31.10.2013 Aufrufe

studien zum west-östlichen divan - von Katharina Mommsen

studien zum west-östlichen divan - von Katharina Mommsen

studien zum west-östlichen divan - von Katharina Mommsen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

SITZUNGSBERICHTE DER DEUTSCHEN AKADEMIE<br />

DER WISSENSCHAFTEN ZU BERLIN<br />

Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst<br />

Jahrgang I962 • Nr. I<br />

MOMME MOMMSEN<br />

STUDIEN ZUM<br />

WEST-ÖSTLICHEN DIVAN<br />

AKADEMIE-VERLAG· BERLIN


')<br />

I<br />

INHALT<br />

Vorgc:tr3gcn und für die Sit:tungsberichte 3ngcnommen<br />

in der Sitzung ocr Klasse für S pra c hcn~ Literatur und Kunst am 12. 10. 1961<br />

A usgegeben am 3. August I96:a<br />

Goethe und Ferid-eddin Attar .<br />

Bruchstück nach Hariri<br />

,.Sommernacht"<br />

1. überblick<br />

H. Das pädagogische E lement in "Sommernacht"<br />

IH. Entstehung<br />

IV. Lebensanregungen<br />

V. Quellen<br />

I<br />

)<br />

"Herr! laß dir gefallen"<br />

Verse <strong>zum</strong> Wiener Kongreß<br />

1. "Verschon uns Gott mit deinem' Grimme!"<br />

II. "Keinen Reimer wird man finden" .<br />

9<br />

25<br />

29<br />

31<br />

47<br />

49<br />

54<br />

77<br />

87<br />

102<br />

Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />

1. Burdachs Datierung der Kräuterschen Reinschrift<br />

II. Die Entstehungsgeschichte der Sammlung "Sprichwörtlich"<br />

Verhältnis <strong>zum</strong> Buch der Sprüche<br />

III. Die Entstehung der Kräuterschen Reinschrift<br />

"Abraxas" ("Süßes Kind, die Perlenreihen")<br />

Nachwort<br />

und ihr<br />

109<br />

n6<br />

126<br />

139<br />

153<br />

Abbildung: Aufzeichnungen Goethes aus Chardin, Voyages en Perse<br />

.86/87<br />

":rschicncn im Akadcll li c - Vcrbg (;mbll, Bcrlin \\'8. Lcipziger Straße 3-4<br />

Cnpyri p:hr 19(,2 hy Akademie-Verlag GmbH<br />

Li zcnztlun1lllcr: 202 . 100/184/62<br />

Cc s~H )1t hc rst cllun A: I)ru


\<br />

GOETHE UND FERID-EDDIN ATTAR<br />

Die Gedichte des West-<strong>östlichen</strong> Divan enthalten eine Fülle bedeutsamer<br />

Äußerungen über das Wesen der Dichtung und des Dichters.<br />

Diese beziehen sich auf Allgemeines und Einzelnes, sind bald<br />

didaktisch, bald polemisch gehalten, in vielfachen Abwandlungen bilden<br />

sie jedenfalls einen wesentlichen Bestandteil der Thematik des<br />

Werks. Besonders treten sie hervor in den ersten bei den Büchern,<br />

dem Buch des Sängers und dem Buch Hafls. Aber auch in andern<br />

Teilen trifft man sie, vor allem im Buch Suleika und im Schenkenbuch,<br />

wo die vielen Gedichte, in denen Goethe aus der Maske des<br />

"Dichters" oder "Hatems" spricht, oft genug das genannte Thema<br />

berühren.<br />

In den Bereich dieser Gedichte gehört auch der folgende Vi erz eil er<br />

aus dem Buch der Sprüche:<br />

Die Fluth der Leidenschaft sie stürmt vergebens<br />

An's unbezwungne, feste Land. -<br />

Sie wirft poetische Perlen an den Strand,<br />

Und das ist schon Gewinn des Lebens.<br />

Wie sämtliche Äußerungen über Poesie im Divan tragen auch diese<br />

Bekenntnischarakter . Goethe spricht hier über das Verhältnis der<br />

Dichtung zur Leidenschaft und berührt damit Allgemeingültiges und<br />

Persönliches zugleich. Leidenschaft ist an sich Ursprung aller Poesie.<br />

Ohne "furor" ist schon nach antiker Vorstellung überhaupt kein Dichter<br />

denkbar. i ) Doch eignet Goethe in ganz besonderem Sinne ein<br />

1) Cicero de divin. I 38, 80: nach Demokrit und Plato.


10 Goethe und Ferid-eddin Attar<br />

Affinitätsverhältnis zur Leidenschaft: als Verfasser des Werther, der<br />

Marienbader Elegie, des Faust II und vieles auf der Ebene dieser<br />

Werke Liegendem ist er ein Dichter der Leidenschaft schlechthin, in<br />

dieser Beziehung nur wenigen vergleichbar.<br />

Ebenso auf Goethe selbst weist in dem Vierzeiler noch ein anderer<br />

Zug. Es ist die unbefriedigte Leidenschaft, die - so wird uns darin<br />

einschränkend bedeutet - den Dichter produktiv macht. Indem das<br />

Meer "vergebens" ans "feste Land stürmt", hinterläßt es doch als<br />

Bleibendes: "poetische Perlen". Das erinnert an den Unmögliches begehrenden<br />

Faust ebensosehr wie an den ganzen Bereich des Entsagens,<br />

der in Goethes Leben und Schaffen eine so große Rolle spielt.<br />

Es ist also eine Charakteristik vor allem seines eigenen Dichtens, die<br />

Goethe in den vier Versen gibt. Als persönliches, zentrale Dinge berührendes<br />

Bekenntnis haben sie hervorragende Bedeutung.<br />

In seinen wesentlichen Partien ist gerade der West-östliche Divan<br />

eine Dichtung der Leidenschaft, Dichtung, die zugleich erwuchs aus<br />

mancher Not des Entsagens. Insofern hätten die obigen Verse auch<br />

wohl ein Motto für das Werk abgeben können, und in der Tat wurden<br />

sie einmal in ähnlicher Funktion verwendet. Als Goethe zu Anfang<br />

des Jahres 1816 eine Anzahl <strong>von</strong> D ivan-Gedichten im "Morgenblatt<br />

für gebildete Stände" drucken ließ, um eine Vorprobe des <strong>von</strong><br />

ihm geplanten Ganzen zu geben, stand der Vierzeiler "Die Fluth der<br />

Leidenschaft" vorweg - als Motto. In der ersten Ausgabe des Divan<br />

<strong>von</strong> r819 erhielt das Gedicht immer noch einen Platz, der die Bedeutung<br />

seines Inhalts unterstrich: mit ihm endigte das Buch der Sprüche,<br />

sehr wirkungsvoll, wie seitens der Kommentatoren stets · hervorgehoben<br />

wurde. (In der zweiten Ausgabe des Divan <strong>von</strong> 1827 blieb es<br />

nicht bei dieser Anordnung. Hier ließ Goethe noch drei weitere Gedichte<br />

folgen, unbekümmert darum, daß diese Maßnahme den Schluß<br />

des Buchs der Sprüche in kompositorischer Hinsicht eher beeinträchtigte.)<br />

Vom Dichterischen her betrachtet zeichnet sich der Vierzeiler durch<br />

Schönheit und Höhe des T ons aus, wie sie innerhalb der Goetheschen<br />

Spruchdichtung nur in den besten Stücken anzutreffen ist. D en Aus-<br />

"Die Fluth der Leidenschaft" 11<br />

schlag gibt aber die besondere Pracht der Metaphern. Von den Bildern<br />

geht die eigentliche Wirkung des Gedichts aus. Da wir uns im<br />

Divan befinden, erhebt sich die natürliche Frage, ob diese Bilder<br />

orientalischer Herkunft sind oder nicht. Der gesamte Charakter des<br />

Vierzeilers erweckt sehr stark den Eindruck, daß Goethe hier orientalisiert.<br />

Doch ist ein wirkliches Vorbild, das es angeregt haben<br />

könnte, bisher nicht bekannt. Das ist in diesem Fall schon deswegen<br />

besonders unbefriedigend, weil Goethe selbst gerade bezüglich des<br />

Buchs der Sprüche ausdrücklich erklärte, zu dessen Gedichten hätten<br />

"orientalische Sinnreden meist den Anlaß gegeben".2) Es erschiene<br />

befremdlich, wenn <strong>von</strong> dieser so deutlich verkündeten Regel das<br />

wichtige und schöne Gedicht <strong>von</strong> den "poetischen Perlen" eine Ausnahme<br />

bilden sollte. Die folgenden Untersuchungen möchten Klarheit<br />

darüber bringen, welche "orientalische Sinnrede" in diesem Fall inspirierend<br />

auf Goethe wirkte.<br />

Der Vergleich <strong>von</strong> Versen, Gedichten mit Perlen ist dem Orientalen<br />

geläufig. Goethe fand ihn, wie schon Chr. Wurm nachwies, 3)<br />

bei Hafis mehrmals, auch bei Jones. 4) Doch damit ist die Metapher<br />

in unserm Vierzeiler nicht erklärt. Hier ist das Wesentliche die Verbindung<br />

<strong>von</strong> Perlen und Meer - Meer als Sinnbild für Leid und<br />

Leidenschaft. D afür ließ sich in den orientalischen Werken, die<br />

Goethe bis zur Abfassung des Gedichts vor Augen gekommen waren,<br />

nichts Entsprechendes aufzeigen. Unseren Nachforschungen dient als<br />

fester Ausgangspunkt folgendes.<br />

Es gibt unter den Divan-Papieren eine Goethesche Notiz, die, wie<br />

Burdach richtig erkannte, in engem Zusammenhang mit unserem Gedicht<br />

steht: 5)<br />

2) Anzeige des West-<strong>östlichen</strong> Divan im Morgenblatt für gebildete Stände vom<br />

24. Februar 1816. W A (= Weimarer Ausgabe) I 41 (I) S. 88.<br />

3) Chr. Wurm: Commentar zu Göthe's <strong>west</strong>-östlichem Divan. Nürnberg 1834.<br />

S. 1)9 f. Wurms Hinweis au f Hammers 1818 erschienene Geschichte der schönen<br />

Redekünste Persiens (ebd.) ist aus chronologischen Gründen unbrauchbar.<br />

4) Vgl. unten S. )).<br />

5) WA I 6, S. 409; 474. Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 1)7.


12 Goethe und Ferid-eddin Attar<br />

"Die Fluth der Leidenschaft"<br />

13<br />

Poetische Perlen ans Ufer geworfner<br />

Gewinnst des Lebens.<br />

[IV]<br />

Wenn du dieses hörst, so achte sie alt die Welt<br />

Viele Jahre sind seitdem über Berge und Thäler<br />

Verflossen, und so werden noch viele verfliesen.<br />

Der Satz enthält offensichtlich das Aperc;:u zu unserm Gedicht, vor<br />

allem auch die ihm zugrunde licgenden metaphorischen Elemente.<br />

Burdach wußte nicht zu sagen, was es sonst mit dieser Notiz auf sich<br />

hatte, ob sie Goethes Phantasie oder literarischer Anregung ihre<br />

Existenz verdankt. Bei genauerer Betrachtung wird sich erweisen,<br />

daß das letztere zutrifft. Auf jeden Fall haben wir bei unserer Untersuchung<br />

<strong>von</strong> dem obigen Satz auszugehen.<br />

Die Notiz <strong>von</strong> den "poetischen Perlen" findet sich auf einer Handschrift,<br />

die eine Reihe <strong>von</strong> verschiedenen Aufzeichnungen enthält,<br />

insgesamt sechs. Da diese Aufzeichnungen niemals im vollständigen<br />

Zusammenhang gedruckt worden sind, geben wir sie wieder bis <strong>zum</strong><br />

Anfang der letzten, sechsten Notiz, die umfangreicher und hier im<br />

Gesamtwortlaut zu entbehren ist. Es kommt für unsere Zwecke darauf<br />

an, daß wir die sechs Einzelteile der Handschrift in ihrer Reihenfolge<br />

überblicken können. Ein <strong>von</strong> Goethe nur einseitig beschriebenes<br />

Folioblatt enthält folgendes: 6)<br />

[I]<br />

[II]<br />

[III]<br />

Ferid-eddin. <strong>von</strong> 6137)<br />

Guten Ruf musst du dir machen<br />

Unterscheiden wohl die Sachcn<br />

Wer was weiter will verdirbt.<br />

Poetische Perlen ans Ufer geworfner<br />

Gewinnst des Lebens.<br />

Traue nicht dem Truncken Weisen<br />

Denn er stielt dir dein Geheimniß.<br />

P·9·<br />

[V]<br />

[VI]<br />

Liber Nigaristan.<br />

Luscinia captiva cui nomen est anima<br />

Non inservit corpori, quod vlees retis gerit.<br />

~<br />

Fundgr. II. 360.<br />

N estorianer. Jacobiten<br />

[Es folgen längere Notizen, niedergeschrieben im<br />

Anschluß an obige Stellenangabe.]<br />

. Sämtliches ist mit Tinte geschrieben. Die Aufzeichnungen I und II<br />

sind <strong>von</strong> Goethe durchgestrichen <strong>zum</strong> Zeichen der Erledigung, d. h.<br />

in diesem Fall der dichterischen Verwendung. Über die sechs Einzelteile<br />

der Handschrift ist bisher soviel bekannt:<br />

Nr. I ist gleichlautend mit dem Gedicht im Buch der Sprüche, das<br />

unmittelbar vor dem Vierzeiler "Die Fluth der Leidenschaft" steht.<br />

Loeper wies nach, daß den drei Versen ein französischer Satz aus<br />

Band 2 der Fundgruben des Orients (S. 9) zugrunde liegt,8) nämlich<br />

ein Gedicht <strong>von</strong> Ferid-eddin Attar in Silvestre de Sacy's Übersetzung.<br />

Nr. II und III sind der Herkunft nach ungeklärt.<br />

Nr. IV schrieb Goethe fast wörtlich ab nach einer in Band 2 der<br />

Fundgruben des Orients (S. 63) enthaltenen Übersetzungsprobe aus<br />

Firdusis Schah Namch (Übersetzer Ludolf). Das entging Burdach,<br />

obwohl gerade er Goethes Beschäftigung mit dem Schah Nameh ein-<br />

U) WA I 6, S. 474; Divan. Akademie-Ausgabe 3. S. '51 f.<br />

7) Die Zahl 613 als Geburtsjahr <strong>von</strong> Fcrid-eddin Attar entnahm Goethe Bd. 2 der<br />

Fundgruben des Orients. S. 6. Sie ist dort Druckfehler, statt 513 (I119).<br />

8) Fundgruben des Orients bearbeitet durch eine Gesellschaft <strong>von</strong> Liebhabern.<br />

[Hrsg. <strong>von</strong> ]oseph v. HammeL] Wien 1809 ff.


14 Goethe und Ferid-eddin Attar<br />

gehend untersuchte 9 ) und den Einfluß Firdusis sogar überschätzteiO).<br />

Weitz kennzeichnete in der Insel-Ausgabe des Divan die drei Zeilen<br />

durch Kursivdruck als Zitat, ohne jedoch die Herkunft anzugeben.!!)<br />

Nr. V stellt elll wörtliches Zitat aus Band 2 der Fundgruben des<br />

Orients dar (S. 108). Bereits Christi an Wurm - der natürlich das in<br />

Frage stehende Paralipomenon noch nicht kannte - zeigte, daß nach<br />

dem lateinischen Satz die Parabel "Bulbuls Nachtlied" gebildet<br />

ward. 12)<br />

Nr. VI bringt stichwortartige Notizen nach Fundgruben des Orients<br />

Band 2 S. 360 ff.<br />

Im ganzen ergibt sich folgendes Bild: die ihrer Herkunft nach geklärten<br />

Partien der Handschrift - Nr. I, IV bis VI - beruhen sämtlich<br />

auf Band 2 der Fundgruben des Orients. Prüft man die Zahlen<br />

der <strong>von</strong> Goethe benutzten Seiten, so entspricht die Reihenfolge<br />

in der Quelle dem Aufeinanderfolgen der Niederschriften auf unserem<br />

Folioblatt; es beginnt mit S. 9 (Nr. I), dann folgen S. 63, 108,<br />

360 ff. (Nr. IV-VI).<br />

Offenbar sind die Notizen so entstanden, daß Goethe jenen zwei-<br />

. ten Band der Fundgruben <strong>von</strong> vorn nach hinten durchsah, und im<br />

Zuge der Lektüre bei interessanten Stellen zu Niederschriften veranlaßt<br />

wurde. Angesichts dieser Sachlage· kommt man zu der Vermutung,<br />

daß auch die bisher ungeklärten Aufzeichnungen Nr. II und<br />

III der gleichen Quelle entstammen. Weiter erscheint es geboten, besonders<br />

die Partie des Fundgruben-Bandes sorgfältig zu prüfen, die<br />

zwischen S. 9 (Aufzeichnung Nr. I) und S. 63 (Aufzeichnung Nr. IV)<br />

!I) Noch in dem 1937 erschienenen Divan-Band der Welt-Goethe-Ausgabc (Bd. 5,<br />

S. 328) druckte Burdach die drei Zeilen als Goetheschen Gedichtentwurf.<br />

10) Vgl. unten S. 65.<br />

H) Die St:dJcnangaben verdanke ich <strong>Katharina</strong> <strong>Mommsen</strong>.<br />

12) A. a. O. S. 235.<br />

"Die Fluth der Leidenschaft" 15<br />

liegt. In ihr sollten, wenn Goethe der Reihe nach las und notierte, die<br />

Anregungen zu den Aufzeichnungen Nr. II und III zu finden sein.<br />

Tatsächlich kommen wir so zu dem gesuchten Resultat. Nicht selten<br />

läßt sich Unbekanntes in Goetheschen Notizblättern auf dem<br />

Wege erschließen, den wir hier einschlugen: durch Beachtung des<br />

Nacheinander in der Handschrift.<br />

Die Aufzeichnung Nr. III behandeln wir gesondert im nächsten<br />

Abschnitt dieser Untersuchung. Wenden wir uns zu Nr. 11. Der Satz<br />

<strong>von</strong> den "poetischen Perlen" wurde angeregt durch eine Stelle auf<br />

S. 10 des zweiten Bandes der Fundgruben. Das entspricht also durchaus<br />

unserer Annahme bezüglich der Reihenfolge; <strong>von</strong> S. 9 stammt<br />

Aufzeichnung Nr. 1.<br />

Auf S. 5-12 des zweiten Fundgruben-Bandes findet sich eine Biographie<br />

des persischen Dichters Ferid-eddin Attar. Es handelt sich um<br />

einen Abschnitt aus der Tadkire des Amir Daulat-Säh aus Samarkand,13)<br />

den Silvestre de Sa~y in französischer Übersetzung darbot:<br />

"Vie de Ferid-eddin Attar, auteur du Pend-nameh, extraite de<br />

l'histoire des poetes persans de Dauletschah Samarkandi". Innerhalb<br />

dieser Biographie wird nun <strong>von</strong> Ferid-eddin Attar, im Anschluß an<br />

eine Aufzählung seiner Werke, gesagt: 14)<br />

"Le n"cueil des pocsies de Ferid-eddin, non compris Ics collections de distiques, est<br />

de 4°,000 vers. On campte dans ce nombre 12,000 quatrains ... Les poemes, les<br />

chansons, les petites picces du scheikh, avec ses quatrains et ses recueils de distiques,<br />

forment plus de 10,000 vers. Q u e II e m e r q u e c eil e don t I e s f lot s<br />

ont j etc sur le ri vage de la vie tant de perles d'une valeur<br />

ine sti mable!"<br />

Hier findet sich also die Anregung zu Goethes Notiz, der Aufzeichnung<br />

Nr. II unserer Handschrift:<br />

13) Gestorben 1494195 [?].<br />

1r.) Fundgruben Bd. 2, S. 9 f.<br />

Poetische Perlen ans Ufer geworfner<br />

Gewinnst des Lebens.


16 G oethe und Ferid-eddin Attar<br />

Wie bei der Aufzeichnung Nr. I, die durch die vorhergehende<br />

Seite der Fundgruben angeregt war, erfolgte die Niederschrift im<br />

Hinblick auf ein Gedicht. Im Falle <strong>von</strong> Nr. I formte Goethe einen<br />

französischen Prosasatz - Zitat eines Gedichtes <strong>von</strong> Ferid-eddin<br />

Attar - sogleich zu drei Versen um, die er unverändert in den Divan<br />

aufnehmen konnte. Bei Nr. rr notierte er sich nur ein Apen;u, um<br />

daraus später - vermutlich sehr bald - einen Vierzeiler zu bilden.<br />

Beide Gedichte stehen im Divan wie hier in der Handschrift hinterein<br />

ander; das geht noch letzten Endes auf die Reihenfolge der Anregungen<br />

in den Fundgruben zurück. 15)<br />

In dem schönen Gleichnis des Gedichts "Die Fluth der Leidenschaft"<br />

liegt also wirklich ein Orientalisieren Goethes vor. Anregung<br />

gab die metaphernfreudige Sprache eines alten persischen Biographen.<br />

Goethesche Zutat ist, sehr bezeichnend, die Einbeziehung der "Leidenschaft"<br />

in die Metapher. Hier<strong>von</strong> findet sich nichts in dem oben<br />

angeführten Satz Daulat-Sähs. Doch scheint eine innere Beziehung<br />

nid1t ganz zu fehlen: in seiner Biographie berichtet Daulat-Säh <strong>von</strong><br />

Ferid-eddin Attar, wie dieser das Leben eines wohlhabenden Apothekers<br />

aufgab und in ein Kloster ging. Verbunden mit dieser Abkehr<br />

<strong>von</strong> der Welt war notwendigerweise ein völliges Entsagen (renoncement)<br />

. Ferid-eddin nahm den "Kampf mit seinen Leidenschaften"<br />

auf. Da<strong>von</strong> berichtet die Biographie ausführlich in Wendungen wie: 16)<br />

.. A Ja /i n dc sa vie il etoit parvenu au supreme d egre dans la science du r e -<br />

11 0 n c e m e n t et de I' a b n e g a ti 0 n de soi-meme . .. Au lieu que la cup i -<br />

cl i r (, le domin oit auparavant, il devint esclave d'une passion, de cette passion qui<br />

p!'oclIre infa illiblemcnt la liberte . .. En un mot, Ferid-eddin ayant dit adieu au<br />

mondc .. . sc rctira dans le monastere. " II .. . s'appliqua serieusement a c o m -<br />

b at t res es p a s s i o n s et a pratiquer les exercices de piete."<br />

Spricht Goethes Gedicht <strong>von</strong> Leidenschaft und Entsagen auch mit<br />

eigenen Akzenten, so ist doch die Tatsache, daß das Thema des Ent-<br />

Ir.) Auch eine E inzcl handschrift enthielt beide Gedichte hintereinander; vgl. WA 16,<br />

s. 34) zu 1'1.:18•<br />

1ü) Fun dgrubcn Bel. 2, S. 6 1.<br />

"Die Fluth der Leidenschaft" 17<br />

sagens in der orientalischen Schrift eine sO große Rolle spielt, interessant<br />

und für Goethes Art, QueUen zu benutzen, kennzeichnend.<br />

Seine Phantasie wurde durch das Gesamt der Vorlage angeregt, nicht<br />

nur durch ein im engsten Sinn als Quelle benutztes Teilstück. Wenn<br />

es bei Daulat-Säh vom Meer deklamatorisch unbestimmt hieß:<br />

"Quelle mer que celLe dont les flots ont jete sur le rivage de la vie<br />

tant de perles ... !", so ergänzt Goethe aus dem Gesamtzusammenhangselbständig:<br />

"Die Fluth der Leidenschaft"!<br />

Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch, daß das Gleichnis<br />

vom Meer in Daulat-Sähs Biographie wiederholt auftaucht in jeweils<br />

abgewandelten Bedeutungen: 17)<br />

"On peut dire dc lui [Ferid-eddin Attar], qu'il etoit abyme dans I' 0 c e a n de la<br />

contemplation, et qu'il plongeoit dans les profondeurs de l'intuition de la divinite . ..<br />

Aucun des hommes ... n' a aussi parfaitement saisi les pensees les plus sublimes et<br />

les plus subtiles de la spiritualite. C'etoit pour I'etendue de ses connoissances un<br />

o c e a n immense, et toute son energie n' etoit employee qu' a dompter ses inclinations<br />

... [Aus einem Gedicht Ferid-eddin Attars:] La ou un 0 c e ansans bornes<br />

agite I'immensite de ses flots, une goutte de rosee produite par la fraicheur de la<br />

nuit pourroit-elle pretendre a etre apper~ue? "<br />

Diese dicht aufeinanderfolgenden Wiederholungen des Meer­<br />

Gleichnisses mögen bei Goethe die Bereitschaft erhöht haben, sich<br />

durch die ein e Stelle - die sonst nichts unbedingt Auffälliges hat -<br />

inspirieren zu lassen. Jedenfalls konnte er gewiß sein, daß sein Orientalisieren<br />

den charakteristischen Zug eines persischen Schriftstellers<br />

aufgriff.<br />

Wir stehen nun vor einem überraschenden Resultat. Der Vierzeiler,<br />

der so Bedeutsames über Goethes eigenes Dichten aussagt, entstand<br />

bei der Betrachtung der Vita eines anderen großen Dichters aus dem<br />

Orient. Er wurde angeregt durch die Stelle der Biographie, an der<br />

die Summe des gesamten Schaffens <strong>von</strong> Ferid-eddin Attar gezogen<br />

wird. In gewissem Sinne aber zieht ja Goethes Gedicht auch die<br />

Summe seines eigenen Schaffens, wie wir sahen. Es ist kein Zweifel:<br />

17) A. a. 0. S. 5 f., 8, 10.<br />

2 <strong>Mommsen</strong> . Divan-Studien


18 G oethe und Ferid-eddin Attar<br />

Goethe wurde durch Ferid-eddin Attar sehr intensiv an sich selbst<br />

erinnert, er setzte sich mit dem orientalischen Dichter in Parallele.<br />

Den Ausschlag gab, daß F e r~d-eddin Attar nach Ausweis seines<br />

Lebensganges im stärksten Sinne ein Entsagender war, der die Leidenschaften<br />

(passions, cupidite) hinter sich ließ. Dennoch blieb ihm<br />

auch nach diesem Verzicht (renoncement, abnegation), blieb ihm<br />

selbst als armer Mönch ein unermeßlicher Reichtum: die Zehntausende<br />

<strong>von</strong> Gedichten, eben jene "Perlen" <strong>von</strong> "unermeßlichem Wert"<br />

(valeur inestimable), die ihm das "Meer" ans "Ufer des Lebens" geworfen<br />

hatte. Am Mythos dieses Dichterlebens bemaß Goethe sich<br />

selbst und den eigenen "Gewinnst", der ihm aus Leidenschaft und<br />

E ntsagen erwuchs.<br />

D ie erste Begegnung Goethes mit Ferid-eddin Attar fällt in den<br />

Dezember 1814. D amals studierte er - nach allem, was wir wis'sen,<br />

<strong>zum</strong> erstenmal - die Fundgruben des Orients. Im zweiten Band stieß<br />

er auf Ferid-eddin Attars Pend Nameh in französischer Prosaüber ~<br />

setzung <strong>von</strong> Silvestre de Sacy; innerhalb der Einleitung zu dieser<br />

ü bersetzung findet sich auch die Biographie Daulat-Sähs.<br />

Angeregt durch das"Fend Nameh Ferid-eddin Attars schrieb Goethc,<br />

wie man weiß, im Dezember 1814 mehrere Divan-Gedichte, <strong>von</strong><br />

denen noch zu sprechen sein wird. Damals entstand sicherlich auch<br />

die Handschrift mit der Notiz <strong>von</strong> den "poetischen Perlen"; die sechs<br />

Aufzeidll1 ungen auf jenem Blatt erwecken durchaus den Eindruck, als<br />

rührten sie <strong>von</strong> der ersten Durchsicht der Fundgruben des Orients<br />

her. Dos edicht "Die Fluth der Leidenschaft" mag bald darauf ausgeführt<br />

worden ,sein. 18)<br />

Die Metapher vom Meer, das "poetische Perlen" an den Strand<br />

wirft findet sidl im Divan noch ein zweites Mal. Auf diese Parallele<br />

p fleg~n die Kommentatoren mit Recht hinzuweisen. In dem durch die<br />

leidenschaftliche Sprache seiner freien Rhythmen besonders erregen-<br />

J8) Das frü hstc Zeugn is <strong>von</strong> der Existenz dieses Gedichts stammt <strong>von</strong> Anfang 1816:<br />

der Druck im "MorgcnblMt für gebildete Stände" vom 22. März 1816. (Manuskript<br />

an Cotta abgesandt am I I. März.)<br />

"Die schön geschriebenen •.. " 19<br />

den Gedicht des Buchs Suleika: "Die schön geschriebene~, I Herrlich<br />

umgüldeten, I Belächeltest Du I Die anmaßlichen Blätter" beginnt die<br />

letzte Strophe:<br />

'<br />

Hier nun dagegen<br />

Dichtrisehe Perlen,<br />

Die mir deiner Leidenschaft<br />

Gewaltige Brandung<br />

Warf an des Lebens<br />

Verödeten Strand aus ...<br />

Das Gedicht stammt vom 21. September 1815. Es ist eine Huldigung<br />

an Marianne v. Willemer. Das Zusammensein mit ihr hatte Goethe<br />

soeben in beglückender Weise produktiv gemacht: ihm verdankte das<br />

Buch Suleika Ursprung und Entstehung. Dafür sagt das Gedicht<br />

Dank. Die Verse sind im übrigen "Dichtung vom Dichten" 19), Goethe<br />

spricht darin über sein eigenes Schaffen. Es ist bezeichnend, daß<br />

gerade durch diese Thematik wieder die Erinnerung an die Ferideddin-Attar-Biographie<br />

in Goethe lebendig wurde. Sie tritt in den<br />

zitierten Versen ganz besonders deutlich hervor. Die Wendung:<br />

" .. . Warf an des Lebens verödeten Strand" stimmt wörtlich zusammen<br />

mit dem Text Daulat-5ähs: " ... ont jete sur le rivage de la vie"<br />

(vgl. oben S. 15) .<br />

Die Verse des Heidelberger Gedichts entstanden ohne Zuhanden ..<br />

sein der Fundgruben des Orients. Hier ward Goethe <strong>von</strong> der Erinnerung<br />

geleitet. Dies darf als Argument dafür gelten, daß "Die<br />

Fluth der Leidenschaft" bereits im Dezember 1814 oder bald darauf<br />

geschrieben wurde. Gerade durch die frühere dichterische Verwendung<br />

mag die orientalische Metapher <strong>von</strong> Perlen und Meer sich Goethe<br />

so eingeprägt haben, daß sie ihm auf Reisen gleich wieder zur<br />

Verfügung stand. D ie starke innere Erregung, in der das Heidelberger<br />

Gedicht gesch rieben ward, ließ es ihm natürlicherweise gleichgültig<br />

erscheinen, ob durch einige Verse eine Verdoppelung mit Frü-<br />

19) Erich Trunz, Goethes W erk e, Bd. 2, vierte Auf!. Ha~burg 1958. S. 569.<br />

2*


20 Gocthe und Ferid-eddin Attar<br />

herem entstand. Dagegen wäre es schwierig, sich vorzustellen, daß<br />

der Vierzeiler erst nach dem Heidelberger Gedicht entstand. Für ihn<br />

bildete di e Metapher die Grundlage des Ganzen. Die Tatsache, daß<br />

sie schon einmal verwendet war, hätte bei der Abfassung in ganz<br />

anderer Weise bedenklich erscheinen müssen.<br />

Mit Ferid-eddin Attar hat Goethe sich eingehend beschäftigt,<br />

namentlich in der Frühzeit des Divan. Hier ist vor allem einiger<br />

durch das Pend N ameh angeregten Gedichte zu gedenken, die zur<br />

selben Zeit entstanden, als die Notiz <strong>von</strong> den "poetischen Perlen"<br />

niedergeschrieben ward.<br />

Das Pend Nameh - "Buch der Ratschläge" - ist eine Sammlung<br />

moralischer Lehren, die ihrem ganZlen Charakter nach bestätigen<br />

konnte, was GOl'!the in der Vita Daulat-Sahs über das Leben des<br />

Dichters las. Hier finden sich praktische Lebensregeln vermischt mit<br />

religiösen Vorschriften <strong>von</strong> weltflüchtig asketischer Strenge. Durch<br />

das Pend Nameh wurde zunächst Goethes Vorstellung <strong>von</strong> Ferideddin<br />

Attar bestimmt.19a)<br />

Am 15. Dezember 1814 entstand das Gedicht "Fünf Dinge" (Buch<br />

der Betrachtungen); ihm liegt das 46. Kapitel des Pend Nameh zugrunde,<br />

wie in der Handschrift ausdrücklich vermerkt ist. Tags darauf,<br />

am 16. Dezember 1814, schrieb Goethe das Seitenstück zu diesem<br />

Gedicht: "Fünf andere". Darin wird zwar das Pend Nameh nicht<br />

wiederum direkt zitiert, wohl aber in formaler Hinsicht nachgeahmt.<br />

Ein großer Teil der Kapitel des Pend Nameh besteht aus Aufzählun<br />

gen <strong>von</strong> "Dingen", "Eigenschaften", "Fehlern" und dergleichen.<br />

Typisch si nd Überschriften wie: "De quatres choses dangereuses" ...<br />

"De cinq choses qui abregent la dun~e de la vie" ... "De six choses<br />

d'un grand prix" etc. D abei wechseln in den Titeln positive und<br />

negative Formulierungen ab. Das Kapitel 46, das Goethe in "Fünf<br />

Wo) In den Studien papieren <strong>zum</strong> Divan findet sich ein Blatt, auf dem Goethe sich<br />

die Seitenzahlen des Fundgruben-Bandes 2 notierte, die auf das Pend Nameh<br />

Bezug haben. (Beginn der drei Abteilungen <strong>von</strong> Silvestre de Sacy's Übersetzung.)<br />

WA I 7. S. 281. BI. 37. Divan. Akademie-Ausgabe 3. S. 97. Paralip. 1I5·<br />

Goethe und Ferid-eddin Attar 21<br />

Dinge" benutzt, trägt die negativ gehaltene Überschrift: "De cinq<br />

choses qui ne 'se trouvent jamais avec cinq au t res c h 0 s e .s". (In<br />

den letzten Worten liegt der Titel zu "Fünf andere" vorgebildet!)<br />

Darauf folgen wieder Kapitel mit ausgesprochen positiver Tendenz:<br />

Kap. 47: "Des vertus qui assurent le bonheur et la felicite";<br />

Kap. 48: "Des mQyens d'assurer son salut". Ganz entsprechend läßt<br />

Goethe auf das negative Gedicht "Fünf Dinge" das positive "Fünf<br />

andere" folgen. Ursprünglich trugen beide bezeichnenderweise die<br />

Titel: "Fünf Dinge unfruchtbar" und "Fünf Dinge fruch!Qar".20) Dieser<br />

Wechsel <strong>von</strong> Negativ und Positiv bedeutet eine bewußte Imitationdes<br />

Pend Nameh. Das positiv gehaltene Gedicht benutzte Goethe,<br />

um eigene Lieblingsgedanken darin niederzulegen, die zugleich<br />

aber auch mit Ferid-eddin Attars Gedanken kontrastieren sollten.<br />

Gleichfalls <strong>von</strong> Dezember 1814 stammt vermutlich das Gedicht:<br />

"Und was im Pe n d - N a m e h steht", das, wie abermals in der<br />

Handschrift vermerkt ist, durch Kapitel 69 des Pend Nameh angeregt<br />

wurde.<br />

Das Gedicht, zu dem es keine handschriftliche Datierung gibt,<br />

wurde <strong>von</strong> Riemer und Eckermann ,in der Quartausgabe <strong>von</strong> 1836 auf<br />

den gleichen Tag datiert wie das im Divan vorhergehende "Lieblich<br />

ist des Mädchens Blick der winket", nämlich auf den 26. Juli 1814.<br />

Obgleich beide Gedichte inhaltlich zusammengehören - ,sie wurden<br />

unter dem Titel "Wonne des Gebens" <strong>von</strong> Goethe 1817 einmal vorveröffentlicht<br />

-, ist es doch undenkbar, daß sie zugleich am 26. Juli<br />

1814 geschrieben seien. Für die Entstehung des zweiten ist das Zuhandensein<br />

der Fundgruben des Orients unbedingt Voraussetzung,<br />

wie schon die N ennung des Pend-Nameh-Kapitels in der Handschrift<br />

zeigt. Am 26. Juli 1814 aber befand Goethe sich auf der Reise <strong>von</strong><br />

Eisenach nach Fulda. Es darf als ausgeschlossen gelten, daß er da die<br />

riesigen Fundgruben-Bände mit sich führte, die er doch - wir sprachen<br />

da<strong>von</strong> - offenbar erst im Dezember 1814 zu studieren begann.<br />

Im übrigen entstand an jenem Reisetag, dem 26. Juli 1814, sehr: vie-<br />

20) Im Wiesbadener Register vom 30. Mai 1815: Nr. 86 und 87. Vgl. WA I 6, S. 315.


22 Goethe und Ferid-eddin Attar<br />

les - nachweislich neun z. T. umfangreiche Gedichte. Verständlicherweise<br />

beruhen diese alle nicht auf diversen Quellen, sondern sind<br />

spontane E rlebnisdichtung. Nur Hafis-Anklänge finden sich: die kleinen<br />

Bändchen der Hammersehen Hafis-Übersetzung führte Goethe<br />

allerdings als Brevier mit sich. Was das Gedicht "Und was im<br />

Pe n d - N a m e h steht" betrifft, so wird es im Dezember 1814 als<br />

Nachtrag und Ergänzung zu "Lieblich ist des Mädchens Blick" entstanden<br />

sein, angeregt durch die Begegnung mit Ferid-eddin Attar. 21)<br />

Gerade der Dezember 18I4 ist die Zeit, in der Goethe eine ganze<br />

Reihe der im Juni und Juli entstandenen frühsten Divan-Gedichte<br />

überarbeitete und ergänzte.<br />

Das Pend N ameh wirkte schließlich auch noch ein auf die Gestaltung<br />

des Gedichts "Sommernacht" (Schenkenbuch), das an denselben<br />

Tagen entstand wie "Fünf Dinge" und "Fünf andere": am 15. und<br />

16. Dezember 1814. Da<strong>von</strong> wird weiter unten zu sprechen sein.<br />

Zusammenfassend läßt sich sagen: nach der ersten Beschäftigung<br />

mit dem Pend Nameh sah Goethe in Ferid-eddin Attar vor allem<br />

einen sittlich-pädagogischen Dichter. Insofern Goethes eigene Dicht<br />

un g vielerlei sittliche Tendenzen aufwies, durfte er sich wohl zu<br />

einem Verglcich mit dem Verfasser des Pend Nameh aufgefordert<br />

fühlen (wie auch offenkundig das Gedicht "Die Fluth der Leidenschaft"<br />

einen solchen Vergleich enthält). Übrigens erinnerte ihn die<br />

strenge E thik des Pend Nameh gelegentlich an Kant. Auf einem<br />

Divan-Studienblatt vom Frühjahr 1815 findet sich die - vielleicht erst<br />

in späterer Zeit hinzugefügte - Randbemerkung: 22 )<br />

"Einem aechten Kantiane[rL<br />

ist Pe nd nameh was gemeins"<br />

21) Frühstes ei ndeutiges Zeugnis <strong>von</strong> der Existenz des Gedichts ist der Druck in<br />

Gubitz' "Gaben der Milde" [8[7. (Manuskript an Gubitz gesandt s m 26. Dezember<br />

1816.)<br />

22) WAl 7. S. 3°5: BI. 9211; Divan. Akademie-Ausgabe 3. S. 100.<br />

Goethe und Ferid-eddin Attar 23<br />

Die Wendung "was gemeins" bedeutet natürlich: etwas gewöhnliches,<br />

alltägliches, ist also nicht völlig negativ aufzufassen. Doch<br />

scheint Goethe hier anzudeuten, daß seine Bewunderung für Ferideddin<br />

Attar auch gewisse Grenzen ' hatte. Im ganzen aber stand er<br />

dem Pend Nameh mit Achtung und Sympathie gegenüber. Ein charakter;istisches<br />

Denkmal dafür, welchen Wert Goethe dem Werk zu<br />

jener Zeit beimaß, ist das sogenannte Huldigungs-Blatt <strong>von</strong> (etwa)<br />

Mai 1815. Dies Blatt, das ursprunglich 'dem Divan vorangesetzt werden<br />

sollte - die Absicht wurde später aufgegeben -, enthielt eine<br />

Lobpreisung derjenigen orientalischen Dichtungen, die bi~ dahin für<br />

Goethe und seinen Divan die größte Bedeutung gewonnen hatten.<br />

Darauf finden wir gleich an oberster Stelle den Passus: 23)<br />

Verehrung sey!<br />

dem<br />

sittlichen<br />

Pend-Nameh<br />

des<br />

Firadeddin<br />

Mit sehr viel mehr Distanz spricht Goethe in den Noten und Abhandlungen<br />

<strong>von</strong> Ferid-eddin Attar. Inzwischen hatte er mehr <strong>von</strong><br />

ihm erfahren durch Hammers Geschichte der schönen Redekünste<br />

Persiens. Ferid-eddin Attars "Vögelgespräche" erwähnt Goethe jetzt<br />

lobend aIs "Beispiel" der orientalischen "Gesprächsform".24) Eine<br />

Gesamtcharakteristik des Dichters gibt er im Abschnitt "Dschelaleddin-Rumi".<br />

Hier sieht er ihn, zusammen mit Dschelal-eddin-Rumi,<br />

als typischen Vertreter des persischen Mystizismus. "Mysticismus persischer<br />

Dichtkunst : :Attar, Rumi",so heißt es bezeichnenderweise in<br />

Goethes Tagebuch vom 21. Oktober 1818, mit Bezug auf die Abfassung<br />

jenes Kapitels der Noten und Abhandlungen. Für diesen<br />

Mystizismus bringt Goethe nun zwar Verständnis und historisches<br />

23) WA I 6, S. 482.<br />

2.\) Kapitel "Nachtrag". WA I 7. S. 121.


24 Goethe und Ferid-eddin Attar<br />

-' --_<br />

Interesse auf, doch bewahrt er ihm gegenüber eine gewisse Reserve.<br />

Hatte ihn früher Ferid-eddin Attar als Bezwinger der Leidenschaf-<br />

.._- -----_ .. -'" '._ .., _.--'<br />

tSE. ~ udi9'Jteri schem Vergleich angeregt, so überdenkt er jetzt nur<br />

noch seine literargeschichtliche Zuordnung. Er unterscheidet die weltflüchtigen<br />

Dichter <strong>von</strong> den "weltlichen", nämlich den persischen<br />

Panegyrikern, und sagt: 25) "Und wenn der weltliche Dichter die ihm<br />

vorschwebenden Vollkommenheiten an vorzügliche Personen verwendet,<br />

so flüchtet 'sich der gottergebene in das unpersönliche Wesen, das<br />

<strong>von</strong> Ewigkeit her alles durchdringt. So flüchtet sich Attar vom Hofe<br />

zur Beschaulichkeit ..."<br />

20) WA I 7. S. 59.<br />

BRUCHSTÜCK NACH HARIRI<br />

Traue nicht dem Truncken Weisen<br />

[zuerst: Klugen]<br />

Denn er stielt dir dein Geheimniß<br />

[zuerst: deine Worte]<br />

Diese beiden trochäischen Ver'se werden in den Divan-Ausgaben<br />

unter die Gedicht-Bruchstücke eingereiht, deren Bestimmung unbekannt<br />

ist. 26) Mit ihrem Inhalt weiß man nichts anzufangen. Es bestehen<br />

sogar Zweifel, welchem Buch des Divan der Gedichtentwurf<br />

- denn um einen solchen handelt es sich doch wohl - zuzuordnen ist.<br />

Um einigen Aufschluß über das Fragment zu erhalten, müssen wir<br />

uns mit der bisher nicht ermittelten Quelle befassen. Die beiden Zeilen<br />

stehen auf ,der Handschrift mit den sechs Notizen, die wir oben<br />

bespmchen, als dritte Aufzeichnung [Nr. III]. 27) Zwecks Auffindung<br />

der QueUe sollte - da<strong>von</strong> war die Rede - besonders die Partie des<br />

zweiten Bandes der Fundgruben des Orients untersucht werden, die<br />

zwischen S. 9 und S. 63 liegt. In diesem Fall ergibt nun die Nachprüfung,<br />

daß wirklich an sehr verborgener Stelle dasjenige anzutreffen<br />

ist, was Goethe inspiriert hat.<br />

Abermals führt uns das auf die Beschäftigung Goethes mit einem<br />

bekannten orientalischen Dichter, diesmal einem arabischen. Auf den<br />

Seiten 52 bis 57 des zweiten Fundgruben-Bandes findet sich eine Übersetzung<br />

der 12. Makame des Hariri: "Douzieme assemblee d'Aboulcassem<br />

Al Hariri, intirulCe la Goutiye. Traduite par Mr. Fn!deric<br />

26) In der Weimarer Ausgabe: I 6. S. 474.<br />

27) V gl. oben S. IZ.


26 Bruchstück nach Hariri<br />

Pisani." (In Rückerts Übersetzung der Makamen des Hariri: Nr. 10.)<br />

Es ist eine Stelle aus dieser Makame, die Goethe offenbar besonders<br />

interessierte und zur Niederschrift der obigen zwei Zeilen <strong>von</strong> dem<br />

"trunken Weisen" veranlaßte.<br />

Folgendes wird in der Makame berichtet: Hareth ben Hemmam,<br />

der Held und Erzähler sämtlicher Makamen, begibt sich, "wohl versehen<br />

mit Geld und Gut", wie es bei Rückert heißt, vom Irak nach<br />

einem Ort nahe <strong>von</strong> Damaskus. Hier verbringt er in paradiesischer<br />

Umgebung eine Zeit der Erholung und des Genusses. Als schließlich<br />

der Wunsch in ihm erwacht, die Rückkehr in seine Heimat , den Irak ,<br />

anzutreten, schließt er sich mehreren Reisenden an, die das gleiche<br />

Ziel haben wie er. Jetzt aber kommt die Reisegesellschaft in Verlegenheit.<br />

Man benötigt für den langen, schwierigen Weg durch die<br />

Wüste einen Führer, "un homme qui put nous servir de garde". Ein<br />

solcher aber ist, auch nach wochenlangem Suchen, nirgends aufzutreiben.<br />

Eines Tages versammeln sich die Reisegenossen bei einem Stadttor<br />

und mtschlagen, was zu tun sei. Die verschiedensten Meinungen<br />

werden vorgetragen, man kommt 2U keiner Lösung. In dieser Situation<br />

nun wird folgendes erzählt - wir zitieren nach dem französischen<br />

Text, der Goethe vorgelegen hat: 28)<br />

"Ccpcndunt, vis-il-vis d'eux etoit un hommc qui paroissoit etre dans la vigeur de<br />

1'age, portant un habit de moine, et tenant un chapelet iI la main. On lisoit dans<br />

scs yeux qu'il etoit un i v r 0 g n e. Il avoit fixe ses regards sur eux, et prete<br />

I'oreille pour d e I: 0 b c r I eu r s par 0 I e s. Quand iIs furent sur Ie point de<br />

,'cn retourncr, ce qu c 1 c urs c c r e t f u t par v e n u a s a co n n 0 i s­<br />

sa n c c , il les aborcla, ct kur paria en ces termes: ..."<br />

Der merkwürdige Mann, der halb wie ein Mönch, halb wie ein<br />

Trunkenbold (ivrogne) aussieht, bietet sich nun in wohlgesetzter Rede<br />

als Führer an und preist seine diesbezüglichen Qualitäten. Bis hierher<br />

vor allem hat uns die Geschichte zu interessieren. Doch sei auch der<br />

weitere Verlauf in Kürze skizziert.<br />

28) Fundgruben Bd. 2, S. 52 f.<br />

Bruchstück nach Hariri 27<br />

Die Reisenden akzeptieren den Führer: der lehrt sie ein bestimmtes<br />

Gebet, das, oft wiederholt, ,sich als schützendes "Amulett" erweist.<br />

So bringt er seine Klienten sicher durch die Wüste bis <strong>zum</strong> Irak. Ein<br />

reiches Entgelt, das man ihm zahlt, vertrinkt er sofort. Die Reisenden<br />

finden ihn - so endet die Geschichte - in einer Schenke beim Wein,<br />

bedient <strong>von</strong> anmutigen Knaben. Blumen und Musik verschönern ihm<br />

sein Fest. Auf die verwunderten Fragen seiner Reisegenossen erklärt<br />

er - und das mag uns nochmals angehen -: er habe sie getäuscht. Mit<br />

seiner Frömmigkeit sei es nicht weit her. Er sei ein Mann, der nur<br />

einer Leidenschaft lebe, dem Trunk: 29)<br />

"Aussi sans Ia passion de boire, n'aurois-je pas depIoye tant d'eJoquence; n'aurois-je<br />

pas entrepris cI'en imposer a mes compagnons, en portant un chapeIet, pour venir<br />

a I'Yrac."<br />

Hareth ben Hemmam erkennt schließlich in dem ivrogne - Abu<br />

Seid, den in allen Makamen des Hariri unter verschiedenen Masken<br />

wiederkehrenden Helden und Landstreicher.<br />

Über das rätselhafte Goethesche Fragment wissen wir nun doch<br />

einiges mehr. Da's Vorbild des "trunken Weisen" findet sich in dieser<br />

Makame Hariris: es ist der ivrogne, der die Reisenden belauscht,<br />

täuscht und - zu seinem und ihrem Vorteil - ausnutzt. Übereinstimmungen<br />

zeigen sich bis in den Wortlaut hinein. Wenn es , bei Goethe<br />

ursprünglich heißt: "denn er stielt dir deine Worte", so entspricht das<br />

dem Text der französischen Übel'setzung in den Fundg.ruben des<br />

Orients : "derober leurs paroles", lesen wir dort. Goethe änderte dann<br />

"Worte" in "Geheimniß" - und auch dafür bietet die Vorlage das<br />

ehtsprechende Wort: "leur sec r e t fut parvenu a sa connoissance."<br />

Bei Hariri hängt die Schlauheit des Abu Seid..:. man sehe das zweite<br />

französische Zitat, das wir oben brachten - engstens zusammen mit<br />

der passion aboire. Goethe hält also ein Hauptmotiv der Makame<br />

fest, wenn er <strong>von</strong> dem "Truncken Weisen [Klugen]" spricht.<br />

Aus der Quelle läßt sich nun auch ersehen, in welchen Bereich des<br />

T.l) A. a. O. S. 55.


28 Bruchstück nach Hariri<br />

Divan dieses Paralipomenon gehört: nicht etwa ins Buch der Sprüche,<br />

wie vermutet worden ist, 30) sondern ins Schenkenbuch. Was im übrigen<br />

Goethes Interesse an der Figur des gefährlich schlauen Trunkenbolds,<br />

der einem das "Geheimni-s stiehlt", hervorrief, wissen wir nicht.<br />

Möglicherweise kamen ihm dabei Ereignisse und Typen aus seiner<br />

eigenen Lebenssphäre in den Sinn~ Hierüber kann man nicht einmal<br />

etwas vermuten. Bezeichnend bleibt es auf jeden Fall, daß es die<br />

Hauptgestalt einer berühmten arabischen Dichtung war, die schon<br />

nach dem wenigen, was Goethe hier <strong>von</strong> ihr las, solche Faszination<br />

auf ihn ausübte. So begreift nur der Dichter den Dichter. Im ersten<br />

Band der Fundgruben fand Goethe noch eine weitere, die achte<br />

Makame Hariris, ebenfalls in französische Prosa übersetzt. Auch darin<br />

tritt Abu Seid in einer anderen Rolle auf, doch wird sein Name nicht<br />

genannt. Die Identität mit dem Abu Seid der 12. Makame war also<br />

nicht ohne weiteres erkennbar. Ob Goethe weitere Makamen kannte,<br />

ist nicht festzustellen. Auch <strong>von</strong> sonstigen Anregungen durch Hariri<br />

i-st nichts bekannt. 31)<br />

Blicken w,ir noch einmal zurück auf die Handschrift, die unser Gedicht-Fragment<br />

enthält, das Blatt mit den sechs verschiedenen Notizen,<br />

so erweist es sich, daß tatsächlich alles, was Goethe hier niederschrieb,<br />

zurückgeht auf den zweiten Band der Fundgmben des Orients.<br />

Die Folge der Aufzeichnungen in der Handschrift entspricht, wie sich<br />

nun vollständig übersehen läßt, den Seitenzahlen 9, 10, 52, 63,108,360.<br />

30) E . Grumach. Divan. Akademie-Ausgabe 3. 22. Richtige Zuordnung <strong>zum</strong> Schenkenbuch<br />

bei Weitz: Goethe. West-östlicher Divan. Leipzig 1949. S. 297.<br />

31) Im ersten Band der F undgruben werden die bis dahin existierenden übersetzungen<br />

einzelner Makamen J-Iari ris aufgezählt (S. 22). Es ist nicht ausgeschlossen.<br />

daß Goethe sich die eine oder andere angesehen hat. In den Studienpapieren<br />

<strong>zum</strong> Divan gibt es ein Blatt mit Aufzeichnungen über Hariri aus<br />

Fundgruben Bd. I (S. 22) und Herbelot (Divan. Akademie-Ausgabe 3. S. 90.<br />

Paralip. m). Auf einem weiteren Blatt finden sich die Seitenzahlen der Fundgruben-Bände<br />

I und 2 notiert. die auf Hariri Bezug haben (Akademie-Ausgabe 3.<br />

S. 157. Paralip. 152) .<br />

"SOMMERNACHT"<br />

1. Überblick<br />

Mit "Sommernacht", dem bedeutendsten Gedicht des Schenkenbuchs,<br />

hat sich die Divan-Forschung in neuerer Zeit besonders intensiv<br />

befaßt. Emil Staiger widmete dem Gedicht eine richtungweisende<br />

Studie, die Reiz und Eigentümlichkeiten Goethescher Kunst meisterhaft<br />

verdeutlichte.1) Auf den <strong>von</strong> Staiger geschaffenen Grundlagen<br />

fußend gaben Kommerell 2) und mehrere Kommentatoren des Divan<br />

ausführliche Analysen <strong>von</strong> "Sommernacht". Vergleicht man sämtliche<br />

Interpretationen, ältere und neuere, aber auch die neueren untereinander,<br />

so zeigt sich, daß das Gedicht in auffällig verschiedener Weise<br />

ausgelegt worden ist - wie sollte das bei -einem Werk dieses Schwierigkeitsgrades<br />

anders sein. Die Divergenz der Meinungen beginnt bei so<br />

elementaren Fragen wie denen der Datierung oder der Bewertung<br />

<strong>von</strong> Quellen. Sie erstreckt sich aber auch auf wesentlichste Probleme<br />

der Deutung.<br />

Ein Teil der Kommentatoren glaubt, Burdach folgend, als Hauptgedanke<br />

läge dem Gedicht ein Anspielen auf islamische Gebetsbräuche<br />

zugru nde. Damit wird der Schwerpunkt einseitig auf den<br />

Bereich des Religiösen verschoben. 3) Andere lassen Religion und<br />

1) Emil Staiger: Goethe: .. Sommernacht"; in: E. Staiger. Meisterwerke deutscher<br />

Sprache. 3. Auf! . Zürich 1957. S. H8-H. Zuerst in: Corona. Jg. 10 (1940) H. 1.<br />

S. 76-95 (Zu einem Goetheschen Gedicht).<br />

2) Max KommereII : Gedanken über Gedichte. Frankfurt a. M. 1943. S. 282 f.<br />

3) Vgl. Konrad Burdach. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläumsausg. Bd. 5 (1905).<br />

S. 406 f. - Emil Ermatinger. G oethes Werke. Berlin: Bong. Anmerkungen zu<br />

Bd. 1-4 (1913), S. 224 f. - E rn st Beutler: Goethe, West-östlicher Divan. Bremen<br />

1956. S. 702. 705. - Max Rychner : Goethe, West-östlicher Divan. Zürich 1952.<br />

S. 538 f.


30 "Sommernacht"<br />

Islam bewußt aus dem Spiel, nachdem Emil Staiger die Berechtigung<br />

<strong>von</strong> Burdachs These in Zweifel zog. Man sieht nun - und hierin wies<br />

ebenfalls Staiger den Weg - das Wesentliche <strong>von</strong> "Sommernacht"<br />

überhaupt mehr in der reizvollen Vielfalt <strong>von</strong> Themen und Tönen,<br />

Klängen und Farben, Stimmungen und Schwingungen, als in der<br />

Präponderanz einer bestimmten Thematik. Das Ironische besonders<br />

wurde jetzt stärker empfunden und bewertet. 4) .<br />

Endlich wurde auch die formale Seite des Gedichts zur Debatte<br />

gestellt. Staiger wies darauf hin, daß "Sommernacht" keinen einheitlichen<br />

Aufbau im üblichen Sinne habe. Es sei insofern gerade ein<br />

Gegenbeispiel zu Goethes "klassischer" Dichtung, als darin "keine<br />

Einheit" sei, "die <strong>zum</strong> Ganzen sich entfalten würde, kein Bezug der<br />

Teile aufeinander und auf eine Mitte, keine Linie, keine Gestalt,<br />

keine in sich geschlossene Welt". 5) Man hat sich bisher - soweit ich<br />

sehe - mit dieser interessanten Beobachtung nicht weiter befaßt.<br />

So begegnen wir bei der Interpretation eines der bedeutendsten<br />

Divan-Gedichte noch vielen Problemen erster Ordnung. Mit diesen<br />

werden sich die folgenden Untersuchungen zu beschäftigen haben.<br />

Auf zwei verschiedenen Wegen hoffen wir, zur Erörterung wichtiger<br />

Fragen etwas beitragen zu können. Wir wollen zunächst einmal<br />

"Sommernacht" unter einem Gesichtspunkt betrachten, der bisher<br />

seltsamerweise wenig Beachtung fand: unter dem des Pädagogischen.<br />

Welche Rolle - so möchten wir fragen - spielt in dem Gedicht, das<br />

doch offensichtlich als Gespräch eines älteren Lehrenden mit einem<br />

jüngeren Lernenden viel mit Erzieherischem zu tun hat, das pädagogische<br />

Element? Als zweites soll dann weiter versucht werden,<br />

aus einer Betrachtung der Ent,stehungsgeschichte und vor allem der<br />

Quelleneinwirkung neue Aufschlüsse zu erhalten.<br />

") Vgl. Kommerell a. a. o. S. 282 f.<br />

!i) Vgl. Stuigcr u. u. O. S. 120 (= Corona X I, S. 78).<br />

Charakter des Schenkenbuchs 31<br />

H. Das p ä d ag 0 gis ehe EIe m e n tin "S 0 m m ern ach t "<br />

"Das prachtvolle Zwiegespräch zwischen Dichter und Schenken<br />

zeigt die Pädagogik des Dichters in lebendiger Ausübung, in ihrer<br />

Wirkung auf den zutraulichen, liebend lernenden Schüler, den Schenken,<br />

in einer dramatischen Szene, die in herrlicher Bewegung Dämmerung,<br />

Nacht und Morgenrot der nordischen Sommernacht vorüberführt."6)<br />

Burdach bezeugt mit diesen Worten, wie lebhaft er noch<br />

den pädagogischen Aspekt des "Sommernacht"-Gedichts empfand.<br />

Einen ganz ähnlichen Eindruck machte das Gedicht auf Boisseree, als<br />

Goethe es ihm erstmals vorlas. Unter dem 8. August I8I5 findet sich<br />

in Boisserees Tagebuch die folgende Notiz:<br />

,,[Goethe las in Wiesbaden] abends wieder Stücke aus dem Divan. D [e r ]<br />

S c h e n k e . . . D as Ganze 7) als ein edles, freies paedagogisches Verhältniß, als<br />

Liebe und Ehrfurcht der Jugend gegen das Alter genommen vorzüglich schön ausgesprochen<br />

in einem Gcdicht: die kürzeste Nacht, wo Morgenroth und Abendroth<br />

zugleich am Himmel sind. Astronomie. Ethik."S)<br />

Die Boissereesche Aufzeichnung - wir werden noch auf sie zurückkommen<br />

- findet sich gewöhnlich mit einigen anderen Goetheschen<br />

Zeugnis'sen in den Kommentaren zu "Sommernacht" angeführt.<br />

Zum Thema des "Pädagogischen" ist das aber auch meist alles, was<br />

man vorbringt. Offenbar erschien alles Mögliche an dem Gepicht viel<br />

wichtiger als gerade das Pädagogische. Den Hauptanstoß hierzu gab<br />

Burdach. Denn die Worte, die wir <strong>von</strong> ihm anführten, stehen auch<br />

bei ihm nur vereinzelt da, allenfalls als Zeugnis eines u~befangenen<br />

Gesamteindrucks. Die eigentliche Aufmerksamkeit lenkt er auf andere<br />

Dinge, denen er nun eine vorherrschende Bedeutung gibt.<br />

6) K. Burdach : Die älteste Gestalt des West-<strong>östlichen</strong> Divans. Akademievortrag<br />

<strong>von</strong> 1904. In : K. Burdach: Zur Entstehungsgeschichte des West-<strong>östlichen</strong> Divans.<br />

3 Akademievorträge. Berlin 1955. = Dt. Akad. d. Wiss. zu Berlin, Veröffentl.<br />

d. Inst. f. dt. Spr. u. Lit., 6. (Im Folgenden zitiert: Burdach, Akademievorträge.)<br />

S·37.<br />

7) Gemeint ist: die auf den Schenken bezüglichen Gedichte.<br />

8) Ed. Firmenich-Richartz: Die Brüder Boisseree. Bd. I. Jena 1916. S. 402 f.


32 Das pädagogische Element in "Sommernacht"<br />

Daß dies möglich war, daß das Pädagogische in "Sommernacht"<br />

der Aufmerksamkeit so entschwinden, durch anderes so vergessen gemacht<br />

werden konnte, ist allerdings kein Zufall. Offenbar hat es<br />

etwas mit dem Gedicht selbst zu tun. Es scheint, daß das Pädagogische<br />

darin in zwiefacher Weise behandelt wird: sich manifestierend,<br />

sich zugleich aber auch wieder verbergend. Es wird eine Art Versteckspiel<br />

damit getrieben. Das erschwert das Erkennen und Bewerten.<br />

Inwiefern dies Versteckspiel ein besonderes Goethesches Kunstmittel<br />

bedeutet, wird noch zu erörtern sein. Wesentlich ist, daß wir<br />

uns zunächst einmal vor Augen führen, in welcher Weise sich in "Sommernacht"<br />

ein pädagogisches Element tatsächlich manifestiert, welche<br />

Rolle es in dem Gedicht spielt.<br />

Vieles ist hierüber 2!U erfahren, wenn man das Gedicht im Zusammenhang<br />

mit dem Buch betrachtet, in dem es steht. Eine Charakteristik<br />

des Schenkenbuchs gab Goethe im Kapitel "Künftiger Divan"<br />

der Noten und Abhandlungen. Dabei sprach er - dies darf uns interessieren<br />

- beinahe ausschließlich über den Anteil des Erotisch-Pädagogischen<br />

an diesen Gedichten: 9)<br />

"D asS ehe n k e n - B u c h. Weder die unmäßige Neigung zu<br />

dem halbverbotenen Weine, noch das Zartgefühl für die Schönheit<br />

eines heranwachsenden Knaben durfte im Divan vermißt<br />

werden; letzteres wollte jedoch unseren Sitten gemäß in aller<br />

Reinheit behandelt seyn.<br />

Die Wechselneigung des früheren und späteren Alters deutet<br />

eigentlich auf ein ächt pädagogisches Verhältniß. Eine leidenschaftliche<br />

Neigung des Kindes <strong>zum</strong> Greise ist keineswegs eine<br />

seltene, aber selten benutzte Erscheinung. Hier gewahre man<br />

den Bezug des Enkels <strong>zum</strong> Großvater, des spätgebornen Erben<br />

<strong>zum</strong> überraschten zärtLichen Vater. In diesem Verhältniß entwickelt<br />

sich eigentlich der Klugsinn der Kinder; sie sind aufmerksam<br />

auf Würde, Erfahrung, Gewalt des Älteren; rein<br />

geborne Seelen empfinden dabei das Bedürfniß einer ehrfurchts-<br />

9) WAl 7, S. 146 f.<br />

Charakter des Schenkenbuchs 33<br />

vollen Neigung; das Alter wird hie<strong>von</strong> ergriffen und festgehalten.<br />

Empfindet und benutzt die Jugend ihr Übergewicht um<br />

kindliche Zwecke zu erreichen, kindische Bedürfnisse zu b~friedigen,<br />

so versöhnt uns die Anmuth mit frühzeitiger Schalkheit.<br />

10 ) Höchst rührend aber bleibt das heran strebende Gefühl<br />

~es Knaben, der, <strong>von</strong> dem hohen Geiste des Alters erregt, in<br />

s1ch selbst ein Staunen fühlt, das ihm weissagt, auch dergleichen<br />

könne sich in ihm entwickeln. Wir versuchten so schöne Verhältnisse<br />

im Schenkenbuche anzudeuten und gegenwärtig weiter<br />

auszulegen." [Anschließend folgen zwei längere Geschichten aus<br />

Saadis Gulistan zu besserem Verständnis jenes pädagogischen<br />

Verhältnisses.]<br />

Es ist nicht uninteressant, mit dieser Charakteristik des Schenkenbuchs<br />

den realen Gehalt seiner Gedichte zu vergleichen. Von den<br />

22 Gedichten des Buchs nimmt nur die Hälfte - genau II - überhaupt<br />

Bezug auf das Verhältnis des Dichters <strong>zum</strong> Schenken. (Die andere<br />

Hälfte umspielt das Thema "Neigung zu dem halbverbotenen Wein".)<br />

Ein pädagogisches Element zeigt sich innerhalb jener II Gedichte nur<br />

bei einer Minderzahl, nämlich bei 5 - zu diesen 5, die den Schluß des<br />

Buches bilden, gehört "Sommernacht". Bei 4 Gedichten aus derselben<br />

Elfergruppe erscheint das pädagogische Verhältnis sogar in humorvoller<br />

Umkehr: hier tritt der Schenke als Ermahner des Dichters<br />

auf!i1)<br />

. Betrachten wir nun die 5 Gedichte, in denen das Alter die pädagog1sche<br />

Führung hat, so ergibt sich auch da ein merkwül'diges Bild. In<br />

zwei <strong>von</strong> diesen Gedichten bleibt es bei ganz geringfügigen Andeutungen;<br />

da heißt es lediglich, daß der Schenke "gerne hört", wenn der<br />

10) Vgl. unten Anm. 11.<br />

11) Der Schenke zeigt Merkmale der "Schalkheit": vgl. den oben zitierten Text der<br />

NA. "Schalkheit" bedeutet in dem prägnanten Sinn, welchen Goethe dem Wort<br />

seit 1797 oft zu geben licbte: beharrliches intelligentes Verneinen. V gl. M. <strong>Mommsen</strong>:<br />

Der "Schalk" in den Guten Weibern und im Faust. Jahrbuch Goethe 14/15<br />

(r952(l3) S. 171-202.<br />

3 <strong>Mommsen</strong>. Divan-Studien


34 Das pädagogische Element in "Sommernacht"<br />

Die Frage des "Dichters"·<br />

35<br />

Dichter "singe" oder "rede" .12) Von den restlichen drei Gedichten<br />

erschienen zwei jedoch erst in der Ausgabe des Divan <strong>von</strong> 1827P3)<br />

So bleibt für die erste Ausgabe des Divan (<strong>von</strong> 1819) allein "Sommernacht"<br />

übrig als das Gedicht, das überhaupt in ausgeführter Weise<br />

das Verhältnis des Dichters <strong>zum</strong> Schenken als "pädagogisch" darstellt.<br />

Nur dies Gedicht konnte zunächst verständlich machen, was in der<br />

Charakteristik der Noten und Abhandlungen über das Schenkenbuch<br />

gesagt war.<br />

Vergleicht man die beiden in der zweiten Ausgabe des Divan hinzugekommenen<br />

"pädagogischen" Gedichte mit "Sommernacht", so<br />

bleibt das Übergewicht des letzteren immer noch evident. In "Sommernacht"<br />

tritt das Pädagogische ohne weiteres erkennbar in einer<br />

ganzen Anzahl <strong>von</strong> Strophen auf, in den beiden anderen Gedichten<br />

zeigt es sich nur in einzelnen Versen. (Übrigens erscheint in einem,<br />

dem drittletzten Gedicht des Buchs der Schenke auch gleichzeitig als<br />

Ermahner des Dichters.)<br />

Es war nötig, das Faktische in diesen ganzen Verhältnissen deutlich<br />

ins Auge zu fassen, weil es zu der wichtigen Erkenntnis führt, daß<br />

"Sommernacht" im Rahmen des gesamten Schenkenbuchs sich als das<br />

eigentlich pädagogische Gedicht erweist. Es vertritt somit mehr als<br />

jedes andere das in den Noten und Abhandlungen ausgesprochene<br />

Goethesche Programm! 14.)<br />

Diese Lage dcr Dingc läßt cs um so notwendiger und berechtigter<br />

erscheincn, das Gedicht selbst einmal darauf hin zu prüfen, was an<br />

ihm eigentlich als pädagogisch zu gelten hat und was nicht. Schon ein<br />

Blick auf die ersten Versc zeigt, daß wir hier keine müßige Frage<br />

stellen. "Sommernacht" beginnt mit diesen Worten des Dichters:<br />

12) Vgl. "Nennen dich dcn großen Dichter" und "Schenke komm! Noch einen<br />

Becher!"<br />

13) "Denk', 0 Herr! wcnn du gctrunkcn" und "So hab' ich cndlich <strong>von</strong> dir erharrt".<br />

11,) Daß "Sommernacht" das am meistcn pädagogische Gedicht des Schenkenbuchs<br />

ist, hat auch H. G . Gräf richtig gesehen. (Goethe über seine Dichtungen III 2,<br />

S. 237.)<br />

Dichter.<br />

Niedergangen ist die Sonne,<br />

Doch im Westen glänzt es immer,<br />

Wissen möcht' ich wohl, wie lange<br />

[Zuerst: Möcht ich wissen doch wie lange]<br />

Dauert noch der goldne Schimmer?<br />

Die beiden letzten Verse dieser Strophe (V. 3.4.) gehören zu den<br />

umstrittensten des ganzen Gedichts. Es waltet um sie ein Mißverstehen,<br />

das sich auf die Interpretation des Ganzen abträglich auswirkte.<br />

Was bedeutet die Frage des Dichters? Zieht man den Gesamtcharakter<br />

des Gedichts in Betracht, so sollte das überaus leicht zu bestimmen<br />

sein. Der Dichter leitet mit dieser Frage ein pädagogisches Gespräch<br />

ein. Er fragt den Schenken nach den astronomischen Verhältnissen<br />

der Mittsommernacht. Der Knabe zeigt sich nicht informiert<br />

und wird daraufhin <strong>von</strong> dem Älteren belehrt. Es läßt sich eigentlich<br />

nichts Einfacheres denken als diese Erklärung. "Sommernacht" ist ein<br />

pädagogisches Gespräch, und dessen Einleitung - jedes Gespräch muß<br />

ja irgendwie eingeleitet werden - besteht in der Frage des Dichters.<br />

Das Thema des Gesprächs ist herausgegriffen - das hielt auch Boisseree<br />

in seinem Tagebuch fest nach Goethes Vorlesung - aus dem<br />

weiten Bereich dcr "Astronomie".<br />

Diese Erkenntnis, daß es eine pädagogische Frage ist, die ein päd-<br />

'\<br />

agogisches Gespräch einleitet, ist in den Kommentaren mehr und<br />

mehr verloren gegangen. Für Loeper war sie noch selbstverständlich.<br />

Seit Düntzer abcr begann man, die Verse 3 und 4 zu einem Problem<br />

werden zu lassen, indem man alles mögliche Psychologische in sie hineindeutete.<br />

Düntzer 15) gab folgende Version : Der Dichter ist "überrascht [!], daß heute das<br />

Abendroth bis <strong>zum</strong> Morgenroth dauert, und er belehrt darüber launig den jungen<br />

Schenken. .. Sei n e V c r W LI n der u n g [!] s p r ich t sie hin der Fra g e<br />

15) Erläuterungen zu den deutschen Klassikern. Abth. r, Bdch. XXXI-:XXXIII, Goethes<br />

West-östlicher Divan. Leipzig r878. S. 379.<br />

3*


36 Das pädagogische Element in "Sommernacht"<br />

aus, wie lange dies [der Dämmerungsvorgang] noch dauern werde." Das Unlogische<br />

dieser Interpretation liegt auf der Hand. Gerade der Dichter weiß um die<br />

Verhältnisse der kürzesten N ach t. Wie wäre er sonst imstande, den Schenken Zu<br />

"belehren"? Infolgedessen kann er nicht überrascht und seine Frage (V. 3. 4) nicht<br />

Ausdruck der Ver w und e run g sein.<br />

Burdach 16) setzte das durch Düntzer in die Interpretation hineingebrachte Psychologisieren<br />

fort. Für ihn stellen nun die Verse 3 und 4 überhaupt keine Frage mehr<br />

dar, sondern lediglich einen "in Pragcform sich kleidenden Ausruf". Diesen "Ausruf"<br />

habe der Schenke "als Ausdruck der Ungeduld" mißverstanden. Daraufhin bemühe<br />

er sich, den Eintritt der Mitternacht festzustellen, weil sie die vom Islam<br />

empfohlene Gebetsstunde bringe, bei der "der Andächtige mit dem Gesicht die<br />

Richtung nach Mekka einzuhalten habe" etc. Man sieht, die durch nichts zu rechtfertigende<br />

Umdeutung der Frage in einen "Ausruf" hat für Burdach in Wahrheit<br />

nur den Zweck, seine Lieblingsidee <strong>von</strong> den islamischen Gebetspflichten heranzubringen.<br />

(Wieweit wirklich in "Sommern acht" die Stelle vom Anschauen des<br />

Sternenhimmels [V. 9-16] durch Mohammed-Srrüche der "Sunna" inspiriert sein<br />

könnte, soll unten bei Behandlung der Quellen erörtert werden.)<br />

Staiger kommt darauf zurück, daß der Dichter in den Versen 3 und 4 tatsächlich<br />

den "Wunsch" äußere, etwas zu wissen. "Der Knabe", so führt er weiter aus,<br />

"schickt sich an, den Wunsch mit aller Aufmerksamkeit zu erfüllen." Allerdings sei<br />

des Dichters "Frage nur rhetorisch aufzufassen". Denn es stelle sich heraus, daß er<br />

"längst Bescheid weiß über die Dämmerung" .lI) Dem wäre nur hinzuzufügen: der<br />

Schenke legt in der Tat großen Eifer an den Tag - wir werden darauf noch zurückkommen.<br />

Bezüglich dessen, was der Dichter eigentlidl zu wissen wünscht, bleibt er<br />

jedoch die Antwort schuldig. Hierin, besonders aber .auch in dem Umstand, daß der<br />

Dichter wirklich "Bescheid weiß" über das, was er "wissen möchte", scheinen uns<br />

wesentliche Argumente dafür zu liegen, daß die "rhetorische" Frage zugleich auch<br />

eine p ä d a g 0 g i s ehe ist. Jede pädagogische Frage setzt ja das Wissen des<br />

Lehrenden vuraus: in sofern ist jede pädagogische Frage eine rhetorische.<br />

Beutler hält gleichfa ll s - gegenüber Burdach - daran fest, daß die Verse 3 und 4<br />

eine Frage enthalten. Über das Verhältnis dieser Frage <strong>zum</strong> Wissen des Dichters<br />

sagt er nur: "Der Greis weiß, daß es diesmal kein volles Dunkel geben, daß der<br />

Schimmer der gesunkenen Sonne vom Westen über den nördlichen Horizont nach<br />

Osten gleiten wird. Seine Frage gilt nur der Dauer der Helligkeit im Westen." 18)<br />

Hi) Jubiläumsa usgabe a. a. O.<br />

17) Staiger a. a. O. S. 127 (= Corona X I, S. 84).<br />

18) Beutler a. a. O. S. 699 ff.<br />

Rede des Schenken 37<br />

Die Frage ist also für Beutler nicht pädagogischen, sondern rein informativen Charakters.<br />

Der Dichter will erfahren, wann Mitternacht eintritt, denn dann möchte er<br />

- hier sind wir wieder bei Burdachs islamischem Gebet - zusammen mit dem<br />

Knaben seine Andacht verrichten . Wie Burdach und Düntzer legt Beutler der Frage<br />

einen Sinn unter, den sie nicht hat: man darf es Goethe zutrauen, daß er einen so<br />

spezifischen Inhalt auch kl ar <strong>zum</strong> Ausdruck hätte bringen können. Übrigens findet die<br />

gemeinsame Andacht nach Beutlers Meinung in der "Sommernacht" wirklich statt!<br />

("Dann schickt der Greis den Knaben zur Ruhe.") 19) Hier wird jene Verlagerung des<br />

Schwerpunkts auf das Religiöse, <strong>von</strong> der wir in der Einleitung sprachen, ins Extrem<br />

gesteigert. Mit eigenen Lieblingsvorstellungen dichtet man an dem Gedicht weiter.<br />

Überblickt man die verschiedenen Auffassungen der Eingangsfrage,<br />

so ergibt sich: einzig Staiger ist es um eine wirkliche Kongruenz mit<br />

dem Wortlaut der Dichtung zu tun. Doch gerade sein Hinweis, die<br />

Frage habe nur rhetorischen Charakter, durfte uns darin bekräftigen,<br />

sie als pädagogisdl aufzufassen. Betrachten wir nun, wie der weitere<br />

Verlauf des Gedichts sich darstellt, wenn wir da<strong>von</strong> ausgehen, daß<br />

die Eingangsfrage ein pädagogisches Gespräch einleite. Die Antwort<br />

des Schenken lautet:<br />

10<br />

S eh enke.<br />

Willst du, Herr, so will ich bleiben,<br />

Warten außer diesen Zelten,<br />

Ist die Nacht des Schimmers Herrin,<br />

Komm' ich gleich es dir zu melden.<br />

Denn ich weiß du liebst das Droben,<br />

Das Unendliche zu schauen,<br />

Wenn sie sich einander loben<br />

Jene Feuer in dem Blauen.<br />

Und das hellste will nur sagen:<br />

Jetzo glänz' ich meiner Stelle,<br />

15 Wollte Gott euch mehr betagen,<br />

Glänztet ihr wie ich so helle.<br />

I") A. a. o. S. 702.


38<br />

20<br />

Das pädagogische Element in "Sommernacht"<br />

Denn vor Gott ist alles herrlich,<br />

Eben weil er ist der beste;<br />

Und so schläft nun aller Vogel<br />

In dem groß und kleinen Neste.<br />

Einer sitzt auch wohl gestängelt<br />

Auf den Ästen der Cypresse,<br />

Wo der laue Wind ihn gängelt,<br />

Bis zu Thaues luft'ger Nässe.<br />

25 Solches hast du mich gelehret,<br />

Oder etwas auch dergleichen;<br />

Was ich je dir abgehöret<br />

Wird dem Herzen nicht ent.weichen.<br />

Eule will ich, deinetwege n,<br />

30 Kauzen hier auf der Terrasse,<br />

Bis ich erst des 'Nordgesti rn es<br />

Zwillings-Wendung wohl er passe.<br />

Und da wird es Mitternadlt seyn,<br />

[Zuerst: Und da wird es denn wohl Nacht seyn,]<br />

Wo du oft zu früh ermunterst,<br />

35 Und dann wird es eine Pracht seyn,<br />

Wenn das All mit mir bewunderst.<br />

In der Rede des Schenken finden wir zwei dem Inhalt nach ganz<br />

verschiedene Teile: einmal eine Erwiderung auf die an ihn gerichtete<br />

Frage - sie umfaßt ,die erste Strophe (V. 5-8) und die beiden letzten<br />

(V. 29-36); sodann, als E inschub, eine phantasievolle Digression, die,<br />

wie wir sehen werden, wesentlich diplomatischen _Charakter hat: die<br />

fünf Strophen V. 9 bis 28.<br />

Was die eigentliche Erwiderung betrifft, so enthält sie ein indirektes<br />

Eingeständnis des Nichtwissens. Der Knabe kann die ihm gestellte<br />

Rede des Schenken 39<br />

astronomische Frage nicht beantworten. Er gibt das aber nicht geradewegs<br />

zu, sondern überspielt geschickt seine Verlegenheit indem er<br />

aktivsten Lerneifer zeigt und sich anerbietet, sofort auf e~pirischeni<br />

Wege die fehlende Kenntnis zu erwerben. Er will die Nacht im Freien<br />

wachend verbringen, bis -<br />

Bis ich erst des Nordgestirnes<br />

Zwillings-Wendung wohl erpasse.<br />

Und da wird es Mitternacht seyn,<br />

[Zuerst: Und da wird es denn wohl Nacht seyn]<br />

Deutlich bekunden diese Verse, daß der Knabe genau erkannt hat,<br />

worum es eigentlich geht: nach etwas Astronomischem ist er gefragt<br />

worden. Und wenn er auch die eigentliche Antwort nicht weiß so<br />

will er doch demonstrieren, daß er 'schon genügend Astronomie' beherrscht,<br />

um der Sache nachgehen 2U können. So prunkt er mitastronomischer<br />

Terminologie. Trotzdem gibt er sich eine wirkliche Blöße.<br />

Irrig glaubt er, wenn er nur lange genug warte, werde es zweifellos<br />

am Ende "wohl Nacht seyn". Die handschriftlich überlieferte Fassung<br />

~es Verses 33 ist aufschlußreich. Im Stadium der Gedichtkonzeption<br />

heß Goethe den Schenken gar nicht speziell vom Eintritt der "Mitternacltt",<br />

-sondern einfach <strong>von</strong> dem der Nacht, der Dunkelheit reden.<br />

Dies sollte uns zur Vorsicht mahnen gegenüber allen Thesen <strong>von</strong> mitternächtlichen<br />

islamischen Gebeten etc.<br />

Wie das Verhalten des Schenken im Erwiderungs-Teil seiner Rede<br />

dargestellt ist, das trägt alle Merkmale des Goetheschen Realismus.<br />

So reagieren Knaben, wenn eine Frage, die sie nicht beantworten können,<br />

sie in die Enge treibt. Sie suchen das Blamiertsein zu überspielen<br />

durch Bekundung <strong>von</strong> Lerneifer, durch Demonstration sonstigen Wissens.<br />

Bei Platon gibt es vielfache Beispiele dafür. Überhaupt darf des<br />

Sokrates Lehrweise als Hintergrund zu dem pädagogischen Gespräch<br />

der "Somtnernacht" gedacht werden: durch Fragen die Schüler in die<br />

Situation des Blamiertseins zu bringen, das gehört ja <strong>zum</strong> Wesen der<br />

sokratischen Elenktik.


40 Das pädagogische Element in "Sommernacht"<br />

Durch Staiger sind wir glücklicherweise der Mühe überhoben, das astronomische<br />

Nichtwissen des Schenken mit seiner persischen Abstammung in Verbindung zu<br />

bringen. Burdach wollte nämlich genau wissen, der Schauplatz des Gedichts sei "im<br />

Norden" gelegen, der Schenke sei Perser, weile zu Besuch bei dem deutschen Dichter<br />

und kenne als Orientale die europäischen Sommernächte nicht. Staigers Verdienst<br />

ist es, die ganz freie Behandlung des Räumlichen in "Sommernacht" aufgezeigt<br />

zu haben. Mehrere Bereiche, Orient, Norden, Antike seien darin wiedergespiegeit.<br />

Diese Erkenntnis Staigers hat mit Recht allgemeine Aufnahme gefunden.<br />

Die gleichen Elemente, die wir in der eigentlichen Erwiderung des<br />

Schenken fanden, zeigen sidl, nur anders abgewandelt, in der eingeschobenen<br />

D i g res s ion (V. 9- 28): auch hier prunkt der Schenke<br />

mit Wissen und bekundet seinen Lerneifer. Um sich aus der Situation<br />

des Blamiertseins zu befreien, kramt der Knabe aus, was er bereits<br />

dem Dichter über Gestirne, den nächtlichen Himmel etc. alles ,;abgehöret"<br />

hat. Er macht aufmerksam auf die vielen Kenntnisse, die er<br />

auf dem in Frage stehenden Gebiet schon besitzt. Bezeichnenderweise<br />

wird diese ganze Digression eingeleitet durch die geflissentliche Beteuerung:<br />

"Denn ich weiß ... "<br />

Das Ausbreiten seiner Kenntnisse beginnt der Knabe mit einem<br />

geschickten diplomatischen Schachzug. Da doch <strong>von</strong> Sternen die Rede<br />

sein soll, spricht er über sie gleich vom denkbar höchsten Gesichtspunkt<br />

aus. Naturkunde, Astronomie, das nächste Sachliche, wonach er<br />

gefragt ist, läßt er weit unter sich und geht gleich ins Große, Allgemeine,<br />

Feierliche. So kann er imponieren, einen guten Eindruck<br />

machen. Allerdings weiß er <strong>von</strong> der Verehrung, mit welcher der Dichter<br />

"das Droben, das Unendliche" anzuschauen pflegt; er ahnt allerlei<br />

<strong>von</strong> Gedanken und Gefühlen, frommen, ethischen etc., die solches<br />

Anschaun begleiten. Gern und wortreich gibt er da<strong>von</strong> Rechenschaft:<br />

hierüber hat er schon Lektionen bekommen. Freilich zeigt er damit<br />

unfreiwillig zugleich die Merkmale des Jugendlichen, des Anfängers<br />

und Dilettanten. Denn für diese ist es ganz charakteristisch, das<br />

Ahnen großer Zusammenhänge mit Wissen zu verwechseln, im Ideellen<br />

zu schwelgen noch bevor das nötigste Einzelne, Konkrete erlernt<br />

ist. Der Ausflug ins Erhabene, Feierliche steht somit doch auch ganz<br />

Rede des Schenken 41<br />

im Zeich,en des Knabenhaften - und es ist durchaus folgerichtig, wenn<br />

der "Dichter" auf dies Feierliche später gar nicht eingeht.<br />

Wie jugendlich das Denken und Wissen des Schenken ist, zeigt die<br />

Weiterführungseiner Rede: unmittelbar, ohne Übergang schließt er<br />

ans Höchste das beinahe Nichtige. Daß groß und klein nachts schläft,<br />

wird, an den Vögeln exemplifiziert, mit gleicher Wichtigkeit behandelt<br />

wie das kosmische Hochgefühl des Dichters. Der Knabe bezeugt<br />

damit, daß er - ganz in Goethes Sinn - Naturbeobachtung getrieben<br />

hat. Dennoch ist hier das festgestellte und mit vid Anmut geschilderte<br />

Detail vergleichsweise <strong>von</strong> solcher Belanglosigkeit, daß man sich fragt:<br />

sind das überhaupt noch Weisheiten, 2!U deren Vermittlung es eines<br />

Lehrers bedarf? Am Schluß der Digression verrät sich eine diesbezügliche<br />

Unsicherheit des Schenken (V. 25 ff.):<br />

Solches hast du mich gelehret,<br />

Oder etwas auch dergleichen;<br />

Was ich je dir abgehöret,<br />

Wird dem Herzen nicht entweichen.<br />

In den fünf Strophen der Digression, die wir besprachen, tritt Goethes<br />

Kunst des Charakterisierens aufs großartigste in Erscheinung. Da<br />

kommt einmal die Haltung des Knaben <strong>zum</strong> Ausdruck, der bisher<br />

mehr mit dem Herzen als mit dem Verstand gelernt hat. Zugleich<br />

wird aber auch die Gestalt des "Dichters" mit wesentlichen Zügen<br />

ausgestattet, die das Schenkenbuch sonst nirgends bietet. Schließlich<br />

geben die Strophen den entscheidenden· Einblick in das schöne Verhältnis<br />

zwischen Lehrer und Schüler. Wie auch das Atmosphärische<br />

dieser Verse auf das gesamte "Sommernacht"-Gedicht bestimmend<br />

ausstrahlt - wobei die eigentümlichen Prägungen des Goetheschen<br />

Spätstils mitwirken -, ist öfters geschildert worden, am schönsten <strong>von</strong><br />

Staiger. So können wir hier da<strong>von</strong> schweigen. Betrachten wir nun die<br />

Antwort des Dichters:


42 Das pädagogische Element in .. Sommernacht"<br />

Die h t e r.<br />

Zwar in diesem Duft und Garten<br />

Tönet Bulbul ganze Nächte~<br />

Doch du könntest lange warten<br />

40 Bis die N acht so viel vermöchte.<br />

Denn in dieser Zeit der Flora,<br />

Wie das Griechen-Volk sie nennet,<br />

Die Strohwitwe, die Aurora<br />

Ist in Hesperus entbrennet.<br />

45 Sieh dich uml sie kommt! wie schnelle!<br />

Über Blumenfelds Gelänge I -<br />

Hüben hell und drüben helle,<br />

Ja die N acht kommt in's Gedränge.<br />

Und auf rothen leichten Sohlen<br />

50 Ihn, der mit der Sonn' entlaufen,<br />

Eilt sie irrig einzuholen j<br />

Fühlst du nicht ein Liebe-Schnaufen?<br />

Geh nur, lieblichster der Söhne,<br />

Tief in's l nnre schließ die Thürenj<br />

55 D enn sie möchte ,deine Schöne<br />

Als dcn Hcsperus entfüh ren.<br />

In ihrer Gesamthaltung ist die Redc des Dichters durchaus pädagogisch.<br />

Im einzelnen aber wird das Pädagogische mit der größten<br />

Freiheit, Leichtigkeit, Lockerheit behandelt.<br />

Der Dichter nimmt nur auf zwei Dinge in der Rede des Schenken<br />

Bezug: auf dessen Eingeständnis des Nichtwissens und auf sein Anerbieten,<br />

nachts draußen zu bleiben. Ganz unbeachtet bleibt, daß der<br />

Schenke gemeinsam mit dem Dichter in der Nacht "das All bewun-<br />

Die Antwort des .. Dichters" 43<br />

dern möchte", somit auch jener ganze Ausflug ins Feierliche, Erhabene,<br />

den man so gerne als das Wesentlichste des Gedichts ansehen<br />

wollte (V. 9-18). Nicht Erbauung steht hier zur Debatte, sondern Wissen,<br />

Naturkunde, Astronomie. Folglich knüpft der Dichter gen au bei<br />

dem Punkt an, auf den seine Eingangsfrage zielte. Er belehrt den<br />

Schenken über die Verhältnisse der kürZesten Nacht, stellt den Irrtum<br />

richtig, den dessen letzte Worte enthielten. Völlige Dunkelheit könne<br />

nicht eintreten, die Ursachen werden genannt. Das war es, was der<br />

Knabe nicht beantworten konnte.<br />

Die Lehre, die astronomische Begründung allerdings wird nicht<br />

ernsthaft dozierend erteilt, sondern mit freundlicher Ironie, im Gewand<br />

des heiteren Mythos - es ist ein Dichter, der hier unterrichtet,<br />

kein beflis,sener Schulmann. Staiger betrachtete es als einen be-'<br />

sonderen Vorzug des Schenkcenbuchs, daß darin das "pädagogische<br />

Verhältnis nie pedantisch" werde. Wenn dieser Vorzug auch in "Sommernacht"<br />

zutage tritt - und das am meisten pädagogische Gedicht<br />

zeigt ihn natürlicherweise irf erhöhtem Maß -, so liegt das vor allem<br />

an der über die gesamte Antwortrede des Dichters ausgebreiteten Ironie.<br />

Mit ihr wird das Lehrhafte absichtsvoll gemildert, überdeckt, es<br />

wird fast dahinter versteckt. Einen wesentlichen Zauber verdankt<br />

"Sommernacht" dieser Dezenz in der Behandlung des Pädagogischen.<br />

Nur hin und wieder wird es unmittelbar manifest - auch in der Rede<br />

des Schenken lassen es die diplomatischen Künste des Knaben bisweilen<br />

ganz vergessen.<br />

In der Antwort des Dichters versteckt sich das Pädagogische so<br />

weit hinter der Ironie-Einkleidung, daß man gezweifelt hat, ob es<br />

überhaupt ernst gemeint sei. "Wahrhaftig, wenn es galt, den Knaben<br />

zu belehren, so wurde das hier nicht gewissenhaft besorgt", bemerkt<br />

Staiger zu dem gewagten <strong>west</strong>-<strong>östlichen</strong> Durcheinander in' dem astronomischen<br />

Mythos. Aber gerade darin, daß das Dozieren "nicht gewissenhaft"<br />

betrieben wird, liegt zugleich auch ein überaus wirkungsvoller<br />

K:unstgriff: so hält Goethe das Pedantische aus dem pädagogischen<br />

Verhältnis heraus. Unbeschadet dessen bleibt das Verhältnis als<br />

solches doch, was es ist: ein pädagogisches.


44 Das pädagogische Element in "Sommernacht"<br />

Am Schluß der Dichter-Antwort steht - sehr bezeichnend - ewe<br />

pädagogische Maßnahme. Auch hierfür fand Goethe eine behutsame<br />

und anmutige Einkleidung. Des Schenken Ersuchen, die Nacht im<br />

Freien verbringen zu dürfen, wird abgewiesen. Unter Anspielung auf<br />

eine orientalische Lehre: Knaben müßten bei Einbruch der Nacht im<br />

Hause gehalten werden, um sie vor herumirrenden Teufeln zu schützen,<br />

fordert der Dichter den Schenken auf, hineinzugehen. Aus den<br />

orientalischen "Teufeln" - wir sprechen unten <strong>von</strong> der Quelle -<br />

macht Goethe griechische Göttergestalten. Diese Art der Umsetzung<br />

<strong>von</strong> Orientalischem in Antikes fi ndet sich bei ihm oft, noch im Faust II<br />

ist sie anzutreffen.20) In "Sommernacht" dient sie vor allem wieder<br />

dazu, den pädagogischen E rnst ab<strong>zum</strong>ildern, den Schluß des Gedichts<br />

heiter zu gestalten. D enn eigentlich handelt es sich bei der pädagogischen<br />

Maßnahme um E rnstes: Im alten Orient hatte man guten<br />

Grund, Knaben nachts im Hause zu halten: man mußte ,sie vor Verführern<br />

schützen. Goethe bildet hieraus das zauberhafte Motiv:<br />

Aurora möchte den Schenken "als den Hesperus entführen."<br />

Nun aber dürfen wir uns besinnen. Wir fa nden: am Anfang des<br />

Gedichts eine pädagogische Frage; am E nde eine pädagogische Maßnahme;<br />

dazwischen heitre Belehrung. E s scheint, daß wir im Laufe<br />

unserer Betrachtungen di e Einheit des Gedichts entdeckt haben -<br />

oder doch ein wichtiges, das Ganze einheitlich umfassendes Element.<br />

Wir erinnern uns an den eingangs erwähn ten Hinweis Staigers, daß<br />

gerade dies: Einheit, Linie, Mitte der Goetheschen "Sommernacht"<br />

fehlen sollten. Staiger sah in den einzelnen Teilen des Gedichts nur<br />

"unzusammenhängende F ragmente". Nun müssen wir feststellen: gewisse<br />

Merkmale eines einheitlichen Aufbaus lassen sich doch nicht<br />

verkennen. Das Pädagogische erweist sich als ein das Gesamte verknüpfendes<br />

Band. Eingang und Ausgang des Gedichts stehen ganz in<br />

seinem Zeichen und bilden so die Grund- und Eckpfeiler - darüber<br />

wölbt sich die Brücke des pädagogischen Gesprächs. Wenn in man-<br />

20) Vgl. <strong>Katharina</strong> <strong>Mommsen</strong>, Goethe und IOOI Nacht. Berlin I960. S. I8) ff.<br />

Die Einheit des Gedichts 45<br />

ehen Partien das Pädagogische scheinbar zurücktritt, so werden wir<br />

das nicht als ein Zeichen der Inkohärenz deuten. Hier hat Goethe<br />

durch Abschweifungen, Verkleidungen etc. absichtlich aufgelockert,<br />

um nicht das Pedantische aufkommen zu lassen. Übrigens zeigen alle<br />

diese Teile bei genauerem Betrachten völlig logischen Bezug auf die<br />

Thematik des Ganzen.<br />

Ein Beispiel mag noch verdeutlichen, wie Goethe sogar durch besonders<br />

gründliche Motivierung die Teile untereinander verknüpft.<br />

Die pädagogische Maßnahme a.,m Schluß des Gedichts nimmt Bezug<br />

auf den Vorschlag des Schenken, die Nacht im Freien verbringen<br />

zu dürfen. Dieser Vorschlag selbst wird sehr kunstvoll behandelt. Der<br />

Schenke bringt ihn am Anfang seiner Rede vor. Er spricht dann, bei<br />

Erwähnung der schlafenden Vögel in der Digression, <strong>von</strong> dem "einen"<br />

Vogel, der nicht wie alle andern die Nacht im Nest verbringt, sondern<br />

"gestängelt / Auf den Ästen der eypresse, / Wo der laue Wind<br />

ihn gängelt". Auf dies beinah genüßlich ausgemalte Bild greift er zurück,<br />

als er am Schluß seiner Rede jenen Vorschlag wiederholt (V. 290:<br />

Eule will ich, deinetwegen,<br />

Kauzen hier auf der Terrasse ...<br />

Durch die Verknüpfung der Bilder verrät der Knabe, wie sehr ihm<br />

dies: einmal allein nachts im Freien 2JU bleiben, wenn alles schläft, inzwischen<br />

als interessant, reizvoll, lockend erscheint. Damit wird sein<br />

Vorschlag intens,iviert, er ist schon fast Bitte. Um ein Entsprechendes<br />

erscheint nun auch die Ablehnung dieser Bitte stärker begründet und<br />

akzentuiert. Durch so besonders sorgfältige motivische Vorbereitung<br />

verbindet Goethe die pädagogische Maßnahme am Schluß mit der<br />

Mittelpartie. Auch dies dient sehr wesentlich der Einheit des Ganzen.<br />

Freilich ist "Sommernacht" nicht in der Weise schlicht einheitlich<br />

gebautwie beispielsweise die gleichzeitig entstandenen Divan-Gedichte<br />

"Siebenschläfer" und "Der Winter und Timur". Bei diesen handelt es<br />

sich um mehr epische Gedichte. Hier ist die Einheit schon gewährleistet<br />

durch den erzählerischen Ablauf, der , der Quellenvorlage ent-


46 Das pädagogische Element in "Sommernacht"<br />

spricht. In "Sommernacht" erforderte einmal die Gesprächsform, vor<br />

allem aber auch die eigenartige Thematik eine andere Lösung. Das<br />

pädagogische Verhältnis, wie es in dem Zwiegespräch zwischen Dichter<br />

und Schenken <strong>zum</strong> Ausdruck kommt, sollte zart behandelt sein,<br />

unpedantisch, dezent. Dem wird die Form angepaßt: man möchte <strong>von</strong><br />

verdeckter, verkleideter Einheit sprechen.<br />

Allerdings ist das eine Lösung, wie sie Goethe in jüngeren Jahren<br />

schwerlich geglückt wäre. Staigers Hinweis auf den Unterschied zwischen<br />

"Sommernacht" und den Gedichten der klassischen Zeit deckt<br />

den Wandel auf, der hier stattfand. Es ist aber - ähnlich sieht es auch<br />

Staiger - nicht nur ein Wandel des Id eals, sondern auch des Könnens.<br />

Gewisse sehr komplizierte fo rmale Lösungen gelingen in der Kunst<br />

nur dem hohen Alter. D arin liegt die überragende Bedeutung der<br />

Schöpfungen etwa des späten Beethoven, Michelangelo, Rembrandt.<br />

Im dichterischen Bereich ist das Gocthesche Spätwerk eine Fundstelle<br />

solcher Kostbarkeiten <strong>von</strong> sublimierter Form.<br />

Führen wir uns jetzt noch einmal vor A ugen, was Boisseree in seinem<br />

Tagebuch als das Wesentliche an dem "Somm ernacht"-Gedicht<br />

bezeichnet hat: das "edle pädagogische Verhältniß ... Astronomie.<br />

Ethik." Nicht treffender, so scheint es nach allem was wir sahen,<br />

könnte der Gehalt des Gedichts resümiert werden. Man möchte meinen,<br />

daß hier wie auch sonst den Aufzeichn ungen Boisserees Goethesche<br />

Äußerungen zugrunde liegen, nicht nur eigene Reflexionen.<br />

"Astronomie. Ethik": die W orte würden durchaus den Gang des<br />

Zwiegesprächs, auf eine lakonische Formel gebracht, bezeichnen. Von<br />

der astronomischen Frage geht es aus, mit einer sittlichen Maßnahme<br />

schließt es - auch dazwischen sind Ethik und Astronomie Gesprächsgegenstand,<br />

wie immer verkl eidet.<br />

Daß es gerade eine naturkundlich-astronomische Frage ist, mit der<br />

das Gedicht eröffnet wird, weist übrigens noch in einem ganz speziellen<br />

Sinn ins Feld des Pädagogischen. Man darf sich daran erinnern,<br />

welche erzieherische Rolle in den Schulen des Pythagoras und Platon<br />

die Mathematik - in weitestem Sinne - spielte. Goethe wußte hier-<br />

Die Entstehung <strong>von</strong> "Sommernacht" 47<br />

<strong>von</strong>, wie ein Satz aus der "Italienischen Reise" zeigt:21) "Plato wollte<br />

keinen ocye:w[J.E-rp"fJ't"o'l in seiner Schule leiden ;22) wäre ich im Stande<br />

eine zu machen, ich litte keinen, der sich nicht irgend ein Naturstudium<br />

ernst und eigentlich gewählt." Es steht mit diesem Satz, es steht<br />

aber überhaupt mit Goethes Denkweise völlig in Einklang, wenn das<br />

programmatisch pädagogische Gedicht des Divan mit einer Frage der<br />

Naturkunde eröffnet wird. Eine fernere Legitimation hierfür konnte<br />

Goethe in den <strong>von</strong> ihm benutzten orientalischen Quellenwerken finden.<br />

Da<strong>von</strong> wird im Folgenden zu sprechen sein.<br />

IH. E n t s t e h u n g<br />

"Sommernacht" ist entstanden am 15. und 16. Dezember 1814. Goethes<br />

Tagebuch enthält unterm Datum des 15. Dezember die Eintragung:<br />

"Sommernacht", die Handschrift trägt das Datum: "Jena d.<br />

16 Dec 1814." Man hat wiederholt die Frage aufgeworfen, was Goethe<br />

veranlaßt haben könnte, ausgerechnet an den kürzesten Tagen des<br />

Jahres ein Gedicht über die "kürzeste Nacht" zu schreiben. In der<br />

Tat ist das seltsam genug, Verwunderung darüber ist berechtigt.<br />

Denn Goethe erlebte die Jahreszeiten bewußt, und die dunklen<br />

Dezemberwochen empfand e'r, besonders in höherem Alter, als bedrückend<br />

und der dichterischen Produktion hinderlich. Es ist versucht<br />

worden, das Problem der winterlichen Entstehung <strong>von</strong> "Sommernacht"<br />

dadurch zu lösen, daß man die These aufstellte, der Anfang<br />

des Gedichts sei bereits im Sommer 1814 geschrieben, die Ausführung<br />

dann im Dezember erfolgt. Aber diese These ist nicht haltbar. Auf<br />

diese Weise ist der ganzen Frage nicht beizukommen.<br />

Die These stützt sich auf eine handschriftliche Sonderüberlieferung<br />

für die erste Strophe <strong>von</strong> "Sommernacht". Diese findet sich - mit der<br />

~ I) Zweiter Römischer Aufenthalt. Albano den 5. Oktober 1787. WA I 32, S. 106 f.<br />

22) Zur Sache und den Quellen vgl. E. Zeller, Die Philosophie der Griechen, Bd. i:1,<br />

Abt. I, S. 357.


48 Die Entstehung <strong>von</strong> "Sommernacht"<br />

<strong>von</strong> uns angeführten Abweichung im Wortlaut23) - auf einer Sammelhandschrift,<br />

die unter der Überschrift "Fragmente" II verschiedene<br />

Gedichtbruchstücke und Entwürfe enthält. Diese Handschrift - H 10<br />

der Weimarer Ausgabe - ist aber undatiert und zeitlich schwer zu<br />

bestimmen. Burdach behauptete, die "Stücke dieser Sammelhandschl}ift"<br />

bewiesen es, daß das Ganze "nicht später als 26. Juli 1814 entstanden<br />

sei".24) Das trifft nicht zu.<br />

Die Ir Aufzeichnungen stellen offenbar Reinschriften <strong>von</strong> Entwürfen<br />

dar, die an sich aus verschiedenen Zeiten stammen können. Nur<br />

die dritte Aufzeichnung hat Burdach überhaupt auf ihre Datierbarkeit<br />

untersucht und besprochen. Hier handelt es sich um Strophe 3 des<br />

Gedichts "Keinen ... Reimer , wird man finden". Aber diese Verse geben<br />

uns keineswegs, wie BUl'dach wollte, ein eindeutiges Datierungsindiz.<br />

Denn das vollständige Gedicht trägt die Doppeldatierung : ,,26. Jul.<br />

23. Dec. 1814". Jene dl'itte Strophe kann also auch im Dezember<br />

hinzugefügt sein. Ihr politisch gefäl'bter Inhalt nimmt do~hl Bezug<br />

auf den im September zusammengetretenen Wiener Kongreß,<br />

worüber Goethe November/Dezember r814 - nach seiner Rückkehr<br />

<strong>von</strong> der Rhein-Mainreise - mündliche und schriftliche Nachrichten<br />

erhielt. Wahrscheinlich wurde die Strophe ange regt durch einen Brief<br />

<strong>von</strong> G. Sartorius aus Wien und einen gleichfalls <strong>von</strong> Sartorius verfaßten<br />

Aufsatz über den Wien er Kongreß; beide trafen Anfang Dezember<br />

1814 bei Goethe ein. 25)<br />

Ein anderes sehr wichtiges Datierungsindiz, <strong>von</strong> dem BUl'dach nicht<br />

spricht, würde gleichfalls auf Entstehung der S,"!.mmdhandschrift im<br />

Dezember schließen lassen. Als siebentes "Fragment" erscheint in der<br />

Handschrift die dritte Strophe des Gedichts ,,~dung" (Buch<br />

Hafis). "Nachbildung" aber entstand, wie aus Goethes Tagebuch<br />

bekannt ist, am 7. Dezember 18141<br />

Die "Sommernacht"-Strophe steht in der Handschrift an letzter,<br />

elfter Stelle, also hinter der dritten Strophe <strong>von</strong> "Nachbildung". Das<br />

23) V gl. oben S. 35.<br />

21,) WA I 6, S. 475, zu Paralip. 13.<br />

25) V gl. unten S. 103 f.<br />

Lebensanregungen zu "Sommern acht" 49<br />

weist doch recht deutlich auf ihre Entstehungs2Jeit: Dezember r814,<br />

und hierher ist auch - nach allem, was wir bisher wissen - die Sammelhandschrift<br />

2JU datieren: zwischen 7. Dezember (Datum <strong>von</strong><br />

"Nachbildung") und 15. Dezember (Datum <strong>von</strong> "Sommernacht"). Unrichtig<br />

ist es jedenfalls, wenn Beutler, gestützt auf Burdach, behauptet,<br />

der Anfang <strong>von</strong> "Sommernacht" sei "während des Aufenthalts in<br />

Berka (13. Mai bis 28. Juni), also wirklich zur Zeit der kürzesten<br />

Nächte gedichtet".2G)<br />

Um das Problem der winterlichen Entstehung <strong>von</strong> "Sommernacht"<br />

zu lösen, muß man nach anderen Möglichkeiten Ausschau halten. Zu<br />

vermuten ist, daß sehr bedeutsame Anregungen mitwirkten. Diese<br />

gilt es zu finden. Zunächst soll darum untersucht werden, wieweit<br />

etwa lebendige Eindrücke, Vorgänge, Erinnerungen auf die Entstehung<br />

des Gedichts Einfluß hatten. Sodann sind Anregungen durch<br />

Quellen in Betracht zu ziehen.<br />

IV.Lebensanregungen<br />

Unmittelbare Anregungen durch Lebenseindrücke kann, wenn auch<br />

in begrenztem Maße, der Jenaer Aufenthalt im Dezember ~8r4 gebr~cht<br />

haben. Mehrmals besuchte Goethe das Observatorium. Am<br />

17· Dezember 1814 vermerkt sein Tagebuch: "Sternwarte. Zwey Sonnenflecken.<br />

Durchgang der Sonne durch den Meridian." Häufige Gespräche<br />

mit dem Jenaer Astronomen v. Münchow haben mit Sicherheit<br />

in jenen Tagen das Interesse auf astronomische Fragen und Erscheinungen<br />

gelenkt.<br />

Bedeutsamer ist noch etwas anderes. Einen Tag vor Beginn der<br />

Arbeit an "Sommernacht" kam es "bey Tisch" zu einem Gespräch<br />

über den "Pestaluzzischen Rechen-Unterricht" (Tagebuch 14. Dezember<br />

1814). Dabei wurden Goethes Gedanken in den Bereich des Päd-<br />

..4 .<br />

2(;) West-östlicher Divan. Hrsg. voo Ernst Beutler. Bremen 1956. S. 704.<br />

4: <strong>Mommsen</strong>, Divan·Studien


so<br />

Lebensanregungen zu "Sommernacht"<br />

Die Pestalozzischule 51<br />

agogischen gelenkt, und zwar durch ein Thema, das ihn seit längerer<br />

Zeit beschäftigte.<br />

. i~ Im August I814 hatte er eine .Pestalozzische Schule in Wiesbaden<br />

.', besJcht und mit deren Leiter wiederholt über die dortangewandte<br />

Erziehungsmethode diskutiert. Ausdrücklich überliefert ist, daß Goethe<br />

sich dabei speziell für "die Kopfalgebra und überhaupt das Kopfrech-<br />

. nen" interessierte.27) Damals las Goethe auch "Lienhard und Gertrud"<br />

(Tagebuch). Die Pestalozzischule fand allgemein bei den Badegästen<br />

ir: Wiesbaden große Beachtung. In Frankfurt, das Goethe<br />

anschließend besuchte, war anderseits Willemer ein überzeugter<br />

Pestalozzianhänger. 28)<br />

Als Goethe sich im Sommer J815 wieder in Wiesbaden aufhielt, war<br />

sein Interesse für die dortige Schule und Pestalozzi eher noch gestiegen.<br />

Oberb~rgrat C~mer, selbst ein Pes~alozzienthusiast, berichtete,<br />

der Dichter habe immer <strong>von</strong> jenen Erziehungsmethoden gesprochen.29)<br />

Mit Boisseree führte Goethe am 5. August I8I5 ein langes<br />

Gespräch über die Pestalozzische Schule, nachdem Cramers Tochter<br />

eine Probe ihres dort erworbenen Könnens ablegte durch virtuoses<br />

Lösen einer komplizierten Rechenaufgabe. Aus Boisserees Aufzeichnungen<br />

<strong>von</strong> jenem Tag geht hervor, daß Goethe Pestalozzis Erziehungssystem<br />

mit Leidenschaft ablehnte. Zwei Dingen gilt dabei seine<br />

Polemik vor allem: dem Mathematikunterricht mit der Bevorzugung<br />

der "Kopfalgebra" ; das Rechnen "mit unbekannten Größen, leeren<br />

Zahlen und Formen" ist Goethe ein Greue\. Dann aber wettert er<br />

auch gegen die falsche "Selbständigkeit", zu der man die Jugend hier<br />

erziehe: 30) "Und nun gar dazu der D ü n k e I, den dieses verfluchte<br />

Erziehungswesen errege, da soll ich nur einmal die Dreistigkeit der<br />

kleinen Buben hier in der Schule sehen, die vor keinem Fremden<br />

erschrecken, sondern ihn in Schrecken setzen! Da falle aller Respect,<br />

alles was die Menschen unter einander zu Menschen macht weg. Was<br />

27) Biedermann, Goethes Gcspr ächc ~ Bel. 2, S. 268.<br />

28) Kar! Muthesius, Goethc und Pcst:1lozzi. S. 258 ff.<br />

29) Biedermann a. a. O. Bd. 2, S. 3,8; Firmenich-Richartz S. 400.<br />

30) Firmenich-Richartz S. 399.<br />

wäre denn aus mir geworden, sagte er, wenn ich nicht immer genöthigt<br />

gewesen wäre, Respect vor andern zu haben. Und diese Menschen<br />

mit ihrer Verriicktheit und Wuth, alles auf das einzelne Individuum<br />

zu reduzieren, und lauter Götter der Selbständigkeit zuseyn,<br />

diese wollen ein Volk bilden ... " etc.<br />

Drei Tage nach diesem Gespräch fand die Vorlesung der Schen- I<br />

kengedichte und <strong>von</strong> "Sommernacht" statt, deren Boisserees Tagebuch<br />

gedenkt. (8. August I8I5; vgl. oben S. 3I.) Man muß Goethes<br />

Ausbrüche gegen Pestalozzi vom 5. August in Vergleich setzen zu<br />

Boisserees Aufzeichnungen vom 8 . . August I8I5. Dann erst wird man<br />

die Akzente richtig bewerten, mit denen im Zusammenhang der<br />

Schenkengedichte vom Pädagogischen gesprochen wird: "Das Ganze<br />

als ein edles, freies paedagogisches Verhältniß, als Liebe und Ehrfurcht<br />

der Jugend gegen das Alter genommen vorzüglich schön ausgesprochen<br />

in einem Gedicht: die kürzeste Nacht, wo Morgenroth<br />

und Abendroth zugleich am Himmel sind. Astronomie. Ethik." Hier<br />

wird deutlich, daß im Schenkenbuch, besonders aber in "Sommernacht"<br />

auch jene Stimmung gegen Pestalozzi ihren Ausdruck fand,<br />

die Goethe in den Jahren I8I4I1815 beherrschte. Wie woft, spricht<br />

Goethe in diesen Gedichten auch aus einer Kampfposition heraus.<br />

Wenn darin "Ehrfurcht der Jugend gegen das Alter" zur Darstellung<br />

kommt, so hat das einen verborgenen Bezug auf die entgegengesetzten<br />

Tendenzen eines modernen Schulsystems. Ein gleicher Bezug 'findet<br />

sich in der Schenkenbuch-Charakteristik der Noten und Abhandlungen,<br />

wo ausdrücklich gewünscht wird, daß "ehrfurchtsvolle Neigung"<br />

und "Staunen" das Verhältnis der Jugend <strong>zum</strong> "hohen Geiste<br />

des Alters" bestimmen müssen.31) Noch die Lehre <strong>von</strong> den drei Ehrfurchten<br />

in der pädagogischen Provinz der Wanderjahre schließt<br />

etwas <strong>von</strong> jener Pestalozzipolemik ein.32)<br />

:J1) V gl. oben S. 32 f.<br />

:12) Das Kapitel <strong>von</strong> den drei E hrfurchten entstand November r820. Aus einem<br />

Brief Goethes an Fellenberg <strong>von</strong> April r8r7 ist zu entnehmen, daß die Ablehnung<br />

Pestalozzis weiterhin die Einstellung des Dichters Zu pädagogischen<br />

Problemen bestimmt. (W A IV 28, S. 79.) Durch Fellenbergs Erziehungsinstitut<br />

4*


52 Lebensanregungen Zu "Sommernacht"<br />

Aber auch etwas anderes stellt sich nun klarer heraus: wirklich<br />

darf man die Eingangsfrage <strong>von</strong> "Sommernacht" als pädagogisch bezeichnen.<br />

Die Erinnerungen an das Pestalozzische Bevorzugen der<br />

Mathematik haben bei ihrer G estaltung mitgewirkt. In der Frage<br />

nach den Verhältnissen der "kürzesten Nacht", in der "Astronomie"<br />

liegt ein gewollter Kontrast zu Pestalozzis Algebraaufgaben. Auch<br />

hier geht es um eine Rechnung; nur wird sie nicht mit "leeren Zahlen<br />

und Formen" gelöst, sondern durch Anschauung, Erfahrung, Naturbeobachten.<br />

Dies alles in Betracht gezogen wird es nicht bedeutungslos erscheinen,<br />

daß einen Tag vor der E ntstehung <strong>von</strong> "Sommernacht" das<br />

Pestalozzi-Thema im Zusammensein mit Jenaer Gelehrten zur Sprache<br />

kam. Hier<strong>von</strong> dürfte eine lebendige Anregung zur Abfassung des pädagogischsten<br />

aller Schenkengedichte ausgegangen sein.<br />

Spricht man <strong>von</strong> Lebenseinflüssen auf das Schenkenbuch, so muß<br />

auch des jungen Paulus :\:3) gedacht werden, des wichtigsten menschlichen<br />

Urbilds für die Gestalt des Schenken. Goethe lernte ihn, den<br />

damals zwölf jährigen Sohn des Heidc.lberger Orientalisten H. E. G.<br />

Paulus, kennen im Oktober 1814. D er Knabe vereinte in seinem Wesen<br />

Charme, Intelligenz und etwas "mun teres, neckisches".34) All das<br />

sind Züge, die sich in den Schenkengeclichten widerspiegeln, besonders<br />

in vieren, die nachweislich während oder kurz nach Goethes Heidelberger<br />

Aufenthalt im Oktober 1814 entstanden.<br />

Goethes Interesse für den jungen Paulus hing natürlich in erster<br />

Linie damit zusammen, daß er damals die Welt mit den Augen des<br />

Hafis sah. So war er dankbar für ein lebendiges Beispiel jener Knabenschönheit,<br />

der der persische Dichter so vielfach huldigt. Doch<br />

konnte es nicht aJUsbleiben, daß im Umgang mit dem Zwölf jährigen<br />

auch Gedanken wiederkehrten, wie sie kurz vorher der Wiesbadener<br />

wurden anderseits einzelne Züge in der Pädagogischen Provinz der W anderjahre<br />

angeregt.<br />

33) August Wilhe1m Paulus (JS02- IS19).<br />

34) An Christiane. 6. Oktober ISI4. WA IV 25. S. 49.<br />

Der junge Paulus 53<br />

Aufenthalt mit dem Besuch der Pestalozzischule erweckt hatte. Hinsichtlich<br />

all dessen, was dort Goethes Mißfallen erregte, war der<br />

junge Paulus vermutlich besser geraten und erzogen. Der Vergleich<br />

mag in eindrucksvoller Weise zu seinen Gunsten ausgefallen sein. Auf<br />

jeden Fall fehlt in Goethes Verhältnis zu ihm nicht ein gewisses pädagogisches<br />

Element. Zu Neujahr 1815 - kurz nach Entstehung <strong>von</strong><br />

Sommernacht" - schickte er dem Heidelberger "Schenken" ein<br />

::Schwänchen", das "bemahlte und bereimte Blätter" enthielt.35) Am<br />

17. März 1815 erfolgte eine neue "Sendung", <strong>von</strong> der Goethe hofft, daß<br />

sie "angenehmer und nützlicher" sein solle: nämlich "Mineralien".<br />

Goethes Begleitschreiben - es ist der einzige erhaltene Brief an den<br />

jungen Paulus - ist nun ganz auf einen pädagogischen Ton eingestellt<br />

:36)<br />

" ... Da du N eigung hast zu Mineralien, so wird es wohlgethan<br />

seyn, wenn du sie in einer gewissen Folge und Ordnung kennen<br />

lernst. Wirst du die in der gegenwärtigen Sammlung enthaltenen<br />

Stücke hübsch <strong>von</strong> einander unterscheiden lernen, und dir nebst<br />

ihrer Gestalt auch ihren Namen einprägen, so wirst du schon einen<br />

guten Schritt gethan haben, und wirst dich im Mineralreiche nicht<br />

ganz fremd finden. Ich wünsche nichts mehr als daß ich diesen<br />

Sommer möge persönlich ein Zeuge deiner Fortschritte seyn ... "<br />

Der Brief zeigt, daß in den Gesprächen mit dem jungen Paulus<br />

auch Naturkunde eine Rolle gespielt hat. Das hat eine Entsprechung<br />

in der Situation <strong>von</strong> "Sommernacht". Ob dabei auch das Gebiet der<br />

Astronomie berührt wurde, wissen wir nicht. Immerhin ist zu erwähnen:<br />

in einem (undatierten) Brief des Vaters Paulus gibt dieser Goethe<br />

Auskunft über as tronomische Fragen und Termini, die in einem<br />

35) Darunter wohl das au f den jungen Paulus bezügliche Gedicht "Heute hast du<br />

gut gegessen". Vgl. M. <strong>Mommsen</strong> : "Schwänchen und Schwan". Jahrbuch "Goethe"<br />

13 (1951) S. 290-95.<br />

36) W A IV 25, S. 236.


54 Quellen zu "Sommernacht"<br />

"französisch-teutschen", auf den Orient bezüglichen "Werckchen"<br />

Schwierigkeiten ber.eiteten.37)<br />

Zur Zeit des zweiten Heidelberger Aufenthalts September/Oktober<br />

1815 wird in Goethes Tagebüchern des jungen Paulus mehrmals unter<br />

der Bezeichnung des "Schenken" gedacht. Dann reißt die unmittelbare<br />

Verbindung offenbar ab. Gelegentlich erwähnen noch die Eltern<br />

ihren Sohn in Briefen an Goethe: "Der kleine Schenke will noch besonders<br />

empfohlen seyn", heißt es in einem Schreiben <strong>von</strong> Caroline<br />

Paulus (3. August 1816).38) Der Vater berichtet Ostern 1817: "Der kleine<br />

Schenke hat diesen Winter viel mit Religion u. Kirche Zu thun gehabt,<br />

ist nun aber zu den Quasimodogenitis durchgedrungen. Kommt gleich<br />

der Spiritus als der lezte, so hoffe ich doch, Er soll desto gewisser<br />

auch bey ihm bleiben. Wenigstens adspirirt der neubefestigte Chrrst<br />

mit sichtbarer Anstrengung <strong>zum</strong> Übergang in die Geseztheit. Gegenwaertig<br />

ist er ganz in high spirits bey seiner "gnaedigen Frau" (<strong>von</strong><br />

Reizenstein) welche seit mehreren Wochen nach Mannheim zog ... " 39)<br />

Bereits 1819 starb der "Schenke"siebzehnjährig, früh wie die Lieblinge<br />

der Götter.<br />

Es könnte durchaus sein, daß einzelne Motive in "Sommernacht"<br />

auf Erinnerung an Erlebnisse mit dem j1ungen Paulus im Oktober 1814<br />

zurückgehen: etwa der Wunsch des Schenken, nicht schlafen gehen zu<br />

müssen, oder das gemeinsame Betrachten des Sternhimmels. Vielleicht<br />

hat Goethe ähnliche Fragen naturkundlidler Art an den Knaben gerichtet,<br />

wie sie die Eingan"sstrophe enthält. Feststellen läßt ,sich das<br />

nicht. Es genügt, auf die Möglichkeit verwiesen zu haben.<br />

V. Q u eIl e n<br />

Wenden wir uns nun der Frage zu, welche Rolle Lektüre und Quellen<br />

bei der Entstehung <strong>von</strong> "Sommernacht" gespielt haben. Wir sind<br />

37) Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 289 fI.<br />

38) Goethe- und Schiller-Archiv W cim Jr, E ing. Br. alph.<br />

39) Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Eing. Br. alph.<br />

Sunna-Verse 55<br />

einigermaßen orientiert darüber, welche Orientalia Goethe zur Zeit<br />

der Abfassung des Gedichts las. Der Jenaer Aufenthalt - vom 4. bis<br />

21. Dezember 18I4 - ist in der Geschichte des Divans eine markante<br />

Epoche. Damals erweiterte Goethe - soweit man das auf Grund <strong>von</strong><br />

Zeugnissen sagen kann - erstmals seine Kenntnisse des Orients planmäßig<br />

über Hafis hinaus, der bis dahin seine Hauptquelle gewesen<br />

war. Drei Werke begann er jetzt intensiv zu studieren: Sir William<br />

Jones' Poeseos Asiaticae commentariorum libri sex (hrsg. <strong>von</strong> J. G.<br />

Eichhorn, Leipzig 1787), Thomas Hyde: Historia religionis veterum<br />

Persarum (Oxford 1700) und die Fundgruben des Orients (Bd. 1-4,<br />

H. I. 2.). Diese Lektüre war ein starkes Erlebnis, wie die unmittelbare<br />

Auswirkung auf Goethes Produktion bezeugt. Damals entstanden,<br />

durch jene drei Werke inspiriert, viele Gedichte. Die meisten<br />

<strong>von</strong> ihnen wurden angeregt durch die Fundgruben des Orients; wir<br />

haben oben <strong>von</strong> einigen gesprochen. 40) Diese Situation gilt es zu berücksichtigen,<br />

auch wenn man die Entstehung <strong>von</strong> "Sommernacht"<br />

ins Auge faßt. Und zwar sind es gleichfalls die Fundgruben des<br />

Orients, die uns hier wieder begegnen werden.<br />

Betrachten wir zunächst, was bisher an Quellen für "Sommernacht"<br />

nachgewiesen wurde. Es ist nicht viel, insgesamt zwei Stellen. Burdach<br />

zeigte, daß der Schluß des Gedichts angeregt wurde durch einen<br />

Vers der "Sunna", der mündlichen Überlieferung des Islam.' Goethe<br />

fand ihn im ersten Band der Fundgruben, in einer Übersetzung <strong>von</strong><br />

Hammer (S. 277):<br />

375. "Wenn die Nacht einbricht haltet euere Knaben zu Hause, denn die Teufel<br />

irren herum zu dieser Stunde; schließe dein Thor, rufe den Herrn an, lösche deine<br />

Lampe aus, und rufe den Herrn an ... "<br />

Wir haben oben da<strong>von</strong> gesprochen, in welcher Weise Goethe diese<br />

Stelle verwertete. 41) Sie gab ihm die Idee zu dem Schluß der<br />

"Sommernacht", der mythologisch eingekleideten pädagogischen Maßnahme.<br />

1,0) V gl. oben S. 9-28, besonders auch S. 20 If.<br />

/,1) V gl. oben S. 44.


56 Quellen zu "Sommernacht"<br />

Beutler wies später darauf hin, daß auf der gleichen Seite der<br />

Fundgruben des Orients innerhalb der Sunna folgender Vers zu lesen<br />

ist - er steht zwei Verse vor dem soeben zitierten -:<br />

373. "Wenn die Sonne aufgeht, betet bis sie beraufgestiegen, und wenn die Sonne<br />

untergeht, betet bis sie hinabgesunken ; vernachlässiget nicht das Morgen- und<br />

Abendgebet, denn zwischen bei den zeigt sich das Horn des Teufels."<br />

Es war ganz berechtigt, daß Beutler diesen Vers in Verbindung<br />

brachte mit Burdachs These <strong>von</strong> den islamischen Gebetspflichten, auf<br />

die in "Sommernacht" angespielt sei. Burdach hatte daran erinnert,<br />

daß der Islam den Gläubigen Gebete bei Sonnenauf- und Untergang<br />

zur Pflicht macht, aber auch zur Mitternachtsstunde freiwillige Gebete<br />

empfiehlt. Wir sahen, wie dieser Gedanke die Interpretation des<br />

Gedichts lange Zeit weitgehend und allzu einseitig beeinflußt hat.<br />

Seltsamerweise gab jedoch Burdach im Zusammenhang mit seiner<br />

These keine eigentliche Quelle an - auch ni cht den <strong>von</strong> Beutler zitierten<br />

Vers -, sondern er verwies lediglich auf ein <strong>von</strong> Goethe gar nicht<br />

gekanntes Werk eines neueren Orientalisten (August Müller, Der<br />

Islam im Morgen- und Abendland. Bcrlin 1885 - r887). Es wäre indessen<br />

möglich gewesen, innerhalb der in elen P unelgruben gedruckten<br />

Sunna-Übersetzung eine ganze Reihe <strong>von</strong> Versen aufzuzeigen, die auf<br />

jene Gebetspflichten anspielen. Darunter findet sich auch die Erwähnung<br />

eies freiwilligen Mitternachtsgebets, dessen der <strong>von</strong> Beutler<br />

angeführte Vers ni cht gedenkt. Auf diese Stellen hätte Bmdach verweisen<br />

sollen, denn sie hat Goethc wirklich gelesen. Um dies Versäumnis<br />

nachzuholen, aber auch, um uns ein Bild darüber machen zu<br />

können, welche Bedeutung die Gebets-These für Goethes Gedicht<br />

eigentlich hat, zitieren wir jetzt die wichtigsten der Sunna-Verse 111<br />

der Reihenfolge, wie sie in den F undgruben auftauchen:<br />

,,74. Einer fragte den Propheten, wns er vom Gebete bey der Nacht hielte, er antwortete:<br />

Doppelt, doppelt, lind wenn du den Morgen sch~ust, so verricht es einfach<br />

und abgesondert. [So In)<br />

77 ... Wenn ihr euer Gebet verrichten könnt vor So n n e n auf g a n g, und<br />

vor Sonnenuntergang, so thut es: Lob dem Herrn bey S 0 n n e n auf g a n g ,<br />

und Lob ihm vor S 0 n n e nun t e r g a n g. [So In f.)<br />

Sunna-Verse 57<br />

9 1 •.. Wenn die Menschen ... wüßten, welches Verdienst in der !,!rßten und letzten<br />

Nachtwache liegt, so würden sie dieselbe im Gebete zubringen, und wäre es auch<br />

nur sitzend. [So 159)<br />

93. Kein Gebet fällt dem Heuchler schwerer, als das der Nacht und der erste.n<br />

Morgenröthe, und wenn sie wüßten was darinnen Verdienstliches ist, so würden sie<br />

gerne dabey erscheinen, und wäre es auch nur sitzend. [So 159]<br />

145. Wenn der Prophet ' Na c h t sau f w ach t e, pflegte er so zu beten: Herr<br />

unser Gott, dir gebühret Lob und Preis: Durch dich besteht Himmel und Erde, und<br />

was darinnen. Dir gebühret Lob und Preis: Denn du bist das Licht der Himmeln<br />

und der Erde, und dessen was darinnen .. . [So 164)<br />

148. Ich liebe das Gebet zu Gott, wie David gebetet, und ich liebe die Fasten<br />

Gottes, wie David gefastet; Er schlief nur die halbe Nacht, und stand dann auf,<br />

als der dritte Theil derselben noch übrig war, oder er schlief gar nur den sechsten<br />

Theil derselben ; dann fastete er den Tag hindurch. [So 165]<br />

154. Ich erhöre das Gebet desj enigen, der sich in der Nacht zu mir flücht:t s.agend:<br />

Es ist kein Gott außer Gott dem Einigen der keines Gleichen hat ... sein ISt Lob<br />

und Preis ... Lob dem Herrn. [So 166]<br />

233 .. • Nach dem Morgengebet bey der D ä m m e run g is~ kein~s m e ~r bis<br />

11 ach S 0 n n e n auf g a n g, und nach dem Nachmittagsgebet Ist kellles biS z u<br />

S 0 n n e nun t erg a n g . . . [So I74)<br />

666. Der Prophet pflegte öfters Nachts aufzustehen und zu beten ... [So 3I2]<br />

667. Wenn er sonst bel' Nacht wach war, pflegte er zu sagen: Gott! Lob dir, du<br />

bist das Licht der Himmeln und der Erde und dessen wa.5 darinnen; Lob dir! ... "<br />

[S· 312)<br />

Prüft man an Hand dieses Quellenmaterials, was <strong>von</strong> dem ganzen<br />

Komplex der Morgen-, Abend- und Mitternachtsgebete i~ Go e't~~s<br />

Gedicht eingegangen ist, so ergibt sich folgendes. Vieles spncht dafur,<br />

daß in der Tat zwei Stellen <strong>von</strong> "Sommernacht" durch die Sunna­<br />

Verse angeregt sind: I. die Verse 9 bis 18, die vom Anschaun des<br />

Sternenhimmels handeln (mit den obligaten andächtigen Gefühlen<br />

und Gedanken); 2. Vers 33 f.: des Schenken Erinnerungen daran, daß<br />

der Dichter "oft" des nachts aufwacht, "zu früh ermuntert". (Wir<br />

sahen oben: es hieß ursprünglich V. 33 "Nacht", nicht "Mitternacht".)<br />

Eins steht aber fest: an beiden Stellen ist nicht <strong>von</strong> Gebet die<br />

Rede. Gebetet wird in "Sommernacht" überhaupt nicht. Das "Unendliche"<br />

wird "geschaut", das All "bewundert". Daran schließen


58 Quellen zu "Sommernacht"<br />

sich Betrachtungen: die Gestirne "loben sich einander", sie sind <strong>von</strong><br />

Gott mit verschiedener Helle "betagt", vor Gott - so heißt es schließlich<br />

- "ist alles herrlich, / Eben weiler ist de~ te". Alles das ist<br />

kein Gebet. Vielmehr erscheint als das W ese~tliche: das Motiv des<br />

islamischen Gebets hat zwar eine gewisse anregende Kraft auf Goethe<br />

ausgeübt, es tritt aber im Gedicht durcha:us verändert zutage. Es<br />

ist völlig entdogmatisiert, nichts erinnert mehr an religiösen Brauch<br />

und Zeremonie. Eine tiefgehende Übertragung, Umsetzung hat stattgefunden.<br />

Was übrigbleibt, ist kaum mehr Islamisches, sondern etwas,<br />

das ganz Goethe gemäß ist: Anschauung der Natur, wobei die begleitenden<br />

Andachtsgedanken eher <strong>von</strong> Kant und Spinoza als <strong>von</strong><br />

irgendeiner religiösen Doktrin her inspiriert sein könnten.<br />

Diese Verwendung des religiösen Motivs in gänzlicher Abwandlung<br />

und Umsetzung erscheint uns darum als besonders bedeutungsvoll,<br />

weil sie als paradigmatisch für Goethes Benutzen <strong>von</strong> Quellen<br />

im Divan überhaupt gelten darf. Man hat noch zu wenig beachtet,<br />

welche Freiheit und Selbständigkeit der Dichter seinen orientalischen<br />

Vorlagen gegenüber bewahrt. Mit voller Bewußtheit ändert er, setzt·<br />

um, wählt eigenwillig aus. Oft ist es gerade am interessantesten, zu<br />

sehen, was Goethe wegläßt. Das können unter Umständen entscheidend<br />

wichtige Dinge sein. Besonders charakteristisch zeigt sich das<br />

auf religiösem Gebiet. So bleibt beispielsweise bei seiner Darstellung<br />

"altparsischen" GLaubens, obgleich sie <strong>von</strong> besonderer Anteilnahme<br />

zeugt, der zoroastrische Dualismus ganz im Hintergrund. Die Anspielungen<br />

auf ihn sind so geringfügig, daß sie dem Nichteingeweihten<br />

schwerlich einen Begriff vermitteln können. O!:~~~~jll.ld Ahriman<br />

nennt Goethe auffälligerweise nirge nd s, auch nicht in den Noten und<br />

..-<br />

Abhandlungen, obwohl er oin guter Kenner des Zend-Avesta war.<br />

Was seinem eigenen Weltbild zu ferne stand, ließ er auf sich beruhen.<br />

In gleicher Weise wird auch das Islamische frei und nur mit bewußter<br />

Auswahl in den Divan hineingenommen.<br />

Kehren wir aber nochmals zu Burdachs und Beutlers Quellennachweisen<br />

zurück. Zitiert wurden <strong>von</strong> beiden die Verse 373 und 375 der<br />

Sunna. Es findet sich nun ganz in der Nähe noch eine andere Stelle,<br />

Sunna-Verse<br />

59<br />

die Beachtung verdient. Lesen wir ein paar Verse weiter zurück; so<br />

beaeanen wir in V. 370 folgenden Sätzen:<br />

b b<br />

_ D Feuer der Hölle vereinigt in sich den höchsten Grad der schneidendsten<br />

,,3/°. as h H . h<br />

Kälte und der brennendsten Hitze. Es beklagte sich bey Gott und sprac: crr lC<br />

verzehre mich selbst, gieb mir im Jahre nur zwey Augenblicke aus z u s c h ~ a u -<br />

f e n. Der Herr ertheilte dem Feuer die Erlaubniß. Es s c h n auf e t aus emmal a:<br />

im Winter und einmal im S 0 m m er, und daher die schneidendste Kälte des<br />

Winters und die b ren n end s t e Hit z c des Sommers." [So 188]<br />

Wir erinnern uns: in der mythologischen Szene des Schlusses <strong>von</strong><br />

"Sommernacht" heißt es, bezüglich auf die Verfolgung des Hesperus<br />

durch Aurora (V. 49 ff.):<br />

Und auf rothen leichten Sohlen<br />

Ihn, der mit der Sonn' entlaufen,<br />

Eilt sie irrig einzuholen;<br />

Fühlst du nicht ein Liebe - S c h n auf e n ?<br />

Man hat sich über das Wort "Liebe-Schnaufen" gewundert; eine<br />

wenig anmutende Prägung" nennt es E. Staiger. Nun ist innerhalb<br />

des Goetheschen Spätstils mit allen möglichen Härten zu rechnen. In<br />

diesem Fall könnte sie in das Gedicht eingedrungen sein durch eine<br />

Quellenanregung. Hier in der Sunna begegnet uns das W. ort :,Schnaufen",<br />

ähnlich sonderbar gebraucht, und an einer Stelle, dle lllcht ohne<br />

innere Beziehung ist zu den <strong>von</strong> Goethe benutzten Nachbarversen.<br />

Der Aurora-Hesperus-Mythos, so sahen wir,42) stellt eine Umsetzung ·<br />

der herumirrenden Teufel" <strong>von</strong> V. 375 der Sunna ins Antike dar:<br />

Teuf~l gefährden nachts aushäusige Knaben. In Vers 370 - wie übri­<br />

"ens auch in V. 371 und 372 - wird vom gefährdenden Höllenfeuer<br />

:esprochen. Ist es losgelassen auf die Welt - wofür ihm Gott ähnlich<br />

Permission erteilt wie dem Teufel in der Hiob-Legende - , so "schnaufet<br />

es aus". Dies Bild scheint sich in Goethes Phantasie mit dem der<br />

herumirrenden Teufel vereinigt :w haben. Nun ist es seine "Teufelin"<br />

1,2) V gl. oben S. 44.


60 Quellen zu "Sommernacht"<br />

Aurora, der das Wort "Schnaufen" eine Charakteristik ins Derbe und<br />

Dämonisch-Gefährliche gibt.<br />

Sehr auffällig ist, daß im gleichen Vers 375 auch vom Sommer, und<br />

zwar <strong>von</strong> des Sommer,s "brennend ster Hitze" im Gegensatz zu schneidendster<br />

Winterkälte gesprochen wird. Sollte hierin eine Anregung<br />

zu der zeitlichen Situation unseres Gedichts liegen, das am längsten,<br />

hellsten Tage des Sommers spielt? Damit wäre eine erste Möglichkeit<br />

gegeben, die winterliche Entstehung des "Sommernacht"-Gedichts<br />

durch Quellenanregung verständlicher zu machen.<br />

Wenn die pädagogische Wendung am Schluß <strong>von</strong> "Sommernacht"<br />

durch die Sunna-Stelle der Fundgruben inspiriert ward, so ist hierzu<br />

noch etwas ergänzend nachzutragen. Sehr ähnlichen Lehren wie in<br />

der Sunna begegnete Goethe in den Fundgruben nochmals: nämlich<br />

am Schluß des Pend Nameh. Wir hatten da<strong>von</strong> gesprochen, daß die<br />

Übersetzung <strong>von</strong> Ferid-eddin Attars Pend Nameh in den Jenaer<br />

Dezembertagen des Jahres 1814 mehrere Divan-Gedichte anregte. Es<br />

scheint, daß auch "Sommernacht" <strong>von</strong> diesem Werk nicht unbeeinflußt<br />

blieb. Im Pend Nameh traf Goethe erstmals auf eine orientalische<br />

Schrift, in der das Verhältnis des Mannes <strong>zum</strong> K naben, des<br />

Alters zur Jugend, sich unter ganz erzieherischem Aspekt zeigt. In<br />

Hafis' Gedichten erscheint es vorzugsweise erotisch gefärbt. Das Pend<br />

Nameh dagegen hat einen grundsätzlich pädagogischen Charakter.<br />

Das gesamte W erk ist an einen Jüngling gerichtet, dem Ferid-eddin<br />

Attar Lebensregeln, besonders moralischen Inhalts, mitteilt. Silvestre<br />

de Sacy schildert in der Vorrede zu seiner Übersetzung diesen Grundzug<br />

des Pend N ameh wie folgt: ":l) "Ferid-eddin Attar ... Il semble<br />

partout adresser la parole a Ull disci ple cheri et avide d'instruction;<br />

ill'appelle son ami, son frere, e t p i u s sou v e n t, so n f i I s."<br />

Im Hinblick auf diese Charakteristik verdient es beachtet zu werden,<br />

daß einzig in "Sommern acht" der Schenke einmal als "Sohn"<br />

angeredet wird (V. 53): "Geh nur, lieblichster der S ö h n e." In allen<br />

1.3) Fundgruben des Orients Bd. 2, S. 2.<br />

Pend Nameh<br />

61<br />

übrigen Gedichten, die vom Schenken handeln, wird dieser ge~ebenen ~<br />

falls bezeichnet als: "Knabe, Schelm, Liebchen". Das entspncht eher<br />

der heiteren Hafis-Atmosphäre, ~ährend die Benennung "Sohn" tatsächlich<br />

im Pend Nameh vorherrscht, dem streng pädagogischen Charakter<br />

des Werkes entsprechend.<br />

Am Schluß des Pe nd Nameh nun findet sich ein Kapitel, das unter<br />

dem Titel "Avis sur divers sujets" eine große Zahl verschiedener<br />

pädagogischer Maximen enthält. Aus ihnen heben wir einige heraus,<br />

weil sie inhaltlich dem sehr nahe stehn, was Goethe aus der Sunna<br />

für das "Sommernacht"-Gedicht aufgriff: 44)<br />

"Il n'est pas bon dc dormir aussitöt que le jour se retire ; c'est une preva~ication de<br />

se livrer au so mmeil avant !es tenebres. Le sage regarde comme un cnme de se<br />

livrer au sommeil dans l e t c m p s q u i se p a r e la cl a rt e du j 0 u r d e<br />

I 'o bscurit e d es o m brcs ,d,e l a n uit .<br />

Si tu veux meriter les faveurs du T r es - Hau t, et augmenter en me rite devant<br />

IUf, co n s a c r e Ics jours et I e s nu i t s a I a p r i e r e ...<br />

L' exces d u sommet<br />

' 1<br />

atttre<br />

' I<br />

a<br />

pauvrete" , abre' ge ton sommeil, mon fil s, et<br />

pr o mpt a t ' e vei ll e r.<br />

Ne balaie point ta maiso n p e nd a n t la nu i t, so u S ta p 0 r t e ...<br />

s o i s<br />

M o n fils , n e d eme ure pas ass i s so u s le seuil de ta porte;<br />

cette conduite diminu croit ta fortune .. .<br />

N e t'appuie pas sur Ic jambage de la porte."<br />

Das sind tatsächlich etwa die gleichen Lehren wie in der Sunna,<br />

nur daß hier alles ganz und gar den Charakter des. Pädagogis~en,<br />

der Knabenerziehung trägt. Wieder wird das VerdIenst des na~htlichen<br />

Wachens und Betens gepriesen. Keine Stelle der Sunna spnc~t<br />

übrigens ,so ausdrücklich in diesem Zusam~enha?g <strong>von</strong> der "Zelt,<br />

die des Tages Helligkeit scheidet <strong>von</strong> der F1I1sterms der Scha~ten der<br />

Nacht". Genau um diese Zeit handelt es sich ja in der E1I1gangs-<br />

44) A. a. O. S. 460 f.


62<br />

Quellen zu "Sommernacht"<br />

strophe <strong>von</strong> "Sommernacht" : nach ihrer "Dauer" fragt dort der Dichter.<br />

Sollte die pädagogische Frage, mit der das Gedicht eino-eleitet<br />

wird, nicht mit dieser Stelle des pädagogischen Pend Nameh ;n Verbindung<br />

stehen?<br />

Doch auch für den Vers 34: "Wo du oft zu früh ermunterst" findet<br />

~a,l~ hi~r ei,l~e ähnliche Wendung: "abrege ton sommeil ... sois prompt<br />

a t e~etller ! Wenn <strong>von</strong> Gott als dem "Tres-Haut" gesprochen wird,<br />

so erInnert uns das an die "Sommernacht"-Verse:<br />

Denn ich weiß du liebst das D r 0 ben ,<br />

Das Unendliche zu schauen.<br />

Dabei mag ins Gewicht fallen, daß die Wendung "Tres-Haut" in<br />

Silvestre de Sacys Pend-Nameh-Übersetzung sehr oft vorkommt es<br />

ist dort die meist gebrauchte Bezeichnung für Gott. ("Que tes y~uX<br />

soient fixes vers le palais du Tres-Haut", heißt es beispielsweise<br />

Fundgruben 2, S. 24.)<br />

Endlich enthält das Pend-Nameh-Kapitcl, mehrfach abgewandelt,<br />

das Gebot: Knaben sollen sich nicht "vor der Tür", der "Schwelle"<br />

aufhalten, namentlich nicht nachts. Durch das Erscheinen dieses Gebots<br />

in dem Werk <strong>von</strong> so ausgesprochen pädagogischer Prägung wird<br />

es deutlich, welche Wichtigkeit es im ()rientalischen Alltag hatte; es<br />

war eine selbstverständlich erforderliche Maßnahme, um die Jugend<br />

vor N achsteHungen zu schützen.<br />

Für vieles, was un s an "Som mernacht" bedeutungsvoll erschien,<br />

nicht zuletzt für Eingang und Sch luß des Gedichts, die Eck- und<br />

Brückenpfeiler des Ganzen, bietet a lso auch das Pend Nameh o-ee<br />

dankliehe Elemente un d Wortprägun gen, ähnlich an einem Ort zusammengedrängt<br />

wie in der Sunna. Was Goethe in der Sunna als<br />

religiöse Vorschrift las, begegnete ihm im Pend Nameh wieder als<br />

pädagogische Devise. Das mag den Ausschlag gegeben haben für das<br />

Verwenden dieser Gedanken.<br />

Jedenfalls hat das Pend Nameh zweifellos bei der Entstehung <strong>von</strong><br />

"Sommernacht" eine gewisse inspirierende Rolle gespielt. Erinnern<br />

Hammers astronomischer Aufsatz 63<br />

wir uns: es war ein aktuelles Interesse an pädagogischen Fragen, das<br />

bei der Konzeption des Gedichts ausschlaggebend mitwirkte. Da lag<br />

es nahe, daß Goethe das berühmte pädagogische Werk eines orientalischen<br />

Dichters, das er soeben kennengelernt und für andere Divan­<br />

Gedichte als Quelle benutzt hatte, zu Rate zog. Wenn das "sittliche<br />

Pend-nameh des Firadeddin" bald darauf im Huldigungsblatt des<br />

Divan mit so besonderer "Verehrung" genannt ward,45) so dürfte<br />

dabei noch mitspielen, daß dieses Werk auch das pädagogischste Gedicht<br />

des Schenken buchs maßgeblich mit beeinflußt hatte.<br />

Die Fundgruben des Orients lenkten Goethes Aufmerksamkeit<br />

übrigens auch auf das Gebiet der Astronomie. In den ersten Bänden<br />

finden sich mehrere astronomische Aufsätze. Band I wird sogar eröffnet<br />

mit einer ,derartigen Abhandlung. Sie stammt aus der Feder<br />

Joseph v. Hammers: "Über die Sternbilder der Araber und ihre eigenen<br />

Namen fü r ei nzelne Sterne." Das Motto dieses Aufsatzes 46) hat<br />

Goethe, wie man weiß, benutzt für die zweite Strophe <strong>von</strong> "Freisinn"<br />

im Buch des Sängers:<br />

Er hat euch die Gestirne gesetzt<br />

Als Leiter zu Land und See;<br />

Damit ihr euch daran ergetzt,<br />

Stets blickend in die Höh.<br />

Der dritte und vierte Vers erinnert an "Sommernacht" V. 9 f. und 36:<br />

beidemal ist d er Sternhimmel Gegenstand verehrenden "Schauens"<br />

im Sinne <strong>von</strong> Kant.<br />

In dem Hammersehen Aufsatz fand Goethe auch Belehrung darüber<br />

, welche Rolle die Astronomie überhaupt im islamischen Orient<br />

spielt: 47)<br />

1,5) V gl. oben S. 23.<br />

46) Fundgrube; Bd. J, S. I: "Er hat Euch die Gestirne gesetzt, als Leiter in der<br />

Finsterniß zu Land und Sec. Koran, Sura 98. Vers 2I."<br />

47) A. a. O. S. j .


64<br />

Quellen zu "Sommernacht"<br />

"Wiewohl nlso die Sternkunde bey den Arabern nach Mohammed<br />

d Ib I nicht, wie vor<br />

emse cn, ;!LlC 1 zugleich Religionslehre war so bl" b . d h .<br />

r h '. W' ,. . ,1e Sle oe elne der vorzügle<br />

ste ll " sensehaften dle an mensch li che E' 'ch .<br />

V ' r lOS1 t gewann was Sle an göttI" h<br />

erehrung verlor; und wiewohl der Nimbus, mit dem die 'Lehre d . Sb" 1e ~r<br />

Sterne Ulll 'eb ' d h d I I .. er a aer d1e<br />

g en, ure en s am großtcntheils zerstöret ward so strahlt . d<br />

J1l1dl ni cht I G ' cn Sle en-<br />

, ' . nur asegenstände d es a lten Kultus, sondern auch al B ' I d<br />

111 C 11 sc h 11 ehe n Wir k e n s in di e Re g ion end s 1 er<br />

se t zt d A b h es Himmels ver-<br />

, " em ra er ohe Verehrung ins Gemüth."<br />

Diese Sätze durften es legitimieren, wenn Goeth ' S<br />

I " dem " ommern<br />

:C1~ gera e a~.tronomj sch e Fragen <strong>zum</strong> Gegenstand eines pädaoogischen<br />

Gesprachs machcn und damit orientalisieren wollte: Sternk.un~e,<br />

so ler~te er hi er, war im Orient immer noch "eine der vorzuglrchsten<br />

WIssenschaften". Im übri en erscheinen die <strong>von</strong> den Sternen<br />

handelnden Partien in "Somm ern acht" durch Hammers Sätze<br />

a~fs beste kommentiert. Nur "hohe V crehrung" wird dem SternhImmel<br />

gezollt, nicht "Gebet" - das i 111 engern Sinne Religiöse bleibt<br />

ferngehalten. Entsprechendes berichtet llammer <strong>von</strong> den A b<br />

nach Mohammed".<br />

" ra ern<br />

Eine mer~würdi ge<br />

Hammers zeIgen noch di e Verse 15. f. <strong>von</strong> "Som mernacht":<br />

Übereinstimmung mit den angeführten Worten<br />

Wollte Gott euch mehr betngen,<br />

G länztet ihr wie ich so hell e.<br />

Wi ~ hi er ~o n elen Sterncn anthropomorphisierend gesprochen wird<br />

das ,stImmt 1m G I,'undsiitzlichen übcrei n mit der Darstellung Ham~<br />

mers, nach dcr bel elen Arabern die Stcrne als BI'lder de h<br />

1· h . " s mensc -<br />

IC en Wirkens stra hl en".<br />

Der gleiche Ham mcrsche<br />

Aufsatz belehrt aber auch darüber ,<br />

daß die Astronom ic<br />

bci den Arabcrn noch griechische Sternnamen<br />

kennt: 48)<br />

~so wie uns hier. die gri echi schen N;Hnen einheimisch erscheinen und die arabischen<br />

~emd"so erschelnen dort die :Jrnbischen a ls einheimische, und die griechischen als<br />

elngeburgerte Fremdlinge."<br />

1,8) A. a. O. S. 1.<br />

Enweri 65<br />

Man hat es als em Charakteristikum des Goetheschen Spätstils<br />

betrachtet, daß in "Sommernacht" durch Einbeziehung griechischer<br />

und lateinischer Namen eine seltsame Vermischung der Sphären erzeugt<br />

wird. Nach Obigem sollte doch auch die Möglichkeit in Betracht<br />

gezogen werden, daß Goethe gerade damit bewußt orientalisiert.<br />

Vom Abendstern als "Hesperus" zu reden war nicht so abwegig,<br />

wie es zunächst erscheint. Und "Aurora", da<strong>von</strong> wird jetzt<br />

noch zu sprechen sein, fand Goethe in Übersetzungen aus berühmten<br />

orientalischen Dichtern. Vor allem natürlich in lateinischen ("aurora"<br />

z. B. bei William Jones des öfteren) und französischen ("aurore" u. a.<br />

in den Fundgruben) .<br />

Es gibt aber a uch den Fall, daß innerhalb der deutschen Übersetzung<br />

eines orientalischen Dichters, die Goethe gerade im Dezember<br />

1814 las, Aurora auftaucht - sogar, was uns im Hinblick auf<br />

"Sommernacht" interessieren muß, in der Situation der "Strohwitwe".<br />

Diese Übersetzun g gilt es noch näher zu betrachten, denn sie war<br />

geeignet, Goethe Anregungen für das Landschaftliche, Jahreszeitliche,<br />

überhaupt das Atmosphärische des Gedichts zu geben. Noch immer<br />

fehlt uns ja die rechte Erklärung dafür, wieso "Sommernacht" gerade<br />

im lichtlosen D ezember entstehen konnte.<br />

Abermals müssen wir die Fundgruben des Orients aufschlagen.<br />

Die ersten drei Bände enthielten nicht allzuviel <strong>von</strong> orientalischer<br />

Dichtung, brachten aber immerhin Proben <strong>von</strong> vier der sieben Hauptdichter,<br />

die Goethe in den Noten und Abhandlungen charakterisiert:<br />

<strong>von</strong> Firdusi, Enweri, .Dscheläl-eddin Rumi und Dschami. Diesen<br />

Proben schenkte Goethe natürlich Aufmerksamkeit, weil sie ihm eine<br />

erste Orientierung, um die es ihm ging, ermöglichten. Aber nicht<br />

Firdusi hat damals auf das "Sommernacht"-Gedicht anregend gewirkt,<br />

wie Burdach wollte,49) sondern eher Enweri.<br />

qiJ) V gl. Burdach, Akademievorträge S. 38 ff. Burdach wies richtig darauf hin, daß<br />

Goethe damals Firdusi in den Fundgruben kennenlernte. In der Geschichte <strong>von</strong><br />

Firdusis Tod, die seiner Meinung nach auf "Sommernacht" eingewirkt haben<br />

soll, vermag ich jedoch keinerlei Bezug zu dem Gedicht zu finden. Auch konnte<br />

5 <strong>Mommsen</strong> . Divan-Studien


66 Quellen zu "Sommern acht"<br />

Von Enweri enthält der erste Band der Fundgruben des Orients<br />

ein Gedicht, und zwar eine deutsche Übertragung <strong>von</strong> Helmina<br />

v. Chezy: "Das Lob Melekschah's und Bagdad's" (S. 85-93). Das<br />

Gedicht ist sehr umfangreich, in der Übersetzung umfaßt es 36 Stanzen.<br />

Es war geeignet, Goethe erstmals einen wirklichen Eindruck <strong>von</strong><br />

dem persischen Dichter zu geben. Bei Jones fand er <strong>von</strong> ihm nur<br />

wenige dürftige Bruchstücke.<br />

In dem Enweri-Gedicht sind große Partien ganz deskriptiv gehalten.<br />

Von ihnen geht ein bedeutender Reiz aus. Und zwar sind<br />

es orientalische Sommerlandschaft und Sommerzeit, die beschrieben<br />

werden. Eine auffallend große Rolle spielen Sonnenauf- und Untergänge<br />

- in dem Zusammenhang begegnen wir auch der Bezeichnung<br />

Aurora. Daneben stehen wieder prächtige Schilderungen <strong>von</strong> Nacht<br />

und Sternen. So vieles erinnert in dem Gedicht an "Sommernacht" ,<br />

daß wir uns das Wichtigste daraus vor Augen führen müssen.<br />

Enweri<br />

3·<br />

Dort, an des Tigris kühlem B I urne n r a n d e<br />

Scherzt frohen Spiels der schönen Knaben Schaar ...<br />

4·<br />

Und wenn im May beym crs te n Mo r gen s c he i n e<br />

D er Weste bunt Geleit hervorgegangen ...<br />

j .<br />

Beym S 0 n n e nun t erg a n g, im Widerscheine<br />

Von Millionen Rosen hold erglühend,<br />

Erschein t der Himmel, gleich dem B lu m e n h a i n e ,<br />

In voller Pracht des jungen Frühlings blühend:<br />

Und wenn A u r 0 r a kom m t mit Pur pur s ehe i n e<br />

Den Blumenschmelz d 'er Fluren überglüh end,<br />

Dann strahlt die Wiese herrlich wohl <strong>von</strong> ferne,<br />

Als schmückten sie des Himmels schönste Sterne.<br />

67<br />

Enweri beginnt mit einer Schilderung der Stadt ß(lfldad , nt/cb der er sich sehnt ;<br />

Strophe I bis H.<br />

J.<br />

\V'ie herrlich, Bagdad, bist du anzuschaucn,<br />

Du Sitz der Tugend, Städteköniginn I<br />

Wie selig wogt auf deinen B I u m e n n u c n<br />

Im Farbenstrom der trunkne Blick dnhin I<br />

Da schlüpfen in der Blüthe Schoofl die schlauen<br />

Zephyre fri sch und suchen Düfte dri nn<br />

Und streun sie aus mit li ndern Frühlingshauche,<br />

Dafl sich in Lust die Seele schmelzend tauche ...<br />

Burdach keine Quelle angeben, wo Gocthe da<strong>von</strong> gelesen haben sollte, außer<br />

Hammers Geschichte der schönen Redekünste Persiens. Diese erschien aber erst<br />

1818, vier Jahre nach Entstehung <strong>von</strong> "Sommernacht". Burdachs These stützt sich<br />

zudem auf seine irrtümliche Auslegung des Worts "Paradies" in Goethes Tagebuch<br />

vom 16. D ezember 1814, worüber er sich selbst in einem "Nachtrag" berichtigte<br />

(a. a. O. S. 38). Auf Firdusi sollte jedenfalls in den Kommentaren nicht<br />

mehr im Zusammenhang mit den Quellen <strong>von</strong> "Sommernacht" hingewiesen<br />

werden.<br />

6.<br />

Dort glüht die Rose, frisch wie Mädchenwangen,<br />

Im Perlen t hau, vom Laube halb verhüllet ...<br />

7·<br />

Dir, Bagdnd I mußte solche Schönheit werden.<br />

Wie trieb mich hin der Wünsche süß Geheiß! . . .<br />

Schon sen k t die S 0 n n e sie h zu m R a n d der Erd e n ,<br />

Wo einsam schwebend sie am Himmelsgleis<br />

Ein go i den Schiff erschien .. .<br />

8.<br />

Dann ward i m Wes t <strong>von</strong> go I d n e m Purpur f I 0 r<br />

Die blaue Himmelswölbung schön umwunden;<br />

Wie lichte Peris kommen S t ern' empor,<br />

Im Schleyer, w]uernd, dall die S 0 n n' e n t s c h w und e n.<br />

Und Naachs Töchter schön gereihter Chor,<br />

Da er im Tanz sich um den Pol ge w und e n,<br />

Ließ hold zurück auf bl aue n Ac t her s Fluren<br />

Der lei c h t e n Tri t t e demanthelle Spuren.<br />

5*


68 Quellen zu "Sommernacht"<br />

9·<br />

Ein V ei l c h e n f eId, durchsäet mit Narzissen,<br />

Erscheint der Milchweg, und zur z w ö 1ft e n S tun d e<br />

S t rah I t der PIe j ade n Reih' aus Finsternissen,<br />

Gleich sieben Perlen hell auf b lau e m G run d e ..<br />

10.<br />

S a t u r n u s s t rah I t dort in des S t ein b 0 c k s Bilde,<br />

G lei c h ein e r L a m pe, hoch in stillen Hallen;<br />

Es leu c h t e t J u p i t er, ein Auge milde<br />

Deß duft' ge Silberflore leicht umwallen;<br />

M ars fun k e I t in der W a g e Lichtgebilde,<br />

Wie Purpurwein in glänzenden Kristallen,<br />

Da in des S c h ü t zen Zeichen, hold vereint,<br />

Ein L i e b e s p aar, M e r kur u n cl V e n u s scheint.<br />

11.<br />

Indeß das Firmament die Lichtgestalten<br />

Im Spiele, wie ein Z a u b r er, leicht und schnelle<br />

In Her r I ich k e i t sich w e c h seI n cl I ä ß t e n t f alt e n .<br />

Einer orientalischen Landschaftsschildcl.'ung wie dieser war Goethe<br />

noch nicht begegnet. Bei Hafis finden sich zwar landschaftliche Elemente<br />

vielfach einzeln, besonders metaphorisch, verwendet, aber die<br />

detaillierte SchiLderung einer bestimmten Landschaft, zu einer breiten<br />

Idylle ausgestaltet, wie sie Enweris Gedicht cnthält, ist Hafis fremd.<br />

Schon dies mußte Goethe interessiercn. Nun aber ist es wirklich eine<br />

Sommerlandschaft, die Enweri mit intensivsten Farben charakterisiert.<br />

Übereinstimmungen im AlIgcmeinen und Besonderen zeigen,<br />

wieviel da<strong>von</strong> sich Goethe eingeprägt hat.<br />

Stark ins Auge fällt zunächst der Wechsel <strong>von</strong> Tag und Nacht, und<br />

die Schilderung des jeweiligen Übergangs: dieser Wechsel und Übergang<br />

ist ja in "Sommernacht" ein Hauptrnotiv. Man sieht, nachdem<br />

sich "die Sonne senkt", den "goldnen Purpurflor", wie in den ersten<br />

Versen <strong>von</strong> "Sommernacht" den "goldnen Schimmer", nachdem die<br />

Sonne "niedergangen ist".<br />

Zwischen die beiden Abenddämmerungen stellt Enweri auch das<br />

Erscheinen des Morgens: und hier tritt in dem Gedicht des Persers<br />

Enweri 69<br />

"Aurora" auf: " Au r 0 r a kom m t mit Purpurscheine / Den<br />

B lu m e n sc h m e I z der Fluren übe r g 1 ü h end" heißt es bei<br />

Enweri. Die Verse 45 ff. <strong>von</strong> "Sommernacht" lauten:<br />

Aurora ...<br />

sie kom m t ! wie schnelle!<br />

Übe r B I urne n feld s Gelänge!<br />

... auf rothen leichten Sohlen ...<br />

Vom "Blumenfeld" zu sprechen, dazu scheint Goethe doch hier die<br />

Anregung erhalten zu haben, wo auch sonst so oft <strong>von</strong> "Blumenauen",<br />

vom "Blumenrande", "Blumenh'aine", "Blumen schmelz" , "Veilchenfe<br />

I d" [I] die Rede ist.<br />

Endlich gehört zu Enweris Schilderung der sommerlichen Landschaft<br />

auch die Einbeziehung der Sommernacht : der Sternhimmel<br />

wird mit Ausführlichkeit geschildert. Und hier zeigt sich schon im allgemeinen<br />

eine höchst merkwürdige Korrespondenz: auch bei Enweri<br />

tritt stark und verselbständigt wie in Goethes "Sommernacht" hervor<br />

das Element"Astronomie". Übereinstimmungen gibt es dabei auch im<br />

besonderen. In "Sommernacht" glänzen die Sterne nicht etwa am<br />

dunklen, oder schwarzen Himmel, sondern - viel schöner und dichterischer<br />

- am "blauen" (V. II f.) :<br />

Wenn sie sich einander loben<br />

Jene Feuer in dem BI aue n ...<br />

So sieht aber auch der orientalische Dichter das "Strahlen" der<br />

Sterne "auf bl aue n Aethers Fluren" (Strophe 8), "auf bl aue m<br />

Grunde" (Strophe 9). Die Bezeichnung "Feuer" für Sterne bei Goethe<br />

mag noch verglichen werden mit Strophe JO <strong>von</strong> Enweris Gedicht,<br />

wo Saturn "gleich einer La m p e strahlt". In Strophe II fällt auf,<br />

daß <strong>von</strong> einem "Zauberer" die Rede ist, der die Stetne ("Lichtgestalten")<br />

"sich in Her r 1 ich k e i t entfalten", und zwar "w e c h­<br />

sei n d" entfalten läßt. Der "Zauberer" ist das Firmament. Bei


70 Quellen zu "Sommernacht"<br />

Goethe tritt Gott in gleicher Funktion auf: er, vor dem "alles her r -<br />

1 ich [!]ist", gibt den Sternen bald helleres, bald dunkleres Licht<br />

(V. 13 ff.):<br />

Und das hellste will nur sagen:<br />

Jetzo glänz' ich meiner Stelle,<br />

Wollte Gott euch mehr beta gen,<br />

Glänztet ihr wie ich so helle.<br />

Denn vor Gott ist alles her r 1 ich .. :<br />

An Goethes Worte (V. 31 ff.):<br />

Bis ich erst des N 0 r d g e s t i r n e s<br />

Z will i n g s - Wen dun g erst erpasse.<br />

Und da wird es Mit t ern ach t seyn . . .<br />

erinnert bei Enweri (Strophe 8) der "Chor" <strong>von</strong> Sternen, die sich<br />

"im Tanz um den Pol gewunden". "Leichte Tritte" hat dieser Chor,<br />

wie Goethes Aurora auf "leichten Sohlen" kommt. Der Tanz der<br />

Sterne um den Pol (bei Goethe sind gemeint Großer und Kleiner<br />

Bär) bezeichnet in beiden Gedichten den Eintritt der Nacht, ja der<br />

"Mitternacht": die "zwölfte Stunde" wird auch bei Enweri gleich im<br />

Anschluß erwähnt (Strophe 9)!<br />

Enweri<br />

Zur Fahrt nach Bagdad mich bereit zu halten;<br />

Da plötzlich rauscht' es leis auf meiner Schwelle:<br />

Ich sah mein Mädchen, wie A u r 0 r a schön,<br />

Wenn sie erwachend grüßt die stillen Höhn.<br />

12.<br />

Doch läßt sie, ach I verstört: mit düste rn Blicken<br />

Die Rosenfinger grausam schmähend wüthen<br />

Auf zarter Wang', und ohne Rast zerpflürken<br />

Der Hyazinthen-Lorken duft'ge Blüthen.<br />

Die Perlenzähn e b~ l?ure n drürken<br />

Auf frischer Lippen süße Purpurblüthen,<br />

Da <strong>von</strong> Narzissen-Augen Thränen sinken,<br />

Die auf dem Haar wie Thau an Gräsern blinken.<br />

13·<br />

So kannst du , ruft sie, g rau sam mi c h ver las sen I<br />

Dich fühllos gar der Liebe Arm entreißen!<br />

So könnte ja mich selbst mein Feind nicht hassen,<br />

Ist das die Trcu, die du so hoch verheißen?<br />

Mich willst .du ganz den Qualen überlassen,<br />

Des Glürkes duft'gen Blüthenkranz zerreißen?<br />

0, bleib zurürk l Sieh meine heißen Zähren,<br />

Laß mich die 6üßen Blirke nicht entbehren!<br />

14·<br />

Wie magst du dicses Z e I t e s schützend Dach<br />

Vertauschen mit dem Wald in Sturm und Nacht?<br />

71<br />

Der Dichter beschließt, 1web Dagdad ZI/. reisen. Da besucht ihn seine Geliebte, die<br />

mit Aurora verglichen wird. Sil1 ist vcrzwei/ell , Hagt vorwurfsvoll, daß der Freund<br />

sie verlassen will, bäll ibm die Bescbwerclen der Reise vor und propbezeit, m,zn<br />

werde den Dichter in Bagdad Ilicbt zu sc/Jiitzen wissen; Strophe II bis 16.<br />

Indeß das Firmament die Lichtgestalten<br />

Im Spiele, wie ein Zaubrer, leicht und schnelle<br />

I n Her r I ich k e i t sich wechselnd heißt entfalten,<br />

Schirkt' ich mich an, mit e r s t e r M 0 r gen hell e<br />

II.<br />

Abermals schildert Enweri eine Morgendämmerung. Wieder erscheint<br />

eine "Aurora", diesmal die Geliebte des Dichters. Wie die<br />

Situation .der Verlassenen bei Enweri ausführlich dargestellt wird,<br />

das scheint doch bei Goethe zu dem Bild der "Strohwitwe" Aurora<br />

geführt zu haben. Auch hier zeigt sich Übereinstimmung: bei Goethe<br />

"entläuft" Hesperus "mit der Sonne", bei Enweri bricht der Dichter<br />

"mit erster Morgenhelle" auf - das wird in den nächsten Versen , die<br />

wir nun betrachten, noch ausgeführt.


72 Quellen zu "Sommernacht"<br />

Der Dichter vertröstet seine Geliebte auf das Wiedersehn bei seiner Rüclekehr.<br />

Ehrgeiz treibt ihn jetzt fort; Strophe 17 f.<br />

18.<br />

So mußte sie gerührt, besänftigt scheiden,<br />

Doch schon erb I ich der S 0 n n e Z i t t ern d L ich t ,<br />

Den Himmel kam im fernen Ost bekleiden<br />

Ein Si I b e r s t r e i f, der zart durch Wolken bricht;<br />

A u r 0 rag i eng dan n auf, verhüllt, bescheiden,<br />

Im Rosenflor ihr strahlend Angesicht.<br />

Dem Sklaven gleich, des Winkes schnell gewärtig,<br />

Macht ich mich nun sogleich <strong>zum</strong> Aufbruch fertig.<br />

Die Sonne gibt dem Dichter "den Wink" <strong>zum</strong> Aufbruch, dem er<br />

"Sklaven gleich" Folge leistet. Wirklich "entläuft" also der Dichter<br />

seiner Aurora "mit der Sonne". Die Ähnlichkeit dieses bei Enweri so<br />

stark betonten Zuges mit Goethes Aurora-Hesperus-Mythos ist augenfällig.<br />

Immer wieder schildert Enweridie Morgendämmerung, das<br />

, Zwischenstadium zwischen Tag und N acht, das auch in "Sommernacht"<br />

die Grundsituation bildet. Und noch mals tritt hier die echte<br />

Aurora als Verkörpemng der Morgenröte auf, der antike Name 1m<br />

persischen Bereich.<br />

Reise nach Bagdad. D er Dichter wird dort, wie: seine Aurora vorausgesehen, enttäuscht.<br />

Er findet keinen Anklanf!., selbst 17icbt mit einem Loblied auf den König;<br />

Strophe 19 bis 25· S(!ine Geliebte besucht ibn in /J(l f!.dad, wirft ihm seine Treulosigkeit<br />

vor; Stropbe 26 bis 2.1.<br />

26.<br />

So klagt' ich unmuthsvo ll , dem Spott cin Ziel,<br />

Einsam durchwachend ma nchc stille Nacht,<br />

Als ein e s M 0 r ge n s, da dcr Weste Spiel<br />

Mit Balsamduft die Sinn cn trunkcn macht',<br />

Und sanfter Schlummer thauend auf mich fiel,<br />

Von zärtlichcr Berührung ich erwacht'.<br />

Die Augen öffnend, noch <strong>von</strong> Schlaf befangen,<br />

Sah ich mein M ä d ehe n mit den R 0 sen w a n gen.<br />

Enweri 73<br />

Wie in "Sommernacht" Aurora den Hesperus frühmorgens "einzuholen<br />

eilt" (V. 51), so verfolgt bei Enweri das mit Aurora verglichene<br />

Mädchen den Dichter; zur Morgenzeit steht sie plötzlich vor<br />

ihm "mit den Rosenwangen", wodurch wieder auf den Aurora-Vergleich<br />

angespielt ist.<br />

Enweris Gedicht endigt damit, daß der Dichter durch seine Geliebte<br />

wegen seiner bisherigen Fehlschläge getröstet und zu einem<br />

neuen Loblied auf den König ermuntert wird. Das Lied - die letzten<br />

sechs Stanzen in der Übersetzung - weist die typischen Merkmale der<br />

Panegyrik auf.<br />

Was es für Gocthc bedeutete, in den Dezembertagen <strong>von</strong> 1814 dem<br />

Enweri-Gedicht zu begegnen, läßt sich nun klar erkennen. Es gab<br />

seiner dichterischen Phantasie Nahrung und lenkte sie in eine bestimmte<br />

Richtung. Die Schilderung eines orientalischen Sommers mit<br />

all seinem Zauber versetzte ihn in die Stimmung, selbst ein orientalisierendes<br />

sommerliches Gedicht zu schreiben mitten in trüber nordischer<br />

Winterzeit . .Jenes Rätsel um die Entstehung <strong>von</strong> ;,Sommernacht"<br />

klärt sich damit auf. Das so intensiv jahreszeitlich gefärbte Gedicht<br />

kam - wie kaum anders zu erwarten - nicht ohne besonderen Anlaß<br />

zustande. Ein großer persischer Dichter war der Vermittler, er Jud<br />

Goethe ein in seine sonnige Welt. 50)<br />

Gerade <strong>von</strong> der hellen, sommerlichen Atmosphäre des Enwerischen<br />

Gedichts ging offenbar eine spezielle Anziehungskraft aus. Man weiß,<br />

wie Goethe sich vor negativen Eindrücken - Trauerveranstaltungen,<br />

Beerdigungen etc., aber auch tristen Büchern - zu bewahren wußte.<br />

Entsprechend willig suchte er auf, was positiv machen konnte. So<br />

50) Für Enweri hatte Gocthc eine ausgesprochene Vorliebe. Mehrere Kapitel der<br />

Noten und Abhandlungen befassen sich, wie neuerdings festgestellt wurde, mit<br />

einer Verteidigung Enweris gegen Hammers Kritik in der Geschichte der schönen<br />

Redekünste Persiens. Vgl. <strong>Katharina</strong> <strong>Mommsen</strong>, Goethe und Diez. Quellenuntersuchungen<br />

zu Gedichten der Divan-Epoche (Sitzungsbericht der Deutschen<br />

Akademie dcr Wisscnschaften zu Berlin. Klasse für Sprache, Literatur und<br />

Kunst Jahrg. 1961. Nr. 4) S. 44- 47.


74 Quellen Zu "Sommernacht"<br />

Enweri<br />

75<br />

griff er gern, wenn winterliche Depression übermächtig zu werden<br />

drohte, zu besonders erfreulichen, lichtvollen Büchern. Homer, Tausendundeine<br />

Nacht - solche Lektüre bedeutete ihm dann eine willkommene<br />

Hilfe. In dieser Weise mag auch Enweris Gedicht gewirkt<br />

haben: die Phantasie erheiternd und damit produktive Kräfte freimachend.<br />

Im übrigen war überhaupt die erste Begegnung mit den Fundgruben<br />

des Orients damals ein beglückendes Ereignis. Da<strong>von</strong> zeugen<br />

die mannigfachen in folge dieser Begegnung entstandenen Gedichte,<br />

zu denen auch "Sommernacht" gehört. Alles, was wir an literarischen<br />

/Anregungen für "Sommernacht" feststellen konnten : Sunna, Pend<br />

i Nameh, H~mmers astronomischer Aufsatz, El,1weris._Gecfi~ht; stand<br />

I · . . -_. -..<br />

i Ja 10 den Fundgruben. "So haben mich die Fundgruben unbeschreib-<br />

I lieh aufgeregt und alles was im Sinn und Gedächtniß veraltet war<br />

wieder belebt und erneut." Das schrieb Goethe später im Rückblick<br />

auf die Epoche, mit deren Anfängen wir uns gerade befaßten. 51)<br />

Goethe las Enweris Gedicht mit hungrigen und dankbaren Augen,<br />

dazu mit jenem fabelhaften Gedächtnis des Eidetikers, dem nichts<br />

Bezeichnendes, Wesentliches verlorengeht. Mit meisterlichem Griff<br />

wählte er das Beste, Essentiellste aus, um es in seinem Gedicht zu<br />

verwerten. Nur den Schmelz des Ganzen schöpft er ab.<br />

Dabei sind es nicht ausschließlich Stimmungsclemente, die Goethe<br />

sich zunutze macht. Enweri brachte ihm auch Ideen, wie die, <strong>von</strong> der<br />

"Strohwitwe" Aurora zu sprec~en. In diesem Zusammenhang sei<br />

noch auf die Übereinstimmung hingewiesen, daß bei Enweri wie bei<br />

Goethe gleicherweise im Gedicht ein Zwiegespräch stattfindet, und<br />

zwar das Gespräch zwischen einem "Dichter" und einer ihm befreundeten<br />

jugendlichen Person. In bei den Gedichten sieht diese Person<br />

bewundernd, verehrend zu dem Dichter auf als zu einem großen<br />

Weisheitslehrer. Das zeigt sich bei Enweri in einer Strophe, die wir<br />

hier nachtragen.<br />

51) Entwurf <strong>zum</strong> Abschnitt "Von H ammer" der Noten und Abhandlungen; WA I 7,<br />

302; Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 128.<br />

Ihr Bitten und Beschwören, sie doch nicht Zu verlassen, nicht nach Bagdad Zu gehen,<br />

begründet die Geliebte des Dichters so:<br />

16.<br />

Und wie mag man nach Würden dort dich ehren,<br />

Wo dir an W eisheit keiner zu vergleichen?<br />

Selbst Plato müßte horchen deinen Lehren;<br />

Und wessen Geist in Ostens weiten Reichen<br />

Ergründet so wie du den Lauf der Sphären?<br />

Selbst Ptolcmäus Ruhm muß deinem weichen;<br />

Ist doch kein Weiser hier im Orient,<br />

D er deiner Füße Staub nicht köstlich nennt.<br />

Das Verhältnis zwischen dem Dichter und seiner Freundin trägt<br />

hier ganz ähnliche Züge wie das zwischen Dichter und Schenken in<br />

"Sommernacht". Ein pädagogisches Element zeigt sich auch bei Enweri.<br />

Der Dichter ist zugleich ein großer Lehrer. Dabei verdient es<br />

bemerkt zu werden: auch an Enweris "Dichter" werden Mathematik<br />

und Astronomie als Hauptgebiete seiner Gelehrsamkeit hervorgehoben.<br />

Hierauf zielt der Vergleich mit Ptolemaios. Wie eng berührt<br />

sich das, nach allem, was wir sahen, mit der Situation <strong>von</strong><br />

"Sommernacht" !<br />

Es kommt nun nicht so sehr darauf an, wie wir die Übereinstimmungen<br />

zwischen Enweri und Goethe im einzelnen zählen, messen,<br />

bewerten. Wesentlicher ist die Erkenntnis: in der Gesaintstimmung<br />

<strong>von</strong> "Sommernacht" schwingt viel <strong>von</strong> Dank mit an diesen großen<br />

persischen Dichter.<br />

Wie Goethe in "Sommernacht" die verschiedensten Eindrücke aus<br />

Lektüre und Leben zu einer Einheit verschmilzt, das ist eine Leistung,<br />

die so nur ihm gelingen konnte. Durch die Quellenanregungen vor<br />

allem erhält das Gedicht jene Mannigfaltigkeit, die man an ihm bewundert,<br />

die Ausweitung ins W elthaltige und Kosmische. Aber das<br />

kosmische Gedicht ist 2ugleich ein Kosmos. Was entstand, war kein<br />

Konglomerat, kein formloses Quodlibet, sondern ein geordnetes<br />

Ganze. Darin unterscheidet sich "Sommernacht" <strong>von</strong> andern, ähnlich<br />

aus verschiedenen Elementen zusammengebauten Divan-Gedichten;


76<br />

Quellen zu "Sommern acht"<br />

in ih~en zeigt si~h die Form des Aggregats, der locker gefügten Reihung.<br />

·) Auch dIese Form handhabte Goethe ml't " M .<br />

ch e10Zlger elsters<br />

:ft. In .bewußter Anlehnung an orientalische Vorbilder schuf er<br />

dann<br />

.<br />

GedIchte<br />

. '.<br />

<strong>von</strong> hohem Reiz<br />

.<br />

In<br />

"<br />

Sommernacht" d<br />

agegen<br />

. E'<br />

1st 10-<br />

helt errel~ht. NIcht dIe schlichte Einheit allerdings, wie sie etwa der<br />

Verfolg etnes erzählerischen Fadens ergibt. Vielmehr l·st d· E'<br />

h' . es le Inelt<br />

e1Oe~ Kosmos, in dem alles einzelne, so verschieden es untereinand~r<br />

se10 mag, letztlich organisch gefügt und strukturell verbunden<br />

1st.<br />

1) Beispiele: "Hör' und bewahre / Sechs Li ebespaare" ,.<br />

verlange".<br />

"Nur wenig ist's was ich<br />

"HERR! LASS DIR GEFALLEN .. "<br />

Herr! laß dir gefallen<br />

Dieses kleine Haus,<br />

Größre kann man bauen,<br />

Mehr kommt nicht heraus.<br />

Eine Quelle zu diesem Gedicht, das dem Buch der Sprüche angehört,<br />

ist bisher ni cht bekannt. Christian Wurm, der erste Kommentator<br />

des ~ es t -öst li chen Divan, wies nur allgemein auf den orientalisierenden<br />

Charakter des Vierzeilers hin :1)<br />

"Die Persischen D ichter bedienen sich häufig des Gleichnisses eines Hauses <strong>von</strong><br />

ihren Gedichten. So Snadi in seinem Baumgarten, Vorrede: Nachdem ich dieses<br />

ansehnliche Haus :1ufzubauen begunnte, habe ich darin zehn lehrreiche Pforten (d. i.<br />

Bücher oder Ablhcilungen) verfertiget."<br />

Hiernach bestimmte sich die Auffassung des Gedichts bei späteren<br />

Interpreten. Lange bevor es durch Veröffentlichung eines Goetheschen<br />

Briefs an Kosegarten evident wurde, daß mit dem kleinen<br />

Haus auf die Divan-Dichtung angespielt ist,2) hatte Wurm schon die<br />

richtige Deutung gegeben. Seltsamerweise entging es seiner Aufmerksamkeit,<br />

daß Saacl is Bustan (Baumgarten), aus dessen Vorrede er<br />

zitiert, an anderem Ort auch die Quelle zu Goethes Gedicht enthält.<br />

Es handelt sich um eine kleine Geschichte, die sich am Ende des<br />

6. Buchs findet: :J)<br />

1) A. a. O. S. 155.<br />

2) V gl. unten S. 83.<br />

3) In der <strong>von</strong> Goethe benutzten, weiter unten <strong>von</strong> uns genannten Übersetzung: S.72.


78<br />

"Herr 1 laß dir gefallen"<br />

E j n e r i s t mit e in e m k lei n e n Hau s e z u f r i e den.<br />

Mir ist erzehlct / daß einmahl ein frommer Mann gewesen / der ein Hauß nach<br />

d e~ Maaß seiner Länge bauen lassen / weßhalber ein ander Zu ihm sprach : Ich<br />

":CIß / daß du ein reicher Mann und gutes Vermögens bist / warum lästu denn<br />

~ I cse Wohnung nicht w e i t e run d h ö her bau e n? Jener antwortete : D i ß<br />

I s t v o r .. m ich gnu g I aus was Ursache solte ich mich dann b',mühen / diß<br />

Ha u s h 0 her auf f z u f ü h ren / oder außzuziehren? Die s e F 0 r m ist<br />

J a g nug darinnen zu wohne n / und dasselbe wied e r z u<br />

ve r l as sen. Bauet kein Haus auff ein fli eßend Wasser I denn niemand wird es<br />

vollführen. Es ist keine Weißheit / und kompt mit der Lehre der Verständi"cn<br />

nicht überein / ein Haus an den Weg zu bauen / denn ein solches leidet viel Anst~ß.<br />

Goethes Gedicht faßt den Inhalt <strong>von</strong> Saadis Geschichte zusammen.<br />

Vers für Vers sind die Übereinstimmungen mit der Vorlage zu erkennen.<br />

1. Das entscheidende Motiv: Zufriedenhei t mit dem kleinen Haus<br />

findet sich bei Saadi schon in der Kapitelüberschrift. In der Vorlaae<br />

ist diese mit schönen großen Lettern fett gedruckt. 0<br />

2. Wenn Goethe das Gedicht mit dem Anruf beginnt: "Herr! laß dir<br />

gefallen". und ihm dadurch quasi einen religiösen Hintergrund gibt,<br />

so entsprIcht das auch dem Eingang der Geschichte bei Saadi wo es<br />

heißt: "Es war einmal ein fr 0 m m e r Mann", der ein Hau: bauen<br />

ließ.<br />

3· Vers 3 lautet in Goethes Gedicht : "Größre kann man bauen." Auch<br />

b~i Saadi ist da<strong>von</strong> die Rede., daß der Bauherr das Haus "weiter und<br />

hoher bauen", bzw. "höher aufführen" könnte. Ausdrücklich wird bei<br />

Saadi darauf hingewiesen, daß der Bauherr "reich" ist, daß er "gutes<br />

Vermögen" hat. Goethes Vers "Größre kann man bauen" setzt in<br />

ähnlicher Weise Reichtum und Vermögen vOraJus, nur daß da<strong>von</strong><br />

- ebenso wie in Saadis Geschi chte - kein Gebrauch gemacht wird.<br />

4· Auch die Schlußwendung <strong>von</strong> Goethes Gedicht hat ihre Parallele<br />

in der Saadi-Geschichte. "G rößre kann man bauen, I Me h r kom mt<br />

"Herr 1 laß dir gefallen" 79<br />

nie h t her aus", so endet das Gedicht. Der fromme Bauherr<br />

Saadis bringt das gleiche Argument vor. Die Form des Hauses ist ja<br />

"gnug darinnen zu wohnen, und das sei b e wie der z u verlas<br />

sen ". "Mehr kommt nicht heraus" (Goethe) - "und dasselbe<br />

wieder zu verlassen" (Saadi) -: wir sehen, wie in beiden Texten das<br />

Motiv des Herausgehens aus dem Hause am Ende steht.<br />

Es läßt sich nun auch die Schlußpointe in Goethes Gedicht noch<br />

genauer verstehen. Bei dem Wort "Mehr" (V. 4: "Mehr kommt nicht<br />

heraus") ist an den Bewohner des Hauses gedacht. Dieser geht immer<br />

als derselbe zur Tür heraus, ob er sein Haus größer oder kleiner baut.<br />

Er wird nicht "mehr" dadurch, daß er etwa sein Haus vergrößert.<br />

Das Divan-Gedicht erinnert hier an die Worte des Mephistopheles<br />

1m "Faust":<br />

Du bist am Ende - was du bist.<br />

Setz' dir Perrücken auf <strong>von</strong> Millionen Locken,<br />

Setz' deinen Fuß auf ellenhohe Socken,<br />

Du bleibst doch immer was du bist.<br />

Deutet man das G leichnis vom kleinen Haus auf den Divan, so<br />

ergibt sich etwa: in den Gedichten, dem "Haus", wohnt ein bestimmter<br />

Geist, an ,dem sich grundsätzlich nichts mehr verändert, auch wenn<br />

die Anzahl der Gedichte noch vergrößert würde. 4) -<br />

Das Gleichn is gibt dem Gedicht etwas vom Charakter einer orientalischen<br />

D emutsformel. Doch verbirgt sich in der metaphorischen<br />

Einkleidung auch Selbstbewußtsein, Stolz auf das Erreichte. Goethe<br />

konstatiert, daß der Divan seinem geistigen Gepräge nach ausgereift<br />

~) Beutler (a. a. O. S. 537 f.) faßt die Schlußpointe des Gedichts anders auf. E r<br />

gibt ihr den Sinn: "Wie der Mensch sich auch mühen möge: ,Mehr kommt nicht<br />

heraus.'" Unter Bezugnahm e auf V. 68 ff. <strong>von</strong> "Vermächtnis altpersischen Glaubens"<br />

interpretiert er weiter: "Gott gegenüber bleibt alles irdische Lobsingen<br />

Stammeln. ,Mehr kommt nich t heraus.'" Das ist ein herangetragener Gedanke,<br />

<strong>von</strong> dem im Text ni chts steht. Durch den Vergleich mit der Quelle läßt sich der<br />

Sinn <strong>von</strong> V. 4 genauer bestimmen.


80 "Herr! laß dir gefallen"<br />

ist. Darum kann er bestehen, auch wenn sein äußerer Umfang noch<br />

"klein" ist. Der Blick, den der Dichter so auf sein Werk wirft, setzt<br />

ein gewisses Stadium der Abgeschlossenheit, der Vollendung voraus.<br />

Damit stimmt überein, was sich bezüglich der Entstehungszeit des<br />

Gedichts sagen läßt.<br />

Saadis Bustan las Goethe in einer deutschen Übersetzung, die der<br />

"Colligirten und viel vermehrten Reise-Beschreibung" des Adam<br />

Olearius, Ausgabe Hamburg 1696, anhangsweise beigegeben war. 5)<br />

Goethe entlieh dies Buch erstmals aus der Weimarer Bibliothek vom<br />

II. März bis 1. April 181;. Durch die Entleihungsdaten ist auch die<br />

Zeit der Konzeption <strong>von</strong> "Herr! laß dir gefallen" bestimmt. Das Gedicht<br />

enstand zweite Hälfte, wenn nicht Ende März 181;.6)<br />

Ende März 181; war Goethe mit der Arbeit am Divan tatsächlich<br />

in eine Phase gekommen, die ihm erstmals einen Blick auf das vorhandene<br />

Ganze ermöglichte, wie er in "Herr! laß dir gefallen" getan<br />

wird. Die Gedichtsammlung, an der er seit Sommer 1814 arbeitete<br />

- sie trug damals noch den Titel "Deutscher Divan" -, war jetzt<br />

etwa auf den Bestand angewachsen, wie ihn das "Wiesbadener Register"<br />

<strong>von</strong> Ende Mai 181; skizziert. Eine entscheidende Erweiterung<br />

hatte sich ergeben, nachdem Goethe seit Dezember 1814 über Hafis<br />

hinaus auch andere orientalische Literatur für sein Werk in Betracht<br />

gezogen hatte. Bis März 1815 war durch Lektüre und daraus sich ergebende<br />

Produktion der Kreis abgesteckt, der dem endgültigen Charakter<br />

des Divan im großen und ganze n entsprach.<br />

5) Die Bustan-Übcrsetzung is t nnonym, C\lIS dem Holl ändischen.<br />

6) Die herkömmliche Datierung lnutet:: vor 26. Januar 1815. Daß sie unrichtig ist,<br />

wird durch den Quellennachweis ev ident:. Das oben genannte Entleihungsdatum,<br />

der II. März 1815, ist notwendi g Terminus a quo. Keine der übrigen <strong>von</strong> Goethe<br />

aus der Weimarer Bibli othek entli ehenen Saadi-, bzw. Oleariusausgaben enthielt<br />

den Bustan, auch nicht etwa das am 8. Januar 1815 entliehene "Persianische Rosenthai"<br />

Saadis, übersetzt <strong>von</strong> Olcarius, Schleswig 1654. - Die Datierung: vor<br />

26. Januar 1815 beruht auf irrtümlichen Auffassungen über eine Handschrift,<br />

wo<strong>von</strong> wir im vorletzten Abschnitt dieser Studien weiter zu sprechen haben.<br />

(V gl. unten S. 109 H.)<br />

"Herr! laß dir gefallen" 81<br />

Im März 181; trat eine Stockung ein. Etwa um den 6. März herum<br />

befiel Goethe ein "böser Katarrh" (Tagebuch), der ihn viele Wochen<br />

am Arbeiten hinderte. 7) Einige Zeit vermochte er, sich gegen die<br />

Krankheit zur Wehr zu setzen und produktiv zu bleiben. So entstand<br />

noch am 13. und 14. März das "Vermächtnis altpersischen Glaubens",<br />

mit dem wieder ein neuer Bereich für die Divan-Dichtung erschlossen<br />

war. Dann aber kam ein völliger Stillstand. 8) Bis zur Abreise<br />

nach Wiesbaden (24. Mai) wurde am Divan kaum noch etwas getan,<br />

im April und Mai wandte sich Goethe, noch unter den Nachwirkungen<br />

der Krankheit leidend, leichteren Arbeiten zu, der Italienischen<br />

Reise und einigen Aufsätzen über Themen der Literatur.<br />

In dieser Zeit der Stockung, Ende März bis Mitte Mai 181;, stellte<br />

Goethe Betrachtunge n an über das bis dahin für den Divan Geleistete.<br />

Jetzt war es ihm erstmals möglich, über den "Sinn des Ganzen"<br />

zu reflektieren, er konnte dem Freunde Zelter da<strong>von</strong> erzählen, 9)<br />

dem Verleger darüber berichten, Am 16. Mai 18i; skizzierte er Inhalt<br />

und Charakter des Werks für Cotta, ohne sich doch entschließen zu<br />

können, diese Skizze abzusenden. 10) Offenbar wollte er noch nichts<br />

unternehmen, was einen Abschluß näher rückte. Sowohl dem Verleger<br />

als auch Zclter gegenüber sprach er ausdrücklich <strong>von</strong> der Absicht,<br />

die vorliegenden "ungefähr hundert" Gedichte noch ~u vermehren.<br />

Unter ,dem Titel "Des deutschen Divans mannigfaltige Glieder"<br />

hält dann das "Wiesbadener Register" vom 30. Mai 181; die vorläufige<br />

Gestalt des Ganzen fest.<br />

In diese Periode des Reflektierens und Planens fällt unser Gedicht.<br />

Gerade als Goethe begann, den Divan erstmals als Organismus an-<br />

7) Vgl. Goethe an Knebel, 22. April 1815: "Mein vierwöchentlicher Katarrh hat mich<br />

in allen Dingen se hr retardirt." (WA IV 25, S. 279.)<br />

8) Vgl. Goethe an K nebel, 5. April 1815: "Ich muß .. . dir anzeigen, daß ich <strong>von</strong><br />

dem schrecklichsten Katarrh , der mich schon seit vier Wochen, unter hundert<br />

Formen, quält, mich endlich zu erholen anfange. Ich habe leider die Zeit über,<br />

weder nach außen noch innen, etwas geleistet." (WA IV 25, S. 251.)<br />

D) Goethe an Zelter, 17. Mai 1815. (WA IV 25, S. 333.)<br />

10) Goethe an Cotta, nicht abgesandtes Konzept, 16. Mai 1815. (WA IV 25, S. 414 H.)<br />

6 <strong>Mommsen</strong>, Divan-Studien


82 "Herr I laß dir gefallen"<br />

zusehen, über Abschluß und Vermehrung nachzudenken, Umfang<br />

und Drsposition, aber auch die geistige Struktur des Werks zu erwägen,<br />

gewann die Saadi-Geschichte <strong>von</strong> dem ErbaJUer des kleinen,<br />

bescheidenen Hauses sein Interesse. Auch <strong>von</strong> seinem dichterischen<br />

"Haus" konnte er nun feststellen, daß der bescheidene erreichte Umfang<br />

genügen durfte. Es ließ sich noch vergrößern, gewiß, aber da<strong>von</strong><br />

wurde der "Sinn des Ganzen" nicht mehr entscheidend beeinflußt.<br />

Das geistige Gepräge des Werks stand fest, in dieser Hinsicht war<br />

ein "mehr" anscheinend kaum noch zu erwarten.<br />

Wie all solche Überlegungen in den Versen ihren Ausdruck fanden:<br />

Größre kann man bauen,<br />

Mehr kommt nicht heraus,<br />

das hat noch unverkennbar einen gewissen Ton des Unmuts an sich.<br />

Offenbar klingt hier die hypochondrische Stimmung der ersten Krankheitswochen<br />

mit. l1) Sie mochte Goethe zunächst auf den Gedanken<br />

bringen: zur Not könnte man das Werk auch abschließen, das Wesentliche<br />

daran ist getan.<br />

Überhaupt hat der Vierzeiler vom kleinen Haus alle Eigenschaften,<br />

die ihn zu einem Abschlußgedicht für den Divan hätten geeignet erscheinen<br />

lassen. Nur dem Umstand, daß bereits ein anderes Gedicht<br />

vorhanden war, das sich noch besser für den Ausklang des Werks<br />

eignete ("Nun so legt euch, liebe Lieder"), ist es wohl zu verdanken,<br />

wenn in der Anordnung de s "Wiesbadener Registers" nicht "Herr!<br />

laß dir gefallen" den Schluß des "Deutschen Divan" bildete.<br />

Ein Zeugnis aus späterer Zeit bestätigt, wie geeignet Goethe gerade<br />

dies Gedicht für den Schluß des Ganzen erschien. Als er im Juli 1819<br />

die letzten Druckbogen des Divan revidierte, richtete er an seinen<br />

bewährten Helfer, den Jenaer Orientalisten Kosegarten folgende Anfrage<br />

(16. Juli 1819): 12)<br />

11) "Verzeihung meiner catharralischen Hypochondrie", lautet das Nachwort eines<br />

Briefs an C. G. v. Voigt <strong>von</strong> E nde März oder Anfang April 1815 . (WA IV 25,<br />

S. 247.) .<br />

12) Goethe an Kosegarten, 16. Juli 1819. (WA IV 31, S. 230 f.)<br />

"Herr! laß dir gefallen" 83<br />

"Ew. Wohlgeboren übersende einstweilen ein Exemplar [des Divan]<br />

zu geneigter Beachtung, die letzten Bogen folgen zunächst.<br />

Ganz <strong>zum</strong> Schluß wünschte ich noch einen orientalischen Spruch,<br />

ohngefähr des Inhalts:<br />

Herr laß dir gefallen<br />

Dieses kleine Haus<br />

Auf die Größe kommts nicht an,<br />

Die Frömmigkeit macht den Tempel,<br />

oder wenn Ihnen etwas Schicklicheres einfällt. Mögen Sie vielleicht<br />

heut Abend um 7 Uhr einige Stunden bey mir zubringen."<br />

Wir wissen jetzt, welchem orientalischen Dichter der "Spruch" angehört,<br />

auf den hier angespielt ist. 13) Der Zeitpunkt, zu dem Goethe<br />

wieder auf das Gedicht vom kleinen Haus zurückkommt - er zitiert<br />

es jetzt mit Veränderung der etwas hypochondrischen zweiten Hälfte-,<br />

. ist außerordentlich charakteristisch. Wieder war ein Stadium des<br />

Fertigwerdens erreicht. Ganz ähnlich wie im Frühjahr 1815 betrachtet<br />

der Dichter auch jetzt sein Werk nicht als etwas endgültig Abgeschlossenes.<br />

In den Noten und Abhandlungen kündigt er bereits die<br />

Fortsetzung an. Da meldet sich der alte Gedanke: Goethe möchte<br />

demütig auf die "Kleinheit" des Hauses, und zugleich stoli auf den<br />

innewohnenden Geist hinweisen. Dieser ist <strong>von</strong> den äußeren Ausmaßen<br />

unabhängig, ist stark und lebenskräftig genug. So reicht der vorläufige<br />

Bau aus. Er könnte auch vergrößert werden, damit änderte<br />

sich aber nichts mehr am geistigen Gepräge des Werks.<br />

Die Varianten <strong>von</strong> V. 3 und 4 im Brief an Kosegarten nehmen<br />

jeden Zweifel an der Bedeutung der ursprünglichen Fassung. "Mehr<br />

kommt nicht heraus" heißt tatsächlich soviel wie: der Bewohner des<br />

Hauses wird nicht "mehr" durch dessen etwaige Vergrößerung.<br />

:t3) Vgl. H . G. Gräf zu obigem Brief: "Welchem orientalischen Dichter dieser Spruch<br />

angehört, ist mir unbekan nt." (Goethc über seine Dichtungen Irr 2, S. 264·)<br />

6*


84 "Herr! laß dir gefallen"<br />

Wenn in den Varianten <strong>von</strong> "Frömmigkeit" die Rede ist, so ist das<br />

natürlich im wesentlichen metaphorisch gemeint. Es deutet aber auch<br />

zurück auf den Wortlaut der Saadi-Geschichte, die <strong>von</strong> jenem "frommen"<br />

Mann handelt. Goethe war ihr vor kurzem wieder begegnet. Im<br />

April 1819 entlieh er aus der Weimarer Bibliothek wiedemm die Oleariussche<br />

Reisebeschreibung, der Saadis Gülistan und Bustan angehängt<br />

waren. 14) Er entnahm den Saadi-Übersetzungen jetzt die Geschichten,<br />

die zur Charakteristik des Schenkenbuchs im Kapitel "Künftiger Divan"<br />

der Noten und Abhandlungen dienen.<br />

Beim Wiederlesen der Geschichte vom kleinen Haus mag der<br />

Wunsch rege geworden sein, eine ähnlich geeignete Vorlage für Verse<br />

<strong>zum</strong> endgültigen Abschluß des Divan, d. h. der Noten und Abhandlungen,<br />

zu finden. Ein äußerer Umstand verhinderte es abermals, daß<br />

"Herr! laß dir gefallen" den Abschluß bilden konnte. Das Gedicht<br />

war bereits innerhalb des Buchs der Sprüche gedruckt. Offensichtlich<br />

bedauerte Goethe das, daher seine Bitte an Kosegarten um einen ähnlichen<br />

Schluß gedanken.<br />

Gemäß der in Goethes Brief ausgesprochenen Einladung besuchte<br />

Kosegarten den Dichter am Abend des 16. Juli 1819. Dabei überbrachte<br />

er ihm vermutlich das Blatt mit seinen Vorschlägen für ein<br />

Abschlußgedicht, das sich noch heute in G oethes Papieren befindet.<br />

Unter der Überschrift "Sadi sagt" führt Koscgarten hier sieben verschiedene<br />

Sprüche auf.H') Bezeichnenderweise brachte er also Worte<br />

desselben Dichters in Vorschlag, der die Vorlage für "Herr! laß dir<br />

gefallen" hergegeben hatte. Nun ist allerdings Saadi bis in die heutige<br />

Zeit ein Dichter, aus dem man im O rient mit Vorliebe Sentenzart:iges<br />

zitiert. Das mag Koscgartens Wahl bes timmt haben. Doch möchte<br />

man fast glauben, da ß er Saadis Bustan als Quelle <strong>zum</strong> Vierzeiler<br />

vom kleinen Haus erkannt hatte und darum Goethe zuliebe bei diesem<br />

Autor blieb. Einer der <strong>von</strong> Kosegarten vorgeschlagenen Saadi-<br />

H) Die "Colligirte Reise-Beschreibung" , Ausgabe Hamburg 1696, entlieh Goethe<br />

wieder vom 15. April bis 8. Juni 1819.<br />

15) WAl 7, S. 293. Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 280 f.<br />

"Übermüthig sieht's nicht aus" 85<br />

Sprüche wurde dann auch an den Schluß der Noten und Abhandlungen<br />

gestellt.<br />

Einen Nachklang zu unserm Gedicht vom kleinen Haus bilden noch<br />

die bekannten Verse auf das Gartenhaus am Stern, geschrieben kurz<br />

nach Erscheinen des Divan, Ende Januar 1820 :16)<br />

Übermüthig sieht's nicht aus<br />

Dieses kleine Gartenhaus,<br />

Allen die sich drin genährt<br />

Ward ein guter Muth bescheert.<br />

Das Gartenhaus am Stern war so klein, daß Goethe mit seinem<br />

Diener in einem Zimmer schlafen mußte. Es wurden aber darin Iphigenie<br />

und Tasso geschrieben. Auf solcherlei Kontraste spielen die<br />

obigen Verse an mit ganz ähnlicher Mischung <strong>von</strong> Demut und Selbstbewußtsein,<br />

wie sie das Divan-Gedicht vom kleinen Haus charakterisiert.<br />

Abermals werden einander gegenübergestellt: das bescheidene<br />

Ausmaß des Baus und die Gesinnung der Bewohner. Wenn Goethe<br />

im Brief an Kosegarten <strong>von</strong> der "Frömmigkeit" sprach, die "den Tempel<br />

macht", so entspricht dem hier der "gute Mut" derer, die sich in<br />

dem "nicht übermütigen" kleinen Gartenhaus "genährt" haben. Letzten<br />

Endes geht diese Kontrastierung noch immer zurück auf die Geschichte<br />

<strong>von</strong> Saadis frommem Mann, der sich bewußt mit dem kleinen<br />

Haus begnügt.<br />

Die Pointe, daß es auf Geist und Gesinnung der Bewohner, nicht<br />

auf die Größe -des Hauses ankomme, zeigen nochmals vier Verse, mit<br />

denen Goethe das Gedicht auf das Gartenhaus später (1827) erweiterte.<br />

Nun lautete das Ganze:17)<br />

16) WA I 3, S. 135. - Zu der oben gegebenen Datierung: die Verse stehen, mit Bleistift<br />

geschrieben, auf ein er Handschrift, die zugleich die ersten 4 Verse des Gedichts<br />

"Sanftes Bild dem sanften Bilde" enthält. Das letztgenannte Gedicht. entstand<br />

nachweislich Ende Januar 1820.<br />

17) WA I 4, S. 142.


86 "Übcrmüthig sieht's nicht aus"<br />

Übermüthig sieht's nicht aus,<br />

Hohes Dach und niedres Haus;<br />

Allen die daselbst verkehrt<br />

Ward ein guter Muth bescheert.<br />

Schlanker Bäume grüner Flor,<br />

Selbstgepflanzter, wuchs empor.<br />

Geistig ging zugleich alldort<br />

Schaffen, Hegen, Wachsen fort.


VERSE ZUM WIENER KONGRESS<br />

I. "Ve r s eh 0 nun s G 0 t t m i t dei n e m G r im me !"<br />

Im Buch der Sprüche gibt es noch immer eine ganze Anzahl <strong>von</strong><br />

Gedichten, für die sich bisher keine Quelle feststellen ließ. Ein besonders<br />

mißlicher Fall dieser Art liegt vor in den Versen:<br />

Verschon uns Gott mit deinem Grimme!<br />

Zaunkönige gewinnen Stimme.<br />

Auf die alte Fabel vom Adler und Zaunkönig zu verweisen, wie Burdach<br />

es tat, liegt nahe, genügt aber doch nicht, die Besonderheit dieses<br />

Spruchgedichts zu erklären. ehr. Wurm zog eine Stelle aus Diez'<br />

Denkwürdigkeiten <strong>von</strong> Asien heran, wo es im Rahmen einer arabischen<br />

Schrift über "Kriegskunst" heißt :1)<br />

[Über gewisse Arten <strong>von</strong> "tapferen" Soldaten) " .. . Es giebt wieder andere, welche<br />

mit der Zitternadel [E hrenzeichen] am Kopfe, dem Streithammer in der Hand und<br />

Hufeisen und Sporn am Fuß, bald vorne bald hinten rennen und lauten und doch<br />

zu nichts taugen. Diese nennt man Zaunkönigstapfere oder im Türkischen schlechtweg<br />

Zaunkönige."<br />

In diesem Falle ist auch Wurm kein brauchbarer Quellennachweis<br />

gelungen. Für unser Gedicht können diese Sätze nicht die Anregung<br />

gegeben haben. Wir führen die Stelle nur an, weil Wurm sie als die<br />

einzige bezeichnet, in der er "Zaunkönige unter den Morgenländern<br />

genannt gefunden" habe. Nach intensivem Durchforschen der <strong>von</strong><br />

Goethe nachweislich benutzten Orientschriften standen wir vor dem<br />

gleichen Ergebnis: Zaunkönige ließen sich nicht ausfindig machen.<br />

1) H. F. v. Diez: Denkwürdigkeiten <strong>von</strong> Asien. Th. 1. Berlin IBlI. S. 142.


88 Verse <strong>zum</strong> Wiener Kongreß<br />

"Verschon uns Gott mit deinem Grimme"<br />

89<br />

Eine rechte Crux wurde der Fall des Zaunkönig-Gedichts, nachdem<br />

die Weimarer Ausgabe ein Blatt aus den Goetheschen Divan-Papieren<br />

veröffentlichte, das eigentlich eine Lösung des Quellenproblems erhoffen<br />

lassen durfte. Auf diesem Blatt nämlich, das eine Reihe <strong>von</strong> Notizen<br />

enthält, die der Dichter sich aus Chardins Voyages en Perse<br />

machte, steht auch der folgende Satz:<br />

[V]<br />

[VI]<br />

Alles jagt man mit Falcken<br />

Nur nicht das wilde Schwein<br />

~<br />

Persischer Meerbusen Fischerei,<br />

III 44<br />

Nichts so fischreich<br />

~<br />

Zaunkönige gewinnen Stimme.<br />

Hier hatte man offensichtlich den Keim des Gedichts vor sich, und<br />

es mußte als überaus wahrscheinlich gelten, daß Goethe durch Lektüre<br />

<strong>von</strong> Chardins Reisebeschreibung zu der Aufzeichnung angeregt<br />

wurde. Indessen ist es bis heute niemand gelungen, die Quelle bei<br />

Chardin LiU finden. Von Zaunkönigen ist in den Voyages en Perse,<br />

die ,Goethe übrigens sorgfältig studierte, nirgends die Rede.<br />

Dennoch ist es möglich, zu zeigen, wie jene Aufzeichnung <strong>von</strong> den<br />

"Zaunkönigen", die "Stimme gewinnen", zustande gekommen ist.<br />

Wollen wir sie, und damit zugleich die Herkunft unseres Gedichts,<br />

verstehen lernen, so müssen wir die Handschrift genauer betrachten,<br />

<strong>von</strong> der wir sprachen. Auf einem Folioblatt - siehe Abbilduno'<br />

'"<br />

S. 86/ 87 - schrieb Goethe mit Bleistift fol gende Notizen nieder: 2)<br />

[I]<br />

[II]<br />

[III]<br />

[IV]<br />

An Gottes Tisch sitzen Freund und Feinde<br />

Zaunkönige gewin nen Stimme.<br />

'----v--"<br />

Perle<br />

Nahmen III 3I.<br />

~<br />

Carbunkcl<br />

2) Vgl. WAI6, S. 483 f., Paralip. 3j. Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 149, Paralip.138.<br />

Das Folioblatt diente ursprünglich zur Niederschrift des Wochenreper,<br />

toires und Probenzettels für das Weimarer Theater vom 26.-31. Dezember 1814.<br />

Diese war datiert: ,,22. Dezember".<br />

[VII]<br />

[VIII]<br />

Blut [gestr.] Geblüte aus Georgien<br />

und Circassien<br />

Er speist seinen Hunger<br />

Für vier Gedichte des Buchs der Sprüche findet sich auf dieser<br />

Handschrift die erste keimhafte Skizze. Es entstand:<br />

aus Nr. I: "Welch eine bunte Gemeinde!",<br />

aus Nr. II: "Verschon uns Gott mit deinem Grimme!",<br />

aus Nr. V: "Sich im Respect zu erhalten",<br />

aus Nr. VIII: "Will der Neid sich doch zerreißen".<br />

Entsprechend sind Nr. I, II und VIII mit Tinte, Nr. V mit Bleistift<br />

durchstrichen worden, Lium Zeichen der Erledigung.<br />

Das Verständnis der gesamten handschriftlichen Aufzeichn;ungen<br />

ist dadurch beeinträchtigt, daß bislang ihre Herkunft aus Chardins<br />

Voyages en Perse nicht vollständig erkannt wurde. Nur für Nr. III<br />

bis Vln steht sie fest. 3)<br />

Für Nr. I mußte bisher als Quelle gelten eine Partie aus der deutschen<br />

Übersetzung <strong>von</strong> Saadis Bustan, die an die "Colligirte Reise­<br />

Beschreibung" des Adam Olearius in der Ausgabe <strong>von</strong> 1696 angehängt<br />

war.4) Wurm hatte hier in der Vorrede <strong>zum</strong> Bustan die Anregung<br />

für das (aus Nr. I geformte) Gedicht "Welch eine bunte Gemeinde!"<br />

3) Die Nachweise für Nr. IV und VII stammen <strong>von</strong> <strong>Katharina</strong> <strong>Mommsen</strong>. Für<br />

Nr. VII findet sich bei Burdach eine unrichtige Stellenangabe (a. a. 0 .) .<br />

") V gl. oben S. 80.


90 Verse <strong>zum</strong> Wien er Kongreß<br />

gefunden. Die späteren Kommentatoren übernahmen diesen Nachweis.5)<br />

Wenn nun der Anfang (Nr. I) der in Frage stehenden Goetheschen<br />

Aufzeichnungen nicht aus Chardin, sondern aus einem anderen Buch<br />

stammte, so war damit zugleich für die ungeklärte Aufzeichnung<br />

Nr. II alles unsicher geworden. Da bei Chardin keine Zaunkönige<br />

vorkommen, konnte mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß Nr. II<br />

ebenso wie Nr. I durch ein anderweitiges Quellenwerk angeregt<br />

wurde; womöglich durch Olearius oder deutsche Übersetzungen <strong>von</strong><br />

Saadis Gülistan und Bustan - jedoch auch dort findet sich nichts Entsprechendes.<br />

Hier aber läßt sich ein Ausweg zeigen, der eine neue Perspektive<br />

eröffnet. Dieselbe Stelle aus der Vorrede zu Saadis Bustan, die Wurm<br />

als Quelle für den Vers: "An Gottes Tisch sitzen Freund und Feinde"<br />

in jener deutschen Übersetzung nachwies, steht auch in französischer<br />

Übersetzung bei Chardin. Innerhalb eines Kapitels "De la Poesie"<br />

brachte Chardin als größeres Musterbeispiel persischer Dichtung die<br />

Vorrede zu Saadis Bustan. Die betreffenden Sätze stehen ziemlich zu<br />

Anfang. Sie lauten: 6)<br />

"Mais encore que Dieu soit en haut, en bas ct aux cotcz,<br />

11 ne ferme a nul des Pecheurs la porte de l'Officc,*<br />

La face de I a t e r r e e s t I a N a p [p] c des c s C r c a t ur e s ,<br />

Eta c e t t eta b I e dei arg e s s e r e gar d e t' 0 n I' a mi 0 u I' e n n e m i. **"<br />

[Zu * bemerkt Chardin: "Lieu OU l'on garde le manger." Zu **: "On re~oit tout<br />

le monde."]<br />

Es kann kein Zweifel sein: dies ist die wirkliche, unmittelbare Vorlage<br />

zu der Aufzeichnung I unseres Exzerptenblattes : "An Gottes<br />

5) Burdach äußert sich bei BcsprcdlUng der Handschrift nicht über die Herkunft<br />

<strong>von</strong> Nr. I (und II). Saadis Bustan in der <strong>von</strong> Wurm angegebenen deutschen<br />

Übersetzung nennt er aber als Quelle für "Welch eine bunte Gemeinde!." in der<br />

Jubiläumsausgabe (Bd. 5, S. 369).<br />

G) In der <strong>von</strong> Goethe benutzten Ausgabe (Amsterdam 1735): Bd. 3, S. 262.<br />

"Verschon uns Gott mit deinem Grimme" 91<br />

Tisch sitzen Freund und Feinde." Nicht zufällig steht dies auf einem<br />

Blatt mit andern Chardin-Notizen zusammen. In Chardins französischem<br />

Text tritt sogar das Spezielle, was Goethe beeindruckt hat, noch<br />

deutlicher in Erscheinung als in der deutschen Übersetzung eines<br />

Anonymus. 7) So ist in letzterer <strong>von</strong> "Tischtuch" (nappe) nicht die<br />

Rede. Das Wort verstärkt aber den bildlichen Eindruck erheblich.<br />

Gleiches ist <strong>von</strong> Chardins Anmerkungen zu sagen. Eine Übereinstimmung<br />

zeigt sich auch darin, daß in der französischen Übersetzung die<br />

entscheidende Wendung "I'ami ou l'ennemi" am Versende steht, wie<br />

"Freund und Feinde" bei Goethe.<br />

Daß Goethe durch Chardins Übertragung zu der Aufzeichnung<br />

"An Gottes Tisch sitzen Freund und Feinde" angeregt wurde, findet<br />

auch noch durch etwas anderes eine Bestätigung. Auf das Kapitel "De<br />

la Poesie", innerha1b dessen die obige Saadi-Partif!' steht, bezieht sich<br />

ausschließlich ein weiteres Blatt mit Goetheschen Exzerpten nach<br />

Chardin. An dem Kapitel fand Goethe offenbar besonderes Gefallen.<br />

So bemerkt er beifällig, es sei darin das "Naturel des Poeten<br />

schoen ausgedrukt."8) Am Schluß dieses Exzerptenblatts findet sich<br />

die Notiz:<br />

Saadi Anfang Chard. III 261.<br />

Das ist ein Hinweis auf die Vorrede <strong>von</strong> Saadis Bustan, dessen<br />

"Anfang" auf der vermerkten Seite steht. Die <strong>von</strong> uns als Vorlage für<br />

An Gottes Tisch sitzen Freund und Feinde" zitierte Partie gehört<br />

"<br />

aber noch <strong>zum</strong> Anfang jenes "Anfangs", sie beginnt mit der 19. Zeile<br />

(S. 262).<br />

Goethe war also auf die Bustan-Vorrede aufmerksam geworden.<br />

Wir können an Hand der beiden Exzerptenblätter verfolgen, welchen<br />

7) In der deutschen übersetzung lautet die Stelle: "Der große GOTT Himmels und<br />

der Erden aber schleust umb der Sünde willen vor niemanden die Gnaden-Thür<br />

zu; Die gegenwärtige und zukünfftige Welt ist ihm als ein Wasser-Tröpflein: Er<br />

schicbet den Vorhang sanfftmüthig zu; Die Erde ist alsdann sein Tisch vor alle<br />

Menschen / worinnen zwischen Freund und Feind kein Unterscheid befindlich."<br />

8) V gl. Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 149 f., Paralip. 139·


92 Verse zu m Wiener Kongreß<br />

Weg er bei seinen Arbeiten einschlug. Im dritten Teil der Chardinschen<br />

Reisebeschreibung interessierte ihn offenbar das Kapitel "De la<br />

Poesie" am meisten, was durch seine Thematik ohne weiteres verständlich<br />

ist. Infolgedessen las er dieses Kapitel vorweg. E s geschah<br />

das vermutlich am 6. Februar 1815. An diesem Tag entstand das ebenfalls<br />

durch Chardins Kapitel "De la Poesie" angeregte Gedicht "Vier<br />

Gnaden".9)<br />

Zu einem späteren Zeitpunkt - vielleicht erst im März 181 5 - kam<br />

Goethe nochmals auf die Stelle zurück, die er sich notiert hatte; er las<br />

jetzt "Saadi Anfang"sorgfältiger und schrieb daraufhin die Skizze für<br />

ein Gedicht nieder: "An Gottes Tisch sitzen Freund und Feinde". Mit<br />

dieser Skizze begann nun ein zweites Exzerptenblatt nach Chardin,<br />

auf dem weiter unten Aufzeichnungen aus andern, vorhergehenden<br />

Kapiteln des drit~n Teils der Voyages ·en Perse zu stehen kamen.<br />

Offenbar war Goethe an ·dem Tag, an dem er diese Aufzeichnungen<br />

machte, in besonders dichterischer Stimmung. In nicht weniger als vier<br />

Fällen, so sahen wir, formten sich die Lektüreeindrücke unmittelbar<br />

zu Gedichtskizzen. Darin unterscheidet sich dies Exzerptenblatt völlig<br />

<strong>von</strong> fünf andern mit Chardin-Notize n angefüllten Blättern, die auf<br />

uns gekommen sind. Hier dienen die N otizen fast ausschließlich der<br />

Gedächtnishilfe und Belehrung: interessante Stel len mit ihren Seitenzahlen<br />

werden festgehalt:en.9a)<br />

Kehren wir zu unserer Frage zurück, vo n woher die Aufzeichnung<br />

Nr. II des uns interessierenden Exzerptenblattes stammt, so kann die<br />

Antwort jetzt nicht mehr schwer sei n: sie muß gleichf~lls auf Chardin<br />

beruhen, da sich nunmehr der gesamte übrige Inhalt des Blattes als<br />

auf diesen Autor bezüglich erweist.<br />

Wir haben oben bei einem ähnlichen Fall gesagt, daß Rätselhaftes<br />

auf Goetheschen Notizblättern sich u. U. durch Beachtung des Nacheinander<br />

in der Handschrift klären läßt.10) Genau dieser Weg führt<br />

9) Goethe entlieh Chardins Voyagcs cn Perse aus der Weimarer Bibliothek 2). Januar.<br />

bis 19. Mai 181). Vgl. unten S. II4.<br />

9 a ) V gl. WA I 7, S. 28) ; Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 146 H.<br />

10) V gl. oben S. 1).<br />

"Verschon uns Gott mit deinem Grimme" 93<br />

uns auch hier <strong>zum</strong> Ziel. Wenn die auf solche Weise gefundene V orlage<br />

zu der Aufzeichnung: "Zaunkönige gewinnen Stimme" etwas<br />

anders aussieht, als man zunächst er·wartet, so wird uns das nicht<br />

wundernehmen. Wäre sie <strong>von</strong> einfacherer Beschaffenheit, so hätte sie<br />

nicht so lange verborgen bleiben können.<br />

Lesen wir unmittelbar ansch ließend an die Partie aus der französischen<br />

Übersetzung der Bustan-Vorrede <strong>von</strong> Saadi, welche die Aufzeichnung<br />

Nr. I eingegeben hat, weiter, so treffen wir sehr bald auf<br />

die Vorlage <strong>von</strong> Aufzeichnung Nr. II unseres Exzerptenblatts. Es<br />

heißt darin - auf derselben Seite 262 des dritten Teils <strong>von</strong> Chardin,<br />

aus der wir oben zitierten -:<br />

"E t ace t t eta b I e dei arg c s s c r e ga r cl c t' 0 n I ' a m i 0 u I' c n n e m i.<br />

Que si quelque malfaisant etoit saisi par sa ma in victoricuse,<br />

Qui est ce qui se tireroit sain et sauf d e I a m ai n des a c 0 I e r e ?<br />

Tous les etres, <strong>von</strong>t parfaisant ses ordres<br />

Tant Fils des H ommes, qu'Oiseaux, Fourmis ct MOllches,<br />

Et a l a t a b I e des a b ci: n ci: f i c e a I'hellre dll ma nger<br />

L'Oiseau SIMOURG vient du munt de Kaf prcndrc sa refection ...<br />

[Es folgen nun antithetische Beispiele vom Zorn und der Milde Gottes.]<br />

Si pour r e v e i Il e r s a c r a i n te dans !es ames i I t ire I' c p e e<br />

de sajLlst i ce,<br />

Les An g e s qui en sont les Mi n ist r es d e v i e n n e n t SOLI r d s<br />

et mLl ets;<br />

Mais s'il profere Lln 0 c t r 0 i dem i s e r i c 0 r d e :<br />

L e pet i t H e Z fl Z i l* c r i e r a, j' e n v e LI x fa ire la pro c I a m a t ion.<br />

[Zu * bemerkt Chardin: 0 i s e a LI p ILI S pet i t q LI ' LI n Mo i Cl e a u, renomme<br />

en Perse pOllr son plLlmage et pour son ra mag e.]<br />

Stellen wir fest, was hier alles mit Goethes Versen:<br />

Verschon uns Gott mit deinem Grimme!<br />

Zaunkönige gewinnen Stimme<br />

übereinstimmt, so ergibt sich:


94 Verse <strong>zum</strong> Wien er Kongreß<br />

I. Im Anschluß an die Stelle, die den Satz "An Gottes Tisch sitzen<br />

Freund und Feinde" inspirierte, spricht die Bustan-Vorrede Saadis<br />

<strong>von</strong> einem persischen Vogel, an dem seine Kleinheit das Besondere<br />

ist: <strong>von</strong> dem "petit Hezazil". Wie klein der Vogel ist, wird in Chardins<br />

Anmerkung eigens hervorgehoben: kleiner als ein Spatz. Des<br />

Zaunkönigs bezeichnende Eigenschaft ist gleichfalls seine Kleinheit.<br />

Die Fabel vom Adler und Zaunkönig basiert auf dieser Eigenschaft.<br />

2. Die charakteristische Tätigkeit des sehr kleinen Vogels ist in Saadis<br />

Schilderung das Rufen, Ausrufen (crier, faire la proclamation). Chardins<br />

Anmerkung unterstreicht auch diesen Zug: der persische Vogel<br />

ist berühmt durch seinen Gesang (ramage).<br />

3· Gleichfalls - und dies Zusammentreffen ist entscheidend - ist bei<br />

Saadi die Rede <strong>von</strong> Gottes "Grimm" (colere) - die ganze Partie der<br />

Bustan-Vorrede kreist um dies Thema. Und zwar wird dabei in vielfacher<br />

Wiederholung antithetisch gegenübergestellt: Gott vermag zu<br />

zürnen, er vermag aber auch <strong>von</strong> seinem Zorn abzusehen und milde<br />

zu erscheinen. In Goethes Vers "Verschon uns Gott mit deinem<br />

Grimme!" sind die bei den Elemente enthalten, nur ist aus der Antithese<br />

eine Synthese geworden. Das antithetische Hin und Her, das<br />

wir oben ausließen - vgl. die eckige Klammer im Zitat -, nimmt sich<br />

bei Saadi so aus:<br />

... Il pose it I'UIl une couronne de gloirc Sur la tete,<br />

Il jette I'autrc eil bas du Throne dans Ja poussiere:<br />

Il pare I'un d'un manteau dc fclicite.<br />

II couvre I'autre d'un sac de malheurs,<br />

Il rend Je feu dans lcqucJ Abraham cst jette un rasier,<br />

II consume Je peuplc cnncmi dans un feu tin~ des eaux<br />

du Nil,<br />

S'il fait le premier, c'est un e manifestation de son<br />

soin paternei,<br />

S'il fait l'autre, c'est pour etabJi[ la main de son pouvoir.<br />

II perce pleinement le voile dont on couvre les actions<br />

mauvaises;<br />

"Verschon uns Gott mit deinem Grimme" 95<br />

Mais il etend dessus ces actions le voile de sa misericorde:<br />

Si pour [(!veiller . .. [Weiter wie oben.]<br />

Am Ende di,eser <strong>von</strong> Gottes "Grimm" und seinem "Verschonen"<br />

handelnden Antithesen steht dann bei Saadi das Beispiel <strong>von</strong> den<br />

Engeln, den "Ministres", die "stumm und taub" bleiben beim Zorn,<br />

vom kleinen Vogel Hezazil, der "schreien wird" beim Eintritt der<br />

Milde Gottes. Damit ist der Höhepunkt der ganzen Partie und ein<br />

Abschnitt erreicht. Die Behandlung des Themas bei Saadi wechselt<br />

nun.<br />

Diesen Höhepunkt hat Goethe festgehalten in der Aufzeichnung<br />

"Zaunkönige gewinnen Stimme", die er später ergänzte durch die<br />

Zeile "Verschon uns Gott mit deinem Grimme!". Daß er den hübschen<br />

Namen des persischen Vogels "Hezazil" nicht brauchen konnte,<br />

liegt auf der Hand. Er änderte ihn, gemäß einer Gepflogenheit, die<br />

im Bereich des Divan öfter zu beobachten ist: allzu Exotisches - an<br />

Namen beispielsweise - wurde gelegentlich durch vertrauter Klingendes<br />

ersetzt.<br />

Das Nacheinander der beiden Aufzeichnungen Nr. I und II in dem<br />

Exzerptenblatt, <strong>von</strong> dem wir ausgingen, hat also seine Entsprechung<br />

in der Quelle. Auch dort stehen beide Anregungsstellen dicht hintereinander.<br />

Wir verstehen nun auch, warum Goethe in der Handschrift<br />

eine Schlußklammer erst hinter Aufzeichnung Nr. II setzte. :Die beiden<br />

Notizen werden dadurch zusammengcfaßt, weil sie auf dieselbe Stelle<br />

bei Chardin zurückgehen. Von Aufzeichnung Nr. Irr ab begann Goethe<br />

dann aus einer andern Partie der Voyages en Perse Aufzeichnungen<br />

zu machen. Er sprang zurück <strong>von</strong> Seite 261 auf Seite 3I.<br />

Was gewinnen wir nun an Aufschlüssen über die Bedeutung des<br />

Goetheschen Zweizeilers <strong>von</strong> den Zaunkönigen, nachdem wir die<br />

Möglichkeit haben, die Quelle zur Interpretation mit heranzuziehen?<br />

Das Gedicht bereitete dem Verständnis <strong>von</strong> jeher Schwierigkeiten. Es<br />

gehört, so kurz und unscheinbar es ist, zu den dunkelsten des ganzen<br />

Divan.


96 Verse <strong>zum</strong> Wien er Kongreß<br />

Gehen wir aus <strong>von</strong> dem Wort Zaunkönig, das zweifellos zentrale<br />

Bedeutung hat. Der Zaunkönig ist ein notorisch kleiner Vogel, auch<br />

eignet ihm eine besonders kräftige "Stimme". Mit diesen Eigenschaften<br />

konnte er Saadis "petit Hezazil" recht gut repräsentieren. Doch ist<br />

noch weiteres in Betracht zu ziehen. Mit dem Zaunkönig wird gewohnheitsmäßig<br />

in Verbindung gebracht - dafür sorgt die bekannte<br />

Fabel - der Adler, sein großer gegensätzlicher Partner. Bei dem<br />

Allerkleinsten denkt man zugleich an den Größten, Vornehmsten,<br />

Erhabensten. Nun steht aber auch bei Saadi der "petit Hezazil" in<br />

Gegensatz zu etwas sehr G roßem: nämlich zu den "Engeln", den<br />

"Ministres". Auf diesem Gegensatz beruht die Pointe: wenn Gottes<br />

Zorn sich zeigt, dann werden diese Engel und "Ministres" stumm<br />

und taub. Läßt er nach, dann "schreit" der kleine Hezazil begeistert.<br />

D ieser Zug der Quelle mag vor allem in Goethes Phantasie das Bild<br />

des Zaunkönigs hervorgerufen haben. 10a)<br />

Und nun müssen wir uns erinnern : auch Goethe hat sich während<br />

einer langen Periode, in der "Gottes G rimm" schlimme Zeiten schuf,<br />

stumm und taub verhalten gleich jenen "Ministres" bei Saadi. Das<br />

im Sommer 1814 gedichtete Festspiel "Des E pimenides Erwachen"<br />

legt hier<strong>von</strong> Bekenntnis ab: darin weist Goethe auf sich und sein Verhalten<br />

während der napoleonischen Kriege - in der Gestalt des Weisen,<br />

dcr Zeiten äußerster Wirren im Sc h l a f vcrbrachte. An diese<br />

Epimenides-Situatio n wurde Goethe offcnbar erinnert, als er im Frühjahr<br />

1815 Saadis Bustan-Vorrede bei Chard in las.<br />

"Des Epimcnides Erwachen" beschäftigte Gocthe gerade in dieser<br />

Zeit aufs neue. "Epimenides spukte", heißt es am 4. März 1815 in seinem<br />

Tagebuch. E s stand näml ich ·d ie Uraufführung des Festspiels in<br />

Berlin bevor, doch waren seit längerer Zeit Gerüchte in Umlauf, sie<br />

könnte aus politischen Gründen inhibiert werden. Da ist es wohl verständlich,<br />

daß unter solchen Sorgen die innere Nähe zu seinem Stück<br />

Goethe doppelt empfänglich machte für die Parallele, die er bei Saadi<br />

10a) Auch die Erwähnung des Vogels Simurg (oben S. 93) war geeignet, an den<br />

Bereich der ornithologischen Fabel zu gemahnen. Beim Simurg handelt es sich<br />

NB um einen Wundervogel <strong>von</strong> sagenhafter Größe.<br />

"Verschon uns Gott mit deinem Grimme" 97<br />

fand. Auch der orientalische Dichter, so sah man hier, wußte etwas<br />

da<strong>von</strong>, daß unter Umständen in schlimmer Zeit gerade die Größten<br />

paralysiert, stumm und taub sind. Saadi fügte dem nun einen reizvoll<br />

eigenartigen Zug hinzu: die Kleinen und Kleinsten erheben sogleich<br />

ihre Stimme, werden laut, wenn göttliche Milde eintritt und die Wolken<br />

sich verziehen. Goethes Gedicht <strong>von</strong> den Zaunkönigen greift das<br />

Motiv vom Schreien der Kleinen auf, bringt aber eine neue, mit Saadi<br />

kontrastierende Wendung hinzu. Bei Goethe ist das "Stimme Gewinnen"<br />

der "Zaunkön ige" nicht ein Zeichen, daß bessere Zeiten gekommen<br />

sind, sondern daß womöglich Gottes "Grimm" jetzt ganz unmittelbar<br />

droht. D as Sichwichtigmachen der Zaunkönige ist erst recht<br />

unerträglich.<br />

Genau genommen setzt Goethe sich zu Saadis Gedanken in Widerspruch,<br />

während er dessen Bild benutzt. Das Zaunkönig-Gedicht steht<br />

somit in replikartigem Verhältnis zu der Vorlage. Fälle dieser Art<br />

sind im Bereich <strong>von</strong> Goethes Quellenbenutzung keine Seltenheit. Gerade<br />

Autoren, die ihm wichtig sind, reizen ihn gelegentlich zu dichterischer<br />

Replik. Es entsteht dann eine lebhafte Auseinanderset~ung,<br />

ein geheimes Gespräch.11)<br />

Die Zusammenhänge mit Saadis Bustan-Vorrede machen es deutlieh:<br />

"Verschon uns Gott mit deinem Grimme!" ist ein politisches<br />

Gedicht. Es ist nun auch leicht zu erkennen, worauf darin angespielt<br />

wird: auf das Ereignis, das im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses<br />

stand, als das Gedicht geschrieben w urde - den Wiener Kongreß. Dieser<br />

stellte, mit Goethes Augen gesehen, gerade das dar, worauf seine<br />

Spottverse hindeuten: eine Versammlung <strong>von</strong> Zaunkönigen, die<br />

"Stimme gewinnen", politisieren d ürfen, nachdem der Adler Napoleon<br />

seinen Flug beendet hatte.<br />

Goethes kritische Einstellung gegenüber dem Wiener Kongreß ist<br />

zur Genüge bekannt, wenn er auch aus begreiflichen Gründen mit<br />

Meinungsbekundungen vorsichtig sein mußte. In den Briefen <strong>von</strong><br />

1814/ 1815 findet sich manche Äußerung der tiefen Skepsis über den<br />

11) V gl. <strong>Katharina</strong> <strong>Mommsen</strong>: Goethe und Diez. Berlin 1961. S. 317 fI.<br />

7 <strong>Mommsen</strong>, Divan-Studien


98 Verse <strong>zum</strong> Wiener Kongreß<br />

W · W' "12) d ß<br />

" lener lrrwarr ,en "gro en Hexenkessel" 13), den er stets nur<br />

"furchtsam und ungläubig" betrachtete.14) Deutlicher gab er seinem<br />

Unwillen Ausdruck in einer Anzahl <strong>von</strong> derben Spottgedichten, die er<br />

jedoch sorgfältig sekretierte. Sie wurden erst nach seinem Tode veröffentlicht<br />

und stehen jetzt in den Nachlaßabteilungen 8 und 9 der<br />

Zahmen Xenien.<br />

Ein Gedicht erschien allerdings schon bei Goethes Lebzeiten, innerhalb<br />

der Abteilung "Gott, Gemüth und Welt". Und dies wirkt geradezu<br />

wie eine Parallele zu dem Zaunkönigs-Gedicht des Divan:<br />

Sind Könige je zusammengekommen,<br />

So hat man immer nur Unheil vernommen.15)<br />

Ausgerechnet die Ausgabe <strong>von</strong> Goethes Werken, die I8I6 in Wien<br />

erschien, enthielt bekanntlich als einzige diese Verse. In der Stuttgarter<br />

Ausgabe <strong>von</strong> I8I5 waren sie - vom Zensor oder Korrektor -<br />

unterdrückt, und Goethe hat sie auch später nicht mehr veröffentlicht.<br />

Die Pointe des Gedichts, liest man es im Zusammenhang mit seiner<br />

Umgebung in "Gott, Gemüth und Welt", liegt darin, daß das "Unheil"<br />

resultiert aus dem Fehlen der eigentlichen Autorität über den<br />

Königen.16)<br />

12) An earl August, 27. Dezember 1814. WA IV 25, S. " 7.<br />

13) An G . Sartorius, Mitte Januar 1815. WA IV 25, S. ' 5 r.<br />

110) An C. G . v. V oigt, ' 3. M ai 1815: "Zu den Wicncr Nachrichten läßt sich freylich<br />

nichts sagen als daß man wohl recht beha lten wird insofern man furchtsam und<br />

ungläubig war." (W A IV 25, S. )26.)<br />

15) WA I 5 (2), S. 396.<br />

16) Im Anschluß an das Gedicht <strong>von</strong> den "Königen" heißt es:<br />

Dagegcn die Ba uern in d er Schenke<br />

Prügeln sich gleich mit den Beinen der Bänke.<br />

Der Amtma nn schnell das Übel stillt,<br />

Weil er nicht für ihres Gleichen gilt.<br />

"Verschon uns Gott mit deinem Grimme" 99<br />

Gleichfalls eine Parallele zu dem Zaunkönigs-Gedicht findet sich<br />

in einem Bericht, betitelt "Wiener Congreß", den Goethe wohl im<br />

Frühjahr 18I5 auf Grund ihm zugegangen er Privatnachrichten zusammenstellte.<br />

Hier heißt es: 17)<br />

"Die Mi n der m ä c h ti ge n e r heb e n ihr e S tim m e am<br />

I6 November gedrängt durch eine Note der M ä c h t i gen vom<br />

nten die <strong>von</strong> Etats provenciaux tutelaires spricht."<br />

Die Wendung "Zaunkönige gewinnen Stimme" steht dem nahe.<br />

An die Zweizeiler <strong>von</strong> den "Könige n" und den "Zaunkönigen" erinnert<br />

auch die Art und Weise, wie hier in dem sachlichen Bericht auf<br />

die "Macht"-Frage hingedeutet wird. Offenbar liegt allen drei Zeugnissen<br />

eine gemeinsame Denk- und Betrachtensweise zugmnde. Sie<br />

lassen im Querschnitt Goethes politische Meinung erkennen auf einem<br />

ganz bestimmten Gebiet: dem seiner Einstellung <strong>zum</strong> Wiener Kongreß.<br />

Es erklärt sich nun auch, warum das Zaunkönig-Gedicht sich so<br />

dunkel und sybillinisch ausnimmt. Es ist ei n Politicum, vergleichbar<br />

Heines Spöttereien über die 36 Fürsten Germaniens. Darum ist seine<br />

Sprache geheimnisvoll, versteckt. Träte die Ironie deutlicher zutage,<br />

so hätte es nicht veröffentlicht werden können, es wäre, wie 'üblich,<br />

sekretiert worden. Mit Gedichten dieser Art pflegte Goethe sich im<br />

Stillen "Dinge vom Halse zu schaffen", wie Boisseree berichtet auf<br />

Grund <strong>von</strong> Gesprächen im Sommer 181 5: 18)<br />

" So habe er seinen Aerger, Kummer u. Vcrdruß über die Angelegenheit [en] des<br />

Tages, Politik u. s. w . gewöhnlich in eincm Gedicht ausgelassen, es sey eine Art<br />

Bedürfniß und Herzcns-Erleichterung, Sedes poeticae. Er schaffe sich so die Dinge<br />

vom Halsc, wenn er sie in Gcdichde] bringe. Sonst habe er dergleich[en] immer<br />

verbrannt ... "<br />

Bei dcn Königen fehlt der "Amtmann", der Autorität genug hätte, ihre Händel<br />

zu schlichten.<br />

1'7) WA 153, S. 415 .<br />

18) Biedermann 2, )23. Firmenich-Richartz S. 404.<br />

7*


100 Verse <strong>zum</strong> Wiener Kongreß<br />

Als Goethe an einem Tag des Februar oder März 1815 jene Aufzeichnungen<br />

nach Chardin machte, die gleich in vier Fällen zu Gedichtskizzen<br />

führten, war er, wir sagten es, in besonders dichterischer<br />

Stimmung. Anscheinend war es aber speziell eine politische Stimmung,<br />

die ihn beherrschte. Denn die vier Gedichte, die er so entwarf, tragen<br />

alle, wenn man es recht besieht, eine politische Note. Das wird besonders<br />

evident, wenn man den Schlüssel zur Deutung des Zaunkönig­<br />

Gedichts besitzt. Wir setzen die vier Gedichte <strong>zum</strong> Abschluß hierher,<br />

weil sie sämtlich jetzt mehr <strong>von</strong> ihrer eigentlichen Tendenz verraten.<br />

(Übrigens stehen die drei letzten Gedichte auch im Divan hintereinander.<br />

Das erste wurde dort ersetzt durch den Vierzeiler: "Überall<br />

will jeder obenauf seyn, / Wie's eben in der Welt so geht", der in seinem<br />

Anfang jedenfalls auch nach Politik klingt.)<br />

"Verschon uns Gott mit deinem Grimme" 101<br />

den Wien er Kongreß erhielt, findet sich ein Passus, der an die Wendung<br />

"bunte Gemeinde" in dem etwa gleichzeitigen Gedicht erinnert.<br />

Hier schreibt Goethe (16. Februar 1815): "Unsere gnädigsten Herrschaften<br />

sind noch in Wien, wir haben wenig Hoffnung sie so bald<br />

wiederzusehen. Wie es übrigens mit der europäischen Christenheit<br />

steht, wissen Sie besser als ich, und haben gewiß daran so wenig<br />

Freude als ich." 19.)<br />

19a) WA IV 25, S. 193. Die letzten neun Worte stehen nur im Konzept, im Original<br />

wurden sie bezeichnenderweise gestrichen.<br />

Welch eine bunte Gemeinde!<br />

An Gottes Tisch sitzen Freund und Feinde.<br />

Verschon uns Gott mit deinem Grimme!<br />

Zaunkönige gewinnen Stimme.<br />

Will der Neid sich doch zerreißen,<br />

Laß ihn seinen Hunger speisen.<br />

Sich im Respect zu erhalten<br />

Muß man recht borst!g seyn.<br />

Alles jagt man mit Falken,<br />

Nur nicht das wilde Schwein.<br />

Das erste Gedicht dürfte gleichfalls eine Anspielung auf den Wiener<br />

Kongreß enthalten. So wie Freund und Feind an "Gottes Tisch"<br />

sitzen, so kamen in Wien am runden Tisch die Parteien zusammen als<br />

ebenfalls recht "bunte Gemeinde". In einem Brief an den Göttinger<br />

Historiker Sartorius,19) durch den Goethe private Informationen über<br />

HJ) V gl. unten S. 104.


"Keinen Reimer wird man finden"<br />

103<br />

VERSE ZUM WIENER KONGRESS<br />

11. "K ein e n Re im er wir d man f in den"<br />

Keinen Reimer wird man finden<br />

Der sich nicht den besten hielte,<br />

Keinen Fiedler der nicht lieber<br />

Eigne Melodieen spielte.<br />

Und ich konnte sie nicht tadeln;<br />

Wenn wir andern Ehre geben<br />

Müssen wir uns selbstentadeln.<br />

Lebt man denn wenn andre leben?<br />

Und so fand ich's denn auch juste<br />

[Hl0: Und so sah ich es auch juste]<br />

In gewissen Antichambern,<br />

Wo man nicht zu sondern wußte<br />

Mäusedreck <strong>von</strong> Koriandern.<br />

Das Gewes'ne wollte hassen<br />

Solche rüstige neue Besen,<br />

Diese dann nicht gelten lassen<br />

Was sonst Besen war gewesen.<br />

Und wo sich die Völker trennen,<br />

Gegenseitig im Verachten,<br />

Keins <strong>von</strong> bei den wird bekennen<br />

Daß sie nach demselben trachten.<br />

Und das grobe Selbstempfinden<br />

Haben Leute hart gescholten,<br />

Die am wenigsten verwinden,<br />

Wenn die andern was gegolten.<br />

Als Goethe sich 1814 auf seine Fahrt an Rhein und Main begab,<br />

entstanden am zweiten Reisetag, dem 26. Juli, zwei längere politische<br />

Gedichte, die später im Buch des Unmuts des West-<strong>östlichen</strong> Divan<br />

plaziert wurden: "Keinen Reimer wird man finden" und "Übermacht,<br />

ihr könnt es spüren". Die Gedichte drücken manches aus <strong>von</strong> der<br />

Trutz- und Fluchtstimmung, die Goethe damals beherrschte, der Stimmung,<br />

die einerseits durch das soeben beendete Festspiel "Des Epimenides<br />

Erwachen" gekennzeichnet ward, anderseits durch das den<br />

Divan einleitende Gedicht "Hegire".<br />

Das Gedicht "Keinen Reimer wird man finden" wurde am 23. Dezember<br />

1814 nochmals überarbeitet. Wie das im einzelnen geschah, ist<br />

nicht bekannt. Auf jeden Fall kam damals die dritte Strophe erst<br />

hinzu, mit der wir uns im folgenden beschäftigen wollen. Wir hatten<br />

oben da<strong>von</strong> gesprochen, daß diese Strophe sich gesondert auf einer<br />

Handschrift - H 10 - findet, die wir datieren konnten auf die Zeit<br />

zwischen 7. und 15. Dezember 1814.1) Im Zusammenhang mit dieser<br />

Datierung läßt sich über Inhalt und Entstehung der merkwürdigen<br />

vier Verse etwas Näheres sagen.<br />

Die dritte Strophe <strong>von</strong> "Keinen Reimer wird man finden" fällt<br />

auf durch besonders eigentümliche Wendungen: Antichambre, Mäusedreck,<br />

Koriander - man gewinnt den Eindruck, als handele es sich<br />

hier um mehr als allgemeines Politisieren, als verbärgen sich Anspielungen<br />

dahinter, die auf ganz Bestimmtes zielen. Nachdem wir eine<br />

Vorstellung haben, aus welcher Zeit die Verse stammen, eröffnet sich<br />

eine Möglichkeit, ,den Sinn dieser Anspielungen zu verstehen. Sie beziehen<br />

sich allem Anschein nach auf den Wiener Kongreß, und zwar<br />

genauer: auf Mitteilungen über den Kongreß, die Goethe Anfang<br />

Dezember 1814 erhielt.<br />

1) Vgl. oben S. 48 f.


I<br />

104 Verse <strong>zum</strong> Wiener Kongreß<br />

"Keinen Reimer wird man finden"<br />

105<br />

Der Göttinger Historiker Georg Sartorius, ein Freund Goethes,<br />

später verehrter Lehrer Heines, nahm eine Zeitlang am Wien er Kongreß<br />

teil. Er begleitete Carl August dorthin auf Wunsch Goethes und<br />

der Herzogin Luise, reiste aber schon Ende Dezember 1814 wieder ab,<br />

nachdem er manche unerfreuliche Erfahrungen gemacht hatte. Interessant<br />

in unserem Zusammenhang sind zwei Sendungen, die Goethc<br />

Anfang Dezember 1814 <strong>von</strong> Sartorius aus Wien erhielt: ein Brief vom<br />

17· November 1814, in dem Sartorius einen Aufsatz über die Wiener<br />

Kongreß-Politik ankündigt, und dann dieser Aufsatz selbst. In Sartorius'<br />

Brief stehen nun Wendungen, die in auffälliger Weise an die<br />

dritte Strophe <strong>von</strong> "Keinen Reimer wird man finden" erinnern. Hier<br />

lesen wir: 2)<br />

"Wir werden hier in einer Hex e n k ü ehe ge s eh m 0 r t, gegen welche die,<br />

so im Faust zu schauen steht, eine Art <strong>von</strong> boudoir ist. über die K ü ehe und<br />

die K ö ehe, so wie über das, was daselbst b e r e i t e t wir d, habe ich ein<br />

kleines Werk geschrieben, welches zu seiner Zeit Ihnen, Verehrtester, und sonst niemanden<br />

mitgetheilt werden soll." Ein "gemildertes Compendium" aus dem "Werk",<br />

für die Herzogin, Minister Voigt und Goethe bestimmt, gehe mit gleicher Post ab.<br />

Sartorius klagt dann über Schwierigkeiten in seiner persönlichen Situation beim<br />

Kongreß; er konnte sich im Gefolge Carl Augusts gegen Intrigen nicht durchsetzen,<br />

besonders wohl nicht gegen den einflußreichen, preußen freundlichen Minister<br />

v. Gersdorff. Hierüber schreibt er u. a.: "Unter dem seltsamen Vorwande, ich könne<br />

als Hannoveraner nicht zu des Herzogs Gefolg gezä hlt werden .. . bin ich wirklich<br />

ausgeschlossen worden, ich habe ihn nirgends hin begleiten dürfen und bin nirgends<br />

vorgestellt worden, so daß ich ungefähr d a z u S c h a u e nd a r f, woK a m _<br />

merdienern und Lakaien auch der Z utritt unversagt<br />

bl ei b t." D as heißt: in der Antichambrel Sartorius schließt seinen Brief: "Gott<br />

aber wolle Sie vor solcher Hex e n k ü e h e bewahren; wie weise haben Sie gehandelt,<br />

nicht hierher zu kommen I"<br />

Diese Mitteilungen des Mannes, der so etwas wie ein persönlicher<br />

Gesandter Goethes auf dem Wiener Kongreß war, haben offenbar<br />

jene dritte Strophe <strong>von</strong> "Keinen Reimer wird man finden" inspiriert: 3)<br />

2) Goethe Briefwechsel mit Georg und Caroline Sartorius. Weimar 193I. S. 14) ff.<br />

3) Wortlaut und Schreibung wie in HlO (siehe oben S. 48 und 103).<br />

Und so sah ich es auch juste<br />

In gewissen Antichambern<br />

Wo man nicht zu sondern wusste<br />

Mäusedrek <strong>von</strong> Coriandern.<br />

Auf dem Kongreß, in den "gewissen Antichambern", dies ist der<br />

Sinn, geht alles durcheinander. Das unwürdige Antichambrieren des<br />

Freundes Sartorius ist symptomatisch für das ganze chaotische Kongreßwesen.<br />

Man erkennt dort das Echte und Wichtige ("Koriander")<br />

nicht, das Schlechte ("Mäusedrcck") wird mit ihm verwechselt und<br />

bevorzugt. Durch Sartorius' Erwähnungen der Hexenküche im Faust<br />

kam Goethc wohl auf das Gleichnis <strong>von</strong> Mäusedreck und Koriander.<br />

Auch dieses ist ja der Küchenspradle entnommen. Und zwar deutet<br />

es auf Chaos und Unordnung in der Küche, wenn Gewürz und Unrat<br />

vom Koch durcheinandergemengt werden. In diesem Sinn war die<br />

Wendung "Mäusedreck und Pfeff·er" früher sprichwörtlich (Luther,<br />

Hans Sachs).4)<br />

Wie stark der Vergleich des Wicner Kongresses mit der Hexenküche<br />

in Sartorius' Brief sich Goethe eingeprägt hat, bezeugt sein Antwortbrief<br />

<strong>von</strong> Anfang/Mitte Januar 1815."") "Ihr Aufsatz", so schreibt er<br />

an Sartorius, "hatte mich freylich sdlon mit dem Re c i p e des g r 0 -<br />

ß e n Hex e n k e s se i s bekannt gemacht, allein ich hätte denn doch<br />

die nähern I n g red i e n z i e nun d di e W ü r z e zu erfahren gewünscht."<br />

(Sartorius hatte den Dichter inzwischen auf der Durchreise<br />

in Weimar verfehlt.) Wie hier vom Rezept des Hexenkessels, <strong>von</strong><br />

Ingredienzien und Würze gesprodlen wird, das erklärt uns am besten<br />

den Inhalt jener Strophe -darin wird auf solche Ingredienzien und<br />

Würzen angespielt.5) Übrigens tröstet Goethe in seinem Schreiben<br />

~) Vgl. West-östlicher D ivan <strong>von</strong> Goethe. Hrsg. <strong>von</strong> G. v. Loeper. Berlin 1872.<br />

S. 79. Max Morris, Der junge Goethe, Bd. 6. Leipzig 1912. S. 302.<br />

F,a) WA IV 2l, S. III ff.<br />

5) Als "Z a u b e r k e s sei der Interessen" wird der Wiener Kongreß auch bezeichnet<br />

in einem Brief des Weimarischen Ministers v. Gersdorff an Goethe<br />

(17. Nov. 1814. Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar. Eing. Br. 1814, 442).


106 Verse · <strong>zum</strong> Wiener Kongreß<br />

Sartorius auch über dessen aufgezwungenes Antichambrieren: "DUN<br />

Unangenehme, was Sie erduldet, wird in kurzer Zeit verschwinden<br />

gegen die Vortheile, die Ihnen für's ganze Leben zurückbleiben . . . ':<br />

. Die Wendung "Mäusedreck und Coriander" brauchte schon d r<br />

Ju~ge Goethe in seinem "Fastnachtsspiel vom Pater Brey". In den<br />

DIvan-Kommentaren wird hierauf mit Recht regelmäßig verwiesen.<br />

Offenbar erinnerte sich Goethe durch Sartorius' Erwähnung der Hexenküche<br />

im Faust an das barocke, der Küchensprache entlehnt<br />

Gleichnis in dem anderen Jugendwerk und ward angeregt, es zu zitieren.<br />

Im "Pater Brey" deutet die Metapher ganz ähnlich wie im Divan<br />

hin auf eine Art Durcheinander im "Gouvernement" (V. 181):<br />

Ich bin ein reicher Edelmann<br />

Habe gar viel Gut und Geld<br />

Die schönsten Dörfer auf der Welt<br />

Aber mir fehlts am rechten Mann<br />

Der all das guberniren kann.<br />

Es geht, geht alles durcheinander<br />

Wie Mäusedreck und Coriander<br />

Die Nachbarn leben in Zank und Streit<br />

Unter Brüdern ist keine Einigkeit ...<br />

Chaos im Bereich des Obrigkeitlichen, Fehlen der leitenden Autorität<br />

- das waren Dinge, die Goethe auch am Wiener Kongreß kritisierte.<br />

Wir begegneten oben einigen Versen, die gerade unter diesen<br />

Aspekten das "Zusammenkommen der Könige" bespotteten.6) Es läßt<br />

sich jetzt besser begreifen, warum dem Dichter durch Sartorius' Brief<br />

diese Stelle des "Pater Brey" ins Gedächtnis kam: sie drückt präzis<br />

Gedanken aus, die sich ihm in jenen Tagen bei Erhalt der Nachrichten<br />

aus Wien aufdrangen.<br />

Ü) V gl. oben S. 98.<br />

"Spricht man mit jedermann"<br />

107<br />

Dafür, daß die dritte Strophe <strong>von</strong> "Keinen Reimer wird man finden"<br />

durch Sartorius' Sendungen angeregt wurde, sprechen aber wei-.<br />

I ("I" au ch die gut übersehbaren chronologischen Verhältnisse. Der <strong>von</strong><br />

Ilcxcnküche und Antichambrieren handelnde Brief traf wohl am<br />

I. Dezember 1814 in Weimar ein.7) Sartorius' Aufsatz über die Wiener<br />

Kll ngreß-Politik ging zunächst an die Adresse der Herzogin Luise.<br />

N:lchdem diese ihn gelesen hatte, wurde er durch C. G. v. Voigt an<br />

l ;' H.:the geschickt, der sich inzwischen in Jena aufhielt,s) Goethe erhielt<br />

ih ll am 6. Dezember und las ihn alsbald am 7· Dezember 1814 (Tagehllch).<br />

Zwischen 7. und 15. Dezember entstand aber - wie wir oben<br />

,liI hen _ die Handschrift H10, auf der die dritte Strophe <strong>von</strong> "Keinen<br />

I{ 'imer wird man finden" niedergeschrieben ist. Das läßt darauf<br />

/,chließen, daß die Verse mit den Parallelen zu dem Sartoriusbrief<br />

IIl1nüttelbar unterm Eindruck der Lektüre des Aufsatzes über die<br />

Wicner Kongreß-Politik geschrieben wurden: am 6. oder 7· Dezember<br />

IHI4 oder an den nächstfolgenden Tagen.<br />

Auf der gleichen Handschrift H 10 steht unmittelbar unter der<br />

SI rophe "Und so sah ich es auch juste" folgendes Fragment: 9)<br />

wenn alle sprechen<br />

Ganz gewiss da hört man keinen.<br />

,) Vgl. Goethes Tagebuch 1. Dezember 1814: "Briefe <strong>von</strong> Wien." Auch den oben<br />

S. 105 Anm. 5 erwähnten Brief Gersdorffs wird Goethe an diesem Tage erhalten<br />

haben.<br />

01) Vgl. C. G . v. Voigt an Goethe 5. Dez. 1814: "Ew. Excell. übermache ich die <strong>von</strong><br />

Sartorius der Herzogin zugesendete Beurtheilung der CongreßPolitik. Nach sei­<br />

"ern bey liegenden Brief sollte dieser Aufsatz nur Ew. Excell. und mir, commu­<br />

"icirt werden. Allerdings gehört er auch für vertraute Leser; denn er tritt derb<br />

II"d unverholen auf _ Obgleich manche Aeußerung nicht ganz unbefangen erscheint<br />

_ und wie wäre das möglich - so ist das Ganze doch gewiß vortrefflich<br />

zusammengestellt. Die HauptResultate sind uns auch schon nicht fremd geblieben.<br />

Ich wünschte etwas vorzulegen, was eine ruhigere Zukunft verspräch[el."<br />

(Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar. Eing. Br. 1814, 45 2.)<br />

!I) WA I 6, S. 475. Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 52.


108 Verse <strong>zum</strong> Wien er Kongreß<br />

Eine Quelle für diese Zeilen kennen wir nicht. So mögen auch in<br />

ihnen sich Reflexionen widerspiegeln, die durch die Nachrichten vom<br />

Wiener Kongreß Anfang Dezember 1814 hervorgerufen wurden. Ihrer<br />

Haltung nach passen sie in das Bild, das sich in den andern auf den<br />

Wiener Kongreß bezüglichen Versen abzeichnet, die wir oben betrachteten.<br />

10 ) Später formte Goethe aus dem Fragment das Gedicht<br />

"Vielrath". In ihm würden dann noch politische Gedanken des Winters<br />

181411815 nachklingen: 11)<br />

10) V gl. oben S. 98.<br />

Spricht man mit jedermann<br />

Da hört man keinen,<br />

Stets wird ein andrer Mann<br />

Auch anders meinen.<br />

Was wäre Rath sodann<br />

Vor unsern Ohren?<br />

Kennst du nicht Mann für Mann<br />

Du bist verloren.<br />

11) WAl 3, S. 156. Das Gedicht erschien 1827 in Band 3 der Ausgabe letzter Hand<br />

i~ ~biger. Form (Abteilung "Epigrammatisch"); gleichfalls 1827 in Band 4, mit<br />

ellllgen Anderungen, obne Titel (Abteilung IV der "Zabmen Xenien").<br />

ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES<br />

BUCHS DER SPRÜCHE<br />

1. Burdachs Datierung der Kräutersehen Reinschrift<br />

Betrachtet man die 56 Gedichte des Buchs der Sprüche <strong>von</strong> ihrer<br />

Entstehungsgeschichte her, so zerfallen sie in drei verschiedene Gruppen:<br />

1. Eine Gruppe <strong>von</strong> 31 Gedichten bildet die chronologisch früheste<br />

Schicht. Diese Gedichve stehen zusammen in einer Reinschrift <strong>von</strong><br />

F. Th. D. Kräuter, die aus dem Jahre 1815 stammt.<br />

2. Eine Gruppe <strong>von</strong> 13 Gedichten trat im Erstdruck des Divan (1819)<br />

zu den eben genannten 31 Gedichten hinzu. Die meisten dieser Gedichte<br />

stammen <strong>von</strong> Frühjahr 1816.<br />

3. Eine weitere Gruppe <strong>von</strong> 12 Gedichten wurde erst in der zweiten<br />

Ausgabe des Divan (1827) hinzugefügt. Von diesen 12 entstand eine<br />

Reihe 1818, andere stammen aber auch aus früherer oder späterer Zeit.<br />

Wir wollen uns im Folgenden mit der ersten der genan~ten Gruppen<br />

beschäftigen. Über die Entstehung und Datierung der Kräuterschen<br />

Reinschrift herrschen in der Divan-Forschung seit Burdach<br />

Vorstellungen, die im Widerspruch stehen zu gewichtigen entstehungsgeschichtlichen<br />

Tatsachen. Hierdurch wurde für viele Gedichte des<br />

Buchs der Sprüche eine Datierung festgelegt, die sich bei näherer Prüfung<br />

als unmöglich erweist. Es gilt, einen folgenschweren Irrtum zu<br />

berichtigen.<br />

Die Kräutersehe Reinschri ft besteht aus 10 unpaginierten, einseitig<br />

beschriebenen Folioblättern. Auf diesen Blättern finden sich insgesamt<br />

36 Spruchgedichte,l) verteilt in Gruppen zu jeweils 5, 4, 3 oder auch 2.<br />

1) "Getretncr Quark", das in neueren Divan-Ausgaben als einheitliches sechszeiliges


110 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />

Fünf dieser Gedichte wurden nicht ins Buch der Sprüche aufgenommen;<br />

eins da<strong>von</strong> stellte Goethe ins Buch des Sängers, drei ins Buch<br />

Suleika, ein weiteres blieb <strong>von</strong> der Aufnahme in den Divan ausgeschlossen.<br />

2)<br />

Bei der Redaktion des Buchs der Sprüche schaltete Goethe das später<br />

Entstandene in der Weise ein, daß dadurch die Gedichte der<br />

Kräuterschen Reinschrift unterbrochen, die Reihenfolge auf den einzelnen<br />

Blättern derselben jedoch möglichst nicht geändert wurde. Die<br />

Kräutersche Reinschrift enthält also eine erste Vorordnung des Buchs<br />

der Sprüche.<br />

In dem 1888 erschienenen Band 6 der Weimarer Ausgabe, der die<br />

Gedichte des West-<strong>östlichen</strong> Divan brachte, stellte Burdach die These<br />

auf, die Kräutersche Reinschrift sei am 26. Januar 1815 entstanden.3)<br />

Er glaubte dies aus einer Goetheschen Tagebuchnotiz folgern ;m dürfen.<br />

Zwar meldete kein geringerer als H. G. Gräf gegen diese Datierung<br />

Bedenken an und gab zu verstehen, daß Burdach sich bei der<br />

Interpretation des Goetheschen Tagebuchtextes vermutlich geirrt<br />

hatte. 4 ) Dennoch wurde <strong>von</strong> der Forschung Burdachs These übernommen,<br />

als handle es sich um etwas endgültig Bewiesenes. Das hatte zur<br />

Folge, daß die Divan-Kommentare nun für sämtliche in der Kräuterschen<br />

Reinschrift enthaltenen Gedichte das unhaltbare Entstehungsdatum<br />

angaben: vor 26. Januar 181 5.<br />

Es wiJ:1d unsere Aufgabe sein, nachzuweisen, daß die Kräutersche<br />

Reinschrift keinesfalls schon am 26. Januar 1815 entstanden sein kann,<br />

daß sie vielmehr erst zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt hergestellt<br />

wurde. Es läßt sich zeigen, daß der 26. Januar 1815 als Ter-<br />

Gedicht wiedergegeben zu werden pflegt, erscheint in der Kräuterschen Reinschrift<br />

ebenso wie in den bei den <strong>von</strong> Goethe veranstalteten Drucken noch zweigeteilt<br />

(2 + 4 Zeilen).<br />

2) V gl. WA I 6, S. 373, 414, 453.<br />

3) WA I 6, S. 401.<br />

4) H. G. Gräf: Goethe über seine Dichtungen. T. 3, Die lyrischen Dichtungen,<br />

Bd. 2. Frankfurt a. M. 1914. S. 9.<br />

Burdachs Datierung der Kräutersehen Reinschrift 111<br />

minus ad quem für viele Gedichte, die sich auf dieser Handschrift<br />

finden, unwahrscheinlich, für eine größere Anzahl sogar schlechthin<br />

unmöglich ist.<br />

Ein erstes und allgemeinstes Bedenken gegen Burdachs These muß<br />

sich schon erheben, wenn man das Datum des 26. Januar 1815 nicht<br />

isoliert, sondern im Zusammenhang mit dem zugehörigen Abschnitt<br />

der Entstehungsgeschichte des Divan betrachtet. Nachdem Goethe im<br />

Juni, Juli und August 1814 einen ersten Anlauf nahm zu einer Sammlung<br />

orientalisierender Gedichte, wobei Hafis die ausschlaggebende<br />

Quelle war, ging er im Dezember 1814 nach mehrmonatiger Pause<br />

daran, seine Kenntnis des Orients zu erweitern. Es begann nun eine<br />

zweite Epoche der Divan-Entstehungsgeschichte, die im Zeichen ausgedehnter<br />

Umschau und Forschung steht. Goethe studierte zahlreiche<br />

Orientwerke, Übersetzungen, Reisebeschreibungen etc. und entfaltete,<br />

angeregt durch die neuen Eindrücke, eine reiche dichterische Produktivität.<br />

Diese Arbeitsperiode erstreckt sich <strong>von</strong> Dezember 1814 bis<br />

Ende Mai 1815 (Abreise nach Wiesbaden). Goethes Schaffensintensität<br />

hielt ganz unvermindert an bis Mitte März, wo dann durch Krankheit<br />

ein allmähliches Nachlassen einsetzte.5)<br />

Auf jeden Fall ist die Zeit <strong>von</strong> Dezember 1814 bis <strong>zum</strong> Frühsommer<br />

1815 eine der Hauptepochen in der Entstehungsgeschichte des<br />

Di~an. Viele Gedichte verschiedensten Charakters und Umfangs entstanden<br />

im Laufe dieser sechs Monate, die Goethe selbst als 'eine zusammenhängende<br />

Arbeitsperiode ansah. G) Vergegenwärtigt man sich<br />

nun, daß das Datum des 26. Januar 1815, an dem die Kräutersche Reinschrift<br />

<strong>von</strong> drei Dutzend Spruchgedichten angeblich entstanden sein<br />

soll, nicht etwa am Ende, sondern in der Mitte, ja fast noch am Anfang<br />

jener Epoche steht, so ergibt sich ein unmögliches Bild. Es<br />

erscheint als eine Absurdität, annehmen zu wollen, Goethe habe, wäh-<br />

5) V gl. oben S. 8r.<br />

6) Vgl. das - nicht verwendete - Titelblatt <strong>zum</strong> "Deutschen Divan" (<strong>von</strong> 1315).<br />

Darin erwähnt Goethe zwei Phase n der Arbeit am Divan in den Jahren 1814/1815;<br />

die erste: Juni bis August 1814; die zweite: Dezember 1814 bis Juni 181). (W~ I6 ,<br />

S. 361; Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. r.)


112 Zu!' Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />

rend er sämtliche übrigen Gattungen <strong>von</strong> Divan-Gedichten noch Monate<br />

lang planmäßig weiter ausbaute, auf dem einzigen Gebiet der<br />

Spruchdichtung bereits am 26. Januar 1815 bewußt ein: Bis hierher und<br />

nicht weiter gesprochen und sich dann daran wie an eine strikte Weisung<br />

gehalten. Ende Januar 1815 war die Arbeit am Divan gerade voll<br />

in Gang gekommen. Viele Quellenwerke begann Goethe erst nach<br />

diesem Zeitpunkt intensiver zu studieren und für seine Dichtung auszuschöpfen,<br />

nicht zuletzt solche, die ihm nachweislich Anregungen zu<br />

Spruchgedichten gaben.<br />

Vor allem bleibt zu beachten, wie sehr die Kräutersehe Reinschrift<br />

abschließenden Charakter trägt. Eine Fixierung des Bestands, wie<br />

Goethe sie damit vornahm, gehört apriori ans Ende einer Arbeitsepoche,<br />

nicht an ihren Anfang. In Hinblick auf die Spruchdichtung des<br />

Divan war aber der Januar 1815 Frühstadium, Beginn und nicht Ende.<br />

Charakteristisch dafür ist die Freizügigkeit, mit der Goethe damals<br />

noch dem Divan-Projekt einzelne Stücke entzog, um sie unverzüglich<br />

innerhalb der Sammlung "Sprichwörtlich" (1815) zu veröffentlichen.<br />

Hätte er in dieser Zeit bereits an die Vereinigung <strong>von</strong> orientalisierenden<br />

Spl'uchgedichten zu einem Korpus gedacht, wie es sich in der<br />

Kräuterschen Reinschrift realisiert, so wäre doch logischerweise alles<br />

Einschlägige hier zusammengefaßt worden.<br />

Aus diesem allgemeinen Überblick ergibt sich schon, daß mit grÖßter<br />

Wahrscheinlichkeit vieles <strong>von</strong> dem, was die Kräutersche Reinschrift<br />

enthält, erst in der Zeit <strong>von</strong> Februar bis Mai 1815 entstand.<br />

Man kann unmöglich bei der Vorstellung bleiben, daß Goethe in diesen<br />

Monaten keinerlei Spruchgedichte mehr schrieb. Es kommt aber<br />

noch etwas anderes hinzu. Zieht man die Quellen in Betracht, die den<br />

Gedichten der Kräuterschen Reinschrift zugrunde liegen, so läßt sich<br />

erkennen, daß eine große Anzahl dieser Gedichte am 26. Januar 1815<br />

noch gar nicht existiert haben können.<br />

Für die meisten Gedichte, die sich auf der Kräuterschen Reinschrift<br />

befinden, gilt, daß sie "orientalische Sinnreden" zur Vorlage haben.7)<br />

7) V gl. oben S. H.<br />

Burdachs Datierung der Kräuterschen Reinschrift 113<br />

Prüft man nun auf Grund der Entleihungsdaten und Tagebuchzeugnisse,<br />

wann Goethe erstmals die Quellenschriften las, so kommt man<br />

bei <strong>zum</strong>indest neun - also bei einem Viertel der Gesamtzahl - in<br />

chronologische Schwierigkeiten durch Burdachs Terminus vom 26. Januar<br />

1815.<br />

Drei Gedichte wurden angeregt durch Lektüre eines Buchs, das<br />

Goethe erst am 11. März 1815 aus der Weimarer Bibliothek entlieh (bis<br />

1. April 1815). E s handelt sich um die "Colligirte Reise-Beschreibung"<br />

des Adam Olearius, Ausgabe Hamburg 1696. In dieser Ausgabe waren<br />

der bekannten Reisebeschreibung mehrere andere Schriften angehängt,8)<br />

und diese enthalten die Quellen zu folgenden Gedichten:<br />

1. "Was brachte Lokman nicht hervor." Chr. Wurm wies nach, daß<br />

Saadis Bustan und Gülistan zugrundeliegt. Dem Bustan begegnete<br />

Goethe erst in der oben genannten Olearius-Ausgabe.<br />

2. "Als ich einmal eine Spinne erschlagen." Das Gedicht wurde, wie<br />

<strong>Katharina</strong> <strong>Mommsen</strong> zeigte, angeregt durch die Reisebeschreibungen<br />

<strong>von</strong> Mandelslo und Volquard Iversen, die beide an die Olearius-Ausgabe<br />

<strong>von</strong> 1696 angehängt waren.9)<br />

3. "Herr! laß dir gefallen." Den Nachweis, daß auch hier Saadis Bustan<br />

- wie bei Nr. 1 - die Quelle bot, gaben wir oben (S. 78),<br />

Das Datum des H. März 1815 - der ersten Entleihung jener Olearius­<br />

Ausgabe <strong>von</strong> 1696 - muß folglich als ungefährer Terminus a quo für<br />

diese drei Gedichte gelten. Zwar stimmen die Entleihungsdaten nicht<br />

immer auf den Tag gen au liberein mit dem Datum der ersten Benutzung<br />

eines Buchs; gelegentlich kann man beobachten, daß Goethe ein<br />

Werk schon ein paar Tage vor eiern offiziellen Ausleiheelatum in Händen<br />

hatte. Aber bei diesen Fällen ist der chronologische Spielraum<br />

8) V gl. oben S. 80.<br />

9) Vgl. K. <strong>Mommsen</strong>: "Indisches" im West-<strong>östlichen</strong> Divan. In: Jahrbuch Goethe i2<br />

(1960) S. 294-97.<br />

8 <strong>Mommsen</strong> , Divan-Studien


114 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />

erfahrungsgemäß begrenzt. Eine Zeitspanne vo.n fast sieben Wo.chen<br />

wäre als Differenz undenkbar.<br />

Bei sechs weiteren Gedichten, die in de): Kräuterschen Reinschrift<br />

enthalten sind, entstehen durch den Entleihungstermin des Quellenwerks<br />

- bei Zugrundelegung vo.n Burdachs Datierung - ähnliche chrono.lo.gische<br />

Schwierigkeiten. Diese Gedichte wurden angeregt durch<br />

Chardins V o.yages en Perse:<br />

r. "Vo.m heut'gen Tag, vün heut'ger Nacht."<br />

2. "Verschün uns Gütt mit deinem Grimme!"<br />

3. "Will der Neid sich düch zerreißen."<br />

4. "Sich im Respect 2)U erhalten."<br />

5. "Welch eine bunte Gemeinde!"<br />

6. "Wer auf die Welt ko.mmt baut ein neu es Haus."<br />

Güethe entlieh Chardins Vüyages en Perse vüm 25. Januar bis<br />

19. Mai 1815. In seinem Tagebuch wird das Werk erstmals erwähnt am<br />

24· Januar 1815, dann wieder am 3. und 7. Februar, süwie am 15., 17.<br />

und 18. März. Datiert man nun die Kräutersche Reinschrift auf den<br />

26. Januar 1815, so. müßten die sechs Gedichte nach Chardin entstanden<br />

sein in der Zeit zwischen dem Abend des 24. Januar und dem<br />

Mürgen des 26. Januar I815! Süfürt müßte Goethe sie in eine Reinschrift<br />

übernommen haben, die einen so abschließend endgültigen<br />

Charakter hat wie die Kräutersche! Das ist schün aus prinzipiellen Erwägungen<br />

heraus unglaubhaft. Mindestens gäbe es erneut <strong>zum</strong> Staunen<br />

Anlaß über die Herstellung der Reinschrift in so. unerklärbarer<br />

Hast und Vürzeitigkeit, mitten aus dem Prüduzieren heraus. Es sprechen<br />

aber auch andere Gründe gegen die Entstehung der sechs Chardin-Gedichte<br />

am 24./26. Januar 18J5.<br />

Güethe hat sich bei der Lektüre <strong>von</strong> Chardins Vüyages en Perse<br />

umfangreiche Notizen gemacht. Eine Anzahl handschriftlicher Blätter<br />

mit Stichwürten, Seiten angaben ihn interessierender Stellen nach<br />

Chardin etc. hat sich erhalten. Auf einer dieser Handschriften 10) -<br />

Burdachs Datierung der Kräuterschen Reinschrift 115<br />

wir haben üben bei Gelegenheit des Zaunkönig-Gedichts vün ihr gesprochen<br />

- finden sich fragmentarische Skizzen zu vier <strong>von</strong> den auf<br />

der Kräuterschen Reinschrift enthaltenen Chardin-Gedichten, nämlich<br />

zu Nr. 2, 3, 4 und 5:<br />

An Go.ttes Tisch sitzen Freund und Feinde [vgl. Nr. 5·]<br />

Zaunkönige gewinnen Stimme. [vgl. Nr. 2.]<br />

Alles jagt man mit Falcken<br />

Nur nicht das wilde Schwein [vgl. Nr. 4.]<br />

Er speist seinen Hunger [vgl. Nr. 3·]<br />

Auf einer weiteren Handschrift mit Nütizen aus Chardin und<br />

Klaprüths Asiatischem Magazin findet sich folgender Vermerk: 11)<br />

Schüene Sprüche<br />

II 17. 29<br />

Die Seitenangabe II 17 weist auf die Stelle in Chardins Voyages<br />

en Perse, wo. sich die Anregung zu dem Gedicht Nr. 1 findet ("Vüm<br />

heut'gen Tag, vort heut'ger Nacht").<br />

Für unseren Zusammenhang ergibt sich: vor der eigentlichen Abfassung<br />

der Gedichte Nr. 1, 2, 3, 4 und 5 liegen noch die übigen Nütizen.<br />

Hier sind also. noch Zwischenstufen, mit denen wir zu rechnen<br />

haben. Es darf als ausgeschlossen gelten, daß alles miteinander: Lektüre,<br />

Beschäftigung mit den Zwischenstufen, Abfassung der sechs Gedichte<br />

und ihre Einreihung in die Kräutersche Reinschrift sich im<br />

Zeitraum <strong>von</strong> noch nicht 48 Stunden abgespielt haben soll, der ersten<br />

48 Stunden, in d enen Chardins "Voyages en Perse" Güethe zuhanden<br />

10) Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 149. Vgl. oben S. 88 mit Abb. S. 86/ 87.<br />

11) Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 185 .<br />

S*


116 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />

waren. Allein für die Exzerptenblätter mit den Zwischenstufen sind<br />

mindestens zwei getrennte Arbeitstage anzusetzen. Nachdem Chardin<br />

am 25. bzw. 24. Januar 1815 entliehen wurde, befaßte Goethe sich ausgiebig<br />

mit dem Werk erst im Februar und besonders im März 1815,<br />

dann nochmals im Mai. Das zeigen die oben zitierten Tagebuchnotizen,<br />

ferner aber auch die Daten <strong>von</strong> vier größeren Divan-Gedichten,<br />

die durch Chardin angeregt wurden. 12) In dieser Zeit, wahrscheinlich<br />

erst im Februar oder März, werden auch die sechs Chardin­<br />

Gedichte - mit ihren jeweiligen Vorstufen - entstanden sein, die wir<br />

auf der Kräuterschen Reinschrift finden. Gerade am Beispiel dieser<br />

Gedichte bestätigt es sich, daß mit dem 26. Januar 1815 ein grundsätzlich<br />

viel zu frühes Datum für die Entstehung der Kräuterschen Reinschrift<br />

angesetzt wurde. Hier war die Arbeit am Divan in vollem<br />

Gang, noch in der Expansion begriffen. Von irgendeinem Stadium<br />

des Endes oder Einschnittes, wie es notwendige Voraussetzung zur<br />

Herstellung der Kräuterschen Reinschrift wäre, kann noch keine Rede<br />

sein. Derartiges ist erst viel später festzustellen.<br />

Bei Berücksichtigung der Quellen ergibt sich also: am 26. Januar<br />

1815 hat mindestens ein Viertel der auf der Kräuterschen Reinschrift<br />

enthaltenen Gedichte noch gar nicht existiert, sechs nach Chardin,<br />

drei nach Saadi, Mandelslo und Iversen gedichtete. Burdachs These,<br />

der 26. Januar 1815 sei das Entstehungsdatum der Kräuterschen Reinschrift,<br />

ist im Hinblick ,auf diese Tatsachen nicht aufrechtzuerhalten.<br />

II. Die E n t s t e h u n g s g e s chi c h t e<br />

der Sammlung "Sprichwörtlich" und ihr<br />

Verhältnis <strong>zum</strong> Buch der Sprüche<br />

Prüfen wir nun einmal die Argumente nach, die Burdach für die<br />

Datierung der Kräutevschen Reinschrift vorbrachte. Am 19. Januar<br />

12) Es entstanden: am 6. Februar 1815 das Gedicht "Vier Gnaden" ("Daß Araber an<br />

ihrem Theil"); am 17. März und 17. Mai 1815: "Nur wenig ist's was ich verlange";<br />

Entstehungsgeschichte der Sammlung "Sprichwörtlich" 117<br />

1815 findet sich in Goethes Tagebuch der Vermerk: "Gnomen"; am<br />

26. Januar 1815 heißt es ebendort: "Kreiter Gnomen Abschr[ift]".<br />

Beide Notizen, so meinte Burdach, dürfe man auf das Buch der<br />

Sprüche beziehen, die zweite auf die Entstehung der Kräuterschen<br />

Reinschrift. Mit dem Ausdruck "Gnomen" nämlich habe Goethe die<br />

Gedichte des Buchs der Sprüche bezeichnet. Hierfür glaubte Burdach<br />

einen Beweis zu finden in dem Umstand, daß sich unter den Divan­<br />

Papieren eine mit der Aufschrift "Gnomen" versehene Papierkapsel<br />

befindet, die zur Sammlung <strong>von</strong> Handschriften für das Buch der<br />

Sprüche dienen sollte.<br />

In Wirklichkeit ist damit gar nichts bewiesen. Mit dem Wort<br />

"Gnomen" bezeichnete Goethe zu den verschiedensten Zeiten alles<br />

mögliche Spruch- und Sentenzartige, durchaus nicht nur die Gedichte<br />

des Buchs der Sprüche. (Gerade im Januar 1815 taucht beispielsweise<br />

das Wort in seinem Tagebuch noch mehrmals auf - was Burdach<br />

hätte erwähnen sollen - und dort bezieht es sich auf die Sammlung<br />

"Sprichwörtlich".) Was aber die Papierkapsel mit der Aufschrift<br />

"Gnomen" betrifft, so stammt sie nicht etwa <strong>von</strong> 1815, sondern aus<br />

dem Jahre 1825! Goethe legte zu fast allen Büchern des Divan derartige<br />

Papiertaschen an. Durch sichere Indizien steht fest, daß dies<br />

erst Anfang 1825 geschah. Darauf hat Burdach selbst aufmerksam gemacht.<br />

13) Wenn Goethe aber 1825 das Wort "Gnomen" für Gedichte<br />

des Buchs der Sprüche gebrauchte, so bedeutet das wenig für die<br />

Verhältnisse <strong>von</strong> 1815.<br />

Es war Burdach vor allem entgangen, daß Goethe in den Jahren<br />

1814/ 1815 mit "Gnomen" vorzugsweise die damals im Entstehen begriffene<br />

Sammlung "Sprichwörtlich" bezeichnete. Hätte er wenigstens<br />

alle TagebuchsteJlen in Betracht gezogen, an denen im Januar 1815 das<br />

am 24. Mai 18Tj: " Vom Ilimme.:! steigend J esus bracht'" (Reinschrift) und "Wenn<br />

der Mensch die Erde Sdliitzct" (Reinschrift).<br />

13) WA I 6, S. 339. Goethe b"nu tzte Zu den Taschen Papier, das aus der Zeit der<br />

Arbeit an dem Aufsatz "Serbische Lieder" stammte. Die Papierkapseln legte er<br />

an, als er Januar 1825 hegann, den Divan <strong>zum</strong> Druck in der Ausgabe letzter<br />

Hand vorzubereiten.


118 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />

Wort "Gnomen" vorkommt - es sind nicht zwei, sondern insgesamt<br />

sechs! - so wäre ihm vielleicht ihr Zusammenhang mit "Sprichwörtlich"<br />

klargeworden. Da er es unterließ und nur zwei Stellen isoliert<br />

herausgriff, bezog er die Tagebuchaufzeichnung vom 26. Januar 1815<br />

"Kreiter Gnomen Abschr[ift]" statt auf "Sprichwörtlich" auf das<br />

Buch der Sprüche des Divan. Hier liegt die Quelle seines Irrtums.<br />

Als Burdach die Goetheschen Tagebuchnotizen durchging, hatte<br />

er nur ein Augenmerk auf das eine Werk, dessen Herausgabe ihm<br />

oblag: den West-<strong>östlichen</strong> Divan. So achtete er zuwenig auf das,<br />

womit Goethe sich gleichzeitig beschäftigte. Dabei ist allerdings ein<br />

Umstand zu beachten. Als Burdach in den achtziger Jahren des vorigen<br />

Jahrhunderts an dem Divan-Band der Weimarer Ausgabe arbeitete,<br />

standen ihm Goethes Tagebücher noch nicht gedruckt zur Verfügung.<br />

13a) Er war auf die sehr unübersichtlichen Originalhandschriften<br />

angewiesen, es fehlte ihm zudem das Hilfsmittel, das für die Klärung<br />

entstehungsgeschichtlicher Fragen praktisch unentbehrlich ist: das<br />

Register der Tagebücher. Man darf also den Grund seines Irrtums<br />

im wesentlichen darin sehen, daß seine Informationsmöglichkeiten<br />

unzureichend waren. Gräf war bereits in wesentlich besserer Lage.<br />

E r verfügte immerhin über die gedruckten Tagebücher, als er die<br />

Lyrik-Bände seines Werks "Goethe über seine Dichtungen" bearbeitete.<br />

Mit der Entstehungsgeschichte sämtlicher Goethescher Dichtungen<br />

befaßt, mußte er sich jederzeit Rechenschaft geben über die<br />

jeweilige Zugehörigkeit der Zeugnisse. D as führte ihn notwendig<br />

dazu, daß er auch die Tagebuchnotiz vom 26. Januar 1815 richtiger<br />

interpretierte als Burdach. Er wies auf die Möglichkeit des Zusammenhangs<br />

mit der Sammlung "Sprichwörtlich" hin.<br />

Schwerer verständlich mag es erscheinen, daß Burdach sich später<br />

nicht revidiert hat, als die nötigen Hilfsmittel vorlagen, beispielsweise<br />

auch das wichtige W erk "Goethe als Benutzer der Weimarer<br />

Bibliothek" (<strong>von</strong> Keudell und Deetjen, 1931), das über die Lektüre<br />

13a) Die Jahrgänge 1815 und 1816 der Goetheschen Tagebücher erschienen gedruckt<br />

erst 1893, in Abt. III, Bd. 5 der W A.<br />

Entstehungsgeschichte der Sammlung "Sprichwörtlich" 119<br />

der Quellenwerke Auskunft gibt. D och hielt Burdach sogar noch in<br />

dem 1937 erschienenen D ivan-Band der Welt-Goethe-Ausgabe an<br />

seiner unrichtigen D atierun g der Kräuterschen Reinschrift fest.<br />

Leider bekannte sich Gräf zu seiner besseren E insicht nicht mit<br />

der nötigen Entschiedenh eit. D iesem Umstand dürfte es vor allem zu<br />

verdanken sein, daß Burdachs These sich bis heute unangefochten<br />

behaupten konnte. In ein er Anmerkung sprach Gräf zwar deutlich<br />

aus, daß er entgegen "Burdachs Ann ahme" glaube, die E rwähnung<br />

der "Gnomen" in oe tb es Tagebuch vom 19. und f6. Januar 1815 bezöge<br />

sich auf "Sprichwörtli ch". H) Er wies dabei auch auf die vier<br />

TagebuchsteIlen hin , <strong>von</strong> denen Burdach nicht Notiz nahm. Bei der<br />

Interpretation der ei nzel nen Zeugni sse wich er aber einer klaren Entscheidung<br />

aus. Er nannte sowohl "S prichwörtlich" als auch den Divan<br />

als mögliche Beziehung.<br />

Auch im Register zu den Lyrik-Bänden <strong>von</strong> "Goethe über seine<br />

Dichtungen" gab Gräf seiner eigentli chen Meinung nicht Ausdruck.<br />

Die sechs Tagebuch-Zeugnisse <strong>von</strong> Janu ar 1815, die <strong>von</strong> "Gnomen"<br />

sprechen, führte er dort sowohl unter "Sprichwörtlich" auf (S. 1170),<br />

als auch unter dem Buch der Sprüche des Divan (S. 1213). Bei beiden<br />

Werken versah er sie sämtlich mit Fragezeichen. Allerdings verstand<br />

er sich nicht dazu, in der "Chronologischen Übersicht" (S. 890) unter<br />

dem Datum des 26. Januar 1815 die 36 Gedichte der Kräuterschen<br />

Handschrift zu nennen, wie das in den Divan-Kommentaren seit<br />

Burdach üblich wurde. Offe nbar gla ubte er nicht an diesen Terminus<br />

ad quem.<br />

Aufschlußreich ist, daß Gräf im Register zur 3. Abteilung der Weimarer<br />

Ausgabe (Tagebücher), das 1919 erschien - fünf Jahre nach<br />

dem Register sei ner Lyrik-Bünde -(deutlicher wurde. Die "Gnomen"­<br />

Stellen <strong>von</strong> Januar 1815 te il te er zwar wiederum heiden Werken zu;<br />

Fragezeichen setzte er aber dies mal nur beim Buch der Sprüche hinzu,<br />

bei "Sprichwörtlich" ließ er sie fort!<br />

Man wird nicht fehlgehen in der Annahme, daß es vor allem Rück-<br />

11,) Vgl. oben S. u o Anm. 4.


120 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />

sicht auf Burdach war, die Gräf daran hinderte, seine Meinung klarer<br />

zu bekunden. Polemik suchte er stets zu vermeiden oder aufs Notwendigste<br />

zu beschränken. Um seine Ansicht durch zusätzliche Beweise<br />

stützen und sie dadurch energischer vortragen zu können, hätte<br />

er im übrigen seine Beobachtungen auf die Quellenverhältnisse bei<br />

den Gedichten der Kräutersehen Reinschrift ausdehnen müssen, wie<br />

wir das oben taten. Das hätte ihn im Rahmen der großen ihm obliegenden<br />

Aufgabe zu weit geführt.<br />

Gestützt auf die Erkenntnis, daß die Gedichte der Kräutersehen<br />

Reinschrift am 26. Januar 1815 schon im Hinblick auf die <strong>von</strong> Goethe<br />

benutzten Quellen <strong>zum</strong> Teil noch nicht existiert haben können, wollen<br />

wir uns nun nochmals mit der Frage beschäftigen, wie es mit den<br />

entstehungsgeschichtlichen Zeugnissen wirklich bestellt ist, die bisher<br />

noch mit Zweifeln behaftet erscheinen. Die ersten Spruchgedichte für<br />

den Divan schrieb Goethe gerade zu jener Zeit, als er aufs intensivste<br />

mit dem Abschluß der Sammlung "Sprichwörtlich" befaßt war. Infolgedessen<br />

überschneiden sich die Entstehungsgeschichten beider<br />

Spruchsammlungen in einer prägnanten Epoche, und aus dieser Überschneidung<br />

resultieren die Irrtümer und Unsicherheiten, denen wir<br />

begegneten.<br />

Die nötige Klarheit läßt sich nur gewinnen, wenn wir zunächst<br />

einmal die gesamte Entstehungsgeschichte der Sammlung "Sprichwörtlich"<br />

vor Augen führen. Es wird sich dann zeigen, daß die uns<br />

besonders interessierenden Zeugnisse des Januar 1815 in diesem Rahmen<br />

ihre notwendige Funktion haben: sie betreffen nämlich die H erstellung<br />

der Druckvorlage für dies sehr umfangreiche Korpus <strong>von</strong><br />

Spruchgedichten und haben nichts mit dem ,Divan zu tun. Erst wenn<br />

uns diese Verhältnisse bei "Sprichwörtlich" eindeutig klar geworden<br />

sind, läßt sich die Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche richtig<br />

verstehen.<br />

Die verfügbaren Zeugnisse für die Entstehung <strong>von</strong> "Sprichwörtlieh"<br />

mögen hier einmal in ihrem eigenen Zusammenhang erscheinen.<br />

Sie werden damit eine Übersichtlichkeit gewinnen, die Gräf ihnen im<br />

Rahmen seines Sammelwerkes nicht geben konnte. Auch lassen sich<br />

Entstehungsgeschichte der Sammlung "Sprichwörtlich" 121<br />

heute wichtige Zeugnisse zusätzlich anführen, die Gräf noch nicht zur<br />

Verfügung standen.<br />

Die Sammlung "Sprichwörtlich" erschien zuerst 1816 - der Titel<br />

nennt als Druckjahr 1815 - im zweiten Band der Ausgabe B <strong>von</strong><br />

Cotta. 15) Dieser Band enthält viele bis dahin ungedruckte Gedichte,<br />

wofür eine Anzahl neuer Abteilungen eingerichtet wurden. Mit ihren<br />

209 Gedichten ist die Sammlung "Sprichwörtlich" die weitaus umfangreichste<br />

dieser Abteilungen, diejenige jedenfalls, die Goethe am<br />

meisten Arbeit machte. Auch befand sie sich noch bis <strong>zum</strong> Schluß<br />

im Ausbau. Die letzten Gedichte für "Sprichwörtlich" wurden Anfang<br />

1815 geschrieben, unmittelbar vor Herstellung des Druckmanuskripts.<br />

Mehrere <strong>von</strong> den neuen Abteilungen jenes zweiten Bandes brachten<br />

Gedichte <strong>von</strong> verhältnismäßig geringem Umfang, so z. B. "Epigrammatisch",<br />

"Gott, Gemüth und Welt", "An Personen". Für das<br />

Verständnis der folgenden Zeugnisse ist es wichtig, zu berücksichtigen,<br />

daß die mehrfach auftauchende Bezeichnung "Kleine Gedichte" sich<br />

gelegentlich auch auf diese Abteilungen beziehen kann, für die sonst<br />

weiter keine unmittelbaren Entstehungszeugnisse existieren. 16)<br />

Jan.<br />

1814<br />

1. Zu Mittag Riemer. Ernst und Scherz Reden aller Sprachen un? Art sortirt.<br />

I. Riemer Tagebuch QbSK17) 3, j6 f.): N ach Tisch mit Goethe im Deckenzim ·<br />

mer. Las ich ihm einige Refl exion cn <strong>von</strong> mir vor, die er billigte. Dies bewog<br />

ihn , seine auf Karten und sonst notierten Sinnsprüche und Reime hervorzuholen.<br />

Wir ordneten sie bi s 8 Uhr.<br />

2. Mittag Riemcr. Gedichte und Aufsätze sortirt.<br />

3. Manches geordnet. [?)<br />

3. An Riemer (WA IV 24, 8): Mögen Sie, mein lieber Professor, beyliegende<br />

15) Die Herausgabe verzögerte sich bi s P rühjahr 1816. Die ersten beiden Bände der<br />

Ausgabe erschienen auch gesond ert unter dem Titel "Goethe's Gedichte".<br />

16) Unter Umständen bedeutet "Kleine Gedichte" auch: Gedichte überhaupt, im<br />

Gegensatz zu größercn W erken. Vgl. unten 21. Dez. 1814: an Cotta.<br />

17) = Jahrbuch der Sammlung Kippenberg. Bd. 3. Leipzig 1923.


I<br />

/<br />

122 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />

Jan.<br />

Febr.<br />

Juli<br />

Gedichte nach Muster des gleichfalls <strong>von</strong> Ihrer Hand bey liegenden, nach<br />

Maaßgabe der Länge entweder ein blättrig oder zweyblättrig abschreiben;<br />

so werden wir unsere Redaction dadurch sehr .6efördert sehen. Da Sie de.'!<br />

heutigen Abend wohl für sich zu thun haben, ich aber die morgende ganze<br />

Zeit versagt bin, so wäre es hübsch wenn Sie sich einrichteten daß wir<br />

Mittwoch (Jan. j.) abends eine recht ernstliche Session halten könnten .<br />

4. Riemer Tagebuch (JbSK 3, 57): Schrieb ich für Goethe einige seiner Gedichte<br />

ab zur neuen Ausgabe.<br />

j. [Abends} Riemer. Kleine Gedichte ausgesucht und revidirt.<br />

6. Abend für mich Sinn- und Sitten sprüche.<br />

7. Riemer Tagebuch (JbSK 3, 57): Abends bei Goethe, alte Poesien <strong>von</strong> ihm<br />

und andern. [?}<br />

S.<br />

10.<br />

n.<br />

u.<br />

3·<br />

13·<br />

14·<br />

IS.<br />

IS.<br />

19·<br />

(Aus der Weimarer Bibliothek - bis? -: Sprichwörter aller Nationen.<br />

[Wahrscheinlich verschiedene Einzelausgaben.]) 18)<br />

Adagia.<br />

Sitten Sprüche.<br />

[Abends} Gnomen.<br />

Abends für mich. Tagesreime.<br />

Riemer Tagebuch (JbSK 3, 6o): Früh Abschrift Goethescher Gedichte. [?]<br />

[Abends} Riemer ... Gnomen.<br />

[Abends} Riemer. Sonderung des Babylonischen. 19)<br />

Riemer Tagebuch (JbSK 3, 6o) : Zu Goethe ... Den Abend Gnomen u.·<br />

dgl. rangiert.<br />

Redaction meiner ersten Bände. Mittag Riemer. 11l)<br />

19· Riemer Tagebuch (JbSK 3, 71): Auf Goethes Zimmer an seinen Werken.<br />

Dez. 21. An Cotta (WA IV 2j, 103): [Cotta habe gewünscht, Goethes "Werke 'wieder<br />

hervortreten Zu sehen". Einverständnis und Honorarforderung: 16000<br />

18) Zitiert aus: Goethe als Benutzer der Weimarer Bibliothek. Bearb. <strong>von</strong> Elise<br />

v. Keudell. Hrsg. <strong>von</strong> Werner Deetjen. Weimar 1931.<br />

19) Das letzte Wort deutete Gräf irrig auf : Sonderung <strong>von</strong> Jugendgedichten für<br />

Bd. I und 2 der Ausgabe Cotta B. Aus dem folgenden Riemerschen Zeugnis, das<br />

Gräf noch nicht kannte, geht hervor, daß Gedichte der Sammlung ,,~prichwörtlich"<br />

gemeint sind. Zu "Babylonisch" vgl. oben I. Jan. ISI4: ."Ernst und Scherz<br />

Reden aller Sprachen."<br />

20) Über die "Redaction" berichtet das Tagebuch weiter am ~o., ';""'24. Juli ISI ~ Sie I·<br />

betraf jedoch wesentlich "Lyrische und Gemischte Gedichte" (Tagebuch . 23. Juli).<br />

Jan.<br />

Entstehungsgeschichte der Sammlung "Sprichwörtlich" 123<br />

Taler.} ... Ich werde die erste Sendung [Manuskript zu Ausgabe Cotta B<br />

Bd. 1 bis 4} bereit halten, daß sie auf ei ne gefällige Erklärung sogleich<br />

abgehen kann, ob mi r gleich die Redaction der kleineren Gedichte, wel~~le<br />

ihren ersten Platz behaupten wollen, noch immer zu schaffen macht;-)<br />

sie sind dergestalt angewachsen, da l) ich sie in zwey Bände zu theilen<br />

genöthiget bin.<br />

18 I5<br />

2. Gedichte 2. BanJ.<br />

6. Sprichwörtliches gesammelt . . . [Nachmittags} Wie Morgens.<br />

7. Redaction der kleinen Gedichte. [?]<br />

7. An G. H. L. Nicolovius (W A IV 25, 13~): Eine neue Ausgabe meiner<br />

Schriften beschäftigt mich . ..<br />

16. An Schelling (WA IV 25, 159): Eine frische Ausgabe meiner Werke, die<br />

ich so eben vorbereite, wird manches N eue bringen.<br />

17. [Nachmittags} Redaction der kleinen Gedichte. [?}<br />

IS. Bearbeitung der Gnomen.<br />

19. Gnomen.<br />

20. Kreiter Gnomen. Nachricht <strong>von</strong> Cottas Acceptation. 22 )<br />

21. (Aus der Weimarer Bibliothek - bis ; . Miirz ,8'j -: Zincgref, Julius Wilh.:<br />

... Apophthegmata. Straßburg 162SI3' oder Frankfurt u. Leipzig 1653.) 23)<br />

21. (Aus der Weimarer Bibliothek - bis ;0. Jan. IS15 - : Cardani, Hieronymi,<br />

Operum T. I. 2. Lugduni 166;.) 2:1)<br />

22. Gnomen.<br />

23. Gnomen redigirt.<br />

21) Statt des Folgenden hieß es im Konze pt ursprünglich: "indem gar manches eingeschaltet<br />

und deshalb das frühere nndcrs geordnet werden muß."<br />

22) Vgl. oben 21. Dez. ,S'4: an Cottn. ..<br />

23) Die Entleihung <strong>von</strong> Zincgrcf und Cardanus dürfte ver anlaßt sein durch Lekture<br />

<strong>von</strong> H. F. v. Diez' Einleitung <strong>zum</strong> Buch des Kabus. Dort werden die Werke<br />

der beiden Autorcn fi ls Muster <strong>von</strong> Sentenzensammlungen erwähnt (S. 4j und<br />

160). In der Liebe Zu Sp ri chwiirtcrn tcuf sich Goethe 1,I1it Diez. Dessen Denkwürdigkeiten<br />

<strong>von</strong> Asicn CO, die er im Januar ISlj las, regten noch einige Gedichte<br />

an, die in letzter Stunde der Sammlung "Sprichwörtlich" zugefügt wurden.<br />

Wahrscheinlich verspro.ch Gocthe sich weitere Anregungen <strong>von</strong> den beiden bei<br />

Diez genannten Büchern, die er dann aus der Bibliothek entlieh. V gl. <strong>Katharina</strong><br />

<strong>Mommsen</strong>: Goethe und D iez. Berlin 1961. S. s6 ff.


124 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />

Jan.<br />

23. An Zelter (W A IV 25, 169): Meine ernstlichste Betrachtung ist jetzt die<br />

neuste Ausgabe meiner Leb e n s - S pur e n , welche man, damit das<br />

Kind einen Namen habe, Wer k e zu nennen pflegt. In den zwey ersten<br />

Bänden wirst du manches finden das quellenhaft ist, du wirst es sammeln<br />

und auf deine Mühle leiten.<br />

26. Kreiter Gnomen Abschr[ift].<br />

Febr. 12. Gedichte zweyter Thei!.<br />

13. An den beyden ersten Bänden.<br />

14. Wie gestern früh.<br />

15. Redaction der Gedichte.<br />

16. Arbeiten wie gestern.<br />

17. Arbeiten fortgesetzt.<br />

20. An Cotta (WA IV 25, 200): [Inhaltsverzeichnis für Bd. 2 der Ausgabe<br />

Cotta B]: ... Sprichwörtlich, über zwey Hundert.<br />

März 27. [Absendung des Manuskripts an Cotta.]<br />

Wir sehen, wie die Entstehungsgeschichte <strong>von</strong> "Sprichwörtlich" nur<br />

durch verhältnismäßig wenig Zeugnisse charakterisiert ist. Die Abteilung<br />

enstand in zwei kurzen Arbeitsepochen. Riemer gab am I. Januar<br />

1814 den ersten Anstoß <strong>zum</strong> "Hervorholen" der "Sinnsprüche<br />

und Reime", die Goethe seit mehreren Jahren gelegentlich, aber<br />

wohl nicht ohne einen bestimmten ihm vorschwebenden Plan o "e-<br />

schrieben hatte. (Die wichtigen Riemerschen Tagebuchzeugnisse stan-<br />

.den Gräf noch'· nicht zur Verfügung.) Bis <strong>zum</strong> 18. Februar 1814 beschäftigte<br />

Goethe sich nun mit den "Sittensprüchen", den "Gnomen"<br />

- der Ausdruck fällt schon hier mehrmals! Sicherlich entstand damals<br />

noch vieles Neue. Hierauf läßt die Bibliotheksentleihung vom 8. Januar<br />

1814 schließen. (Auch die oben angeführten Zeugnisse über<br />

. Bibliotheksentleihungen fehlen noch bei Gräf.)<br />

Der Abschluß dieser Arbeitsepoche ist bezeichnet durch die Worte<br />

"Sondern" und, "Rangieren" des "Babylonischen" (18. ~gIr r 1814).<br />

Das weist darauf hin, daß das handschriftliche Material, das Goethe<br />

gemeinsam mit Riemer durchsah, zu diesem Zeitpunkt no,ch aus vielen<br />

Einzelblättern bestand. Eine Gesamtreinschrift existierte offensichtlich<br />

noch nicht, denn Auswahl und Ordnung (" Sonder" n , " R an-<br />

Entstehungsgeschichte der Sammlung "Sprichwörtlich"<br />

125<br />

gieren") sind Arbeitsvorgänge, die eine solche Reinschrift erst vorbereiten.<br />

Die zweite Arbeitsepoche fällt in den Anfang des Jahres 1815. Auf<br />

Vereinbarungen mit Cotta hin 2/,) ging Goethe im Januar dieses Jahres<br />

an die endgültige Redaktion der ersten Bände der neuen Ausgabe.<br />

Vor allem waren Band T und 2, die Gedichtbände, jetzt fertigzustellen.<br />

In den V ordergru nd trat als größte noch zu bewältigende<br />

Aufgabe die absch li eßende Arbeit an "Sprichwörtlich", der umfangreichsten<br />

neuen Abte.ilun ' in Band 2.<br />

Und jetzt steHt es sich klnr heraus, welche Bewandtnis es damit<br />

hat, wenn Goethes Tagebuch im Januar 1815 so oft <strong>von</strong> "Gnomen"<br />

spricht (18.-20 ., 22., 23-, 26. Januar). Bezug genommen wird damit auf<br />

die Anfertigung des noch fehlenden Druckmanuskripts für "Sprichwörtlich"!<br />

Ein paarmal ist zu lesen, daß Goethe "Sprichwörtliches gesammelt"<br />

hat (6.), daß Gnomen "bearbeitet" (18.), "redigirt" werden<br />

(23.): Beweis, daß die Reinschrift nidlt vorliegt, sondern erst im Werden<br />

ist. huch Neues kommt jetzt noch hinzu. 25 ) Doch am 20. Januar<br />

ist Kräuter bereits mit der Herstellun des Druckmanuskripts befaßt<br />

und am 26. Januar schließt er die Arbeit daran ab.<br />

Mit dem 26. Januar 1815 - dem uns besonders interessierenden<br />

Datum - endigt die eigentliche Entstehungsgeschichte <strong>von</strong> "Sprichwörtlich".<br />

Am Schluß steht, wie es bei einem umfangreichen Goetheschen<br />

Werk üblich zu sein pflegt, die Herstellung der Reinschrift für .<br />

den Druck. Daß das Tagebuch hi er<strong>von</strong> berichtet, ist natürlich und<br />

notwendig. Man würde entsprechen le Zeugnisse mit Recht vermissen<br />

oder nach ihnen suchen, falls sie hi er nicht klar gegeben wären. Durch<br />

die irrtümliche Inanspruchnahme dieser Zeugnisse für den Divan<br />

wurde die Entstehungsgeschichte eines anderen Goetheschen Werks<br />

in ihrer entscheidenden Phase geplündert und entsprechend entstellt.<br />

Die Zeugnisse vom Februar 18J5 dürften nur mehr die übrigen Abteilungen<br />

der beiden Gedichtbände betreffen, die zwar auch Neues,<br />

2~) V g!. 21. Dezember 1814: an Cotta.<br />

25) V gl. oben S. 123 Anm. 2,.


126 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />

, doch in jeweils kleinerem Umfang brachten. (So könnten sich auch<br />

die Tagebuchzeugnisse vom 7. und r7. Januar r8r5 auf andere Abteilungen,<br />

"Epigrammatisch" etc., beziehen.) Am 27. März wurde das<br />

Manuskript für die ersten vier Bände der neuen Ausgabe <strong>zum</strong> Druck<br />

gesandt. Band rund 2 erschienen im April r8r6; Cotta hatte die Auslieferung<br />

aus merkantilischen Gründen ,solange hinausgeschoben.<br />

IH. Die E n t s t e h u n g der K r ä u t e r s c h e n R eins c h r i f t<br />

Nach der im vorigen Abschnitt angestellten Untersuchung ist nunmehr<br />

Klarheit darüber geschaffen: es gibt im Januar r8r5 überhaupt<br />

kein Zeugnis in Goethes Tagebüchern, das sich auf die in der Kräuterschen<br />

Reinschrift enthaltenen Gedichte beziehen läßt. Die Erwähnung<br />

der "Gnomen" und "Kleinen Gedichte" betrifft nicht Spruchgedichte<br />

des West-<strong>östlichen</strong> Divan, ,sondern die Sammlung Sprichwörtlich<br />

und ihre letzte Redaktion. Damit sind die Hindernisse beseitigt,<br />

die das Verständnis für den Werdeprozeß des Buchs der<br />

Sprüche so sehr beeinträchtigten. Wir sind befreit <strong>von</strong> der unmöglichen<br />

Forderung, annehmen zu müssen, die Hauptmasse der Gedichte<br />

dieses Buchs sei einzig und allein in der Anfangsphase der<br />

lang andauernden Schaffensperiode des Frühjahrs r8r5 gedichtet - als<br />

habe Goethe vorsätzlich und unbegreiflich früh am 26. Januar r8r5<br />

mit der Pflege dieser Gedichtgattung Schluß gemacht. Jetzt endlich<br />

steht nichts mehr im Wege, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich<br />

waren. Die Arbeit an den Spruchgedichten erstreckte sich über das<br />

gesamte Frühjahr, den Zeitraum <strong>von</strong> Dezember r8r4 bis Mai r8r;.<br />

Hiermit stimmen nun . auch die sonstigen Tatsachen überein, mit<br />

denen wir zu rechnen haben. Wir sahen, daß gewisse Gedichte der<br />

Kräuterschen Reinschrift auf Grund ihrer Quellen späteren Ursprungs<br />

als Januar r8r5 sein mußten. In diesem Zusammenhang spielten die<br />

Entleihungsdaten eine ausschlaggebende Rolle. Betrachten wir diese<br />

Entleihungsdaten aber nochmals im Überblick, so ergibt sich: gerade<br />

diejenigen Orientwerke, <strong>von</strong> denen die meisten Anregungen zu<br />

Die Entstehung der Kräutcrschcn Reinschrift 127<br />

Spruchgedichten ausgingen, wurden <strong>von</strong> Goethe nicht etwa nur im<br />

Januar, sondern bis in den Mai 18r5 <strong>von</strong> der Weimarer Bibliothek entliehen:<br />

nämlich bis zur Abreise nach Wiesbaden, die der Arbeitsperiode<br />

des Frühjahrs r815 erst ein E nde setzte. So entlieh der Dichter<br />

beispielsweise <strong>von</strong> Januar bis Mai 181 5: Saadis G ulistan, Chardins<br />

Voyages en Perse, die Fundgruben des Orients, Diez' Denkwürdigkeiten<br />

<strong>von</strong> Asien Bd. 1 un d das Buch des Kabus. Dies waren Hauptquellenwerke<br />

für die D iv un-Spruchgedichte, und nichts hindert um<br />

mehr, anzunehmen, daß oethe bis in den Mai r8r5 hinein Anregungen<br />

<strong>von</strong> ihnen empfangen hat.<br />

Anderseits ist der größte Teil des auf der Kräuterschen Reinschrift<br />

Enthaltenen sicherlich bereits bis zur Abreise nach Wiesbaden (Mai<br />

r8r5) entstanden. N ach diesem Zeitpunkt ~A~ Goethe die Quellenwerke<br />

nicht mehr zur Verfügun g. A ll enfalls könnte einzelnes, das<br />

nach Hafis, nach unbekannten Vorlagen oder ausnahmsweise ohne<br />

zugrundeliegende "orientalische Sinnreden" gedichtet war, noch später<br />

entstanden seih.<br />

Die ersten sicheren Zeugnisse, die etwas über Divan-Spruchgedichte<br />

aussagen, stammen <strong>von</strong> Mai 18r5, aus der Zeit kurz vor und<br />

kurz nach der Abreise nach Wiesbadel1. In der für Cotta bestimmten<br />

Charakteristik des Divan-Plans vom 16. Mai 18r5 schrieb Goethe -<br />

der Brief an Cotta wurde nicht abgesandt - : 2G)<br />

"Mein D ivan besteht gegenwärtig schon ohngefähr aus hundert<br />

größe rn Gedichten <strong>von</strong> mehreren Strophen und Zeilen, und <strong>von</strong><br />

vielleicht ebensovicl kl eil1l:ren, vo n acht Zeilen und drunter."27)<br />

Mit den letzten W orten ist natürlich auf die Spruchgedichte hingedeutet.<br />

Au ffä lli g ist, daß oethe sich weder über ihre Form noch<br />

ihre Zahl im klaren war. D ie Gedichte, auf die er hier anspielt, waren<br />

in Wirklichkeit a lle Vier- oder Zweizeiler! Dann aber ist auch die<br />

Angabe hundert viel zu hoch gegriffen. Offensichtlich lag die Kräuter ~<br />

2(~ Siehe obcn S. 8, m. Anm. JO.<br />

27) WA IV 25 . S. 41 6.


128 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />

sehe Reinschrift noch nicht vor. Sie hätte mit dem besseren Überblick<br />

eine genauere Formulierung ermöglicht. Burdach meinte, es seien in<br />

dem Brief an Cotta Gedichte mit in Betracht gezogen, die später<br />

unter die Zahmen Xenien gestellt wurden. 28) Aber diese Erklärung<br />

steht auf schwachen Füßen. So viel orientalisierende Zahme Xenien<br />

- es müßten an die 60 sein - kennen wir gar nicht. Zu damaliger<br />

Zeit dürften überhaupt nur wenige existiert haben.<br />

Ähnliche Unsicherheit tritt auch in einer weiteren Erwähnung der<br />

Spruchgedichte zutage, die <strong>von</strong> Ende Mai 1815 stammt. Am 31. Mai<br />

1815 schrieb Goethe an Christiane und August <strong>von</strong> Goethe aus Wiesbaden:28a)<br />

"Auch sind die neuen Glieder des D iv ans reinlich eingeschaltet<br />

und ein frischer Addreßcalender der ganzen Versammlung geschrieben,<br />

die sich nunmehr auf hundert beläuft, die Beygänger<br />

und kleine Dienerschaft nicht gerechnet."<br />

Mit dem "Addreßcalender" ist das am Tage zuvor niedergeschriebene,<br />

hundert Nummern umfassende Wiesbadener Register gemeint.<br />

In diesem hatte Goethe die größeren Gedichte gezählt, die kleineren<br />

nicht. Über ihre Menge weiß er auch in den Briefen an Christiane<br />

und A:ugust keine Angabe zu machen, es bleibt bei den ganz unbestimmten<br />

Bezeichnungen "Beygänger und kleine Dienerschaft". Das<br />

darf als weiterer Beweis gelten, daß die Kräutersehe Reinschrift noch<br />

nicht vorlag.<br />

Im Wiesbadener Register vom 30. Mai 18I5 werden die damals<br />

existierenden orientalisierenden Spruchgedichte, die "Beygänger und<br />

kleine Dienerschaft", vermutlich erwähnt unter Punkt 7, wo es heißt:<br />

"Talismane pp".29) Hierauf hat als erster Burdach in der Weimarer<br />

28) WA I 6, S. 400. Vgl. auch Gräf III 2, S. 34 zur Stelle; ferner Burdach, Akademievorträge<br />

S. 68.<br />

28.) WA IV 26, S. j und 7. Datierung der im Folgenden zitierten Briefstelle nach<br />

H. G. Gräf, Goethes Briefwechsel mit seiner Frau. Frankfurt a. M. 1916. S. 368.<br />

(Gräf datiert wohl nach Goethes Tagebuch.) Die Briefe wurden abgesandt am<br />

7. und 8. Juni 181j.<br />

29) WA I 6, S. 314. Divan, Akademie-Ausgabe 3, S. 3.<br />

Behandlung der "Talismane" 129<br />

Ausgabe hingewiesen. Allerdings glaubte Burdach, unter "Talismane<br />

pp" sei im engeren Sinne die Kräutersehe Reinschrift zu verstehen.<br />

Denn in dieser beginnt ein Bl.att, das die ersten fünf Gedichte des<br />

nachmaligen Buchs der Sprüche in dcr uns a-us dem Divan bekannten<br />

Reihenfolge enthält, mit dcm Gedicht :<br />

Talismanl: wl:cc\' ich in dem Buch zerstreuen,<br />

Das bewirkt ein leichgewicht.<br />

W er mit gläubig r N adel sticht<br />

Überall so ll gutcs Wort i.hn freuen.<br />

So überzeuge nd diese These Bmda hs auf den ersten Blick aussieht<br />

- wir müssen uns doch <strong>von</strong> .ihr bcfrl:jen. Immer ging ja Burdach<br />

<strong>von</strong>. der Annahme aus, die Kräutersche Reinschrift sei bereits am<br />

26. Januar 18I5 entstanden. Wir sahen, daß das nicht der Fall war<br />

und werden weiter zeigen, daß sie erst geraume Zeit nach der Niederschrift<br />

des Wiesbadener Regi-sters, nämlich im Oktober I8I5 angefertigt<br />

ward. Für jetzt seien nur die beidl:n Hauptgründe angeführt, die<br />

gegen die Existenz der Kräutersehen Reinschrift zur Zeit der Abfassung<br />

des Wiesbadener Registers sprechcn.<br />

1. Aus den angeführten Briefzc ugni sse n ging hervor, daß Goethe<br />

keine Über-sicht über die wirklichc Anzahl und Form der damals vorliegenden<br />

Spruchgedichte hattc. Dic Existenz der Kräutersehen Reinschrift<br />

hätte ihn zu bcstimmtcren, weniger vagen und irrigen Angaben<br />

führen müssen.<br />

2. Wenn Punkt 7 dcs Wi esbadener Registers "Talismane pp" sich auf<br />

die.Kräutersche Rcin schri ft bczöge, so wäre unbedingt zu erwarten,<br />

daß letztere einen entsprechenden Zählungsvermerk, also die Ziffer 7,<br />

trüge. Goethe vcrsah nämli ch, wie man weiß, sämtliche Reinschriften<br />

der im Wiesbadener Rcgistcr aufgeführten Gedichte mit der entsprechenden<br />

Nummcr, die sie in dem Verzeichnis erhalten hatten.<br />

Diese Nummer schrieb er mit roter Tinte in die linke obere Ecke des<br />

9 Momrn scn, Divan-Studi en


130 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />

jeweiligen Blatts. Daß eine solche Zählung bei der Kräutersehen<br />

Reinschrift fehlt, läßt mit Sicherheit darauf 'schließen: sie existierte<br />

überhaupt noch nicht, als das Register angelegt wurde! 30)<br />

Bezieht sich auch die Eintragung unter Nummer 7 des Wiesbadener<br />

Registers: "Talismane pp" nicht auf die Kräutersche Reinschrift<br />

als solche, so schließt das doch nicht aus, daß mit ihr auf die Menge<br />

der bereits in Einzelhandschriften vorliegenden orientalisierenden<br />

Spruchgedichte hingedeutet sein mag. Offenbar bevorzugte Goethe<br />

für diese zur damaligen Zeit die Benennung "TaHsmane"30 a ) - wie er<br />

den Gedichten <strong>von</strong> Sprichwörtlich gern die Bezeichnung "Gnomen"<br />

gab. Das Wort "Talismane" erinnerte an die Herkunft aus "orientalischen<br />

Sinnreden" und entsprach überhaupt der Atmosphäre des<br />

Divan. Das Gedicht "Talismane werd' ich in dem Buch zerstreuen"<br />

und besonders natürlich der Umstand, daß es später an den Anfan~<br />

des Buchs der Sprüche gestellt wurde, läßt - unter anderem - auf<br />

diese Benennung schließen. Das Gedicht, das zur Zeit des Wiesbadener<br />

Registers sicherlich schon existierte, zeigt aber noch etwas<br />

mehr. Man darf es Goethe ruhig glauben, daß er damals beabsichtigte,<br />

die "Talismane" wirklich in dem "Buch" zu "zerstreuen". Der<br />

Vierzeiler sollte in dieser Hinsicht wörtlich genommen werden, so<br />

wie er bei seiner Konzeption gemeint war.<br />

Der "Deutsche Divan", für den Goethe im Wiesbadener Register<br />

eine erste Vorordnung traf, sollte ja nicht aus einzelnen Büchern be-<br />

30) Burdach selbst hat auf die durchgehende Bezifferung der Reinschriften wiederholt<br />

hingewiesen. (Burdach. Akademievorträge S. 76; Welt-Goethe-Ausgabe<br />

Bd. 5. S. 380.) Er unterließ es aber zu erwähnen. daß bei der Kräuterschen<br />

Reinschrift, die er als zur Zeit des Wiesbadener Registers existent ansah. diese<br />

Zählung fehlt, hier somit di e einzige Ausnahme vorläge. Eine weitere Ausnahme<br />

bildet die Handschrift <strong>von</strong> .. E rschaffen und Beleben". Hier wies Burdach jedoch<br />

mit guten Gründen darauf hin. daß die mit der Zählung versehene Reinschrift<br />

vermutlich <strong>von</strong> Goethe an Zelter gesandt war. Nur bei einer verhältnismäßig<br />

geringen Anzahl <strong>von</strong> den im Wiesbadener Register aufgeführten Gedichten fehlt<br />

uns die Kontrolle über die Bezifferung. weil die Handschriften verschollen sind.<br />

30a) V gl. unten S. 134 ff.<br />

Behandlung der .. Talismane" 131<br />

stehen, sondern die Gedichte in ungezwungener Reihenfolge bringen.<br />

(Die Einteilung in Büd1er erfolgte erst im Oktober 1815.) Es war<br />

zunächst nur ein Korpus <strong>von</strong> Gedichten geplant, das formal etwa der<br />

Gruppe "Lieder" oder "Vermischte Gedichte" in den bereits bestehenden<br />

Ausgaben Goethescher Werke entsprach. Innerhalb dieses<br />

einheitlichen Ganzen wollte der Dichter - dies besagt doch der genannte<br />

Vierzeiler - die Spruchgedichte als Talismane "zerstreuen";<br />

der Leser sollte "mit gläubi ger N adel stechen" und sich Orakel holen.<br />

Damit wäre ein "Gloic.hgewicht bewirkt": das in seiner Grundtendenz<br />

leidenschaftliche Werk wäre zugleich ein Weisheitsbuch gewesen. Zugrunde<br />

lag die Vorstellung <strong>von</strong> d m "Bud10rake1", die Goethe <strong>von</strong><br />

Jugend her vertraut war.<br />

Das Kapitel "Buchorakel" d r Not 11 lind Abhandlungen deutet<br />

darauf hin, daß Goethe diese LiebJin gsidee allch in dem endgültigen<br />

Divan verwirklicht hatte, wenn a'U h jn ab rewandelter Form. Die<br />

"Talismane" selbst standen hier nlln in inem geschlossenen Buch beisammen.<br />

Doch waren inzwischen so VIi 'l sonstige Weisheitsgedichte<br />

in dem gesamten Werk "zerstreut", laß di ' ursprüngliche Idee als<br />

auf andere Weise realisiert gelten könnt ', Wie stark Goethe schon<br />

1815 <strong>von</strong> ihr beherrscht wurde, wie wörtli 'b also der auf das Buchorakel<br />

deutende Vierzeiler "Talisman' wereI' ich in dem Buch zerstreuen"<br />

zu nehmen sei, zeigt ,das gemeinsame "Däumeln" im Divan<br />

des Hafis, <strong>von</strong> dem Boisseree aus elen 'fagen des Zusammenseins mit<br />

Goethe - Oktober 1815 - bericbtet.:l1)<br />

Der Vermerk "Talismane pp" unter Nummer 7 des Wiesbadener<br />

Registel"s deutete nur allf die xistenz der Spruchgedichte hin, über<br />

deren Form unel Zahl sich ' oethe nicht im klaren war, und er er··<br />

innerte an die Absicht, diese edichte später im Divan zu "zerstreuen".<br />

Es ist anz verständlich, daß die "Zerstreuung" als solche<br />

noch nicht in dem Register, das nur vorläufig die IOD wichtigsten Ge-<br />

31) V gl. Boisserccs Tngcbu 'h vom 7. O ktober 1815: "Wir däumeln im Divan. Ich<br />

immer unglücklich - oder doch schl ech t u. verworren, G[oethe] meist verliebt."<br />

(Firmenich-Richartz S. 426.) .. Divan" bedeutet hier: die Hafis-Übersetzung <strong>von</strong><br />

J. v. Hammer, nicht etwa Goethes Divan-Manuskript.<br />

9*


132 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />

dichte verzeichnen ,sollte, vorgenommen wurde. Dies konnte erst geschehen,<br />

wenn es an die endgültige Ausgestaltung ging. Bis zu dieser<br />

sollte der "Deutsche Divan" - wie Goethe 16. Mai 1815 an Cotta<br />

schrieb - "noch um manche Glieder vermehrt" werden. 32) Erst wenn<br />

alles beisammen war, ließ sich die Zerstreuung der "Talismane" vornehmen,sie<br />

mußte bis zuletzt aufgeschoben werden.<br />

Daß Goethe im Ernst daran gedacht haben sollte, bereits an siebenter<br />

Stelle des "Deutschen Divan" den gesamten Komplex der<br />

"Talismane" hintereinander aufmarschieren zu lassen, darf als ausgeschlos'sen<br />

gelten. Es wäre in formaler Hinsicht ganz unsinnig gewesen,<br />

das Werk gleich zu Anfang mit drei. Dutzend Spruchgedichten<br />

zu belasten. Das Publikum hätte auf diese Weise viele Seiten durchlesen<br />

müssen, ehe es überhaupt auf Partien traf, die <strong>von</strong> dem wesentlichen<br />

Charakter und dem eigentlich Neuen des Werks einen Begriff<br />

gaben. Nicht ein einziges Gedicht hätte den Leser vorher auch nur<br />

mit der Gestalt des Hafis bekannt gemacht, die doch damals noch<br />

ganz und gar zentral war - sollte doch der "Deutsche Divan" zu<br />

Hafis "in stetem Bezug" stehn. 33) Die Spruchgedichte hätten sich mit<br />

ihrer erdrückenden Menge wie eine gewaltige Exposition ausgenommen,<br />

auf die dann ganz etwas anderes gefolgt wäre. So komponiert<br />

Goethe nicht, dem ein untrüglicher Instinkt für Maß und Proportion<br />

eignete, der gerade auf sinnvolle Exposition und Abfolge zu allen<br />

Zeiten besondere Sorgfalt wandte. Dem Dichter eine derartige kompositorische<br />

Unmöglichkeit zuzutrauen, war ein schwer verständlicher<br />

Fehlgriff Burdachs. Welche Unform dabei zustande gekommen wäre,<br />

zeigt der <strong>von</strong> E. Grumach veranstaltete Druck der im Wiesbadener<br />

Register genannten Gedichte gemäß Burdachs Vorstellungen, den<br />

man jetzt in den "Akademievorträgen" lesen kann.33a)<br />

Wie Goethe wirklich im Wiesbadener Register auf Exposition bedacht<br />

war, sieht man eher hieran: bevor unter Nr. 7 die Spruch-<br />

32) WA IV 25, S. 415.<br />

3:l) Vgl. das projektierte Titelblatt <strong>zum</strong> "Deutschen Divan" <strong>von</strong> 1815 (Divan, Aka.<br />

demie-Ausgabe 3, S. I).<br />

33a) Burdach, Akademievorträge S. 1I2-II6.<br />

Behandlung der "Talismane" 133<br />

gedichte als "Talismane" erscheinen, wird in Nr. 4 ("S~genspfänder")<br />

und in Nr. 5 ("Gottes ist der Orient"ynb) klar'gestellt, was es mit solchen<br />

Talismanen etc. auf sich hat. Nr. 4 enthält eine Schilderung ihres<br />

Charakters, Nr. 5 gibt praktische Beispiele, zu e in ~m Ganzen zusammengestellt.<br />

Natürlich dachte Goethe bei dem Vermerk Nr. 7: "Talismane<br />

pp" nicht an die Aufeinanderfolge <strong>von</strong> drei Dutzend Spruchgedichten,<br />

sondern an den Beginn des "Zerstreuens". Sicherlich sollte<br />

das Gedicht "Talismane werd' ich in dem Buch zerstreuen" an die<br />

Spitze der einges treuten Gedichte treten. Die Einschaltung des größeren<br />

Gedichts Nr. 6 ("Vier G naden") weist übrigens deutlich auf die<br />

Tendenz hin, di e Spruchgedi chte ni cht in einer Folge erscheinen zu<br />

lassen.<br />

Dem Gedicht "Talismane werd ' ich in dem Buch zerstreuen"<br />

kommt eine Schlüsselstellung zu. Es b 'dllrfte der Exposition - die<br />

in Nr. 4 und 5 erfolgte -, hatte aber selbst expositioncl len Charakter.<br />

Anscheinend trug Goethe sich eine Zcitlnng mit dem Gedanken, es<br />

zu dem Expositionsgedicht Nr. 4 (,,$ '/-lc nsrfiinder") hin zuzuziehen.<br />

Denn in der Handschrift dieses GecJi hts s ( eht am Schluß unter der<br />

fünften Strophe <strong>von</strong> des Dichters Hancl LI ' I' V crm crk: "Das sechste?"<br />

Wenn wir in Betracht ziehen, daß clas G 'di cht "Tnlismane werd' ich<br />

in dem Buch zerstreuen" damals noch in einer E in zclhandschrift, und<br />

nur in dieser, vorlag, so werden wir "D:1S sechst'e?" am besten auf<br />

dieses Gedicht beziehen . Es hätte als sechstes Teilstück der "Segenspfänder"<br />

einen übera us sinnvollen Platz gefunden im Hinblick auf<br />

die umfassencle Exposition. Mi t dem Vermerk "Dassechste?" hielt<br />

Goethe sich anscheinend diese Miigli chkeit offen. Bei der später erfolgten<br />

Einteilung des Divrtns in Bücher fiel die Entscheidung. Jetzt<br />

erwies sich das Gedicht als Jie geeignetste Einleitung <strong>zum</strong> Buch der<br />

Sprüche.<br />

33b) Unter Nr. 5 nenn t:


134 Zur E ntstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />

Aus den Tagebuchzeugnis'sen, die <strong>von</strong> der Herstellung des Wiesbadener<br />

Registers berichten, ist zu erkennen, daß die "Talismane" ein<br />

Problem bildeten, das noch in le~!!.de gelöst ;;;d~n- mußte,<br />

ehe das Register niedergeschrieben werden konnte. Den Entschluß<br />

ein Gesamtverzeichnis der Gedichte anzufertigen, mag Goethe in de~<br />

Reisetagen gefaßt haben, als er <strong>von</strong> Weimar nach Wiesbaden unterwegs<br />

war (24. bis 27. Mai 1815). Kaum in Wiesbaden angekommen,<br />

nimmt er die Arbeit vor. Nun lesen wir im Tagebuch:<br />

Mai<br />

27. In Wisbaden 1112. Im Bären eingekehrt. Einrichtung. Bibliothekar Hundeshagen.<br />

Den Divan geordnet.<br />

2S. Divan. Register. Gebadet. Fortsetzung am Divan. Mittag für mich. Talismane<br />

Amulete.<br />

29. [Nachmittags] Divan numerirt.<br />

30. [Nachmittags] Divan Verzeichniß.<br />

Zwischen "Ordnung" und "Nummerierung" beschäftigten Goethe<br />

also nochmals "Talismane Amulete". Hierbei könnte es sich um das<br />

Gedicht "Segens pfänder" gehandelt haben, und entsprechend interpretiert<br />

auch Gräf das Zeugnis vom 28. Mai; Strophe 1 und 2 des<br />

Gedichtes schildern ja den Charakter <strong>von</strong> Talismanen und Amuletten.<br />

Aber "Segenspfänder" war schon früher gedichtet, es ist recht unwahrscheinlich,<br />

daß Goethe <strong>zum</strong> , jetzigen Zeitpunkt noch so viel an<br />

dem Gedicht zu tun fand, daß eine Erwähnung dieser Arbeit im<br />

Tagebuch sich gelohnt hätte. Infolgedessen wird man die Eintragung:<br />

"Talismane Amulete" wohl auf die Beschäftigung mit dem gesamten<br />

Problem der "Talismane" beziehen müssen, wie es sich dem Dichter<br />

nun vor der Registrierung der Divan-Gedichte stellte. Goethe<br />

wird überlegt haben, wie die Masse der Spruchgedichte in jenem<br />

Verzeichnis zu behandeln sei, die er als "Talismane" zu "zerstreuen"<br />

gedachte. Hierfür war auch an eine Exposition zu denken; das führte<br />

zu einer Beschäftigung mit den jetzt "Segenspfänder" und "Talismane"<br />

benannten Gedichten. 34) Resultat dieser Überlegungen war<br />

\ 3!,) Bei dieser Gelegenheit mag das Versehen passiert sein, auf das Burdach hinwies<br />

- .....<br />

Behandlung der "Talismane" 135<br />

dann - <strong>zum</strong> mindesten - die Anordnung der Nummern 4 bis 7 des<br />

Wiesbadener Registers, über die wir oben sprachen.<br />

Aus den zunächst a uf die Niederschrift des Wiesbadener Registers<br />

folgenden vier Monaten berichten keinerlei Zeugnisse <strong>von</strong> der Beschäftigung<br />

mit Spruchgedichten bzw. "Talismanen". Der Divan<br />

wurde in dieser Zei t "au f eine sehr brillante Weise erweitert": 35)<br />

hinzu kamen die Suleika-Gedichte, <strong>von</strong> denen die Mehrzahl September/<br />

Oktober 1815 entstanden. Diese Gedichte gaben dem ganzen Projekt<br />

ein verändertes Gepräge. Ihr Charakter und ihre Entstehung<br />

riefen bei Goethe das natürliche Bestreben hervor, sie in eine geschlossene<br />

Gruppe zusammenzufügen; waren sie doch das Denkmal<br />

einer der glücklichsten und wichtigsten Epochen seines Lebens. Damit<br />

ergab sich die Notwendigkeit, das gesamte Werk in ei ne neue<br />

Form zu bringen. Goethe entschloß sich zur Aufgabe des Plans einer<br />

nicht unterteilten, zwanglos gereihten Gedichtsammlung, wie er im<br />

Wiesbadener Register angelegt war. Stattdessen sollte nun das thematisch<br />

Zusammengehörige vereinigt 'und in einzelne Bücher abgeteilt<br />

werden. Mit diesem Beschluß entschied sich auch, an einem<br />

der bedeutsamsten Wendepunkte in der Geschichte des Divan, das<br />

Schicksal der Spruchgedichte. Der Gedanke, 'sie als "Talismane" zu<br />

"zerstreuen", wurde fallengelassen. Auch di ese Gedichte mußten nun<br />

als eine geschlossene Gruppe zusammengcfaßt werden.<br />

Es war diese Entscheidung und f'estsctzung einer neuen Form des<br />

Divan, die zu der Zusammenstellung des Korpus <strong>von</strong> orientalisierenden<br />

Spruchgedichten führte, welche un s in der Kräuterschen Reinschrift<br />

entgegentritt. U nd erst jetzt, zu diesem prägnanten Zeitpunkt,<br />

ist diese Reinschrift selbst angefertigt worden, die man bisher fälschlich<br />

auf den 26. Janu ar 1815 datierte. Das läßt sich aus den Zeugnissen<br />

erkennen, die tins nun noch zu betrachten bleiben.<br />

(WA 6, 36, f. ; ßurdnch, Aknd emicvorträge S. 71): der Titel: "Talismane,<br />

Amulete, Abraxas Inschriften und Siegel" ward über das falsche G edicht ("Talismane")<br />

gesetzt. Vgl. unten S. 151 m. Anm. "ib.'"~----·~·'"<br />

35) Goethe an Knebel, 21. Oktober 1S15 (WA IV 26, S. 106).


136 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />

Am gleichen Tage, an dem Goethe laut Tagebuch den "Entschluß<br />

zur Abreise" <strong>von</strong> Heidelberg faßte - womit die beinah fünf Monate<br />

dauernde Rhein-Main-Reise <strong>von</strong> 1815 ihr Ende fand -, wurde auch<br />

die neue Form des Divan bestimmt. "Divan in Bücher eingetheilt",<br />

heißt es im Tagebuch vom 6. Oktober 1815, und tatsächlich trat Goethe<br />

am darauffolgenden Tage die Heimreise an.<br />

In Weimar, wo der Dichter am 11. Oktober eintraf, wurden zunächst<br />

die dringendsten sonstigen Arbeiten erledigt. Am 16. Oktober<br />

ist dann erstmals wieder im Tagebuch vom Divan die Rede: "Abschrift<br />

des Buchs Hafis" heißt es da. Goethe stellte also jetzt die Gedichte<br />

des Divan zu Büchern zusammen und ließ sie dann abschreiben.<br />

Auf diese redaktionelle Tätigkeit mögen sich weiter die Tagebuchzeugnisse<br />

<strong>von</strong> Oktober und November 1815 beziehen, die stets<br />

nur lakonisch den Vermerk "Divan" wiederholen.<br />

Ein einziges Mal wird während dieser Zeit im Tagebuch etwas<br />

Spezielleres genannt, und dieses Zeugnis ist das in unserem Zusammenhang<br />

wichtigste überhaupt. Am 26. Oktober heißt es: "Nach<br />

Tische den Talisman geordnet". Diese Worte können nach Lage der<br />

Dinge nur so zu verstehen Bein: Goethe "ordnet" nunmehr' die<br />

"Talismane", die er nach bisheriger Intention im Divan "zerstreuen"<br />

wollte, zu einem zusammenhängenden Korpus, einem "Buch". Das<br />

Entsprechende tat er ja zu dieser Zeit mit sämtlichen Gedichten des<br />

Divan. Die "Ordnung" bezieht sich im Falle des "Talisman" natürlich<br />

auf die Einzelhandschriften, in denen ihm bisher nur die Spruchgedichte<br />

vorlagen. Nachdem diese Handschriften "geordnet" waren,<br />

stellte dann Kräuter die Sammelhandschrift her, die wir heute als die<br />

Kräutersche Reinschrift des Buchs der Sprüche bezeichnen. Damit<br />

können wir nun diese Handschrift auch so datieren, wie es der Wirklichkeit<br />

entspricht: sie ist anzusetzen auf die Zeit unmittelbar nach<br />

dem 26. Oktober 1815.<br />

Hier erweist es sich nochmals, daß die Kräutersche Reinschrift bis<br />

zu diesem Zeitpunkt noch nicht existiert haben kann. Denn es wäre<br />

gar nicht möglich, die Tagebucheintragung vom 26. Oktober 1815:<br />

"Den Talisman geordnet" etwa mit dieser Reinschrift in Verbindung<br />

Die Entstehung dfr Kräutersehen Reinschrift 137<br />

zu bringen. In ihr lag ja die Ordnung schon vor, mit der Goethe sich<br />

jetzt beschäftigte. An der Kräuterschen Reinschrift war nicht mehr<br />

viel zu ordnen: <strong>von</strong> ihren ze hn, jeweils im Durchschnitt vier Gedichte<br />

enthaltenden Blättern 3(;) kon nte Goethe allenfalls noch einzelne untereinander<br />

verschieben, aber das war keine Tätigkeit, die seine Zeit<br />

ernstlich beansprudlt hätte und im Tagebuch erwähnt worden wäre.<br />

Auch weisen die zehn Blätter keinerlei Paginierung auf, mithin keine<br />

sichtbaren Zeichen der "Ordnung". "Den Talisman geordnet" kann<br />

nur so zu verstehen sein: Vorordnung der Einzelhandschriften zwecks<br />

Herstellung der Reinschrift. Das Zeugnis entspricht inhaltlich den<br />

auf die Sammlung "Sprichwörtlich" bezüglichen Tagebuchnotizen<br />

vom 6., 18. und 23. Januar 1815: 37) bevor Kräuter damals <strong>von</strong> den<br />

Spruchgedichten dieses Werks die Reinschrift herstellte, mußte Goethe<br />

sie "sammeln", "bearbeiten", "redigieren". Es bestätigt sich di e<br />

oft zu machende Erfahrung, daß bei Goethe die Entstehungsgeschi chte<br />

<strong>von</strong> Werken gleicher Gattung einen ähnlichen Verlauf nimmt.<br />

Unterschiedlich ist nur, daß in den Tagebuchzeugnissen zu "Sprichwörtlich"<br />

Kräuters Tätigkeit des "Abschreibens" besonders erwähnt<br />

wird, in denen <strong>zum</strong> Buch der Sprüche nicht. Die Genauigkeit solcher<br />

Angaben variiert jedoch in Goethes Tage buch beträchtlich. Während<br />

der Monat.e Oktober bis Dezember 1815 war Kräuter nachweislich<br />

der meistbeschäftigte Schreiber. D as zeigen beispielsweise die Konzepte<br />

der aus dieser Zeit stammenden Goetheschen Briefe. Sie wurden,<br />

mit Ausnahme wenige r <strong>von</strong> August v. Goethe geschriebenen,<br />

sämtlich <strong>von</strong> Kräuter angefertigt. Krä.uter fungierte damals auch als<br />

Schreiber für "Kun st 'und Alte rthum in den Rhein und Mayn Gegenden",<br />

wie aus erhaltenen Handschriften zu erkennen ist. Eine Bestätigung<br />

dafLir, daß die Kräutersche Reinschrift des Buchs der<br />

Sprüche aus dieser Zeit stammt, gibt endlich auch das Papier, auf<br />

dem sie geschri eben wurde. Das gleiche Papier mit dem nämlichen<br />

Wasserzeichenfindt:t sich nochmals bei den Konzepten einiger Divan-<br />

36) V gl. oben S. 10


138 Zur Entstehungsgeschichte des Buchs der Sprüche<br />

Gedichte, die sämtlich im Herbst 1815, nach Goethes Heimkehr <strong>von</strong><br />

der Rhein-Main-Reise, entstanden sind. 38)<br />

Daß in den Tagebuchzeugnissen, die <strong>von</strong> der Redaktionsarbeit an<br />

den "Büchern" des Divan im Oktober und November 1815 berichten,<br />

außer dem J3iuch Hafts nur das Buch der Sprüche eigens erwähnt<br />

wurde, macht es deutlich: auf dies letztere hatte Goethe besondere<br />

Mühe zu verwenden, mehr vermutlich als auf die übci.gen Bücher, bei<br />

denen die Dinge einfacher lagen. Nach allem, was wir uns vor Augen<br />

führten, erscheint das durchaus verständlich. In dem "Talisman" lag<br />

ein umfangreicher Komplex <strong>von</strong> Gedichten vor, der noch nicht überschaubar<br />

war, weil ihm im Wiesbadener Register keine Ordnung gegeben<br />

werden konnte und sollte. Die Redaktion dieser Gedichtmasse<br />

bildete <strong>zum</strong> jetzigen Zeitpunkt eine Aufgabe größeren Ausmaßes,<br />

daher wurde sie im Tagebuch besonders erwähnt.<br />

Wir sprachen eingangs da<strong>von</strong>, daß durch die Kräutersche Reinschrift<br />

bereits die eigentliche Anordnung des Buchs der Sprüche begründet<br />

worden war, die bis <strong>zum</strong> Druck des Divan hin ihre Gültigkeit<br />

behielt. Die Ursachen hierfür lassen sich jetzt besser verstehen,<br />

nachdem wir mit der richtigen Datierung dieser Reinschrift bekannt<br />

geworden sind. Die Anordnung stammt eben aus einer Zeit, in der<br />

überhaupt die endgültJige Form des Divan, für alle seine Bücher, im<br />

wesentlichen konstituiert ward. Dies zu wissen, ist für das Verständnis<br />

des Buchs der Sprüche und seiner Entstehungsgeschichte eine notwendige<br />

Voraussetzung.<br />

38) Die Gedichte: "Hochbild" und "Nachklang" (beide vom 7. N ov. 1815) ; "Hafis<br />

di r sich gleich Zu stellen" (vom 22. Dez. 1815) .<br />

"ABR AXAS"<br />

Süßes K ind, die Perlen reihen,<br />

W~e ich irge nd nur vermochte,<br />

W ollte trauli ch dir verleihen,<br />

Als der Liebe I ampend ochte.<br />

Und nun kommst du , hast ein Zeichen<br />

Dran gehängt, das, un ter allen<br />

Den Abraxas se in es gleichen,<br />

Mir am schlechtsten wi ll gefallen.<br />

Diese ganz modern e N nn:heit<br />

Magst du mir nach Schi ras bri ngen I<br />

Soll ich wohl, in seiner tarrheit,<br />

H ölzchen quer auf Hö l zc h e n s~ n gen ?<br />

Abraham, den Herrn der Sterne<br />

Hat er sich <strong>zum</strong> Ahn erl esen;<br />

Moses ist, in wüster Ferne,<br />

D urch den E ine n groß gewesen.<br />

Davi d, auch durch viel Gebrechen,<br />

Ja, Verb rechen durch gewandelt,<br />

Wußte doch sich los zu sprechen:<br />

E inem hab' ich recht gehandelt.


140 "Süßes Kind, die Perlenreihen"<br />

Jesus fühlte rein und dachte<br />

N ur den Einen Gott im Stillen;<br />

Wer ihn selbst <strong>zum</strong> Gotte machte<br />

Kränkte seinen heilgen Willen.<br />

Und so muß das Rechte scheinen<br />

Was auch Mahomet gelungen;<br />

Nur durch den Begriff des Einen<br />

Hat er alle Welt bezwungen.<br />

Wenn du aber dennoch Huld'gung<br />

Diesem leid'gen Ding verlangest;<br />

Diene mir es zur Entschuld'gung<br />

Daß du nicht alleine prangest. -<br />

Doch allein! - Da viele Frauen<br />

Salomonis ihn verkehrten,<br />

Götter betend anzuschauen<br />

Wie die Närrinnen verehrten.<br />

Isis Horn, Anubis Rachen<br />

Boten sie dem Judenstolze,<br />

Mir willst du <strong>zum</strong> Gotte machen<br />

Solch ein Jammerbild am Holze!<br />

Und ich will nicht besser scheinen<br />

Als es sich mit mir eräugnet,<br />

Salomo verschwur den seinen,<br />

Meinen Gott hab' ich verläugnet.<br />

Laß die Renegatenbürde<br />

Mich in diesem Kuß verschmerzen:<br />

Denn ein Vitzliputzli würde<br />

Talisman an Deinem Herzen.<br />

Goethe und das Kreuz-Symbol 141<br />

Dieses Gedicht mit seinem heiklen Gegenstand - Abneigung des<br />

Parsen gegen das christliche Kreuz - wurde <strong>von</strong> Goethe sekretiert. Es<br />

erschien erst in der Quartausgabe <strong>von</strong> 1836. In der Handschrift wird<br />

das Gedicht durch die links oben eingetragene Ziffer ,,62" mit dem<br />

Wiesbadener Register verbunden, wo es unter N r. 62 heißt: "Abraxas".<br />

"Abraxas" war also der ursprünglich vorgesehene oder <strong>zum</strong> mindesten<br />

erwogene Titel. Da er aber in der Handschrift fehlt, geben auch<br />

die Ausgaben fol ger~chti g das Gedicht ohne Überschrift.<br />

Goethes Abncigung gcgen das Krcuz als religiöses Symbol ist bekannt.<br />

Auge und inncrer inl1 , beide bei ihm hochempfindlich und<br />

jeden Eindruck mit ursprünglicher . cwalt auffassend, wehrten sich<br />

gegen die gewohnheitsmä ßige Zurschaustellung des "Martergerüsts".<br />

In Wilhelm Meisters Wanderjahrc n sprach der Dichter es unumwunden<br />

aus, daß es ihm eine "verdammun gswürd igc Frcchhcit" bedeute,<br />

mit diesen "Geheimnissen, in welchcn die göttli che T iefc des Leidens<br />

verborgen liegt, zu spielen". H ierüber solle man vielmehr "einen<br />

Schleier ziehen". 1) Und so trug auch Mignon, die Lieblingsgestalt des<br />

Dichters, in der wichtige Züge seines Wese ns verkörpcrt sind, das<br />

Kreuz geheim: erst bei ihrem Todc wird Cs cntdeckt "auf ihren zarten<br />

Armen mit vielen hundert Punkten sehr zicrlich abgebildet".2)<br />

Das Divan-Gedicht bringt Goethcs Abneigung gegen das Kreuz<br />

besonders kraß zur Darstellung und er.i nncrt damit an ähnliche Ausfälle<br />

in den Venezianischen Epigrammen. Eine eigenartige Note erhält<br />

es vor allem d adurch, daß dic InvcklJivcn gegen das Kreuz innerhalb<br />

der erotischcn Sphäre laut wc rdcn. Den Dichter bringt das Kreuz<br />

in Harnisch, das di e Gelicbtc als Schmuck am Halse trägt. Dies ist<br />

das Hauptrnotiv, <strong>von</strong> dcm das Gedicht ausgeht.<br />

Durch dic E rkl äc lIngsvers lIchc der Interpreten wird das Problematische<br />

dicscr Verknli pfung <strong>von</strong> Religionssatire und Eros noch erhöht.<br />

Burdach nahm an, das Gedicht sei durch ein pel'sönliches Erlebnis<br />

hervorgerufen worden: "Marianne-Suleika" habe "als Katholikin<br />

1) Wilhelm Meisters Wanderjahre Buch 2 Kap. 2 (WA I 24, S. 2j5).<br />

2) Wilhe1m Meisters Lehrj ahre Buch 8 Kap. 8 (WA I 23, S. 257).


142 "Süßes Kind, die Perlenreihen"<br />

ein Kruzifix getragen".3) Diese Vermutung wurde später in den<br />

Kommentaren oft wiedeDholt. Sie bringt aber neue Schwierigkeiten<br />

hinzu. "Süßes Kind, die Perlenreihen" rückt so ~n unmittelbare Nachbarschaft<br />

zu den Gedichten an Suleika - viele Amgaben haben es<br />

auch einfach dem Buch Suleika zugeordnet. Damit wird jedoch in die<br />

Suleika-Gedichte ein Mißklang hineingetragen, der höchst befremdlich<br />

und jedenfalls ohne Parallele wäre. Die Satire auf das Kreuz<br />

paßt schlecht zu dem sonst ganz reinen und positiven Charakter dieser<br />

Gedichtgruppe. Aber auch vom Biographischen her gesehen hat<br />

Burdachs Vermutung wenig Glaubhaftes. Als unser Gedicht entstand,<br />

im März 1815, war Marianne v. Willemer überhaupt nicht gegenwärtig.<br />

Die wenigen Begegnungen mit ihr im Herbst 1814 lagen viele Monate<br />

zurück. Goethes Freundschaft mit Marianne nahm erst im Herbst 1815<br />

jene Intensität an, wie wir ,sie aus dem im wesentlichen damals entstandenen<br />

Buch Suleika kennen. Erst in dieser Zeit schrieb Goethe<br />

zahlreiche Gedichte, die speziell auf persönliche Züge der Freundin<br />

Bezug nehmen, nicht aber vorher, wo sie schwer nachzuweisen wären.<br />

Diese Schwierigkeiten, die sich bei der herkömmlichen Deutung<br />

des Abraxas-Gedichts ergeben, lassen sich glücklicherweise beheben.<br />

Wieder einmal löst eine Quelle das Rätsel. Das Hauptmotiv - die<br />

Geliebte trägt ein Kreuz am Hals, das bei Andersgläubigen Anstoß<br />

erregt - stammt überhaupt nicht aus persönlichem Erleben. Goethe<br />

verdankt es literarischer Anregung.<br />

Was wir über die Beziehungen des Abraxas-Gedichts <strong>zum</strong> Orient<br />

wissen, beruht im wesentlichen auf einer Mitteilung Boisserees. Am<br />

8. August 1815 las Goethe in Wiesbaden Sulpiz Boisseree das Gedicht<br />

vor, und dieser berichtet darüber in seinem Tagebuch:<br />

"Haß des Kreuzes. Schirin hat ein Kreuz <strong>von</strong> Bernstein gekauft, ohne es zu kennen;<br />

ihr Liebhaber Cosken [ChosruJ findet es an ihrer Brust, schilt gegen die <strong>west</strong>liche<br />

Narrheit u.s.w. Zu bitter, hart und einseitig, ich rathe, es zu verwerfen, sei ein<br />

gutes ob <strong>zum</strong> närrischen Hofrath - ob odium crucis. - 4) Er wolle es seinem Sohn<br />

3) Jubiläums-Ausgabe 5, S. 425.<br />

4) Gemeint ist der <strong>von</strong> dem Frapkfurter Arzt J. Chr. Ehrmann gegründete "Orden<br />

der närrischen Hofräte". V gl. hierüber Beutler a. a. O. S. 803.<br />

Goethe und das Kreuz-Symbol 143<br />

<strong>zum</strong> Aufheben geben, dem gebe er alle seine Gedichte, die er verwerfe; er habe<br />

eine Menge, besonders persü nl iche und zeitliche; nicht leicht eine Begebenheit<br />

worüber er sich nicht in einem Gedidlt ausgesprochen. So habe er seinen Aerger,<br />

Kummer u. Verdruß über die Angclcgenhcit[cn] des Tages Politik u.s.w. gewöhnlich<br />

in einem Gedicht ausgclallcn, es sey ei ne Art Bcdürfnj(\ und Herzens-Erleichterung,<br />

Sedes poeticae. Er schoffe sich so dk Dinge vom Halse, wenn er sie in Gedicht[el<br />

bringe. sonst habe er dcrglcicld,cn] imlller verbrannt; aber sein Sohn verehre alles<br />

<strong>von</strong> ihm mit pie/a al, dn 1118sc Cl' ihm den Spaß."")<br />

Wir erfahren hier, was in dem Gedicht selbst nicht steht: "Süßes<br />

Kind, die Perlenreihen" ist angeregt durch gewisse Züge, welche die<br />

Überlieferung <strong>von</strong> Chosru und Schinin erzählt. Der persische König<br />

Chosru H. Parviz hatte eine Armenierin, Schirin, zur Gemahlin, die<br />

ihres Christentums wegen <strong>von</strong> den Parsischen Priestern angefeindet<br />

wurde. Bei der Boisseree gegebenen Erläuterung machte Goethe<br />

den historischen Hintergrund offenbar nur andeutungsweise klar,<br />

schmückte dagegen die Fabel noch weiter aus. Daß Schirin ein Kreuz<br />

"<strong>von</strong> Bernstein gekauft", noch dazu "ohne es zu kennen", ist eine<br />

Hinzufügung, die inhaltlich dem eigentlichen Thema des Gedichts<br />

widerspricht. Vielleicht darf man hier auch mit Gedächtnisfehlern<br />

Boisserees rechnen.<br />

In der Chosru-und-Schirin-Geschichtespielen sich die religiösen<br />

Gegensätze zwischen Parsen und Christen ab. Goethes Gedicht erwähnt<br />

die Parsen überhaupt nicht, wohl aber nachdrücklich Mohammed.<br />

Goethe hat die Handlung aus ihrer genauen zeitlichen Umgebung<br />

herausgdiist. Er spricht, wie gewöhnlich in der Frühzeit des<br />

Divan, aus der Maske des Hafis (oder Hatern) ; daher auch die Erwähnung<br />

<strong>von</strong> Schiras, andererseits die Weglassung der Namen Chosru<br />

und Schirin. Auf diese Wl'ise erscheint nun ein Mohammedaner als<br />

Gegner des Kreuzes, nicht ein Parse. Jedenfalls wäre es nicht gerechtfertigt,<br />

das Abraxas-Gedicht als <strong>zum</strong> Buch des Parsen gehörig zu erklären<br />

wie das durch Burdach geschah.6) So wie Goethe es schrieb, ist<br />

das P~rsische absichtlich eliminiert. An der Chosru-und-Schirin-Über-<br />

5) Firmenich-Ricllartz, S. 40.\ f.<br />

6) Jubiläums-Ausg. Bd. j, S. 425.


144 "Süßes Kind, die Perlenreihen"<br />

lieferung als Vorlage interessierte ihn wesentlich nur das Motiv, daß<br />

der Liebende seiner Angebeteten wegen <strong>zum</strong> "Renegaten" wird - in<br />

bezug auf das ominöse am Hahe getragene Kreuz. Das historische<br />

Detail ward ihm hierüber gleichgültig, darum verwendete er es nicht.<br />

Doch nun zu der uns interessierenden Quellenfrage. Über Chosru<br />

und Schirin las Goethe Ausführliches im 2. Bande der Fundgruben<br />

des Orients. J. v. Hammer brachte hier die "Probe einer Übersetzung<br />

des Schahname" <strong>von</strong> Firdusi. Ausgewählt hatte er: "Die Erzählung<br />

<strong>von</strong> Chosru und Schirin". In Hammers Einleitung zu seiner Übersetzung,<br />

die sowohl über Firdusi im allgemeinen als auch über die<br />

dargebotenen Partien des Schah Nameh im besonderen unterrichtet,<br />

finden wir auch den Passus, der das Hauptmotiv des Abraxas­<br />

Gedichtes anregte. Allerdings an recht verborgener Stelle. Hammer<br />

schreibt: 7)<br />

,,[Chosru] Parwis bestieg den Thron im Jahr 589 der christlichen Zeitrechnung ...<br />

Schon früher war er den Christen geneigt gewesen ... Das Jahr nach seiner Thronbesteigung<br />

vermählte er sich, wie Theophylaktus Simokatta erzählt mit Schirin CELp1J)<br />

einer Christinn, der zu Liebe er der christlichen Religion und besonders dem heil.<br />

Sergius vorzüglich zugethan gewesen zu seyn scheint. Im selben Jahre gelobte er ein<br />

goldenes Kreutz nach der zu Miafarekein erbauten Kirche des heil. Sergius, wenn<br />

\ es ihm gelänge den Empörer Sasdeprates zu bezwingen, und als man ihm dessen<br />

..t'. Kopf gebracht, sandte er nicht nur das versprochene Kreutz an die Kirche des heiligen<br />

Sergius nach Miafarekein, sondern auch das heil. Kreutz, das sein Vorfahrer<br />

Chosroes Nuschirwan <strong>von</strong> JernsaJem weggeführt hatte, dahin wieder zurück. Schirin,<br />

welche Parwis als eine Fremde wider alle Reichsgrundgesetze zur Gemahlin erklärte,<br />

mußte als solche dem Volke und besonders den Mob e den oder Priestern<br />

der Magen, um so verhaßter seyn, als sie Christinn war, und den Kaiser zu manchen<br />

die christliche Religion auf Kosten des alten Feuerdienstes begünstigenden Schritten<br />

verleitete. Einen auffallenden sonderbaren Beweis da<strong>von</strong> gibt sein <strong>von</strong> Simokatta<br />

aufbehaltenes Bitt- und Dankschreiben an den heil. Sergius worin er ihn zuerst um<br />

einen Erben <strong>von</strong> Schirin bittet, ihm dann ihre Schwangerschaft meldet, und sich<br />

schönstens dafür bedankt ... "<br />

Das im letzten Satz erwähnte Bitt- und Dankschreiben Chosrus an<br />

den heiligen Sergius zitiert Hammer seiner "Sonderbarkeit" wegen<br />

,) Fundgruben des Orients. Bd. 2, S. 424 f.<br />

Quellen 145<br />

in einer Anmerkung. Darin aber findet sich die eigentliche Quelle zu<br />

Goethes Gedicht. Das Schrciben la utet:<br />

Mag n 0 M a [ r ] t y r i S erg i 0 C h 0 S r 0 c s Rex r e g u m.<br />

Cum versarer Bcrramis, oravi tc, vir sancte, ut mc auxilio tuo adjuves, ut Sira<br />

conciperet; et qualllquam illa Christiana esset, ego vero GraecOflllll saneta colerelll,<br />

ut per leges nostras iJlarn lllatrimonio habere non possem, tarnen propter rneam<br />

erga Te pietatern legern sccutus illalll, duxi, eamque prae caeteris uxoribus in dies<br />

sincero alIectu et arno Cl amavi. Atque ita constitui bonitatem tu am rogare, ut Sira<br />

foetu gravida fieret, ct rogavi et juravi plene, si concepisset, er u c e III qua m in<br />

c 0 II 0 g e s t are t, ad venerabilern aedelll tuam mittere. - Et quia preces ac<br />

vota exaudis, cx illo die Sira, quod foeminis solet accidere, desiit. Theophylacttts<br />

interprete Pontano p. I37.<br />

Schirin also, die bei den Parsischen Priestern Verhaßte, trug als<br />

Christin "ein Kreuz am Hals" ("crucem quam in collo gestaret"). Dieser<br />

Zug, der sich nur hier findet - in der übersetzten Chosru-und­<br />

Schirin-Episode des Schah Nameh kehrt er nicht wieder - gab Goethe<br />

offensichtlich die Anregung <strong>zum</strong> Hauptmotiv des Abraxas-Gedichts.<br />

Vielleicht hätte er weniger auf dieses in einer Anmerkung verborgene<br />

Detail achtgegeben, wäre nicht im Haupttext so viel <strong>von</strong> Kreuzen die<br />

Rede gewesen und vom Gegensatz zwischen Christen und Parsen.<br />

Also nicht ein Kreuz, das Marianne v. Willemer trug oder etwa<br />

eine anmutige Weimaranerin, ist in dem Abraxas-Gedicht gemeint,<br />

sondern wirklich Schirins am Halse getragenes Kruzifix. "Süßes Kind,<br />

die Perlenreihen" beruht demnach in noch viel stärkerem Maß, als bisher<br />

bekannt, auf Quellenanregungen. Seinem Charakter nach ähnelt es<br />

damit den im Frühjahr ;8I5 entstandenen Divan-Gedichten, für die<br />

ganz allgemein gilt, daß sie wesentlich durch Quellen inspiriert wurden.<br />

Wie die meisten in dieser Arbeit betrachteten Gedichte ist auch<br />

"Süßes Kind. die.: Perlenreihen" eine Frucht der Fundgruben-Lektüre.<br />

In dcn FU lldw uht'n fnnd Gocthc ferner die sechste Koran-Sure , die ,<br />

wie man weiß, V . 11 11'. 11t1f'C,I(tc ( .. Ahraham, den Herrn der Sterne"<br />

10 Mommscl\. D IVAn , ti lwil lill


146 "Süßes Kind, die Perlenreihen"<br />

etc.). Goethe kannte diese Sure schon aus seiner Jugend, er hatte sie<br />

im Jahr 1772 übersetzt. 8) Er las sie aber <strong>zum</strong> jetzigen Zeitpunkt, im<br />

März 1815, wieder in dem gleichen Fundgruben-Band 2, der auch die<br />

<strong>von</strong> Hammer übersetzte und eingeleitete Chosru-und-Schirin-Episode<br />

aus dem Schah Nameh enthält. 9) Nachdem wir feststellen konnten,<br />

daß letztere den eigentlichen Anstoß zu dem Abraxas-Gedicht gab,<br />

erscheint es angebracht, auf diese bisher nicht beachtete Tatsache hinzuweisen.<br />

Im Fundgruben-Band 2 las Goethe auch die fünfte Sure des Korans,<br />

in der Jesus es ablehnt, sich selbst als "göttlich" anzuerkennen. V. 21<br />

bis 24 des Abraxas-Gedichts mag hierdurch angeregt sein. Ganz auf<br />

Band 2 der Fundgruben beruhen jedenfalls die ersten Worte eines<br />

Entwurfs zu dem Gedicht: "An Suleikas Hals Kreuz Auch Mobed,<br />

Abraham Mahom[et] ..." Das Wort Mobed, das Burdach zweifelhaft<br />

vorkam,1O) nimmt Bezug auf die oben zitierte Einleitung zu<br />

Hammers Schah-Nameh-Übersetzung ("Mob eden oder Priestern der<br />

Magen").<br />

Aus dem angeführten Gesprächsbericht Boisserees möchte man<br />

freilich entnehmen, daß irgendeine Art <strong>von</strong> Lebensanregung doch<br />

hinter dem Abraxas-Gedicht steht. Es ist <strong>von</strong> einer "Begebenheit"<br />

die Rede, über die Goethe sich "ausgesprochen" habe, <strong>von</strong> "Aerger,<br />

Kummer u. Verdruß über die Angelegenheiten des Tages" etc. Solche<br />

Dinge schaffe er sich vom Halse, "wenn er sie in Gedichte bringe".<br />

Nachdem sich herausgestellt hat, daß das Hauptmotiv, das am Halse<br />

getragene Kreuz, nicht aus der Erlebenssphäre, sondern <strong>von</strong> einer<br />

Quelle stammt, wird man überhaupt den Schluß ziehen dürfen: soweit<br />

eine Lebensanregung in Frage kommt, sollte sie nicht im<br />

amourösen Bezirk zu suchen sein. Wenn Goethe gelegentlich zu<br />

Äußerungen getrieben wurde, die ihn wie in den Tagen der Aus-<br />

8) Übersetzung aus dem Lateinischen; s. WA I 53, S. 145 f.<br />

9) Fundgruben Bd. 2, S. 346 ff. In: "Proben einer gereimten Übersetzung des<br />

Korans" <strong>von</strong>]. v. Hammer.<br />

10) WA I 6, 470.<br />

Frage der Anregungen 147<br />

einandersetzung mit Lavater als "dezidierten Nichtchristen" erscheinen<br />

lassen,11) so gab gewöhnlich ein Ereignis im Bereich des Weltanschaulichen<br />

den Anlaß.<br />

Im Falle des Abraxas-Gedichts könnte eine Tagebucheintragung<br />

auf ein solches Ereignis hindeuten. Am 2. März 1815 unterhielt sich<br />

Goethe "Mittag mit August [v. Goethe]. Üb~lIclig. Veränderung".<br />

Sehr bald darauf wurde "Süßes Kind, die Perlenreihen" .Beschriebenwie<br />

man auf Grund hand schriftlicher Indizien annimmZ"'T;inerhalb<br />

der ersten Märzhälfte. I:l) Die ill der Zeit der Romantik häufigen<br />

'--" -_ ~ ....<br />

Konversionen bekannter Pcrsönlichlu:itcn erregten wiederholt Goethes<br />

Unwillen. Über wessen " Rcli /o: ionsveründerung" er am 2. März<br />

mit seinem Sohne sprach, wiire noch zu crui cren. Möglicherweise handelte<br />

es sich um das genau in dicscr Z(:it kllrsi erende Gerücht, Schelling<br />

sei <strong>zum</strong> Katholizismus übergetreten. '1:1) E ine Nachricht dieser<br />

Art jedenfalls mag das Abraxas-Gedicht hervorgerufen haben. Was<br />

darin, freilich mit starker Ironie, zur Dnrstellung gebracht wird, ist<br />

schließlich ja auch eine Art "Rclil-\iol1sveriindcrung" : der Dichter<br />

"verschwört", "verläugnet seinen Gott" (V. 43 f.). Der Freundin zuliebe<br />

wird er Renegat, <strong>zum</strong>indest während CI' sie küßt:<br />

Laß die Renegatenbü rd '<br />

Mich in diesem Kuß vcrschmerzen:<br />

Denn ein Vi tzlirlltzli würde<br />

Talisman an Deinem Hcrzen.<br />

Will man dem Abraxas-Gecli cht einen Platz im Divan zuerkennen,<br />

so gehört es seinem Charakter IInch am ehesten in das Buch des Un-<br />

11) An Lavatcr 29. J Illi 17R2. (WA l V G, S. 20.)<br />

12) Vgl. WA J 6, S. 4)4 f. 11.111 7. IIlld 8. März 1815<br />

......,--<br />

las Goethe laut Tagebuch<br />

"Coran", cl. h. wohl ,nt: Ilillllrn crscht: 1l Proben in den Fundgruben, die für das<br />

Abraxas-Gt:d icht Anrq.~ung t: 1l g:1ht: n. Auch Chardin, auf dessen Einwirkung<br />

Burdach hinwi t:s (WAl G, S. 470), wurde in dieser Zeit studiert.<br />

13) Vgl. Schelling :1n st:inc Muttt:r 22 . Februar 1815; an Schubert 28. Februar 1815.<br />

(Plitt, Aus Schcllings Leben. Ud. 2, Leipzig 1870. S. 352 ff.)<br />

10 *


148 "Süßes Kind, die Perlenreihen"<br />

muts, nicht ins Buch Suleika oder ins Buch des Parsen. Vom Buch des<br />

Unmuts sagt Goethe in den Noten und Abhandlungen: 14.)<br />

" ... Demungeachtet aber kann der Mensch solche Explosionen<br />

nicht immer zurückhalten, ja er thut wohl, wenn er seinem Verdruß<br />

... auf diese Weise Luft zu machen trachtet. Schon jetzt hätte<br />

dieß Buch v,iel stärker und reicher seyn sollen; doch haben wir<br />

manches, um alle Mißstimmung zu verhüten, bei Seite gelegt. Wie<br />

wir denn hierbei bemerken, daß dergleichen Äußerungen, welche<br />

für den Augenblick bedenklich scheinen, in der Folge aber, als<br />

unverfänglich, mit Heiterkeit und Wohlwollen aufgenommen werden,<br />

unter der Rubrik Par a li p 0 m e n a künftigen Jahren aufgespart<br />

worden."<br />

Zu den "beiseite gelegten" Gedichten, <strong>von</strong> denen hier gesprochen<br />

wird, gehört zweifellos auch "Süßes Kind, die Perlenreihen". Damit<br />

stimmt überein, was Boissen:e <strong>von</strong> dem Gedicht berichtet. Vergessen<br />

wir auch nicht: es entstand gerade in der schon oben <strong>von</strong> uns erwähnten<br />

Zeit der Erkrankung, März 1815, als Goethe in ungewöhnlichem<br />

Maß hypochondrischen Stimmungen unterworfen war. Auch ohne<br />

Boissen':es Zureden wäre wohl die Entfernung der allzu scharfen<br />

Spottverse aus dem Divan erfolgt.<br />

Endlich sei noch ein Hinweis gegeben, welche Bedeutung das Wort<br />

Abraxas ,in unserem Gedicht hat. Das Kreuz wird darin als "Abraxas"<br />

bezeichnet, aber auf eine solche Art, daß "Abraxas" hier fast den<br />

Sinn <strong>von</strong> "Talisman" bekommt.<br />

Und nun kommst du, hast ein Zeichen<br />

Dran gehängt, das, unter allen<br />

Den Abraxas seines gleichen<br />

Mir am schlechtsten will gefallen.<br />

14) Kapitel "Künftiger Divan". WA I 7, S. 139.<br />

Abraxas und Talisman 149<br />

Lesen wir genau: es ist die Rede <strong>von</strong> allem, was man üblicherweise<br />

an eine Halskette als "Zeichen", als Symbol "dranzuhängen" pflegt.<br />

Normalerweise wären das Talismane, Amulette. Alles zusammen<br />

wird hier aber als Abraxas bezeichnet. "Unter allen den Abraxas"<br />

gefällt dem Dichter das Kreuz "am schlechtsten". Am Ende des Gedichts<br />

wird der Abraxas tatsächlich zu einem Talisman:<br />

Denn ein Vit:d iputzli würde<br />

Tali sman an Deinem Herzen.<br />

Abraxas und T alisman rücken also in dem Gedicht seltsam nah<br />

zusammen. Wie ist das zu erkliiren? Li egt darin nur eine Läßlichkeit<br />

des Dichters? Ein Spielen mit ernsten Begri llcn, wie man es eher bei<br />

Heine als bei Goethe kennt? N äher '8 JJ ·trachten führt uns zu einer<br />

anderen Deutung.<br />

Wir müssen uns hier an etwas cri nn et:ll, das .in den Divan-Kommentaren<br />

immer übersehen wird. Lctztcr' b 'schrii nken sich gewöhnlich<br />

darauf, Mitteilungen über di e H '(ku nft dcs Wortes Abraxas zu<br />

machen, die zahlenmystische Bedeutung, die es bei dem Gnostiker<br />

Basilides hat etc. Wichtiger für das V rsüindnis des Wortes im Divan<br />

ist jedoch, daß man sich folgendes kllll"lllllcht: ein Abraxas-Stein ist<br />

nichts anderes als ein Talisman, er hat di e gleiche Funktion, nur daß<br />

eben "Abraxas" eingeschnittcn ist: nbcntcuerliche Bilder, Figuren,<br />

Symbole - "absurde Dinge" jedenfa ll s, mit Goethe zu reden.<br />

Von Abraxas ist im Divan noch ein zweites Mal die Rede. In dem<br />

Gedicht "Segenspfäncler" lautet die vinte Strophe:<br />

D och A b r a x a s bring' ich selten!<br />

Hier soll meist das Fratzenhafte,<br />

Das ei n d üstrer Wahnsinn schaffte,<br />

Für das Allerhöchste gelten.<br />

Sag' ich euch absurde Dinge,<br />

D enkt, daß ich Abraxas bringe.


150 "Süßes Kind, die Perlenreihen"<br />

In diesen Versen wird <strong>von</strong> Abraxas mit stark negativem Akzent<br />

gesprochen. Gemeint ist aber auch hier das Aussehen der Figuren<br />

oder Symbole auf dem Abraxas-Stein, das "Fratzenhafte" daran.<br />

Etwas ganz anderes ist seine Funktion. Bezüglich dieser steht er auf<br />

derselben Stufe wie der Talisman, auch er wird als glückbringendes<br />

Symbol getragen. Die angeführte Strophe über Abraxas steht denn<br />

auch innerhalb des Divan-Gedichts, zu dem sie gehört, zusammen mit<br />

vier anderen, in denen ausschließlich positive, glückbringende Gegenstände<br />

erscheinen: Talismane, Amulette, Inschriften, Siegel. Bedenkenlos<br />

setzte Goethe über das ganze Gedicht den Titel "Segenspfänder"<br />

: offenkundig rechnete er doch auch Abraxas, wie immer er<br />

beschaffen sein mochte, zu den "Segenspfändern". Ähnlich wie in<br />

"Süßes Kind, die Perlenreihen" besteht auch hier zwischen Abraxas<br />

und Talisman kein eigentlicher, grundsätzlicher Gegensatz.<br />

Im Falle des Gedichts "Segenspfänder" lassen sich noch besondere<br />

Ursachen erkennen, die Goethe zu dieser Auffassung und Darstellung<br />

führten. Sie lagen - das wurde bisher übersehen - in der Quelle.<br />

"Segenspfänder" wurde gedichtet, wie man an sich weiß, nach einem<br />

Aufsatz J. v. Hammers im 4. Band der Fundgruben des Orients:<br />

"Über die Talismane der Moslimen". Innerhalb dieses Aufsatzes finden<br />

sich die Beschreibungen <strong>von</strong> Talismanen, Amuletten etc., die<br />

Goethe inspiriert haben. Dabei ist aber das Bemerkenswerte: Abraxas<br />

wird in diesem Zusammenhang <strong>von</strong> Hammer seiner Wirkung und<br />

Eigenschaft nach schlechtweg den Talismanen und Amuletten gleichgestellt.<br />

Der ganze Aufsatz handelt ausschließlich <strong>von</strong> glückbringenden<br />

Symbolen, Abraxas ist hier nur eines neben andern, eigentlich<br />

nur ein anderer N ame für die gleiche Sache. Ein einziger Satz drückt<br />

dies bei Hammer kurz und bündig aus: "Bei den Gnostikern hießen<br />

die Talismane AßpCl~Cl C; ." 15) Mehr wird über Abraxas überhaupt nicht<br />

gesagt.<br />

Hieraus ist nun ganz klar ersichtlich, warum Goethe bedenkenlos<br />

Abraxas neben Talismane und Amulette stellt, warum in seinem Ge-<br />

15) Fundgruben Bd. 4, S. 155 f.<br />

Abraxas und Talisman 151<br />

dicht Abraxas auch zu den "Segenspfändern" zählt - er lehnt sich<br />

hier, wie überhaupt in dem ganzen Gedicht, an die Vorlage an, er<br />

steht ganz unter deren Eindruck. Diese Erkenntnis ist auch aus einem<br />

anderen Grund nicht ganz unwichtig. Burdach nämlich sprach die<br />

Meinung aus, daß die Strophe über Abraxas mit dem Titel "Segenspfänder"<br />

in unbedingtem Widerspruch stehe. Hieraus leitete er weiter<br />

die Überzeugung ab, der Titel "Segenspfänder" sei <strong>von</strong> Goethe<br />

versehentlich auf das Gedicht über die Talismane, Amulette, etc. gesetzt<br />

worden. Eigentlich und rechtens gehöre er auf das jetzt "Talismane"<br />

benannte Gedicht ("Gottes ist der Orient" etc.).16) Diese<br />

ganze Argumentation geht fehl. Die aufgezeigte Übereinstimmung<br />

mit der Quelle macht es deutlich, daß Abraxas für Goethe im jetzigen<br />

Zusammenhang die gleiche funktionelle Bedeutung hatte wie<br />

Talismane und Amulette. Auch Abraxas war ein "Segenspfand". Er<br />

konnte wirklich "für das Allerhöchste gelten" - diese Wendung (V. 27)<br />

wird uns gerade im Hinblick auf die Quelle in besonderer Weise verständlich.<br />

Der Gebrauch des Wortes Abraxas in "Süßes Kind, die Perlenreihen"<br />

hat nach alle dem gleichfalls seine Erklärung gefunden. Goethe<br />

verwendet Wort und Begriff auch hier in ganz ähnlicher Weise wie<br />

111 "Segenspfänder". Auch Abraxas gehört in diesem Sinne zu den<br />

H;) V gl. Burdach, Akademievorträge S. 58. Ein Versehen ist Goethe n~r nachzuweisen<br />

bei der überschrift des Gedichts "T alismane" ("Gottes ist der Orient" etc.).<br />

Hierüber setzt er in der Handschrift nus nicht erklärbarer Ursache - vermutlich<br />

einfach F lüchti gke it - den Titel: "Tnlismnne, Amulete, Abraxas, Inschriften und<br />

Siegel" - der inhnltlich nur mi t Segenspfänder in Verbindung zu bringen ist.<br />

D er Titel "Segenspfii nel er" steht nndererseits klar und deutlich in der Handschr\~t<br />

des Gedi chrs "Tn li sman in Carneol". Goethe hat ihn nie zurückgenommen.<br />

Zum überAu ß findet sich in der Handschrift noch eine weitere Bestätigung :<br />

elurch di e links ohen angcbrnchtc Ziffer ,,4" ist auf Nr. 4 des Wiesbadener<br />

Registers hin gewiesen, lind dort steht unter Nr. 4 wieder eindeutig der Titel:<br />

"Segenspfänder". D ie hcim Abdruck der Gedichte des Wiesbadener Registers<br />

durch E. GnJlll:lch vorgenomm ene Umstellung der Gedichte Nr. 4 und 5 (Burdach,<br />

Akadcmi evortriige S. IIO f.) ist ebenso weni g gerechtfertigt wie Burdachs<br />

Argumentation. Vgl. oben S. 133 m. Anm. 33 b; S. 134 Anm. 34.


152 "Süßes Kind, die Perlenreihen"<br />

Talismanen, er ist gleichsam ein Talisman mit anderem Vorzeichen.<br />

Die Verwandlung des Abraxas in einen Talisman am Schluß des<br />

Gedichts bedeutet zwar ein Spielen mit witziger Pointierung, sie ist<br />

aber durchaus nicht so unseriös, wie es auf den ersten Blick erscheint.<br />

Eine festumrissene Ansicht vom Wesen des Abraxas steht dahinter,<br />

wie Goethe sie aus Hammers Aufsatz soeben gewonnen hatte. Denn<br />

als "Süßes Kind, die Perlenreihen" geschrieben wurde, stand er noch<br />

frisch unter dem Eindruck jenes Aufsatzes - die Entstehung des Gedichts<br />

liegt zeitlich nicht fern <strong>von</strong> derjenigen der "Segenspfänder" .<br />

Heide stammen ja aus derselben Epoche des Fundgruben-Studiums im<br />

Frühjahr 1815.<br />

N ACHWORT<br />

Anlaß zu den vorli egenden Untersuchungen gaben die Arbeiten am<br />

Divan-Band der "Entstehung vo n Goethes Werken" in D okumenten".!)<br />

Auf diesen in Vorbereitung befindlichen Band, der Entstehungszeugn<br />

isse und Q ucl lentcxte <strong>zum</strong> West-<strong>östlichen</strong> Divan vereint,<br />

sei hiermit verwiesen.<br />

Bereits frü her sind erschienen die Kapitel "Herr! laß dir gefallen"<br />

- in "Euphorion" Bd. 5 (1961) Heft 3 - und "Abraxas" in "For··<br />

sch ungen und Fortschritte" Jg. 36 (1962) Heft 5. Ich danke den Verlegern<br />

und Herausgebern für die Genehmigung <strong>zum</strong> Wiederabdruck.<br />

D as Goethe- und Schiller-Archiv zu Weimar (GSA) gab freundlicherweise<br />

die Erlaubnis zur Veröffentlichung <strong>von</strong> handschriftlichem<br />

Material. Für Auskünfte danke ich Herrn Professor Hans Albert<br />

Maier (Storrs, Connecticut) und Frl. Dr. Johanna Salomon (Jena).<br />

I) Momme <strong>Mommsen</strong>, unter Mitwirkung <strong>von</strong> <strong>Katharina</strong> <strong>Mommsen</strong>: Die Entstehung<br />

<strong>von</strong> Goethes Werken in Dokumenten. Bisher erschienen Band 1 und 2 . Berlin 19)8.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!