31.10.2013 Aufrufe

amnesty international - Dan Richter

amnesty international - Dan Richter

amnesty international - Dan Richter

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Pressespiegel<br />

OÖ Nachrichten<br />

11. Oktober 2007<br />

Republik Moldau auf der Suche nach Identität und Zukunft<br />

CHISINAU. „Was glauben Sie? Haben<br />

wir eine Chance?“ Wer die<br />

Republik Moldau besucht, bekommt<br />

diese Frage von Einheimischen<br />

häufig gestellt. Meist blähen<br />

sich dann die Wangen auf, die<br />

Schultern tanzen verlegen auf und<br />

ab, der ganze Körper windet sich.<br />

Man will ja nicht unhöflich sein<br />

und sagt deshalb Dinge wie „najaaa“<br />

oder „hmmm“, um Zeit zu<br />

gewinnen. Gleich mit der Wahrheit<br />

rauszurücken, wäre zu hart.<br />

Moldau hat nämlich keine Chance.<br />

Derzeit zumindest.<br />

Wenn man über die holprigen, löchrigen<br />

Asphaltpisten des Landes<br />

hochkonzentriert Schlaglochslalom<br />

fährt, kommt man durch Dörfer, in<br />

denen sich die Menschen an Begriffe<br />

wie Hoffnung, Aufschwung und Perspektive<br />

nicht mehr erinnern können<br />

oder noch nie gehört haben. Moldau<br />

hat den Startschuss verpasst: Vor<br />

mittlerweile 16 Jahren entließ sich<br />

der ethnische Schmelztiegel, in dem<br />

Russen, Moldauer, Rumänen, Ukrainer,<br />

Juden, Gagausen (türkische<br />

Christen), Bulgaren, Zigeuner und<br />

Deutschstämmige Seite an Seite leben,<br />

in die Unabhängigkeit. Und<br />

weiß seither nicht, was er mit ihr anfangen<br />

soll. Wirtschaftlich bewegt<br />

sich null. Wenn doch, dann haben<br />

die Wenigsten etwas davon. Sie sind<br />

übrigens an ihren großen, schwarz<br />

lackierten Autos, mit denen sie durch<br />

die Hauptstadt Chisinau rasen, leicht<br />

zu erkennen. Sie heben sich vom<br />

Rest nur allzu deutlich ab.<br />

Jahrelang nur Durchzugsgebiet<br />

Ein gigantischer Rucksack, der voll<br />

gepackt ist mit ungelösten Problemen<br />

der Vergangenheit, lässt Moldau<br />

einfach nicht von der Stelle kommen.<br />

Nicht erst seit Stalin 1924 die<br />

„Moldauische Autonome Sozialistische<br />

Sowjetrepublik“ (MASSR) an<br />

das alte Fürstentum Bessarabien andockte,<br />

um dort allem Nicht-Russischen<br />

systematisch den Garaus zu<br />

machen, ist das Land auf der Suche<br />

nach seiner Identität. Über Jahrhunderte<br />

galten die weiten Ebenen als<br />

Durchzugsgebiet vielerlei Armeen<br />

und als Heimat einfacher Bauern.<br />

Das permanente Gezerre zwischen<br />

dem zaristischen Russland und der<br />

Sowjetunion auf der einen sowie Rumänien<br />

auf der anderen Seite, die<br />

Bessarabien abwechselnd für sich<br />

beanspruchten und versuchten, der<br />

Bevölkerung ihre jeweiligen Sprachen<br />

und Schriften aufs Auge zu<br />

drücken, trugen maßgeblich zur heutigen<br />

Situation bei.<br />

Misstrauen und Abneigung<br />

Da wäre zum Beispiel der Transnistrien-Konflikt:<br />

Als Bessarabien,<br />

das sich zwischen den beiden Flüssen<br />

bis hinunter ans Schwarze Meer<br />

erstreckte, 1940 von den Sowjets annektiert<br />

wurde, verschmolz die<br />

MASSR, die bis ans östliche Ufer<br />

des Dnjestr reichte, mit dem Kernland<br />

zur Moldauischen Sozialistischen<br />

Sowjetrepublik (MSSR). Als<br />

das Riesenreich 1989 in seine Bestandteile<br />

zerfiel, begann es zu brodeln.<br />

Das russisch dominierte Transnistrien<br />

und das geschrumpfte ehemalige<br />

Bessarabien sollten plötzlich<br />

einen unabhängigen Staat bilden.<br />

Auf der einen Seite slawische<br />

Schwerindustrie, auf der anderen romanophone<br />

Agrikultur. Dazwischen:<br />

Misstrauen und Abneigung.<br />

Mehr noch: Im Sommer 1991 eskalierte<br />

die Situation, bei Schießereien,<br />

die man durchaus als Bürgerkrieg<br />

bezeichnen darf, starben Hunderte<br />

Soldaten, Polizisten und bewaffnete<br />

Arbeiter dies- und jenseits des Dnjestr.<br />

Eine politische Lösung<br />

scheint in weiter Ferne<br />

Nach Ende der Auseinandersetzungen<br />

wurde es ruhig um „Moldawien“,<br />

wie es in Europa gerne genannt<br />

wird. Wirtschaftlich abhängig<br />

von Russland, steuerten die Regierungen<br />

einen nach außen hin prowestlichen<br />

Kurs, ohne jedoch schlagkräftige<br />

Verbündete im Boot zu haben.<br />

Niemand interessierte sich für<br />

die Republik Moldau, schon gar<br />

nicht die Europäische Union. Erst in<br />

den vergangenen zwei Jahren wurde<br />

eine <strong>international</strong>e Mission installiert,<br />

die Zoll und Polizei bei der Bekämpfung<br />

von Schmuggel und Korruption<br />

mit Rat und Tat zur Seite stehen<br />

soll. Die „Schulung“ wird wohl<br />

noch einige Jahre andauern müssen.<br />

Was mit dem „abtrünnigen“ Transnistrien,<br />

dem punkto illegalen Warenumschlags<br />

meist als „schwarzes<br />

Loch“ titulierten Landstreifens in<br />

Form und Größe des Burgenlands,<br />

geschehen soll, bleibt unklar. Eine<br />

politische Lösung scheint in weiter<br />

Ferne.<br />

Trostlosigkeit<br />

so weit das Auge reicht<br />

Selbst unverbesserliche Sozialromantiker<br />

kommen in der Republica<br />

Moldova nicht auf ihre Rechnung.<br />

Denn hier ist nichts sozial und schon<br />

gar nicht romantisch. An jeder der<br />

Ortseinfahrten liegen die Gebeine<br />

der Sowjetunion: Eingestürzte Stallungen<br />

und Lagerhallen der ehemaligen<br />

Kolch- und Sowchosen, verrottete<br />

Fabriken und Wassertürme,<br />

windschiefe Gewächshäuser, in denen<br />

nur noch Unkraut gedeiht. Entlang<br />

der staubigen, nicht asphaltierten<br />

Pfade gibt es keine Geschäfte,<br />

keine Gasthäuser, kein gesellschaftliches<br />

Leben. Baufällige Häuser<br />

werden von ausgemergelten Bauern<br />

bewohnt, die die bleischwere Trostlosigkeit<br />

oft nur mit Alkohol bekämpfen<br />

können. Wer die Kraft hat,<br />

um seinen Acker zu bestellen, der tut<br />

das mit einem Pferd, einem Esel oder<br />

presst den Pflug eigenhändig durch<br />

die Schollen. Die verrosteten Landmaschinen-Riesen<br />

der „goldenen<br />

Ära“ schauen dabei zu.<br />

Zurück bleiben<br />

die Alten und die Kleinen<br />

Die aussichtslose Situation mündete<br />

in einen beispiellosen Exodus:<br />

Von den knapp viereinhalb Millionen<br />

Moldauern suchte rund ein Viertel<br />

das Weite bzw. sein Glück im<br />

Ausland. Das wiederum führt nicht<br />

nur zum sogenannten Braindrain,<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 55

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!