auch sind die neuen Glieder des D iv ans reinlich eingeschaltet<br />
und ein frischer Addreßcalender der ganzen Versammlung geschrieben,<br />
die sich nunmehr auf hundert beläuft, die Beygänger<br />
und kleine Dienerschaft nicht gerechnet."<br />
Mit dem "Addreßcalender" ist das am Tage zuvor niedergeschriebene,<br />
hundert Nummern umfassende Wiesbadener Register gemeint.<br />
In diesem hatte Goethe die größeren Gedichte gezählt, die kleineren<br />
nicht. Über ihre Menge weiß er auch in den Briefen an Christiane<br />
und A:ugust keine Angabe zu machen, es bleibt bei den ganz unbestimmten<br />
Bezeichnungen "Beygänger und kleine Dienerschaft". Das<br />
darf als weiterer Beweis gelten, daß die Kräutersehe Reinschrift noch<br />
nicht vorlag.<br />
Im Wiesbadener Register vom 30. Mai 18I5 werden die damals<br />
existierenden orientalisierenden Spruchgedichte, die "Beygänger und<br />
kleine Dienerschaft", vermutlich erwähnt unter Punkt 7, wo es heißt:<br />
"Talismane pp".29) Hierauf hat als erster Burdach in der Weimarer<br />
28) WA I 6, S. 400. Vgl. auch Gräf III 2, S. 34 zur Stelle; ferner Burdach, Akademievorträge<br />
S. 68.<br />
28.) WA IV 26, S. j und 7. Datierung der im Folgenden zitierten Briefstelle nach<br />
H. G. Gräf, Goethes Briefwechsel mit seiner Frau. Frankfurt a. M. 1916. S. 368.<br />
(Gräf datiert wohl nach Goethes Tagebuch.) Die Briefe wurden abgesandt am<br />
7. und 8. Juni 181j.<br />
29) WA I 6, S. 314. Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 3.<br />
Behandlung der "Talismane" 129<br />
Ausgabe hingewiesen. Allerdings glaubte Burdach, unter "Talismane<br />
pp" sei im engeren Sinne die Kräutersehe Reinschrift zu verstehen.<br />
Denn in dieser beginnt ein Bl.att, das die ersten fünf Gedichte des<br />
nachmaligen Buchs der Sprüche in dcr uns a-us dem Divan bekannten<br />
Reihenfolge enthält, mit dcm Gedicht :<br />
Talismanl: wl:cc\' ich in dem Buch zerstreuen,<br />
Das bewirkt ein leichgewicht.<br />
W er mit gläubig r N adel sticht<br />
Überall so ll gutcs Wort i.hn freuen.<br />
So überzeuge nd diese These Bmda hs auf den ersten Blick aussieht<br />
- wir müssen uns doch <strong>von</strong> .ihr bcfrl:jen. Immer ging ja Burdach<br />
<strong>von</strong>. der Annahme aus, die Kräutersche Reinschrift sei bereits am<br />
26. Januar 18I5 entstanden. Wir sahen, daß das nicht der Fall war<br />
und werden weiter zeigen, daß sie erst geraume Zeit nach der Niederschrift<br />
des Wiesbadener Regi-sters, nämlich im Oktober I8I5 angefertigt<br />
ward. Für jetzt seien nur die beidl:n Hauptgründe angeführt, die<br />
gegen die Existenz der Kräutersehen Reinschrift zur Zeit der Abfassung<br />
des Wiesbadener Registers sprechcn.<br />
1. Aus den angeführten Briefzc ugni sse n ging hervor, daß Goethe<br />
keine Über-sicht über die wirklichc Anzahl und Form der damals vorliegenden<br />
Spruchgedichte hattc. Dic Existenz der Kräutersehen Reinschrift<br />
hätte ihn zu bcstimmtcren, weniger vagen und irrigen Angaben<br />
führen müssen.<br />
2. Wenn Punkt 7 dcs Wi esbadener Registers "Talismane pp" sich auf<br />
die.Kräutersche Rcin schri ft bczöge, so wäre unbedingt zu erwarten,<br />
daß letztere einen entsprechenden Zählungsvermerk, also die Ziffer 7,<br />
trüge. Goethe vcrsah nämli ch, wie man weiß, sämtliche Reinschriften<br />
der im Wiesbadener Rcgistcr aufgeführten Gedichte mit der entsprechenden<br />
Nummcr, die sie in dem Verzeichnis erhalten hatten.<br />
Diese Nummer schrieb er mit roter Tinte in die linke obere Ecke des<br />
9 Momrn scn, Divan-Studi en
130 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />
jeweiligen Blatts. Daß eine solche Zählung bei der Kräutersehen<br />
Reinschrift fehlt, läßt mit Sicherheit darauf 'schließen: sie existierte<br />
überhaupt noch nicht, als das Register angelegt wurde! 30)<br />
Bezieht sich auch die Eintragung unter Nummer 7 des Wiesbadener<br />
Registers: "Talismane pp" nicht auf die Kräutersche Reinschrift<br />
als solche, so schließt das doch nicht aus, daß mit ihr auf die Menge<br />
der bereits in Einzelhandschriften vorliegenden orientalisierenden<br />
Spruchgedichte hingedeutet sein mag. Offenbar bevorzugte Goethe<br />
für diese zur damaligen Zeit die Benennung "TaHsmane"30 a ) - wie er<br />
den Gedichten <strong>von</strong> Sprichwörtlich gern die Bezeichnung "Gnomen"<br />
gab. Das Wort "Talismane" erinnerte an die Herkunft aus "orientalischen<br />
Sinnreden" und entsprach überhaupt der Atmosphäre des<br />
Divan. Das Gedicht "Talismane werd' ich in dem Buch zerstreuen"<br />
und besonders natürlich der Umstand, daß es später an den Anfan~<br />
des Buchs der Sprüche gestellt wurde, läßt - unter anderem - auf<br />
diese Benennung schließen. Das Gedicht, das zur Zeit des Wiesbadener<br />
Registers sicherlich schon existierte, zeigt aber noch etwas<br />
mehr. Man darf es Goethe ruhig glauben, daß er damals beabsichtigte,<br />
die "Talismane" wirklich in dem "Buch" zu "zerstreuen". Der<br />
Vierzeiler sollte in dieser Hinsicht wörtlich genommen werden, so<br />
wie er bei seiner Konzeption gemeint war.<br />
Der "Deutsche Divan", für den Goethe im Wiesbadener Register<br />
eine erste Vorordnung traf, sollte ja nicht aus einzelnen Büchern be-<br />
30) Burdach selbst hat auf die durchgehende Bezifferung der Reinschriften wiederholt<br />
hingewiesen. (Burdach. Akademievorträge S. 76; Welt-Goethe-Ausgabe<br />
Bd. 5. S. 380.) Er unterließ es aber zu erwähnen. daß bei der Kräuterschen<br />
Reinschrift, die er als zur Zeit des Wiesbadener Registers existent ansah. diese<br />
Zählung fehlt, hier somit di e einzige Ausnahme vorläge. Eine weitere Ausnahme<br />
bildet die Handschrift <strong>von</strong> .. E rschaffen und Beleben". Hier wies Burdach jedoch<br />
mit guten Gründen darauf hin. daß die mit der Zählung versehene Reinschrift<br />
vermutlich <strong>von</strong> Goethe an Zelter gesandt war. Nur bei einer verhältnismäßig<br />
geringen Anzahl <strong>von</strong> den im Wiesbadener Register aufgeführten Gedichten fehlt<br />
uns die Kontrolle über die Bezifferung. weil die Handschriften verschollen sind.<br />
30a) V gl. unten S. 134 ff.<br />
Behandlung der .. Talismane" 131<br />
stehen, sondern die Gedichte in ungezwungener Reihenfolge bringen.<br />
(Die Einteilung in Büd1er erfolgte erst im Oktober 1815.) Es war<br />
zunächst nur ein Korpus <strong>von</strong> Gedichten geplant, das formal etwa der<br />
Gruppe "Lieder" oder "Vermischte Gedichte" in den bereits bestehenden<br />
Ausgaben Goethescher Werke entsprach. Innerhalb dieses<br />
einheitlichen Ganzen wollte der Dichter - dies besagt doch der genannte<br />
Vierzeiler - die Spruchgedichte als Talismane "zerstreuen";<br />
der Leser sollte "mit gläubi ger N adel stechen" und sich Orakel holen.<br />
Damit wäre ein "Gloic.hgewicht bewirkt": das in seiner Grundtendenz<br />
leidenschaftliche Werk wäre zugleich ein Weisheitsbuch gewesen. Zugrunde<br />
lag die Vorstellung <strong>von</strong> d m "Bud10rake1", die Goethe <strong>von</strong><br />
Jugend her vertraut war.<br />
Das Kapitel "Buchorakel" d r Not 11 lind Abhandlungen deutet<br />
darauf hin, daß Goethe diese LiebJin gsidee allch in dem endgültigen<br />
Divan verwirklicht hatte, wenn a'U h jn ab rewandelter Form. Die<br />
"Talismane" selbst standen hier nlln in inem geschlossenen Buch beisammen.<br />
Doch waren inzwischen so VIi 'l sonstige Weisheitsgedichte<br />
in dem gesamten Werk "zerstreut", laß di ' ursprüngliche Idee als<br />
auf andere Weise realisiert gelten könnt ', Wie stark Goethe schon<br />
1815 <strong>von</strong> ihr beherrscht wurde, wie wörtli 'b also der auf das Buchorakel<br />
deutende Vierzeiler "Talisman' wereI' ich in dem Buch zerstreuen"<br />
zu nehmen sei, zeigt ,das gemeinsame "Däumeln" im Divan<br />
des Hafis, <strong>von</strong> dem Boisseree aus elen 'fagen des Zusammenseins mit<br />
Goethe - Oktober 1815 - bericbtet.:l1)<br />
Der Vermerk "Talismane pp" unter Nummer 7 des Wiesbadener<br />
Registel"s deutete nur allf die xistenz der Spruchgedichte hin, über<br />
deren Form unel Zahl sich ' oethe nicht im klaren war, und er er··<br />
innerte an die Absicht, diese edichte später im Divan zu "zerstreuen".<br />
Es ist anz verständlich, daß die "Zerstreuung" als solche<br />
noch nicht in dem Register, das nur vorläufig die IOD wichtigsten Ge-<br />
31) V gl. Boisserccs Tngcbu 'h vom 7. O ktober 1815: "Wir däumeln im Divan. Ich<br />
immer unglücklich - oder doch schl ech t u. verworren, G[oethe] meist verliebt."<br />
(Firmenich-Richartz S. 426.) .. Divan" bedeutet hier: die Hafis-Übersetzung <strong>von</strong><br />
J. v. Hammer, nicht etwa Goethes Divan-Manuskript.<br />
9*
132 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />
dichte verzeichnen ,sollte, vorgenommen wurde. Dies konnte erst geschehen,<br />
wenn es an die endgültige Ausgestaltung ging. Bis zu dieser<br />
sollte der "Deutsche Divan" - wie Goethe 16. Mai 1815 an Cotta<br />
schrieb - "noch um manche Glieder vermehrt" werden. 32) Erst wenn<br />
alles beisammen war, ließ sich die Zerstreuung der "Talismane" vornehmen,sie<br />
mußte bis zuletzt aufgeschoben werden.<br />
Daß Goethe im Ernst daran gedacht haben sollte, bereits an siebenter<br />
Stelle des "Deutschen Divan" den gesamten Komplex der<br />
"Talismane" hintereinander aufmarschieren zu lassen, darf als ausgeschlos'sen<br />
gelten. Es wäre in formaler Hinsicht ganz unsinnig gewesen,<br />
das Werk gleich zu Anfang mit drei. Dutzend Spruchgedichten<br />
zu belasten. Das Publikum hätte auf diese Weise viele Seiten durchlesen<br />
müssen, ehe es überhaupt auf Partien traf, die <strong>von</strong> dem wesentlichen<br />
Charakter und dem eigentlich Neuen des Werks einen Begriff<br />
gaben. Nicht ein einziges Gedicht hätte den Leser vorher auch nur<br />
mit der Gestalt des Hafis bekannt gemacht, die doch damals noch<br />
ganz und gar zentral war - sollte doch der "Deutsche Divan" zu<br />
Hafis "in stetem Bezug" stehn. 33) Die Spruchgedichte hätten sich mit<br />
ihrer erdrückenden Menge wie eine gewaltige Exposition ausgenommen,<br />
auf die dann ganz etwas anderes gefolgt wäre. So komponiert<br />
Goethe nicht, dem ein untrüglicher Instinkt für Maß und Proportion<br />
eignete, der gerade auf sinnvolle Exposition und Abfolge zu allen<br />
Zeiten besondere Sorgfalt wandte. Dem Dichter eine derartige kompositorische<br />
Unmöglichkeit zuzutrauen, war ein schwer verständlicher<br />
Fehlgriff Burdachs. Welche Unform dabei zustande gekommen wäre,<br />
zeigt der <strong>von</strong> E. Grumach veranstaltete Druck der im Wiesbadener<br />
Register genannten Gedichte gemäß Burdachs Vorstellungen, den<br />
man jetzt in den "Akademievorträgen" lesen kann.33a)<br />
Wie Goethe wirklich im Wiesbadener Register auf Exposition bedacht<br />
war, sieht man eher hieran: bevor unter Nr. 7 die Spruch-<br />
32) WA IV 25, S. 415.<br />
3:l) Vgl. das projektierte Titelblatt <strong>zum</strong> "Deutschen Divan" <strong>von</strong> 1815 (Divan, Aka.<br />
demie-Ausgabe 3, S. I).<br />
33a) Burdach, Akademievorträge S. 1I2-II6.<br />
Behandlung der "Talismane" 133<br />
gedichte als "Talismane" erscheinen, wird in Nr. 4 ("S~genspfänder")<br />
und in Nr. 5 ("Gottes ist der Orient"ynb) klar'gestellt, was es mit solchen<br />
Talismanen etc. auf sich hat. Nr. 4 enthält eine Schilderung ihres<br />
Charakters, Nr. 5 gibt praktische Beispiele, zu e in ~m Ganzen zusammengestellt.<br />
Natürlich dachte Goethe bei dem Vermerk Nr. 7: "Talismane<br />
pp" nicht an die Aufeinanderfolge <strong>von</strong> drei Dutzend Spruchgedichten,<br />
sondern an den Beginn des "Zerstreuens". Sicherlich sollte<br />
das Gedicht "Talismane werd' ich in dem Buch zerstreuen" an die<br />
Spitze der einges treuten Gedichte treten. Die Einschaltung des größeren<br />
Gedichts Nr. 6 ("Vier G naden") weist übrigens deutlich auf die<br />
Tendenz hin, di e Spruchgedi chte ni cht in einer Folge erscheinen zu<br />
lassen.<br />
Dem Gedicht "Talismane werd ' ich in dem Buch zerstreuen"<br />
kommt eine Schlüsselstellung zu. Es b 'dllrfte der Exposition - die<br />
in Nr. 4 und 5 erfolgte -, hatte aber selbst expositioncl len Charakter.<br />
Anscheinend trug Goethe sich eine Zcitlnng mit dem Gedanken, es<br />
zu dem Expositionsgedicht Nr. 4 (,,$ '/-lc nsrfiinder") hin zuzuziehen.<br />
Denn in der Handschrift dieses GecJi hts s ( eht am Schluß unter der<br />
fünften Strophe <strong>von</strong> des Dichters Hancl LI ' I' V crm crk: "Das sechste?"<br />
Wenn wir in Betracht ziehen, daß clas G 'di cht "Tnlismane werd' ich<br />
in dem Buch zerstreuen" damals noch in einer E in zclhandschrift, und<br />
nur in dieser, vorlag, so werden wir "D:1S sechst'e?" am besten auf<br />
dieses Gedicht beziehen . Es hätte als sechstes Teilstück der "Segenspfänder"<br />
einen übera us sinnvollen Platz gefunden im Hinblick auf<br />
die umfassencle Exposition. Mi t dem Vermerk "Dassechste?" hielt<br />
Goethe sich anscheinend diese Miigli chkeit offen. Bei der später erfolgten<br />
Einteilung des Divrtns in Bücher fiel die Entscheidung. Jetzt<br />
erwies sich das Gedicht als Jie geeignetste Einleitung <strong>zum</strong> Buch der<br />
Sprüche.<br />
33b) Unter Nr. 5 nenn t:
134 Zur E ntstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />
Aus den Tagebuchzeugnis'sen, die <strong>von</strong> der Herstellung des Wiesbadener<br />
Registers berichten, ist zu erkennen, daß die "Talismane" ein<br />
Problem bildeten, das noch in le~!!.de gelöst ;;;d~n- mußte,<br />
ehe das Register niedergeschrieben werden konnte. Den Entschluß<br />
ein Gesamtverzeichnis der Gedichte anzufertigen, mag Goethe in de~<br />
Reisetagen gefaßt haben, als er <strong>von</strong> Weimar nach Wiesbaden unterwegs<br />
war (24. bis 27. Mai 1815). Kaum in Wiesbaden angekommen,<br />
nimmt er die Arbeit vor. Nun lesen wir im Tagebuch:<br />
Mai<br />
27. In Wisbaden 1112. Im Bären eingekehrt. Einrichtung. Bibliothekar Hundeshagen.<br />
Den Divan geordnet.<br />
2S. Divan. Register. Gebadet. Fortsetzung am Divan. Mittag für mich. Talismane<br />
Amulete.<br />
29. [Nachmittags] Divan numerirt.<br />
30. [Nachmittags] Divan Verzeichniß.<br />
Zwischen "Ordnung" und "Nummerierung" beschäftigten Goethe<br />
also nochmals "Talismane Amulete". Hierbei könnte es sich um das<br />
Gedicht "Segens pfänder" gehandelt haben, und entsprechend interpretiert<br />
auch Gräf das Zeugnis vom 28. Mai; Strophe 1 und 2 des<br />
Gedichtes schildern ja den Charakter <strong>von</strong> Talismanen und Amuletten.<br />
Aber "Segenspfänder" war schon früher gedichtet, es ist recht unwahrscheinlich,<br />
daß Goethe <strong>zum</strong> , jetzigen Zeitpunkt noch so viel an<br />
dem Gedicht zu tun fand, daß eine Erwähnung dieser Arbeit im<br />
Tagebuch sich gelohnt hätte. Infolgedessen wird man die Eintragung:<br />
"Talismane Amulete" wohl auf die Beschäftigung mit dem gesamten<br />
Problem der "Talismane" beziehen müssen, wie es sich dem Dichter<br />
nun vor der Registrierung der Divan-Gedichte stellte. Goethe<br />
wird überlegt haben, wie die Masse der Spruchgedichte in jenem<br />
Verzeichnis zu behandeln sei, die er als "Talismane" zu "zerstreuen"<br />
gedachte. Hierfür war auch an eine Exposition zu denken; das führte<br />
zu einer Beschäftigung mit den jetzt "Segenspfänder" und "Talismane"<br />
benannten Gedichten. 34) Resultat dieser Überlegungen war<br />
\ 3!,) Bei dieser Gelegenheit mag das Versehen passiert sein, auf das Burdach hinwies<br />
- .....<br />
Behandlung der "Talismane" 135<br />
dann - <strong>zum</strong> mindesten - die Anordnung der Nummern 4 bis 7 des<br />
Wiesbadener Registers, über die wir oben sprachen.<br />
Aus den zunächst a uf die Niederschrift des Wiesbadener Registers<br />
folgenden vier Monaten berichten keinerlei Zeugnisse <strong>von</strong> der Beschäftigung<br />
mit Spruchgedichten bzw. "Talismanen". Der Divan<br />
wurde in dieser Zei t "au f eine sehr brillante Weise erweitert": 35)<br />
hinzu kamen die Suleika-Gedichte, <strong>von</strong> denen die Mehrzahl September/<br />
Oktober 1815 entstanden. Diese Gedichte gaben dem ganzen Projekt<br />
ein verändertes Gepräge. Ihr Charakter und ihre Entstehung<br />
riefen bei Goethe das natürliche Bestreben hervor, sie in eine geschlossene<br />
Gruppe zusammenzufügen; waren sie doch das Denkmal<br />
einer der glücklichsten und wichtigsten Epochen seines Lebens. Damit<br />
ergab sich die Notwendigkeit, das gesamte Werk in ei ne neue<br />
Form zu bringen. Goethe entschloß sich zur Aufgabe des Plans einer<br />
nicht unterteilten, zwanglos gereihten Gedichtsammlung, wie er im<br />
Wiesbadener Register angelegt war. Stattdessen sollte nun das thematisch<br />
Zusammengehörige vereinigt 'und in einzelne Bücher abgeteilt<br />
werden. Mit diesem Beschluß entschied sich auch, an einem<br />
der bedeutsamsten Wendepunkte in der Geschichte des Divan, das<br />
Schicksal der Spruchgedichte. Der Gedanke, 'sie als "Talismane" zu<br />
"zerstreuen", wurde fallengelassen. Auch di ese Gedichte mußten nun<br />
als eine geschlossene Gruppe zusammengcfaßt werden.<br />
Es war diese Entscheidung und f'estsctzung einer neuen Form des<br />
Divan, die zu der Zusammenstellung des Korpus <strong>von</strong> orientalisierenden<br />
Spruchgedichten führte, welche un s in der Kräuterschen Reinschrift<br />
entgegentritt. U nd erst jetzt, zu diesem prägnanten Zeitpunkt,<br />
ist diese Reinschrift selbst angefertigt worden, die man bisher fälschlich<br />
auf den 26. Janu ar 1815 datierte. Das läßt sich aus den Zeugnissen<br />
erkennen, die tins nun noch zu betrachten bleiben.<br />
(WA 6, 36, f. ; ßurdnch, Aknd emicvorträge S. 71): der Titel: "Talismane,<br />
Amulete, Abraxas Inschriften und Siegel" ward über das falsche G edicht ("Talismane")<br />
gesetzt. Vgl. unten S. 151 m. Anm. "ib.'"~----·~·'"<br />
35) Goethe an Knebel, 21. Oktober 1S15 (WA IV 26, S. 106).
136 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />
Am gleichen Tage, an dem Goethe laut Tagebuch den "Entschluß<br />
zur Abreise" <strong>von</strong> Heidelberg faßte - womit die beinah fünf Monate<br />
dauernde Rhein-Main-Reise <strong>von</strong> 1815 ihr Ende fand -, wurde auch<br />
die neue Form des Divan bestimmt. "Divan in Bücher eingetheilt",<br />
heißt es im Tagebuch vom 6. Oktober 1815, und tatsächlich trat Goethe<br />
am darauffolgenden Tage die Heimreise an.<br />
In Weimar, wo der Dichter am 11. Oktober eintraf, wurden zunächst<br />
die dringendsten sonstigen Arbeiten erledigt. Am 16. Oktober<br />
ist dann erstmals wieder im Tagebuch vom Divan die Rede: "Abschrift<br />
des Buchs Hafis" heißt es da. Goethe stellte also jetzt die Gedichte<br />
des Divan zu Büchern zusammen und ließ sie dann abschreiben.<br />
Auf diese redaktionelle Tätigkeit mögen sich weiter die Tagebuchzeugnisse<br />
<strong>von</strong> Oktober und November 1815 beziehen, die stets<br />
nur lakonisch den Vermerk "Divan" wiederholen.<br />
Ein einziges Mal wird während dieser Zeit im Tagebuch etwas<br />
Spezielleres genannt, und dieses Zeugnis ist das in unserem Zusammenhang<br />
wichtigste überhaupt. Am 26. Oktober heißt es: "Nach<br />
Tische den Talisman geordnet". Diese Worte können nach Lage der<br />
Dinge nur so zu verstehen Bein: Goethe "ordnet" nunmehr' die<br />
"Talismane", die er nach bisheriger Intention im Divan "zerstreuen"<br />
wollte, zu einem zusammenhängenden Korpus, einem "Buch". Das<br />
Entsprechende tat er ja zu dieser Zeit mit sämtlichen Gedichten des<br />
Divan. Die "Ordnung" bezieht sich im Falle des "Talisman" natürlich<br />
auf die Einzelhandschriften, in denen ihm bisher nur die Spruchgedichte<br />
vorlagen. Nachdem diese Handschriften "geordnet" waren,<br />
stellte dann Kräuter die Sammelhandschrift her, die wir heute als die<br />
Kräutersche Reinschrift des Buchs der Sprüche bezeichnen. Damit<br />
können wir nun diese Handschrift auch so datieren, wie es der Wirklichkeit<br />
entspricht: sie ist anzusetzen auf die Zeit unmittelbar nach<br />
dem 26. Oktober 1815.<br />
Hier erweist es sich nochmals, daß die Kräutersche Reinschrift bis<br />
zu diesem Zeitpunkt noch nicht existiert haben kann. Denn es wäre<br />
gar nicht möglich, die Tagebucheintragung vom 26. Oktober 1815:<br />
"Den Talisman geordnet" etwa mit dieser Reinschrift in Verbindung<br />
Die Entstehung dfr Kräutersehen Reinschrift 137<br />
zu bringen. In ihr lag ja die Ordnung schon vor, mit der Goethe sich<br />
jetzt beschäftigte. An der Kräuterschen Reinschrift war nicht mehr<br />
viel zu ordnen: <strong>von</strong> ihren ze hn, jeweils im Durchschnitt vier Gedichte<br />
enthaltenden Blättern 3(;) kon nte Goethe allenfalls noch einzelne untereinander<br />
verschieben, aber das war keine Tätigkeit, die seine Zeit<br />
ernstlich beansprudlt hätte und im Tagebuch erwähnt worden wäre.<br />
Auch weisen die zehn Blätter keinerlei Paginierung auf, mithin keine<br />
sichtbaren Zeichen der "Ordnung". "Den Talisman geordnet" kann<br />
nur so zu verstehen sein: Vorordnung der Einzelhandschriften zwecks<br />
Herstellung der Reinschrift. Das Zeugnis entspricht inhaltlich den<br />
auf die Sammlung "Sprichwörtlich" bezüglichen Tagebuchnotizen<br />
vom 6., 18. und 23. Januar 1815: 37) bevor Kräuter damals <strong>von</strong> den<br />
Spruchgedichten dieses Werks die Reinschrift herstellte, mußte Goethe<br />
sie "sammeln", "bearbeiten", "redigieren". Es bestätigt sich di e<br />
oft zu machende Erfahrung, daß bei Goethe die Entstehungsgeschi chte<br />
<strong>von</strong> Werken gleicher Gattung einen ähnlichen Verlauf nimmt.<br />
Unterschiedlich ist nur, daß in den Tagebuchzeugnissen zu "Sprichwörtlich"<br />
Kräuters Tätigkeit des "Abschreibens" besonders erwähnt<br />
wird, in denen <strong>zum</strong> Buch der Sprüche nicht. Die Genauigkeit solcher<br />
Angaben variiert jedoch in Goethes Tage buch beträchtlich. Während<br />
der Monat.e Oktober bis Dezember 1815 war Kräuter nachweislich<br />
der meistbeschäftigte Schreiber. D as zeigen beispielsweise die Konzepte<br />
der aus dieser Zeit stammenden Goetheschen Briefe. Sie wurden,<br />
mit Ausnahme wenige r <strong>von</strong> August v. Goethe geschriebenen,<br />
sämtlich <strong>von</strong> Kräuter angefertigt. Krä.uter fungierte damals auch als<br />
Schreiber für "Kun st 'und Alte rthum in den Rhein und Mayn Gegenden",<br />
wie aus erhaltenen Handschriften zu erkennen ist. Eine Bestätigung<br />
dafLir, daß die Kräutersche Reinschrift des Buchs der<br />
Sprüche aus dieser Zeit stammt, gibt endlich auch das Papier, auf<br />
dem sie geschri eben wurde. Das gleiche Papier mit dem nämlichen<br />
Wasserzeichenfindt:t sich nochmals bei den Konzepten einiger Divan-<br />
36) V gl. oben S. 10
138 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />
Gedichte, die sämtlich im Herbst 1815, nach Goethes Heimkehr <strong>von</strong><br />
der Rhein-Main-Reise, entstanden sind. 38)<br />
Daß in den Tagebuchzeugnissen, die <strong>von</strong> der Redaktionsarbeit an<br />
den "Büchern" des Divan im Oktober und November 1815 berichten,<br />
außer dem J3iuch Hafts nur das Buch der Sprüche eigens erwähnt<br />
wurde, macht es deutlich: auf dies letztere hatte Goethe besondere<br />
Mühe zu verwenden, mehr vermutlich als auf die übci.gen Bücher, bei<br />
denen die Dinge einfacher lagen. Nach allem, was wir uns vor Augen<br />
führten, erscheint das durchaus verständlich. In dem "Talisman" lag<br />
ein umfangreicher Komplex <strong>von</strong> Gedichten vor, der noch nicht überschaubar<br />
war, weil ihm im Wiesbadener Register keine Ordnung gegeben<br />
werden konnte und sollte. Die Redaktion dieser Gedichtmasse<br />
bildete <strong>zum</strong> jetzigen Zeitpunkt eine Aufgabe größeren Ausmaßes,<br />
daher wurde sie im Tagebuch besonders erwähnt.<br />
Wir sprachen eingangs da<strong>von</strong>, daß durch die Kräutersche Reinschrift<br />
bereits die eigentliche Anordnung des Buchs der Sprüche begründet<br />
worden war, die bis <strong>zum</strong> Druck des Divan hin ihre Gültigkeit<br />
behielt. Die Ursachen hierfür lassen sich jetzt besser verstehen,<br />
nachdem wir mit der richtigen Datierung dieser Reinschrift bekannt<br />
geworden sind. Die Anordnung stammt eben aus einer Zeit, in der<br />
überhaupt die endgültJige Form des Divan, für alle seine Bücher, im<br />
wesentlichen konstituiert ward. Dies zu wissen, ist für das Verständnis<br />
des Buchs der Sprüche und seiner Entstehungsgeschichte eine notwendige<br />
Voraussetzung.<br />
38) Die Gedichte: "Hochbild" und "Nachklang" (beide vom 7. N ov. 1815) ; "Hafis<br />
di r sich gleich Zu stellen" (vom 22. Dez. 1815) .<br />
"ABR AXAS"<br />
Süßes K ind, die Perlen reihen,<br />
W~e ich irge nd nur vermochte,<br />
W ollte trauli ch dir verleihen,<br />
Als der Liebe I ampend ochte.<br />
Und nun kommst du , hast ein Zeichen<br />
Dran gehängt, das, un ter allen<br />
Den Abraxas se in es gleichen,<br />
Mir am schlechtsten wi ll gefallen.<br />
Diese ganz modern e N nn:heit<br />
Magst du mir nach Schi ras bri ngen I<br />
Soll ich wohl, in seiner tarrheit,<br />
H ölzchen quer auf Hö l zc h e n s~ n gen ?<br />
Abraham, den Herrn der Sterne<br />
Hat er sich <strong>zum</strong> Ahn erl esen;<br />
Moses ist, in wüster Ferne,<br />
D urch den E ine n groß gewesen.<br />
Davi d, auch durch viel Gebrechen,<br />
Ja, Verb rechen durch gewandelt,<br />
Wußte doch sich los zu sprechen:<br />
E inem hab' ich recht gehandelt.
140 "Süßes Kind, die Perlenreihen"<br />
Jesus fühlte rein und dachte<br />
N ur den Einen Gott im Stillen;<br />
Wer ihn selbst <strong>zum</strong> Gotte machte<br />
Kränkte seinen heilgen Willen.<br />
Und so muß das Rechte scheinen<br />
Was auch Mahomet gelungen;<br />
Nur durch den Begriff des Einen<br />
Hat er alle Welt bezwungen.<br />
Wenn du aber dennoch Huld'gung<br />
Diesem leid'gen Ding verlangest;<br />
Diene mir es zur Entschuld'gung<br />
Daß du nicht alleine prangest. -<br />
Doch allein! - Da viele Frauen<br />
Salomonis ihn verkehrten,<br />
Götter betend anzuschauen<br />
Wie die Närrinnen verehrten.<br />
Isis Horn, Anubis Rachen<br />
Boten sie dem Judenstolze,<br />
Mir willst du <strong>zum</strong> Gotte machen<br />
Solch ein Jammerbild am Holze!<br />
Und ich will nicht besser scheinen<br />
Als es sich mit mir eräugnet,<br />
Salomo verschwur den seinen,<br />
Meinen Gott hab' ich verläugnet.<br />
Laß die Renegatenbürde<br />
Mich in diesem Kuß verschmerzen:<br />
Denn ein Vitzliputzli würde<br />
Talisman an Deinem Herzen.<br />
Goethe und das Kreuz-Symbol 141<br />
Dieses Gedicht mit seinem heiklen Gegenstand - Abneigung des<br />
Parsen gegen das christliche Kreuz - wurde <strong>von</strong> Goethe sekretiert. Es<br />
erschien erst in der Quartausgabe <strong>von</strong> 1836. In der Handschrift wird<br />
das Gedicht durch die links oben eingetragene Ziffer ,,62" mit dem<br />
Wiesbadener Register verbunden, wo es unter N r. 62 heißt: "Abraxas".<br />
"Abraxas" war also der ursprünglich vorgesehene oder <strong>zum</strong> mindesten<br />
erwogene Titel. Da er aber in der Handschrift fehlt, geben auch<br />
die Ausgaben fol ger~chti g das Gedicht ohne Überschrift.<br />
Goethes Abncigung gcgen das Krcuz als religiöses Symbol ist bekannt.<br />
Auge und inncrer inl1 , beide bei ihm hochempfindlich und<br />
jeden Eindruck mit ursprünglicher . cwalt auffassend, wehrten sich<br />
gegen die gewohnheitsmä ßige Zurschaustellung des "Martergerüsts".<br />
In Wilhelm Meisters Wanderjahrc n sprach der Dichter es unumwunden<br />
aus, daß es ihm eine "verdammun gswürd igc Frcchhcit" bedeute,<br />
mit diesen "Geheimnissen, in welchcn die göttli che T iefc des Leidens<br />
verborgen liegt, zu spielen". H ierüber solle man vielmehr "einen<br />
Schleier ziehen". 1) Und so trug auch Mignon, die Lieblingsgestalt des<br />
Dichters, in der wichtige Züge seines Wese ns verkörpcrt sind, das<br />
Kreuz geheim: erst bei ihrem Todc wird Cs cntdeckt "auf ihren zarten<br />
Armen mit vielen hundert Punkten sehr zicrlich abgebildet".2)<br />
Das Divan-Gedicht bringt Goethcs Abneigung gegen das Kreuz<br />
besonders kraß zur Darstellung und er.i nncrt damit an ähnliche Ausfälle<br />
in den Venezianischen Epigrammen. Eine eigenartige Note erhält<br />
es vor allem d adurch, daß dic InvcklJivcn gegen das Kreuz innerhalb<br />
der erotischcn Sphäre laut wc rdcn. Den Dichter bringt das Kreuz<br />
in Harnisch, das di e Gelicbtc als Schmuck am Halse trägt. Dies ist<br />
das Hauptrnotiv, <strong>von</strong> dcm das Gedicht ausgeht.<br />
Durch dic E rkl äc lIngsvers lIchc der Interpreten wird das Problematische<br />
dicscr Verknli pfung <strong>von</strong> Religionssatire und Eros noch erhöht.<br />
Burdach nahm an, das Gedicht sei durch ein pel'sönliches Erlebnis<br />
hervorgerufen worden: "Marianne-Suleika" habe "als Katholikin<br />
1) Wilhelm Meisters Wanderjahre Buch 2 Kap. 2 (WA I 24, S. 2j5).<br />
2) Wilhe1m Meisters Lehrj ahre Buch 8 Kap. 8 (WA I 23, S. 257).
142 "Süßes Kind, die Perlenreihen"<br />
ein Kruzifix getragen".3) Diese Vermutung wurde später in den<br />
Kommentaren oft wiedeDholt. Sie bringt aber neue Schwierigkeiten<br />
hinzu. "Süßes Kind, die Perlenreihen" rückt so ~n unmittelbare Nachbarschaft<br />
zu den Gedichten an Suleika - viele Amgaben haben es<br />
auch einfach dem Buch Suleika zugeordnet. Damit wird jedoch in die<br />
Suleika-Gedichte ein Mißklang hineingetragen, der höchst befremdlich<br />
und jedenfalls ohne Parallele wäre. Die Satire auf das Kreuz<br />
paßt schlecht zu dem sonst ganz reinen und positiven Charakter dieser<br />
Gedichtgruppe. Aber auch vom Biographischen her gesehen hat<br />
Burdachs Vermutung wenig Glaubhaftes. Als unser Gedicht entstand,<br />
im März 1815, war Marianne v. Willemer überhaupt nicht gegenwärtig.<br />
Die wenigen Begegnungen mit ihr im Herbst 1814 lagen viele Monate<br />
zurück. Goethes Freundschaft mit Marianne nahm erst im Herbst 1815<br />
jene Intensität an, wie wir ,sie aus dem im wesentlichen damals entstandenen<br />
Buch Suleika kennen. Erst in dieser Zeit schrieb Goethe<br />
zahlreiche Gedichte, die speziell auf persönliche Züge der Freundin<br />
Bezug nehmen, nicht aber vorher, wo sie schwer nachzuweisen wären.<br />
Diese Schwierigkeiten, die sich bei der herkömmlichen Deutung<br />
des Abraxas-Gedichts ergeben, lassen sich glücklicherweise beheben.<br />
Wieder einmal löst eine Quelle das Rätsel. Das Hauptmotiv - die<br />
Geliebte trägt ein Kreuz am Hals, das bei Andersgläubigen Anstoß<br />
erregt - stammt überhaupt nicht aus persönlichem Erleben. Goethe<br />
verdankt es literarischer Anregung.<br />
Was wir über die Beziehungen des Abraxas-Gedichts <strong>zum</strong> Orient<br />
wissen, beruht im wesentlichen auf einer Mitteilung Boisserees. Am<br />
8. August 1815 las Goethe in Wiesbaden Sulpiz Boisseree das Gedicht<br />
vor, und dieser berichtet darüber in seinem Tagebuch:<br />
"Haß des Kreuzes. Schirin hat ein Kreuz <strong>von</strong> Bernstein gekauft, ohne es zu kennen;<br />
ihr Liebhaber Cosken [ChosruJ findet es an ihrer Brust, schilt gegen die <strong>west</strong>liche<br />
Narrheit u.s.w. Zu bitter, hart und einseitig, ich rathe, es zu verwerfen, sei ein<br />
gutes ob <strong>zum</strong> närrischen Hofrath - ob odium crucis. - 4) Er wolle es seinem Sohn<br />
3) Jubiläums-Ausgabe 5, S. 425.<br />
4) Gemeint ist der <strong>von</strong> dem Frapkfurter Arzt J. Chr. Ehrmann gegründete "Orden<br />
der närrischen Hofräte". V gl. hierüber Beutler a. a. O. S. 803.<br />
Goethe und das Kreuz-Symbol 143<br />
<strong>zum</strong> Aufheben geben, dem gebe er alle seine Gedichte, die er verwerfe; er habe<br />
eine Menge, besonders persü nl iche und zeitliche; nicht leicht eine Begebenheit<br />
worüber er sich nicht in einem Gedidlt ausgesprochen. So habe er seinen Aerger,<br />
Kummer u. Verdruß über die Angclcgenhcit[cn] des Tages Politik u.s.w. gewöhnlich<br />
in einem Gedicht ausgclallcn, es sey ei ne Art Bcdürfnj(\ und Herzens-Erleichterung,<br />
Sedes poeticae. Er schoffe sich so dk Dinge vom Halse, wenn er sie in Gedicht[el<br />
bringe. sonst habe er dcrglcicld,cn] imlller verbrannt; aber sein Sohn verehre alles<br />
<strong>von</strong> ihm mit pie/a al, dn 1118sc Cl' ihm den Spaß."")<br />
Wir erfahren hier, was in dem Gedicht selbst nicht steht: "Süßes<br />
Kind, die Perlenreihen" ist angeregt durch gewisse Züge, welche die<br />
Überlieferung <strong>von</strong> Chosru und Schinin erzählt. Der persische König<br />
Chosru H. Parviz hatte eine Armenierin, Schirin, zur Gemahlin, die<br />
ihres Christentums wegen <strong>von</strong> den Parsischen Priestern angefeindet<br />
wurde. Bei der Boisseree gegebenen Erläuterung machte Goethe<br />
den historischen Hintergrund offenbar nur andeutungsweise klar,<br />
schmückte dagegen die Fabel noch weiter aus. Daß Schirin ein Kreuz<br />
"<strong>von</strong> Bernstein gekauft", noch dazu "ohne es zu kennen", ist eine<br />
Hinzufügung, die inhaltlich dem eigentlichen Thema des Gedichts<br />
widerspricht. Vielleicht darf man hier auch mit Gedächtnisfehlern<br />
Boisserees rechnen.<br />
In der Chosru-und-Schirin-Geschichtespielen sich die religiösen<br />
Gegensätze zwischen Parsen und Christen ab. Goethes Gedicht erwähnt<br />
die Parsen überhaupt nicht, wohl aber nachdrücklich Mohammed.<br />
Goethe hat die Handlung aus ihrer genauen zeitlichen Umgebung<br />
herausgdiist. Er spricht, wie gewöhnlich in der Frühzeit des<br />
Divan, aus der Maske des Hafis (oder Hatern) ; daher auch die Erwähnung<br />
<strong>von</strong> Schiras, andererseits die Weglassung der Namen Chosru<br />
und Schirin. Auf diese Wl'ise erscheint nun ein Mohammedaner als<br />
Gegner des Kreuzes, nicht ein Parse. Jedenfalls wäre es nicht gerechtfertigt,<br />
das Abraxas-Gedicht als <strong>zum</strong> Buch des Parsen gehörig zu erklären<br />
wie das durch Burdach geschah.6) So wie Goethe es schrieb, ist<br />
das P~rsische absichtlich eliminiert. An der Chosru-und-Schirin-Über-<br />
5) Firmenich-Ricllartz, S. 40.\ f.<br />
6) Jubiläums-Ausg. Bd. j, S. 425.
144 "Süßes Kind, die Perlenreihen"<br />
lieferung als Vorlage interessierte ihn wesentlich nur das Motiv, daß<br />
der Liebende seiner Angebeteten wegen <strong>zum</strong> "Renegaten" wird - in<br />
bezug auf das ominöse am Hahe getragene Kreuz. Das historische<br />
Detail ward ihm hierüber gleichgültig, darum verwendete er es nicht.<br />
Doch nun zu der uns interessierenden Quellenfrage. Über Chosru<br />
und Schirin las Goethe Ausführliches im 2. Bande der Fundgruben<br />
des Orients. J. v. Hammer brachte hier die "Probe einer Übersetzung<br />
des Schahname" <strong>von</strong> Firdusi. Ausgewählt hatte er: "Die Erzählung<br />
<strong>von</strong> Chosru und Schirin". In Hammers Einleitung zu seiner Übersetzung,<br />
die sowohl über Firdusi im allgemeinen als auch über die<br />
dargebotenen Partien des Schah Nameh im besonderen unterrichtet,<br />
finden wir auch den Passus, der das Hauptmotiv des Abraxas<br />
Gedichtes anregte. Allerdings an recht verborgener Stelle. Hammer<br />
schreibt: 7)<br />
,,[Chosru] Parwis bestieg den Thron im Jahr 589 der christlichen Zeitrechnung ...<br />
Schon früher war er den Christen geneigt gewesen ... Das Jahr nach seiner Thronbesteigung<br />
vermählte er sich, wie Theophylaktus Simokatta erzählt mit Schirin CELp1J)<br />
einer Christinn, der zu Liebe er der christlichen Religion und besonders dem heil.<br />
Sergius vorzüglich zugethan gewesen zu seyn scheint. Im selben Jahre gelobte er ein<br />
goldenes Kreutz nach der zu Miafarekein erbauten Kirche des heil. Sergius, wenn<br />
\ es ihm gelänge den Empörer Sasdeprates zu bezwingen, und als man ihm dessen<br />
..t'. Kopf gebracht, sandte er nicht nur das versprochene Kreutz an die Kirche des heiligen<br />
Sergius nach Miafarekein, sondern auch das heil. Kreutz, das sein Vorfahrer<br />
Chosroes Nuschirwan <strong>von</strong> JernsaJem weggeführt hatte, dahin wieder zurück. Schirin,<br />
welche Parwis als eine Fremde wider alle Reichsgrundgesetze zur Gemahlin erklärte,<br />
mußte als solche dem Volke und besonders den Mob e den oder Priestern<br />
der Magen, um so verhaßter seyn, als sie Christinn war, und den Kaiser zu manchen<br />
die christliche Religion auf Kosten des alten Feuerdienstes begünstigenden Schritten<br />
verleitete. Einen auffallenden sonderbaren Beweis da<strong>von</strong> gibt sein <strong>von</strong> Simokatta<br />
aufbehaltenes Bitt- und Dankschreiben an den heil. Sergius worin er ihn zuerst um<br />
einen Erben <strong>von</strong> Schirin bittet, ihm dann ihre Schwangerschaft meldet, und sich<br />
schönstens dafür bedankt ... "<br />
Das im letzten Satz erwähnte Bitt- und Dankschreiben Chosrus an<br />
den heiligen Sergius zitiert Hammer seiner "Sonderbarkeit" wegen<br />
,) Fundgruben des Orients. Bd. 2, S. 424 f.<br />
Quellen 145<br />
in einer Anmerkung. Darin aber findet sich die eigentliche Quelle zu<br />
Goethes Gedicht. Das Schrciben la utet:<br />
Mag n 0 M a [ r ] t y r i S erg i 0 C h 0 S r 0 c s Rex r e g u m.<br />
Cum versarer Bcrramis, oravi tc, vir sancte, ut mc auxilio tuo adjuves, ut Sira<br />
conciperet; et qualllquam illa Christiana esset, ego vero GraecOflllll saneta colerelll,<br />
ut per leges nostras iJlarn lllatrimonio habere non possem, tarnen propter rneam<br />
erga Te pietatern legern sccutus illalll, duxi, eamque prae caeteris uxoribus in dies<br />
sincero alIectu et arno Cl amavi. Atque ita constitui bonitatem tu am rogare, ut Sira<br />
foetu gravida fieret, ct rogavi et juravi plene, si concepisset, er u c e III qua m in<br />
c 0 II 0 g e s t are t, ad venerabilern aedelll tuam mittere. - Et quia preces ac<br />
vota exaudis, cx illo die Sira, quod foeminis solet accidere, desiit. Theophylacttts<br />
interprete Pontano p. I37.<br />
Schirin also, die bei den Parsischen Priestern Verhaßte, trug als<br />
Christin "ein Kreuz am Hals" ("crucem quam in collo gestaret"). Dieser<br />
Zug, der sich nur hier findet - in der übersetzten Chosru-und<br />
Schirin-Episode des Schah Nameh kehrt er nicht wieder - gab Goethe<br />
offensichtlich die Anregung <strong>zum</strong> Hauptmotiv des Abraxas-Gedichts.<br />
Vielleicht hätte er weniger auf dieses in einer Anmerkung verborgene<br />
Detail achtgegeben, wäre nicht im Haupttext so viel <strong>von</strong> Kreuzen die<br />
Rede gewesen und vom Gegensatz zwischen Christen und Parsen.<br />
Also nicht ein Kreuz, das Marianne v. Willemer trug oder etwa<br />
eine anmutige Weimaranerin, ist in dem Abraxas-Gedicht gemeint,<br />
sondern wirklich Schirins am Halse getragenes Kruzifix. "Süßes Kind,<br />
die Perlenreihen" beruht demnach in noch viel stärkerem Maß, als bisher<br />
bekannt, auf Quellenanregungen. Seinem Charakter nach ähnelt es<br />
damit den im Frühjahr ;8I5 entstandenen Divan-Gedichten, für die<br />
ganz allgemein gilt, daß sie wesentlich durch Quellen inspiriert wurden.<br />
Wie die meisten in dieser Arbeit betrachteten Gedichte ist auch<br />
"Süßes Kind. die.: Perlenreihen" eine Frucht der Fundgruben-Lektüre.<br />
In dcn FU lldw uht'n fnnd Gocthc ferner die sechste Koran-Sure , die ,<br />
wie man weiß, V . 11 11'. 11t1f'C,I(tc ( .. Ahraham, den Herrn der Sterne"<br />
10 Mommscl\. D IVAn , ti lwil lill
146 "Süßes Kind, die Perlenreihen"<br />
etc.). Goethe kannte diese Sure schon aus seiner Jugend, er hatte sie<br />
im Jahr 1772 übersetzt. 8) Er las sie aber <strong>zum</strong> jetzigen Zeitpunkt, im<br />
März 1815, wieder in dem gleichen Fundgruben-Band 2, der auch die<br />
<strong>von</strong> Hammer übersetzte und eingeleitete Chosru-und-Schirin-Episode<br />
aus dem Schah Nameh enthält. 9) Nachdem wir feststellen konnten,<br />
daß letztere den eigentlichen Anstoß zu dem Abraxas-Gedicht gab,<br />
erscheint es angebracht, auf diese bisher nicht beachtete Tatsache hinzuweisen.<br />
Im Fundgruben-Band 2 las Goethe auch die fünfte Sure des Korans,<br />
in der Jesus es ablehnt, sich selbst als "göttlich" anzuerkennen. V. 21<br />
bis 24 des Abraxas-Gedichts mag hierdurch angeregt sein. Ganz auf<br />
Band 2 der Fundgruben beruhen jedenfalls die ersten Worte eines<br />
Entwurfs zu dem Gedicht: "An Suleikas Hals Kreuz Auch Mobed,<br />
Abraham Mahom[et] ..." Das Wort Mobed, das Burdach zweifelhaft<br />
vorkam,1O) nimmt Bezug auf die oben zitierte Einleitung zu<br />
Hammers Schah-Nameh-Übersetzung ("Mob eden oder Priestern der<br />
Magen").<br />
Aus dem angeführten Gesprächsbericht Boisserees möchte man<br />
freilich entnehmen, daß irgendeine Art <strong>von</strong> Lebensanregung doch<br />
hinter dem Abraxas-Gedicht steht. Es ist <strong>von</strong> einer "Begebenheit"<br />
die Rede, über die Goethe sich "ausgesprochen" habe, <strong>von</strong> "Aerger,<br />
Kummer u. Verdruß über die Angelegenheiten des Tages" etc. Solche<br />
Dinge schaffe er sich vom Halse, "wenn er sie in Gedichte bringe".<br />
Nachdem sich herausgestellt hat, daß das Hauptmotiv, das am Halse<br />
getragene Kreuz, nicht aus der Erlebenssphäre, sondern <strong>von</strong> einer<br />
Quelle stammt, wird man überhaupt den Schluß ziehen dürfen: soweit<br />
eine Lebensanregung in Frage kommt, sollte sie nicht im<br />
amourösen Bezirk zu suchen sein. Wenn Goethe gelegentlich zu<br />
Äußerungen getrieben wurde, die ihn wie in den Tagen der Aus-<br />
8) Übersetzung aus dem Lateinischen; s. WA I 53, S. 145 f.<br />
9) Fundgruben Bd. 2, S. 346 ff. In: "Proben einer gereimten Übersetzung des<br />
Korans" <strong>von</strong>]. v. Hammer.<br />
10) WA I 6, 470.<br />
Frage der Anregungen 147<br />
einandersetzung mit Lavater als "dezidierten Nichtchristen" erscheinen<br />
lassen,11) so gab gewöhnlich ein Ereignis im Bereich des Weltanschaulichen<br />
den Anlaß.<br />
Im Falle des Abraxas-Gedichts könnte eine Tagebucheintragung<br />
auf ein solches Ereignis hindeuten. Am 2. März 1815 unterhielt sich<br />
Goethe "Mittag mit August [v. Goethe]. Üb~lIclig. Veränderung".<br />
Sehr bald darauf wurde "Süßes Kind, die Perlenreihen" .Beschriebenwie<br />
man auf Grund hand schriftlicher Indizien annimmZ"'T;inerhalb<br />
der ersten Märzhälfte. I:l) Die ill der Zeit der Romantik häufigen<br />
'--" -_ ~ ....<br />
Konversionen bekannter Pcrsönlichlu:itcn erregten wiederholt Goethes<br />
Unwillen. Über wessen " Rcli /o: ionsveründerung" er am 2. März<br />
mit seinem Sohne sprach, wiire noch zu crui cren. Möglicherweise handelte<br />
es sich um das genau in dicscr Z(:it kllrsi erende Gerücht, Schelling<br />
sei <strong>zum</strong> Katholizismus übergetreten. '1:1) E ine Nachricht dieser<br />
Art jedenfalls mag das Abraxas-Gedicht hervorgerufen haben. Was<br />
darin, freilich mit starker Ironie, zur Dnrstellung gebracht wird, ist<br />
schließlich ja auch eine Art "Rclil-\iol1sveriindcrung" : der Dichter<br />
"verschwört", "verläugnet seinen Gott" (V. 43 f.). Der Freundin zuliebe<br />
wird er Renegat, <strong>zum</strong>indest während CI' sie küßt:<br />
Laß die Renegatenbü rd '<br />
Mich in diesem Kuß vcrschmerzen:<br />
Denn ein Vi tzlirlltzli würde<br />
Talisman an Deinem Hcrzen.<br />
Will man dem Abraxas-Gecli cht einen Platz im Divan zuerkennen,<br />
so gehört es seinem Charakter IInch am ehesten in das Buch des Un-<br />
11) An Lavatcr 29. J Illi 17R2. (WA l V G, S. 20.)<br />
12) Vgl. WA J 6, S. 4)4 f. 11.111 7. IIlld 8. März 1815<br />
......,--<br />
las Goethe laut Tagebuch<br />
"Coran", cl. h. wohl ,nt: Ilillllrn crscht: 1l Proben in den Fundgruben, die für das<br />
Abraxas-Gt:d icht Anrq.~ung t: 1l g:1ht: n. Auch Chardin, auf dessen Einwirkung<br />
Burdach hinwi t:s (WAl G, S. 470), wurde in dieser Zeit studiert.<br />
13) Vgl. Schelling :1n st:inc Muttt:r 22 . Februar 1815; an Schubert 28. Februar 1815.<br />
(Plitt, Aus Schcllings Leben. Ud. 2, Leipzig 1870. S. 352 ff.)<br />
10 *
148 "Süßes Kind, die Perlenreihen"<br />
muts, nicht ins Buch Suleika oder ins Buch des Parsen. Vom Buch des<br />
Unmuts sagt Goethe in den Noten und Abhandlungen: 14.)<br />
" ... Demungeachtet aber kann der Mensch solche Explosionen<br />
nicht immer zurückhalten, ja er thut wohl, wenn er seinem Verdruß<br />
... auf diese Weise Luft zu machen trachtet. Schon jetzt hätte<br />
dieß Buch v,iel stärker und reicher seyn sollen; doch haben wir<br />
manches, um alle Mißstimmung zu verhüten, bei Seite gelegt. Wie<br />
wir denn hierbei bemerken, daß dergleichen Äußerungen, welche<br />
für den Augenblick bedenklich scheinen, in der Folge aber, als<br />
unverfänglich, mit Heiterkeit und Wohlwollen aufgenommen werden,<br />
unter der Rubrik Par a li p 0 m e n a künftigen Jahren aufgespart<br />
worden."<br />
Zu den "beiseite gelegten" Gedichten, <strong>von</strong> denen hier gesprochen<br />
wird, gehört zweifellos auch "Süßes Kind, die Perlenreihen". Damit<br />
stimmt überein, was Boissen:e <strong>von</strong> dem Gedicht berichtet. Vergessen<br />
wir auch nicht: es entstand gerade in der schon oben <strong>von</strong> uns erwähnten<br />
Zeit der Erkrankung, März 1815, als Goethe in ungewöhnlichem<br />
Maß hypochondrischen Stimmungen unterworfen war. Auch ohne<br />
Boissen':es Zureden wäre wohl die Entfernung der allzu scharfen<br />
Spottverse aus dem Divan erfolgt.<br />
Endlich sei noch ein Hinweis gegeben, welche Bedeutung das Wort<br />
Abraxas ,in unserem Gedicht hat. Das Kreuz wird darin als "Abraxas"<br />
bezeichnet, aber auf eine solche Art, daß "Abraxas" hier fast den<br />
Sinn <strong>von</strong> "Talisman" bekommt.<br />
Und nun kommst du, hast ein Zeichen<br />
Dran gehängt, das, unter allen<br />
Den Abraxas seines gleichen<br />
Mir am schlechtsten will gefallen.<br />
14) Kapitel "Künftiger Divan". WA I 7, S. 139.<br />
Abraxas und Talisman 149<br />
Lesen wir genau: es ist die Rede <strong>von</strong> allem, was man üblicherweise<br />
an eine Halskette als "Zeichen", als Symbol "dranzuhängen" pflegt.<br />
Normalerweise wären das Talismane, Amulette. Alles zusammen<br />
wird hier aber als Abraxas bezeichnet. "Unter allen den Abraxas"<br />
gefällt dem Dichter das Kreuz "am schlechtsten". Am Ende des Gedichts<br />
wird der Abraxas tatsächlich zu einem Talisman:<br />
Denn ein Vit:d iputzli würde<br />
Tali sman an Deinem Herzen.<br />
Abraxas und T alisman rücken also in dem Gedicht seltsam nah<br />
zusammen. Wie ist das zu erkliiren? Li egt darin nur eine Läßlichkeit<br />
des Dichters? Ein Spielen mit ernsten Begri llcn, wie man es eher bei<br />
Heine als bei Goethe kennt? N äher '8 JJ ·trachten führt uns zu einer<br />
anderen Deutung.<br />
Wir müssen uns hier an etwas cri nn et:ll, das .in den Divan-Kommentaren<br />
immer übersehen wird. Lctztcr' b 'schrii nken sich gewöhnlich<br />
darauf, Mitteilungen über di e H '(ku nft dcs Wortes Abraxas zu<br />
machen, die zahlenmystische Bedeutung, die es bei dem Gnostiker<br />
Basilides hat etc. Wichtiger für das V rsüindnis des Wortes im Divan<br />
ist jedoch, daß man sich folgendes kllll"lllllcht: ein Abraxas-Stein ist<br />
nichts anderes als ein Talisman, er hat di e gleiche Funktion, nur daß<br />
eben "Abraxas" eingeschnittcn ist: nbcntcuerliche Bilder, Figuren,<br />
Symbole - "absurde Dinge" jedenfa ll s, mit Goethe zu reden.<br />
Von Abraxas ist im Divan noch ein zweites Mal die Rede. In dem<br />
Gedicht "Segenspfäncler" lautet die vinte Strophe:<br />
D och A b r a x a s bring' ich selten!<br />
Hier soll meist das Fratzenhafte,<br />
Das ei n d üstrer Wahnsinn schaffte,<br />
Für das Allerhöchste gelten.<br />
Sag' ich euch absurde Dinge,<br />
D enkt, daß ich Abraxas bringe.
150 "Süßes Kind, die Perlenreihen"<br />
In diesen Versen wird <strong>von</strong> Abraxas mit stark negativem Akzent<br />
gesprochen. Gemeint ist aber auch hier das Aussehen der Figuren<br />
oder Symbole auf dem Abraxas-Stein, das "Fratzenhafte" daran.<br />
Etwas ganz anderes ist seine Funktion. Bezüglich dieser steht er auf<br />
derselben Stufe wie der Talisman, auch er wird als glückbringendes<br />
Symbol getragen. Die angeführte Strophe über Abraxas steht denn<br />
auch innerhalb des Divan-Gedichts, zu dem sie gehört, zusammen mit<br />
vier anderen, in denen ausschließlich positive, glückbringende Gegenstände<br />
erscheinen: Talismane, Amulette, Inschriften, Siegel. Bedenkenlos<br />
setzte Goethe über das ganze Gedicht den Titel "Segenspfänder"<br />
: offenkundig rechnete er doch auch Abraxas, wie immer er<br />
beschaffen sein mochte, zu den "Segenspfändern". Ähnlich wie in<br />
"Süßes Kind, die Perlenreihen" besteht auch hier zwischen Abraxas<br />
und Talisman kein eigentlicher, grundsätzlicher Gegensatz.<br />
Im Falle des Gedichts "Segenspfänder" lassen sich noch besondere<br />
Ursachen erkennen, die Goethe zu dieser Auffassung und Darstellung<br />
führten. Sie lagen - das wurde bisher übersehen - in der Quelle.<br />
"Segenspfänder" wurde gedichtet, wie man an sich weiß, nach einem<br />
Aufsatz J. v. Hammers im 4. Band der Fundgruben des Orients:<br />
"Über die Talismane der Moslimen". Innerhalb dieses Aufsatzes finden<br />
sich die Beschreibungen <strong>von</strong> Talismanen, Amuletten etc., die<br />
Goethe inspiriert haben. Dabei ist aber das Bemerkenswerte: Abraxas<br />
wird in diesem Zusammenhang <strong>von</strong> Hammer seiner Wirkung und<br />
Eigenschaft nach schlechtweg den Talismanen und Amuletten gleichgestellt.<br />
Der ganze Aufsatz handelt ausschließlich <strong>von</strong> glückbringenden<br />
Symbolen, Abraxas ist hier nur eines neben andern, eigentlich<br />
nur ein anderer N ame für die gleiche Sache. Ein einziger Satz drückt<br />
dies bei Hammer kurz und bündig aus: "Bei den Gnostikern hießen<br />
die Talismane AßpCl~Cl C; ." 15) Mehr wird über Abraxas überhaupt nicht<br />
gesagt.<br />
Hieraus ist nun ganz klar ersichtlich, warum Goethe bedenkenlos<br />
Abraxas neben Talismane und Amulette stellt, warum in seinem Ge-<br />
15) Fundgruben Bd. 4, S. 155 f.<br />
Abraxas und Talisman 151<br />
dicht Abraxas auch zu den "Segenspfändern" zählt - er lehnt sich<br />
hier, wie überhaupt in dem ganzen Gedicht, an die Vorlage an, er<br />
steht ganz unter deren Eindruck. Diese Erkenntnis ist auch aus einem<br />
anderen Grund nicht ganz unwichtig. Burdach nämlich sprach die<br />
Meinung aus, daß die Strophe über Abraxas mit dem Titel "Segenspfänder"<br />
in unbedingtem Widerspruch stehe. Hieraus leitete er weiter<br />
die Überzeugung ab, der Titel "Segenspfänder" sei <strong>von</strong> Goethe<br />
versehentlich auf das Gedicht über die Talismane, Amulette, etc. gesetzt<br />
worden. Eigentlich und rechtens gehöre er auf das jetzt "Talismane"<br />
benannte Gedicht ("Gottes ist der Orient" etc.).16) Diese<br />
ganze Argumentation geht fehl. Die aufgezeigte Übereinstimmung<br />
mit der Quelle macht es deutlich, daß Abraxas für Goethe im jetzigen<br />
Zusammenhang die gleiche funktionelle Bedeutung hatte wie<br />
Talismane und Amulette. Auch Abraxas war ein "Segenspfand". Er<br />
konnte wirklich "für das Allerhöchste gelten" - diese Wendung (V. 27)<br />
wird uns gerade im Hinblick auf die Quelle in besonderer Weise verständlich.<br />
Der Gebrauch des Wortes Abraxas in "Süßes Kind, die Perlenreihen"<br />
hat nach alle dem gleichfalls seine Erklärung gefunden. Goethe<br />
verwendet Wort und Begriff auch hier in ganz ähnlicher Weise wie<br />
111 "Segenspfänder". Auch Abraxas gehört in diesem Sinne zu den<br />
H;) V gl. Burdach, Akademievorträge S. 58. Ein Versehen ist Goethe n~r nachzuweisen<br />
bei der überschrift des Gedichts "T alismane" ("Gottes ist der Orient" etc.).<br />
Hierüber setzt er in der Handschrift nus nicht erklärbarer Ursache - vermutlich<br />
einfach F lüchti gke it - den Titel: "Tnlismnne, Amulete, Abraxas, Inschriften und<br />
Siegel" - der inhnltlich nur mi t Segenspfänder in Verbindung zu bringen ist.<br />
D er Titel "Segenspfii nel er" steht nndererseits klar und deutlich in der Handschr\~t<br />
des Gedi chrs "Tn li sman in Carneol". Goethe hat ihn nie zurückgenommen.<br />
Zum überAu ß findet sich in der Handschrift noch eine weitere Bestätigung :<br />
elurch di e links ohen angcbrnchtc Ziffer ,,4" ist auf Nr. 4 des Wiesbadener<br />
Registers hin gewiesen, lind dort steht unter Nr. 4 wieder eindeutig der Titel:<br />
"Segenspfänder". D ie hcim Abdruck der Gedichte des Wiesbadener Registers<br />
durch E. GnJlll:lch vorgenomm ene Umstellung der Gedichte Nr. 4 und 5 (Burdach,<br />
Akadcmi evortriige S. IIO f.) ist ebenso weni g gerechtfertigt wie Burdachs<br />
Argumentation. Vgl. oben S. 133 m. Anm. 33 b; S. 134 Anm. 34.
152 "Süßes Kind, die Perlenreihen"<br />
Talismanen, er ist gleichsam ein Talisman mit anderem Vorzeichen.<br />
Die Verwandlung des Abraxas in einen Talisman am Schluß des<br />
Gedichts bedeutet zwar ein Spielen mit witziger Pointierung, sie ist<br />
aber durchaus nicht so unseriös, wie es auf den ersten Blick erscheint.<br />
Eine festumrissene Ansicht vom Wesen des Abraxas steht dahinter,<br />
wie Goethe sie aus Hammers Aufsatz soeben gewonnen hatte. Denn<br />
als "Süßes Kind, die Perlenreihen" geschrieben wurde, stand er noch<br />
frisch unter dem Eindruck jenes Aufsatzes - die Entstehung des Gedichts<br />
liegt zeitlich nicht fern <strong>von</strong> derjenigen der "Segenspfänder" .<br />
Heide stammen ja aus derselben Epoche des Fundgruben-Studiums im<br />
Frühjahr 1815.<br />
N ACHWORT<br />
Anlaß zu den vorli egenden Untersuchungen gaben die Arbeiten am<br />
Divan-Band der "Entstehung vo n Goethes Werken" in D okumenten".!)<br />
Auf diesen in Vorbereitung befindlichen Band, der Entstehungszeugn<br />
isse und Q ucl lentcxte <strong>zum</strong> West-<strong>östlichen</strong> Divan vereint,<br />
sei hiermit verwiesen.<br />
Bereits frü her sind erschienen die Kapitel "Herr! laß dir gefallen"<br />
- in "Euphorion" Bd. 5 (1961) Heft 3 - und "Abraxas" in "For··<br />
sch ungen und Fortschritte" Jg. 36 (1962) Heft 5. Ich danke den Verlegern<br />
und Herausgebern für die Genehmigung <strong>zum</strong> Wiederabdruck.<br />
D as Goethe- und Schiller-Archiv zu Weimar (GSA) gab freundlicherweise<br />
die Erlaubnis zur Veröffentlichung <strong>von</strong> handschriftlichem<br />
Material. Für Auskünfte danke ich Herrn Professor Hans Albert<br />
Maier (Storrs, Connecticut) und Frl. Dr. Johanna Salomon (Jena).<br />
I) Momme <strong>Mommsen</strong>, unter Mitwirkung <strong>von</strong> <strong>Katharina</strong> <strong>Mommsen</strong>: Die Entstehung<br />
<strong>von</strong> Goethes Werken in Dokumenten. Bisher erschienen Band 1 und 2 . Berlin 19)8.