Soziolinguistik im suburbanen Milieu: Kreol, Pidgin, Sondersprache?
Soziolinguistik im suburbanen Milieu: Kreol, Pidgin, Sondersprache?
Soziolinguistik im suburbanen Milieu: Kreol, Pidgin, Sondersprache?
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
akteristische Sprachvarietät, die als Ausdruck und Medium dieser spezifischen <strong>suburbanen</strong><br />
Lebensform zu betrachten ist. Ich möchte meine linguistischen Ausführungen mit der Analyse einer<br />
<strong>im</strong> Sommer 1999 in L’Argentine (Z.U.P. in Beauvais / Oise) aus dem Munde einer jungen<br />
Sprecherin vernommenen Äußerung beginnen, die ein ansehnliches Maß an Ingredienzen der<br />
<strong>suburbanen</strong> französischen Sprachvarietät enthält:<br />
‘tain, c’te keum i me fait kiffer.<br />
Dieser Satz läßt sich wie folgt analysieren:<br />
– ‘tain Aphärese von putain (Interjektion, eventuell Tabuform)<br />
– c’te generisches Demonstrativadjektiv (maskulin und feminin)<br />
– keum verlan-Form von mec mit Apokope (mec → keumé → keum)<br />
– i reduziertes anaphorisches Subjektpronomen<br />
– kiffer Verbalderivation von dial. arab. kif (cannabishaltige Droge), ‘avoir envie’ 1<br />
Über die Klassifikation dieser Varietät besteht derzeit ein Höchstmaß an Uneinigkeit. So spricht<br />
Goudailler in seinem von Claude Hagège eingeleiteten Buch Comment tu tchatches von einer<br />
französisch basierten “interlangue” (Goudailler: 1997, 6-7), woraus sich entnehmen läßt, daß es sich<br />
um eine Kontaktvarietät handle, die durch das Vorliegen unvollständiger Sprachkompetenz<br />
gekennzeichnet sei. 2 Zugleich spricht derselbe Autor (ebd., 7) aber auch von “langue reubeu”, 3 was<br />
auf eine subkulturell konnotierte ethnospezifische Kontaktvarietät hinausliefe, sowie von der<br />
“langue commune des cités, sorte de Koïné” (ebd., 15); hier liegt offenbar ein geolinguistisches<br />
Klassifikationsmerkmal vor, bezogen auf ein diskontinuierliches Sprachgebiet. Schließlich rechnet<br />
Goudailler (ebd., 14-15) diese Varietät auch noch zu den “argots sociologiques”, 4 womit sie als eine<br />
Art Jargon bzw. <strong>Sondersprache</strong> aufzufassen wäre.<br />
Fabienne Melliani (2000; 2001) konzentriert sich auf die Interaktion von Jugendlichen der<br />
zweiten Immigrantengeneration aus dem arabischen Sprachraum in der banlieue von Rouen; sie<br />
n<strong>im</strong>mt damit also den spezifischen reubeu-Aspekt dieser Varietät unter die Lupe. Die Autorin<br />
spricht von “langue métisse” und “discours métissé”. Der Begriff des métissage hat <strong>im</strong><br />
gegenwärtigen Diskurs in Frankreich Konjunktur (cf. Bonniol: 1997; Mufwene: 1997b; auch<br />
Leconte: 1997); er bezeichnet aber von Haus aus ein rein biologisches Phänomen, nämlich das der<br />
1Wobei die semantische Motivierung klar sein dürfte: In der <strong>suburbanen</strong> Lebensform gehört Cannabis eben zu den<br />
Dingen, auf die man in besonderem Maße Lust hat. – Ins Deutsche übertragen, würde der Satz mit einer vergleichbaren<br />
kommunikativen Funktion in etwa folgendermaßen lauten: “Der Typ törnt mich voll an, äy.”<br />
2Dabei ist zu bemerken, daß der sozial definierte Begriff “Interlekt” sicherlich passender wäre als der der “interlangue”,<br />
der eine dynamische lernerspezifische Individualkompetenz bezeichnet.<br />
3Reubeu: Reverlanisierungsprodukt von arabe über beur; gemeint ist die zweite aus den arabischsprachigen Ländern<br />
stammende Immigrantengeneration.<br />
4Worin er mit L.-J. Calvet (1994b) einer Meinung ist.