amnesty international - Dan Richter
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Pressespiegel<br />
die tageszeitung<br />
31. Mai 2007<br />
Vom guten Frieden<br />
Von Mykola Rabtschuk<br />
Aus dem Englischen von Heike Holdinghausen<br />
Die Ukraine ist eine chaotische und<br />
unreife Demokratie - aber immerhin<br />
ist sie eine. Die Bevölkerung verfolgt<br />
das Schauspiel der politischen<br />
Klasse mit wachsendem Zynismus<br />
Es war eine Mischung aus einem<br />
armseligen, patriotisch aufgeladenen<br />
Drama und einem Kabarettprogramm.<br />
In den frühen Morgenstunden<br />
des Pfingstsonntags, etwa gegen<br />
drei Uhr, erschienen der Präsident,<br />
der Ministerpräsident und der Parlamentspräsident<br />
der Ukraine vor<br />
Journalisten, die in ihrer Nähe eine<br />
Nachtwache gehalten hatten, und<br />
verkündeten die Beilegung der politischen<br />
Krise. Ihre friedliche Lösung<br />
sieht vorgezogene Neuwahlen<br />
am 30. September vor. Offenbar hatte<br />
die heilige Dreifaltigkeit das ukrainische<br />
Trio erleuchtet und ihm dabei<br />
geholfen, das Land vor einer Katastrophe<br />
zu bewahren, die es selbst<br />
heraufbeschworen hatte.<br />
Es scheint ukrainische Tradition zu<br />
werden, die brisantesten politischen<br />
Themen bis Mitternacht oder, wie es<br />
1996 bei der Annahme der Verfassung<br />
geschah, ins Morgengrauen hinein<br />
zu verhandeln. Seit dem Mittelalter<br />
ist diese Form der Kompromisssuche<br />
- zu streiten, bis es ein Ergebnis<br />
gibt - von den Kardinälen praktiziert<br />
worden, die einen Papst wählen<br />
mussten. So ist dieser Vorgang kaum<br />
neu für Europa. Aber er ist sehr unüblich<br />
für die postsowjetische Welt,<br />
in der Gewehre immer noch ein gewichtigeres<br />
politisches Argument<br />
sind als Wahlen.<br />
Es stimmt, dass die Ukraine bisweilen<br />
an den Rand eines blutigen Konflikts<br />
gerät. Aber die ganze Zeit sitzen<br />
die postsowjetischen Politiker,<br />
so stumpf und egoistisch sie auch<br />
sein mögen, mit ihren Rivalen an<br />
einem Tisch und treffen Abmachungen,<br />
mit denen sie hinterher alle<br />
nicht ganz zufrieden sind. Aber das<br />
ist es ja wohl, was Demokratie ausmacht.<br />
Man mag darüber spekulieren, warum<br />
die ukrainischen Kontrahenten<br />
sich so anders verhalten als ihre postsowjetischen<br />
Brüder anderswo. Die<br />
Ursache mag in der politischen Kultur<br />
in der Ukraine liegen, die sie vor<br />
langer Zeit, in vorsowjetischer, vorrussischer<br />
Zeit ausgeprägt hat, als<br />
das Land Teil des Habsburger Reichs<br />
und der polnisch-litauischen Union<br />
war. Es mag außerdem an einer Eigentümlichkeit<br />
des ukrainischen<br />
Charakters liegen, die sich in dem<br />
Witz ausdrückt, dass „die Russen bis<br />
zum letzten Tropfen Blut kämpfen<br />
und die Ukrainer bis zum ersten<br />
Tropfen“. Doch am ehesten ist der<br />
Unterschied politisch und ökonomisch<br />
zu erklären. Die ukrainischen<br />
Oligarchen, ob sie nun zum „blauen“<br />
Lager des Premierministers Janukowitsch<br />
oder zum „orangenen“ von<br />
Präsident Juschtschenko gehören,<br />
würden zu viel verlieren, wenn die<br />
politische Instabilität die Wirtschaft<br />
behindern würde. Und sie würden<br />
noch mehr verlieren, wenn Gewalt<br />
angewendet würde und sie dafür<br />
leicht vorhersehbare <strong>international</strong>e<br />
Sanktionen ernten würden.<br />
So spielen sie also weiter das kindische<br />
Spiel „wer zwinkert zuerst“.<br />
Und genau so nimmt die Mehrheit<br />
der Ukrainer die internen Machtkämpfe<br />
auch wahr - in deutlichem<br />
Kontrast zu den <strong>international</strong>en Medien,<br />
die dazu neigen, die starken<br />
Worte der Politiker für bare Münze<br />
zu nehmen.<br />
Seit dem 2. April, als Präsident Wiktor<br />
Juschtschenko mit seinem umstrittenen<br />
Erlass das Parlament auflöste<br />
und Neuwahlen anordnete, verfolgten<br />
die Ukrainer den eskalierenden<br />
Konflikt zwischen den beteiligten<br />
Figuren eher mit Vorsicht. Ihr<br />
Interesse machte mehr den Anschein,<br />
als würden sie einer Seifenoper<br />
zuschauen, als dass sie die Ereignisse<br />
mit tiefer persönlicher Anteilnahme<br />
verfolgt hätten, wie das während<br />
der orangenen Revolution der<br />
Fall war.<br />
Was auch immer die Politiker über<br />
eine „Krise“, einen „Putsch“ oder<br />
„Verrat“ sagten - die ukrainische<br />
Wirtschaft wuchs monatlich um ein<br />
Prozent, die Durchschnittsgehälter<br />
haben sich innerhalb einiger Jahre<br />
verdreifacht, und die Massenmedien<br />
sind pluralistisch genug, um die eigentlichen<br />
Absichten der beteiligten<br />
Parteien abzubilden.<br />
Damit enden dann allerdings die guten<br />
Nachrichten aus der Ukraine.<br />
Kommen wir zu den schlechten: Die<br />
Kehrseite der skeptischen Haltung<br />
gegenüber der Politik sind Politikverdrossenheit<br />
und Zynismus. Es<br />
mag heute schwierig, ja beinahe unmöglich<br />
sein, die Bevölkerung für<br />
etwas Schlechtes wie einen Bürgerkrieg<br />
zu mobilisieren. Aber es ist<br />
ebenso schwierig, sie für etwas<br />
Gutes zu gewinnen, wie den Aufbau<br />
der Demokratie. Sie hat eine klare<br />
Entscheidung für einen schlechten<br />
Frieden und gegen einen guten Krieg<br />
getroffen, aber sie hat die Aussicht<br />
auf einen guten Frieden aus dem<br />
Blick verloren.<br />
Guter Friede, das meint in diesem<br />
Fall eine tief greifende Reform der<br />
staatlichen Institutionen, die die Ukraine<br />
von der Sowjetunion geerbt<br />
hat. Sie waren eher Dekoration und<br />
spielten gegenüber der Kommunistischen<br />
Partei eine untergeordnete<br />
Rolle. Die Partei war die wahre<br />
Macht im Staat. Als sie ausfiel, wurde<br />
überdeutlich, dass die überholten<br />
Institutionen nicht funktionierten.<br />
Mitte der 90er-Jahre machte der damalige<br />
Präsident Leonid Kutschma<br />
sie wieder handlungsfähig, doch er<br />
reformierte sie nicht. Er ersetzte lediglich<br />
die Kommunistische Partei<br />
durch andere Machtmechanismen.<br />
Er formte den Erpresserstaat, in dem<br />
er mittels eines ausgeklügelten Systems<br />
regierte: Die Regierung<br />
sammelte „Kompromat“ - kompromittierendes<br />
Material - gegen jedermann,<br />
die Justiz agierte willkürlich<br />
gegen missliebige Subjekte. Die<br />
Führer der orangenen Revolution<br />
setzten dieses System außer Kraft,<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 51