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Soziolinguistik im suburbanen Milieu: Kreol, Pidgin, Sondersprache?

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A paraître dans / Erscheint in :<br />

Bierbach, Christine; Rita Franceschini (éds.), Diversité linguistique en contexte urbain : banlieues<br />

plurilingues, variétés du français et plurilinguisme. Tübingen, Paris : Stauffenburg / L’Harmattan.<br />

[Date de rédaction / Verfasst in 02/2001]<br />

Frank Jablonka<br />

<strong>Soziolinguistik</strong> <strong>im</strong> <strong>suburbanen</strong> <strong>Milieu</strong>: <strong>Kreol</strong>, <strong>Pidgin</strong>, <strong>Sondersprache</strong>?<br />

0. Die <strong>suburbanen</strong> Agglomerationen, wie sie seit Beginn der 70er Jahre in Frankreich entstanden<br />

sind, ziehen erst seit kürzerer Zeit die Aufmerksamkeit der Stadtsprachenforschung und der<br />

<strong>Soziolinguistik</strong> auf sich. Die sozialen Strukturen und die sie vermittelnden kommunikativen<br />

Dynamiken in diesen <strong>Milieu</strong>s sind in hohem Maße frankreichspezifisch und mit den Verhältnissen<br />

in anderen Ländern, etwa in Deutschland, nicht oder nur bedingt zu vergleichen, obwohl sich in<br />

völlig verschiedenen Kontexten überraschende Parallelentwicklungen feststellen lassen.<br />

Insbesondere geht mit der Entwicklung dieser seit etwa drei Jahrzehnten angelegten Siedlungen die<br />

Herausbildung einer spezifischen Varietät des Französischen einher, die einer beschleunigten<br />

Dynamik unterliegt. Diese Varietät steht <strong>im</strong> Mittelpunkt der folgenden Erörterungen.<br />

Diese soziale und soziolinguistische Situation, die von äußerst komplexen sprachlichen, ethnischen<br />

und kulturellen Kontakten sowie von starken sozialen Spannungen geprägt ist, ist eindeutig<br />

eine Spätfolge der kolonialen Vergangenheit Frankreichs, was einen nicht zu vernachlässigenden<br />

Aspekt der genannten Frankreichspezifik ausmacht. Eins der Hauptmerkmale der <strong>suburbanen</strong><br />

Agglomerationen in Frankreich ist der hohe Anteil von Immigranten insbesondere aus den<br />

ehemaligen Kolonien (bzw. Protektoraten, wie <strong>im</strong> Falle Marokkos), wobei in den meisten Fällen<br />

das maghrebinische Element quantitativ eindeutig dominiert, aber auch aus Schwarzafrika, teils<br />

auch aus den DOM/TOM, aus Asien (Indochina, aber auch China, Korea) sowie auch aus dem<br />

europäischen Ausland (Portugal, Türkei, Spanien u.a.); in der Franche-Comté ist in den letzten<br />

Jahren ein steigender Anteil aus Osteuropa zu verzeichnen, insbesondere aus der ehemaligen<br />

Sowjetunion und (Ex-)Jugoslawien. Es liegt eine multiethnische, multikulturelle und multilinguale<br />

– teils explosive – Bevölkerungsmischung vor. Denn diese überaus komplexe Kultur und<br />

Sprachkontaktsituation ist von starken sozioökonomischen Spannungen begleitet, die sich<br />

gelegentlich entladen.<br />

1. Von besonderem Interesse ist <strong>im</strong> vorliegenden Zusammenhang die emergente, äußerst cha-


akteristische Sprachvarietät, die als Ausdruck und Medium dieser spezifischen <strong>suburbanen</strong><br />

Lebensform zu betrachten ist. Ich möchte meine linguistischen Ausführungen mit der Analyse einer<br />

<strong>im</strong> Sommer 1999 in L’Argentine (Z.U.P. in Beauvais / Oise) aus dem Munde einer jungen<br />

Sprecherin vernommenen Äußerung beginnen, die ein ansehnliches Maß an Ingredienzen der<br />

<strong>suburbanen</strong> französischen Sprachvarietät enthält:<br />

‘tain, c’te keum i me fait kiffer.<br />

Dieser Satz läßt sich wie folgt analysieren:<br />

– ‘tain Aphärese von putain (Interjektion, eventuell Tabuform)<br />

– c’te generisches Demonstrativadjektiv (maskulin und feminin)<br />

– keum verlan-Form von mec mit Apokope (mec → keumé → keum)<br />

– i reduziertes anaphorisches Subjektpronomen<br />

– kiffer Verbalderivation von dial. arab. kif (cannabishaltige Droge), ‘avoir envie’ 1<br />

Über die Klassifikation dieser Varietät besteht derzeit ein Höchstmaß an Uneinigkeit. So spricht<br />

Goudailler in seinem von Claude Hagège eingeleiteten Buch Comment tu tchatches von einer<br />

französisch basierten “interlangue” (Goudailler: 1997, 6-7), woraus sich entnehmen läßt, daß es sich<br />

um eine Kontaktvarietät handle, die durch das Vorliegen unvollständiger Sprachkompetenz<br />

gekennzeichnet sei. 2 Zugleich spricht derselbe Autor (ebd., 7) aber auch von “langue reubeu”, 3 was<br />

auf eine subkulturell konnotierte ethnospezifische Kontaktvarietät hinausliefe, sowie von der<br />

“langue commune des cités, sorte de Koïné” (ebd., 15); hier liegt offenbar ein geolinguistisches<br />

Klassifikationsmerkmal vor, bezogen auf ein diskontinuierliches Sprachgebiet. Schließlich rechnet<br />

Goudailler (ebd., 14-15) diese Varietät auch noch zu den “argots sociologiques”, 4 womit sie als eine<br />

Art Jargon bzw. <strong>Sondersprache</strong> aufzufassen wäre.<br />

Fabienne Melliani (2000; 2001) konzentriert sich auf die Interaktion von Jugendlichen der<br />

zweiten Immigrantengeneration aus dem arabischen Sprachraum in der banlieue von Rouen; sie<br />

n<strong>im</strong>mt damit also den spezifischen reubeu-Aspekt dieser Varietät unter die Lupe. Die Autorin<br />

spricht von “langue métisse” und “discours métissé”. Der Begriff des métissage hat <strong>im</strong><br />

gegenwärtigen Diskurs in Frankreich Konjunktur (cf. Bonniol: 1997; Mufwene: 1997b; auch<br />

Leconte: 1997); er bezeichnet aber von Haus aus ein rein biologisches Phänomen, nämlich das der<br />

1Wobei die semantische Motivierung klar sein dürfte: In der <strong>suburbanen</strong> Lebensform gehört Cannabis eben zu den<br />

Dingen, auf die man in besonderem Maße Lust hat. – Ins Deutsche übertragen, würde der Satz mit einer vergleichbaren<br />

kommunikativen Funktion in etwa folgendermaßen lauten: “Der Typ törnt mich voll an, äy.”<br />

2Dabei ist zu bemerken, daß der sozial definierte Begriff “Interlekt” sicherlich passender wäre als der der “interlangue”,<br />

der eine dynamische lernerspezifische Individualkompetenz bezeichnet.<br />

3Reubeu: Reverlanisierungsprodukt von arabe über beur; gemeint ist die zweite aus den arabischsprachigen Ländern<br />

stammende Immigrantengeneration.<br />

4Worin er mit L.-J. Calvet (1994b) einer Meinung ist.


Rassenmischung. 5 Insbesondere liegt für Melliani aber eine “interstitielle” Varietät vor. Der Begriff<br />

des interstice, auf den <strong>im</strong> Folgenden noch einzugehen sein wird (cf. Abschnitt 3.2.), entstammt der<br />

Stadtsoziologen-Schule von Chicago. Es handelt sich <strong>im</strong> Ursprung um einen geographischen, nicht<br />

linguistischen Terminus <strong>im</strong> Sinne einer Übergangszone. Der Begriff wird bei Calvet (1994b)<br />

kulturell uminterpretiert. Insofern wäre unter einer “interstitiellen Varietät” ein Interlekt zu<br />

verstehen, dessen Entstehung und Funktion mit einem Bruch und der Neugenese der Identität(en)<br />

der Sprechergruppen zusammenhängen.<br />

Gabriel Manessy versucht ebenfalls, den von ihm so bezeichneten “Jargon” von Immigranten<br />

begrifflich zu erfassen und vertritt folgende Ansicht: “il semble qu’il y aurait avantage à placer<br />

l’étude des variétés urbaines dans la perspective générale sur la pidginisation 6 et la créolisation”<br />

(Manessy: 1993, 23). Damit verträglich ist auch die Auffassung von Jacqueline Billiez (1993), die<br />

von “parler véhiculaire interethnique” spricht. Das Attribut “véhiculaire” anstatt “vernaculaire”<br />

erscheint überraschend, da hierdurch der Schluß nahegelegt wird, <strong>im</strong> Vordergrund stehe die rein<br />

instrumentelle (referentielle) Funktion des Informationsaustauschs. Dies ist aber nach Billiez hier<br />

gerade nicht der Fall. Ferner ist fraglich, ob es sich um eine rein interthnische, also von<br />

Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen verwendete Varietät, handelt. Dies ist sicherlich<br />

nicht (jedenfalls nicht nur) der Fall. L.-J. Calvet (1994b, 70) geht in seiner Kritik noch einen Schritt<br />

weiter, indem er eine entgegengesetzte Argumentation vertritt: In seinen Augen ist die Varietät<br />

nicht inter-, sondern intraethnisch, da sich in ihr eine neue, emergente – eben interstitielle – Kultur<br />

artikuliert und konstituiert.<br />

Nach dieser Skizzierung der gegenwärtigen Debatte in Frankreich wird kaum zu bestreiten sein,<br />

daß bei der Klassifikation dieser neuen Kontaktvarietät ein beträchtliches Maß an Konfusion<br />

herrscht. Das Ziel der folgenden Ausführungen ist zu versuchen, die herrschende terminologische<br />

Verwirrung zu entwirren und die Varietät der französischen cités in bezug auf ihre<br />

Klassifizierbarkeit in den Griff zu bekommen und auf den Begriff zu bringen.<br />

2. Diese Aufgabe erweist sich als nicht unproblematisch, weil auch in <strong>Kreol</strong>istik und Kontaktlinguistik<br />

keineswegs überall Klarheit herrscht. Die Lage ist so unübersichtlich und komplex, daß<br />

Mufwene (1997a) die Klassifizierung von <strong>Pidgin</strong>- und <strong>Kreol</strong>sprachen als Sprachtypen rundweg<br />

ablehnt und nur ihre unter best<strong>im</strong>mten sozialhstorischen Bedingungen erfolgte Benennung<br />

(“baptes<strong>im</strong>al protocol”, ibid., 55) akzeptieren mag. “Thus, pidgins and creoles are special kinds of<br />

restructured varieties which are typically developed between the 17 th and the 19 th centuries out of<br />

5Ist diese überraschende Vermischung von biologischen und kulturellen Kategorien am Ende ein Echo der kolonialen<br />

Vergangenheit?<br />

6Die suburbane Varietät in Frankreich wird m.W. bisher nicht explizit mit <strong>Pidgin</strong>s in Verbindung gebracht. Auch ist<br />

festzuhalten, daß diese Varietät nicht, wie das sogenannte “<strong>Pidgin</strong>-Deutsch”, von erwachsenen Migranten verwendet<br />

wird, sondern typischerweise von Jugendlichen gesprochen wird.


the contact of European and non-European langages and outside Europe.” (ebd.) Er schlägt vor, den<br />

unangemessenen Gebrauch der Begriffe <strong>Pidgin</strong> und <strong>Kreol</strong> als Sprachbezeichnungen aufzugeben und<br />

etwa durch “contact varieties” zu ersetzen (ebd., 57). Dieser Punkt ist von zentraler Bedeutung:<br />

Wenn es also zutrifft, daß sich die <strong>Kreol</strong>istik in der Kontaktlinguistik auflösen läßt – eine Ansicht,<br />

auf die auch die Ausführungen von Chaudenson (1978; 1989; 1992) hinauslaufen – dann stellt sich<br />

das aufgeworfene Klassifikationsproblem überhaupt nicht. Allerdings wäre damit das Problem nur<br />

verschoben, da sich unmittelbar die Frage nach alternativen Klassifikationskriterien auftäte.<br />

2.1. Sarah Thomason (1997) versucht, den Fallstricken der Begriffsverwirrung zu entgehen, indem<br />

sie von Grenzfällen und Zwischenstufen absieht und die Kriterien von prototypischen <strong>Pidgin</strong>s und<br />

<strong>Kreol</strong>s zu inventarisieren sucht. Wir werden überprüfen, ob die Kriterien auch bei der <strong>suburbanen</strong><br />

Varietät in Frankreich erfüllt sind.<br />

Prototypische <strong>Pidgin</strong>s<br />

prototypische <strong>Kreol</strong>s<br />

a) Kontakt von drei oder mehr Sprachgruppen; idem<br />

auch bei der <strong>suburbanen</strong> Sprachvarietät in Frankreich<br />

b) Handel oder sonstige beschränkte Kommunikationszwecke nicht der Fall<br />

cités: nicht der Fall<br />

c) nur beschränkter Kontakt; keine Notwendigkeit für die Grup- idem<br />

pen, die Sprache(n) des/der anderen zu lernen<br />

cités: nicht der Fall; die Migrantenkinder sind früh durch Medien<br />

und Schulsystem dem französischen Standard ausgesetzt; sie<br />

müssen ihn erwerben, um in der Schule zu bestehen; aber: erste<br />

Kontakte mit dem Französischen erfolgen in einer Non-Standard-<br />

Varietät, die erlernt werden muß, um von den peers anerkannt und<br />

integriert zu werden<br />

d) Wenn eine dominante Sprachgruppe vorliegt, wird ihr Lexikon idem<br />

zugrunde gelegt.<br />

Lexikalisiert werden nur die praktisch relevanten<br />

Reiches Lexikon, für alle<br />

Bereiche (Handel etc.), da nur beschränkte Kommunikationsziele Kommunikationsbereiche<br />

bestehen.<br />

der Sprachgemeinschaft<br />

tauglich.<br />

Die cité-Varietät tendiert<br />

eher zu den <strong>Kreol</strong>s.<br />

Ferner sind <strong>Pidgin</strong>s, <strong>im</strong> Gegensatz zu <strong>Kreol</strong>sprachen, keine Erstsprachen. Hinzu kommt nach<br />

Thomason (1997), daß <strong>Pidgin</strong>s über eine reduzierte Morphosyntax verfügen (schwer erlernbare<br />

Elemente werden el<strong>im</strong>iniert, insbesondere <strong>im</strong> Bereich der Flexionsmorphologie), während für<br />

<strong>Kreol</strong>s eine “Kompromiß-Grammatik” charakteristisch ist, die aus den Kontaktsprachen hervorgeht.<br />

Zwar besteht häufig eine reduzierte Morphologie, jedoch ist sie für alle Kommunikationsbedürfnisse<br />

der Gemeinschaft hinreichend. Allerdings sind diese beiden distinktiven Merkmale:<br />

reiche Morphosyntax / Lexik und das Kriterium der Erstsprache, nicht notwendig gekoppelt.<br />

Eine reiche Morphosyntax schließt die Abwesenheit von Muttersprachlern nicht aus; hier bestehen


unscharfe Grenzen (“fuzzy boundaries”, ebd., 79). Vor diesem Hintergrund kann auch die<br />

Klassifizierung der <strong>suburbanen</strong> Varietät in Frankreich das Kriterium der Erstsprachigkeit nicht<br />

mehr ausschlaggebend sein. In der Tat wird die cité-Varietät von Sprechern zahlreicher<br />

Erstsprachen verwendet, sei es einer dieser Varietät nahestehenden Sub-/Nonstandardvarietät des<br />

Französischen und/oder einer Migrantensprache (z.B. dialektales Arabisch). Es ist entscheidend,<br />

daß die von jugendlichen peer-groups gesprochene cité-Varietät zwar <strong>im</strong> Kontakt von Sprechern<br />

verschiedener Erstsprachen entstanden ist, daß aber der Spracherwerb von (autochthonen oder<br />

Immigranten-)Kindern <strong>im</strong> Kontakt mit den Sprechern dieser Varietät in entscheidender Weise<br />

beeinflußt werden kann. M.a.W., es ist die Varietät des Französischen, mit der die Kinder in den<br />

peer-groups als erste in Berührung kommen (können) und die sie als (Quasi-)Erstsprache erwerben<br />

(können), die aber aus dem komplexen Sprach- und Kulturkontakt als emergente, nichterstsprachliche<br />

Varietät hervorgegangen ist. 7 Allerdings gewährleistet das Schulsystem (die école<br />

élémentaire beginnt in Frankreich bekanntlich bereits ab dem dritten Lebensjahr) einen<br />

hinreichenden Input in einer standardnahen Varietät des Französischen, so daß ein divergenter<br />

Sprachwandel (zumindest partiell) abgefangen wird; somit wird verhindert, daß diese Varietät in<br />

eine andere Richtung abdriftet. 8<br />

2.2. Es ist natürlich nicht zu leugnen, daß gegenüber ‘klassischen’ <strong>Kreol</strong>isierungs- bzw. <strong>Pidgin</strong>isierungsprozessen,<br />

wie sie in den Kolonien anzutreffen waren, erhebliche Unterschiede bestehen.<br />

Insbesondere fungiert das Französische nicht als Lexifier der sich herausbildenden Varietät; eher<br />

wird hier das Französische (bzw. werden seine Substandard-Varietäten) relexikalisiert, und zwar<br />

durch Argotismen (‘tain), verlan (keum), Arabismen (kiffer) etc. Das hängt natürlich damit<br />

zusammen, daß die dominante Sprache hier nicht in die Kolonien exportiert wird, sondern daß <strong>im</strong><br />

Gegenteil die Sprachen, die in den ehemals (oder noch <strong>im</strong>mer) von Frankreich dominierten<br />

Gebieten behe<strong>im</strong>atet sind, ins Mutterland, in die Metropole <strong>im</strong>portiert werden. 9 Diese umgekehrte<br />

Bewegung ist die Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln; sie ist seine Konsequenz <strong>im</strong><br />

20/21. Jahrhundert, die der Post-/Neokolonialismus und das damit zusammenhängende Nord-Süd-<br />

Gefälle <strong>im</strong> Zeichen der Globalisierung mit sich bringen. Überspitzt formuliert: Die Plantagen auf<br />

den Antillen sind die cités von heute; der heutige maghrebinische Industriearbeiter (oder RMIste) ist<br />

der schwarze Plantagenarbeiter von gestern. Von daher ist eine sozialhistorische Kontinuität des<br />

multiplen Sprach- und Kulturkontakts festzustellen, insofern man die Genesebedingungen der<br />

‘klassischen’ <strong>Pidgin</strong>s und <strong>Kreol</strong>s (die Mufwene als einzige als solche anerkennt) auf die heutigen<br />

Verhältnisse transponiert. Und insofern ist es nur konsequent, daß, wie Winford (1997, 4) ausführt,<br />

7Auch ‘klassische’ <strong>Kreol</strong>sprachen können zugleich als Erst- und als Zweitsprache fungieren; ein bekannter Fall ist das<br />

Tok Pisin.<br />

8Daß sie etwa auf das Arabische hin konvergiert.<br />

9Erhellend ist in diesem Zusammenhang auch die Kontakttypologie von Stehl (1989).


der Terminus <strong>Kreol</strong> “is now used to refer to a much wider range of contact languages than to which<br />

it originally referred”. Außerdem, so Winford, besteht weitgehend Einigkeit darüber, daß sich die<br />

Termini <strong>Pidgin</strong>isierung und <strong>Kreol</strong>isierung nicht nur auf die Genese von <strong>Pidgin</strong>s und <strong>Kreol</strong>s beziehen,<br />

sondern “to processes they share wich varieties of other contact outcomes” (ebd., 12). Dabei<br />

ist zu bedenken, daß es sich bei der <strong>Kreol</strong>isierung nach Mufwene um eine schrittweise<br />

Umstrukturierung und Differenzierung der dominanten (europäischen) Sprache handelt, also um<br />

einen divergenden Sprachwandel, der durch eine Verschiebung des demographischen Gefüges<br />

sowie durch prekäre Interaktionsmuster ausgelöst wird. Beides ist in den <strong>suburbanen</strong> cités gegeben:<br />

massive Verschiebung der Bevölkerungsstruktur durch Konzentration heterogener<br />

Migrantengruppen, und prekäre Kommunikationsmuster.<br />

2.3. Ein weiteres Problem betrifft die morphosyntaktische Strukturdifferenzierung. Winford weist<br />

darauf hin, daß diese auch in anderen als <strong>Pidgin</strong>- und <strong>Kreol</strong>sprachen zu finden ist. Ferner ist<br />

bekannt, daß auch <strong>Kreol</strong>sprachen über Flexionsmorphologie verfügen können. 10<br />

Nun lassen sich in der <strong>suburbanen</strong> cité-Varietät Ansätze von morphosyntaktischer Strukturreduzierung<br />

feststellen, und zwar aufgrund eines weiteren Merkmals von <strong>Kreol</strong>isierung: Nach<br />

Winford (1997, 12), “creolization is that complex of sociolinguistic change comprising expansion<br />

in inner form”, einhergehend mit der Erweiterung der Anwendungsbereiche und sozialen<br />

Kommunikationsfunktionen. Beides ist in der hier interessierenden französischen Varietät gegeben:<br />

Der Anwendungsbereich von Argot-Techniken erweitert sich, etwa durch die Verlanisierung von<br />

Argotismen (choper → pécho, mit Resemantisierung ‘acheter de la drogue’), 11 insbesondere<br />

solcher, die ihrerseits auf arabischen Einfluß zurückgehen (deublé ← argot bled ← dial. arab. bled;<br />

klass. arab. balad ‘pays’). Diese Erhebung des Argot in die zweite (und dritte) Potenz findet man<br />

auch in der Reverlanisierung (Arabe → beur → reubeu). Zudem erweitert sich der Bereich der<br />

sozialen Kommunikationsfunktionen (z.B. der poetischen Funktion, etwa <strong>im</strong> Rap).<br />

Nun ist der verlan zwar zunächst ein rein lexikalisches Phänomen, hat aber morphologische<br />

Konsequenzen, nämlich gerade <strong>im</strong> Hinblick auf die Strukturreduzierung. Ein Beispiel ist die<br />

Genusmarkierung: die Opposition maskulin vs. feminin wird el<strong>im</strong>iniert.<br />

Elle est auch ([oS]) la téci. (Schüleräußerung, Collège Diderot, Planoise)<br />

Hier wird das französische Adjektiv chaud <strong>im</strong> Maskulinum zugrunde gelegt und der Verlanisierung<br />

unterzogen; ansonsten müßte es *deucho oder *deuche (← chaude, letztere Form mit Apokope)<br />

lauten.<br />

Diese Struktur ist außerhalb des verlan rekurrent, so <strong>im</strong> Bereich des französischen Demon-<br />

10Ein Beispiel ist die Numerusmarkierung <strong>im</strong> haïtianischen <strong>Kreol</strong> (cf. Mufwene: 1997a, 51).<br />

11Schüler des Collège Diderot in Planoise (Besançon): “Y a même les surveillants qui viennent pécho.”


strativums ce, dessen Substandard-Form in der <strong>suburbanen</strong> cité-Varietät durchweg c’te lautet.<br />

c’te mytho (Seguin/Teillard: 1996, 209) 12<br />

Il a tué son voisin et il est resté là, c’te débile. (ebd., 105)<br />

Gleiches gilt für die Numerusmarkierung: Die Markierung -al → -aux entfällt, analog zur in den<br />

meisten Fällen auftretenden Struktur mit 0-Suffix:<br />

Les profs i sont pas normals. (Schüleräußerung Collège Diderot, Planoise)<br />

Durch Generalisierung erfolgt eine Vereinfachung der Regeln der Flexionsmorphologie.<br />

Auch ist eine Reduzierung der Allomorphie des best<strong>im</strong>mten Artikels festzustellen: Vor verlan-<br />

Ausdrücken wird der best<strong>im</strong>mt Artikel nicht elidiert:<br />

Passe, passe le oinj (Verlanisationsprodukt von joint). (NTM) 13<br />

Elle joue le auch. (Verlanisationsprodukt von chaud) (Seguin/Teillard: 1996, 180; jouer le auch ‘se vanter’)<br />

Auch führt die Verlanisierung von Verben keineswegs zur Bildung neuer Konjugationsklassen,<br />

sondern die Verbflexion ist ebenso wie die Markierung des participe passé 0. Diese Vereinfachung<br />

hat aber ganz andere Gründe als eine etwaige schwere Erlernbarkeit: Es gibt nichts zu konjugieren,<br />

weil entweder die Ausgangsform eine bereits flektierte Form des französischen Standards bildet<br />

oder das Verlanisationsprodukt keiner (bekannten) Verbklasse angehört, ergo auch keine<br />

Flexionsregeln vorhanden sind. Wozu auch? Die Flexion ist ja (in den meisten Fällen) redundant.<br />

Gleiches gilt für Verben, die aus der Zigeunersprache übernommen sind und mit der Endung -ave<br />

versehen sind: j’vais te marave (‘frapper’), je l’ai marave, j’te marave (cf. Seguin/Teillard: 1996,<br />

220).<br />

Verbale verlan-Formen<br />

vom Infinitiv (oder participe passé) abgeleitet<br />

von flektierter Verbalform abgeleitet<br />

Bien ouèj! (← joué; Seguin/Teillard: 1996, 176) Et les gendarmes comme ils l’ont<br />

J’ai bébar mon cousin. (← barber ‘mentir’; ebd., tège. [← jète] (ebd., 87)<br />

182)<br />

Hier j’ai cramé [repérer, surprendre] le keum qui m’a Rachide, je l’ai oide dans le coupéta<br />

[← taper ‘voler’] mon scooter. (ebd.,<br />

loir. (verlan mit Wortart-<br />

189) wechsel: ← doigt ‘mettre la<br />

Les petits, dans ma cité, ils prennent des tickets et main aux fesses; ebd., 204)<br />

ils font comme s’ils pédo. [← doper ‘fumer’]<br />

12Seguin und Teillard haben sich um die Erfassung der <strong>suburbanen</strong> cité-Varietät in besonderer Weise verdient gemacht,<br />

indem sie ein mit Collège-Schülern in der banlieue parisienne erarbeitetes Substandard-Wörterbuch (Seguin/Teillard<br />

1996) veröffentlichten. Sämtliche Wörterbucheinträge sind durch von Schülern vorgeschlagene und als besonders<br />

charakteristisch angesehene Beispielsätze erläutert. Ich gestatte mir, einige dieser Beispielsätze zu Explikationszwecken<br />

heranzuziehen.<br />

13Auf dem Album Paris sous les bombes.


(ebd., 205/6)<br />

Putain, me chauffe pas, j’suis déjà<br />

vénère. (← énerve; hier wird ein<br />

participe passé von einer konjugierten<br />

Verbalform abgeleitet;<br />

ebd., 217)<br />

2.4. Es erhebt sich die Frage, ob sich aus diesen Befunden Rückschlüsse auf die Kompetenz <strong>im</strong><br />

französischen Standard ableiten lassen. Dies scheint nur recht bedingt der Fall zu sein. Auf der<br />

einen Seite ist den Sprechern die französische Standardform, von der die verlan-Form abgeleitet<br />

wird, offensichtlich bekannt. Andererseits st<strong>im</strong>mt auffälligerweise die syntaktische Funktion der<br />

verlan-Form mit der der zugrundeliegenden Standardform nicht <strong>im</strong>mer überein. Es wäre allerdings<br />

voreilig, hieraus Rückschlüsse auf etwaige Kompetenzdefizite <strong>im</strong> Verbalsystem des französischen<br />

Standards zu ziehen.<br />

Die Kompetenzproblematik ist aber auch in bezug auf das Arabische relevant. Die Integration<br />

von Xenismen zieht auch Strukturreduzierungen <strong>im</strong> Bereich der arabischen Phonologie nach sich:<br />

Das arabische Phonem /ð/, welches <strong>im</strong> französischen Konsonantismus keine Entsprechung findet,<br />

wird el<strong>im</strong>iniert und durch ein Allophon des Phonems /r/, ein aspiriertes [{h] ersetzt, wie etwa in<br />

folgender Äußerung, die von einem jungen Sprecher in Planoise an seinen Pitbull gerichtet wurde:<br />

Allez mange ton [È{haluf]; c’est bon ça. (dial. arab. [ÈðaLuf], ‘Schwein’, ‘Wildschwein’, ‘Schweinefleisch’)<br />

Hinzuzufügen ist, daß komplementär zur Komplexitätsreduktion morphologischer Strukturen auch<br />

die gegenläufige Tendenz vorliegt: eine Erweiterung der Formenvielfalt durch neue Derivationsregeln:<br />

– verbale verlan-Formen + Suffix -ment → Substantiv: tèjement (‘rejet’)<br />

– Verbstamm + Suffix -os → Adjektiv: craignos (‘dangereux’)<br />

– auch Adjektiv + Suffix -os → Adjektiv (gravos, rapidos, gratos)<br />

3. Aus den bisherigen Erörterungen lassen sich m.E. keine überzeugenden Argumente ableiten, die<br />

gegen das Vorliegen einer <strong>Kreol</strong>isierung sprächen. Dem hier vorgeschlagenen erweiterten Sinn des<br />

Terminus kommt eine <strong>im</strong> französischen Diskurs vertretene Auffassung entgegen, wonach der<br />

Begriff der <strong>Kreol</strong>isierung nicht nur auf sprachliche Phänomene anzuwenden ist, sondern auch auf<br />

die Dynamik von Kultursystemen (cf. Bonniol: 1997; Chaudenson: 1992). Dies ist auf die<br />

Kontaktprozesse in den französischen banlieues gut anwendbar, was mit dem Problem der<br />

Transition und Transformation von Identität(en) in Zusammenhang steht.<br />

3.1. Frei nach dem von Bickerton zurückgewiesenen “Cafeteria-Prinzip” (cf. Calvet: 1997, 233)


schöpfen die Sprecher aus dem vielfältigen Vorrat an sprachlich-kommunikativen Techniken, die<br />

sich ihnen <strong>im</strong> <strong>suburbanen</strong> Diskurs-Universum darbieten (dazu Leconte: 1997, 145). Daß von den<br />

Kontaktsprachen das Arabische stärker als alle anderen zum Zuge kommt – und zwar bei<br />

Sprechergruppen gleich welcher ethnisch-kulturellen Herkunft –, hängt, abgesehen von der rein<br />

zahlenmäßigen Dominanz arabophoner Migranten, zweifellos auch damit zusammen, daß die<br />

arabische Sprache und Kultur tendenziell gewissermaßen als Inbegriff der Alterität angesehen<br />

werden. Die sprachlich vermittelte Individuation ist insbesondere eine “Individuation gegen”<br />

(Stierlin: 1994, 41 ff.): gegen eine als feindlich empfundene Welt – identifiziert mit der Welt der<br />

Autoritäten, von der sich die hier interessierenden jugendlichen Sprechergruppen abgelehnt,<br />

ausgegrenzt, stigmatisiert fühlen; gegen die Institutionen dieser ‘feindlichen’ Welt, insbesondere<br />

ihre Bildungseinrichtungen, wo die cité-Sprecher aufgrund des Drucks der präskriptiven Norm des<br />

französischen Standards vielfach als Erste der schulischen Selektion zum Opfer fallen. Insofern die<br />

hegemoniale Ordnung als Gegner angesehen wird, erklärt sich das Einhergehen von kryptischen<br />

und identitätsstiftenden Funktionen völlig zwanglos: Natürlich dürfen die Vertreter der<br />

hegemonialen Ordnung (v.a. Lehrer und Polizei) nicht mitbekommen, wie die Mitglieder der<br />

<strong>suburbanen</strong> ingroup sich gegen sie und durch sie hindurch zu behaupten versuchen:<br />

Quand y s’passe un truc et y a les keufs on parle verlan. (Schüleräußerung, Collège Diderot, Planoise)<br />

3.2. Was in Frankreich zu beobachten ist, ist die Genese einer spezifischen <strong>suburbanen</strong> cité-Kultur<br />

und -Identität sui generis aus dem multiplen Kontakt heraus. Es handelt sich hierbei, wie es die<br />

Rap-Gruppe NTM 14 formuliert, um eine Art ‘Paralleluniversum’, das der ‘legit<strong>im</strong>en’ und<br />

hegemonialen Ordnung entgegengesetzt ist; eine Kontakt-Kultur und -Identität, die durch die<br />

suburbane cité-Varietät artikuliert, interpretiert und reproduziert wird. In diesem Zusammenhang<br />

mag der Verweis auf die Etymologie von kreol (< lat. creare) erhellend sein (cf. d’Ans: 1997, 233):<br />

<strong>Kreol</strong> ist, was vor Ort entsteht, d.h. weder autochthon, bereits vorhanden ist noch <strong>im</strong>portiert wird. 15<br />

Für Calvet (1994b, 30) ist diese Kultur (und damit auch diese Sprachvarietät) “interstitiell”, da sie<br />

<strong>im</strong> Sinne der Chicagoer Schule eine Etappe auf dem Weg “compétition – conflit – adaptation –<br />

ass<strong>im</strong>ilation” ist, auf dem sich aber auch die ass<strong>im</strong>ilierende Kultur (und Sprache) verändert.<br />

3.3. Gleichwohl bleibt für Calvet die cité-Varietät <strong>im</strong> wesentlichen ein Argot (cf. Calvet 1997b,<br />

280), also eine gruppenspezifische <strong>Sondersprache</strong>. Hierbei sollte aber nicht vergessen werden, daß<br />

auch <strong>Sondersprache</strong>n, Jargons, in vielen Fällen Kontaktsprachen sind. Das französische Argot hat,<br />

ebenso wie das Rotwelsch in Deutschland, zahlreiche Ausdrücke aus der Zigeunersprache<br />

14Cf. Das Stück “Tout n’est pas si facile” (auf dem Album Paris sous les bombes): “D’évoluer dans un système<br />

parallèle / où les valeurs de base étaient pêle-mêle”. Und weiter: “On venait tous du même quartier / On avait tous la<br />

même culture de cité”.<br />

15Aus eben diesem Grunde lehnt Calvet für diese Varietät das Attribut “interethnique” ab; cf. Abschnitt 1.


aufgenommen, die, wie gesehen (cf. Abschnitt 2.3.), teils in der cité-Varietät weiterleben (z.B.<br />

marave, frz. ‘frapper’), und während das Rotwelsch mit Elementen des Hebräischen / Jiddischen<br />

angereichert wurde (cf. Kluge: 1901), hat auch die Aufnahme von Arabismen <strong>im</strong> französischen<br />

Argot Tradition (cf. Christ: 1991), so z.B. bled (cf. Abschnitt 2.3.), klebs ‘chien’ < dial. arab. kelb,<br />

klass. arab. kelb. 16 Zwischen diesen beiden Arten von Kontaktsprachen, d.h. <strong>Kreol</strong>s einerseits und<br />

<strong>Sondersprache</strong>n / Jargons auf der anderen Seite, besteht quasi eine ‘Wahlverwandtschaft’.<br />

Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Halliday zu “antilanguages”<br />

(Halliday: 1978, 164-182). Darunter sind Sprachen zu verstehen, die Ausdruck und Medium von<br />

“antisocieties” und “countercultures” (ebd., 164) sind, welche sich als bewußte Alternativen zur<br />

herrschenden Lebensform verstehen (“the acting out of a distinct social structure”,ebd., 167),<br />

einhergehend mit alternativen sozialen (Gegen-)Identitäten und gesellschaftlichen<br />

Wirklichkeitsentwürfen. Charakteristisch für antilanguages sind die partielle Relexikalisierung<br />

bestehender Sprachen und u.U. Sprachenspaltung, d.h. “a process of fission, the splitting off from<br />

an established language” (ebd., 165), wobei allerdings eine Kontinuität zwischen (etablierter)<br />

Sprache und antilanguage besteht, als Korrelat zur Kontinuität zwischen herrschender<br />

Gesellschaftsordnung und Gegengesellschaft (ebd., 171). Beide Seiten sind komplementär. 17<br />

Weiterhin erwähnt Halliday die kryptische und die poetische (bzw. ludische) Sprachfunktion (ebd.,<br />

166). Allerdings kann eine antilanguage <strong>im</strong> Sinne Hallidays (ebd., 171) nicht Erstsprache sein. Sie<br />

hat eindeutig die Charakteristika einer gruppenspezifischen <strong>Sondersprache</strong>, ist aber zugleich auch<br />

Resultat einer Dynamik von (vielfach komplexen) Sprachkontakten. Von besonderem Interesse ist<br />

hier der von Halliday (ebd., 172) Fall der “Calcutta underworld language”; diese Bengali-basierte<br />

Varietät weist nicht nur Strukturen auf, die zum verlan analog sind, sondern (neben Anglizismen<br />

und Einflüssen des Hindi) auch Arabismen. An einem völlig entlegenen Fleck der Erde finden sich<br />

demnach sprachliche Erscheinungen, die zu den Prozessen in den <strong>suburbanen</strong> Agglomerationen<br />

Frankreichs ebenso deutliche wie überraschende Analogien aufweisen.<br />

Ferner ist mit Winford festzuhalten, daß <strong>Sondersprache</strong>n / Jargons, sofern sie sich stabilisieren,<br />

die Entstehung von <strong>Kreol</strong>s auslösen können. “The starting point of creolization need not be a<br />

pidgin, but may be a pre-pidgin, or a subordinate language variety of some sort.” (Winford: 1997,<br />

12) Diese “subordinate language variety” ist in den <strong>suburbanen</strong> Agglomerationen Frankreichs<br />

zweifellos gegeben. Und Sarah Thomason (1997, 83) betont, daß auf dem Wege der Stabilisierung<br />

16Erstaunlicherweise liegt die arabische Pluralform kleb der Singularform <strong>im</strong> Argot zugrunde. Auch wird die<br />

Pluralform kleb von magrebinischen Immigranten der zweiten Generationen in arabischen Diskursen verwendet.<br />

Solcherart gelagerte Fälle werden von Séfiani (2000) <strong>im</strong> Rahmen ihrer Analyse einer emergenten Außenvarietät des<br />

Dialektarabischen in französischen <strong>suburbanen</strong> Agglomerationen (<strong>im</strong> vorliegenden Fall in der banlieue von Besançon)<br />

diskutiert.<br />

17Unter Bezugnahme auf Levi-Strauss führt Halliday (ebd., 175-6) aus, daß die Gegengesellschaft zugleich in einem<br />

“metaphorischen” und einem “metonymischen” Verhältnis zur herrschenden Gesellschaftsordnung stehe, jedoch innerhalb<br />

desselben umfassenden Gesellschaftssystems.


eine Kontaktvarietät für einige Zeit unvermeidlich das Stadium einer “semi-language” durchläuft,<br />

d.h. “a speech form that is not completely ad hoc but also not completely language-like in its<br />

systemic properties. The most common are jargon [meine Hervorhebung; F.J.] and pre-pidgin.”<br />

4. Damit dürfte feststehen, daß die Kontaktvarietät in französischen banlieues eine distinkte<br />

Technik darstellt, die zwar auf systemischer Ebene Stabilitätsdefizite aufweist, aber hinsichtlich der<br />

Verwendungsmodalitäten durchaus habitualisiert ist. Sie ist syntopisch (sie wird in den <strong>suburbanen</strong><br />

cités gesprochen); sie ist synstratisch (sie wird in erster Linie von sozial Benachteiligten<br />

gesprochen) und symphasisch (streng informell); sie ist (sit venia verbo) syngenerationell (sie wird<br />

vorzugsweise von Jugendlichen, aber auch Kindern verwendet) und <strong>im</strong> wesentlichen auf ein<br />

Medium (Oralität) beschränkt. Wir können feststellen, daß es sich bei jener <strong>im</strong> komplexen Sprachund<br />

Kulturkontakt emergenten Varietät um eine Züge von <strong>Kreol</strong>isierung aufweisende<br />

<strong>Sondersprache</strong> handelt, die nicht nur einer antilanguage <strong>im</strong> Sinne Hallidays (1978) recht nahe<br />

kommt, sondern die auch <strong>im</strong> wesentlichen alles mitbringt, was eine funktionelle Sprache <strong>im</strong> Sinne<br />

Coserius (1988, 285) braucht.<br />

Literatur<br />

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Résumé<br />

Si la sociolinguistique urbaine est dotée d’une riche tradition de recherche en France aussi bien que<br />

hors de France, les cités périphériques, phénomène relativement récent, attirent l’attention des<br />

sociolinguistes depuis assez peu de temps. Les structures sociales dans ces milieux suburbains et les<br />

dynamiques communicationnelles et linguistiques qui les véhiculent semblent être spécifiques de la<br />

France et ne sont pas comparables avec la situation dans d’autres pays européens, comme<br />

l’Allemagne, par exemple. Le développement des quartiers suburbains est notamment accompagné<br />

par l’émergence d’une variété linguistique du français, soumise à une dynamique accélérée. Etant<br />

donné que jusqu’à présent aucun consensus sur la classification de cette variété de contact n’a pu<br />

être trouvé, le présent article a pour but de faire face à la confusion terminologique dans la<br />

discussion actuelle.<br />

Il est évident que cette situation sociale et sociolinguistique, marquée par des contacts plurilinguistiques<br />

et pluriethniques extrêmement complexes et par de fortes tensions sociales, est un effet<br />

retardé du passé colonial de la France. L’une des stratégies de recherche les plus prometteuses dans<br />

les quartiers en question semble être l’application d’un modèle créoliste. Il convient toutefois de<br />

souligner que le problème qui est à l’origine de la variété suburbaine en question n’est pas<br />

essentiellement un déficit de compétence, et elle n’est pas non plus principalement une réaction aux<br />

besoins de communication interethnique, comme c’était le cas dans les colonies à l’époque de la<br />

créolisation proprement dite. Il apparaît, par exemple, que la verlanisation est un procédé purement<br />

lexical, mis en œuvre ad hoc à partir de lexèmes appartenant au standard (ou au sous-standard)<br />

français, maîtrisés par les locuteurs. Mais la fonction cryptique de ces stratégies de communication<br />

entraîne à son tour des réductions structurelles sur le plan morphologique (par ex. marquage du<br />

genre), caractéristiques des pidgins et créoles.<br />

De plus, le terme de “communication intraethnique” paraît plus approprié à ce phénomène de<br />

contact que l’affirmation d’une quelconque caractéristique interethnique, puisque nous sommes en<br />

présence d’une culture suburbaine émergente, de transition, à ce titre dite “interstitielle”, dont le<br />

vecteur symbolique et identitaire les plus <strong>im</strong>portant est la variété linguistique en question. Eu égard<br />

aux affinités entre langues créoles et jargons, nous recourrons au terme d’“antilangue”, proposé par<br />

Halliday (1978), pour caractériser la variété suburbaine du français comme un type d’argot atteint<br />

de certains traits de créolisation. Cette variété qui s’inscrit dans un projet de forme de vie alternative<br />

et contestataire – mais qui coexiste néanmoins avec l’ordre dit ‘légit<strong>im</strong>e’, hégémonique dans la<br />

même société – mérite sans aucun doute la dénomination de “langue fonctionnelle” (au sens de<br />

Coseriu: 1988) à part entière.

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