amnesty international - Dan Richter
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Ukraine: Häusliche Gewalt – Die Opfer werden beschuldigt<br />
in der Allgemeinen Empfehlung 19, dass Gewalt<br />
aufgrund des Geschlechts, einschließlich häuslicher<br />
Gewalt, eine Form der Diskriminierung darstellt.<br />
Somit ist die Ukraine als Vertragsstaat verpflichtet,<br />
„die notwendigen gesetzgeberischen und sonstigen<br />
Maßnahmen, insbesondere auch Sanktionen,<br />
zu ergreifen, um jede Form von Diskriminierung<br />
von Frauen zu unterbinden.“ Sie ist außerdem verpflichtet,<br />
mindestens alle vier Jahre über die Einhaltung<br />
der Konvention zu berichten. Der letzte<br />
Bericht ist von 2002.<br />
Der Europarat ruft seine Mitgliedstaaten dazu auf,<br />
angemessene Schritte zur Bekämpfung der Gewalt<br />
gegen Frauen einzuleiten und mittel- und langfristige<br />
koordinierte Aktionspläne zum Schutz der<br />
Frauen zu erstellen. <br />
Am 27. November 2006 startete der Europarat<br />
eine Kampagne zur Bekämpfung der Gewalt gegen<br />
Frauen, in der gefordert wird: „Der Schutz der<br />
Frauen vor Gewalt in der Familie und im Haus soll<br />
in allen Mitgliedstaaten des Europarats höchste<br />
politische Bedeutung haben, und sie sollen dafür<br />
ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung<br />
stellen.“<br />
Nationale Gesetzgebung<br />
In vielerlei Hinsicht spiegelt das ukrainische Recht<br />
die <strong>international</strong>en Rechtsstandards wider. Das<br />
Parlament verabschiedete am 15. November 2001<br />
ein Gesetz zur Prävention häuslicher Gewalt, das<br />
im Januar 2002 in Kraft trat.<br />
Die Ukraine war das erste Land der ehemaligen<br />
Sowjetunion, das ein solches Gesetz über häusliche<br />
Gewalt verabschiedete. Es deckt sämtliche Aspekte<br />
von Gewalt innerhalb der Familie ab und beinhaltet<br />
eine Definition von häuslicher Gewalt, die mit den<br />
UNO-Standards im Einklang steht. Das Gesetz ist<br />
präventiv ausgerichtet, und häusliche Gewalt wird<br />
nach den geltenden Bestimmungen des Straf- und<br />
des Verwaltungsrechts verfolgt.<br />
Dennoch hat das Gesetz sich als für die Bekämpfung<br />
häuslicher Gewalt nicht effektiv erwiesen.<br />
Eine parlamentarische Anhörung im Juni 2004<br />
(Situation der Frauen in der Ukraine: Wirklichkeit<br />
und Perspektiven) zog den Schluss, dass trotz des<br />
Gesetzes die Zahl der Gewalttaten in Familien weiterhin<br />
anstieg. <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> ist der Ansicht,<br />
dass es ernsthafte Mängel im Gesetz gibt, die<br />
behoben werden müssen, wenn es ein effektives<br />
Siehe Empfehlung Nr. R (2002) 5 des Minister-Komitees<br />
und das erläuternde Memorandum<br />
Mittel zur Verhütung von häuslicher Gewalt sein<br />
soll.<br />
Das Gesetz zur Prävention häuslicher Gewalt beinhaltet<br />
das Konzept des „Opferverhaltens“, das definiert<br />
wird als „Verhalten des Opfers, das häusliche<br />
Gewalt provoziert“. Artikel 11 sieht die Möglichkeit<br />
vor, Opfern häuslicher Gewalt „eine offizielle<br />
Verwarnung wegen der Unzulässigkeit von Opferverhalten“<br />
auszusprechen.<br />
Solch ein Konzept darf nicht in einem Gesetz<br />
vorkommen, auch wenn es ratsam sein kann, Fragen<br />
von Verhaltensmustern in der psychologischen<br />
Beratung zu benennen. Da entsprechende soziale<br />
Dienste und andere Stellen fehlen, um solche Vorschriften<br />
umzusetzen, tragen überarbeitete Polizeibeamte<br />
ohne entsprechende Ausbildung die Hauptlast<br />
bei der Entscheidung, ob eine Frau Opferverhalten<br />
an den Tag gelegt hat oder nicht.<br />
In der alltäglichen Realität leistet der Gesetzestext<br />
der Annahme Vorschub, Frauen würden<br />
schuldhaft die Gewalt selbst herbei provozieren,<br />
wodurch die Täter Verfolgung vermeiden können.<br />
Er ermöglicht es der Polizei und staatlichen Behörden,<br />
den Fokus darauf zu verlegen, Frauen zu einer<br />
„Verbesserung“ ihres Verhaltens anzuhalten, anstatt<br />
sie angemessen zu schützen oder die Gewalttäter<br />
zu verhaften.<br />
Darüber hinaus fließt jede Verwarnung wegen<br />
Opferverhaltens in die persönliche Beurteilung der<br />
Frau ein, wenn ein Fall an ein Gericht weitergeleitet<br />
wird, und kann als mildernder Umstand für den<br />
Täter geltend gemacht werden.<br />
Eine Anwältin in Lwiw, die mit einer NGO zusammenarbeitet,<br />
berichtete, dass einige Polizeibeamte<br />
erkannt haben, dass sie durch das Aussprechen<br />
von Verwarnungen Frauen davon abhalten<br />
können, Anzeige zu erstatten. In den ersten neun<br />
Monaten des Jahres 2005 wurden 3.049 Verwarnungen<br />
wegen Opferverhaltens ausgesprochen.<br />
Es scheint sich aber die Erkenntnis durchzusetzen,<br />
dass das Konzept aus dem Gesetz gestrichen<br />
werden soll. Für das Jahr 2006 gibt es in den offiziellen<br />
Statistiken der Abteilung Öffentliche Sicherheit<br />
keine Angaben über Opferverhalten mehr. Ein<br />
Vertreter der Abteilung berichtete <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong>,<br />
dass nun die Polizeibeamten angewiesen<br />
würden, vorsichtig bei der Benutzung dieses Terminus<br />
zu sein.<br />
Das Gesetz zur Prävention häuslicher Gewalt<br />
nennt eine Reihe von Maßnahmen zur Verhütung<br />
von Gewalt und zum Schutz der Opfer von Gewalt:<br />
Verordnungen zum Schutz, spezielle Institutionen<br />
zum Schutz der Opfer häuslicher Gewalt, Zentren<br />
für medizinische und soziale Rehabilitation, Krisenüberwachungszentren.<br />
24 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007