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amnesty international - Dan Richter

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<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.<br />

Koordinationsgruppe<br />

Weißrussland · Ukraine · Republik Moldau<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong>-Eilaktionen zu Fällen in Weißrussland<br />

Ukraine: Häusliche Gewalt<br />

Republik Moldau: Misshandlungen<br />

in Polizeigewahrsam<br />

Koordinationsgruppen-Rundbrief Nr. 16<br />

Dezember 2007<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 12/ 2005


Wir verwenden die Bezeichnungen<br />

»Weißrussland« oder »Belarus«,<br />

»Republik Moldau«, »Moldawien« oder »Moldova«,<br />

ohne damit eine politische Intention zu verbinden.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.<br />

Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau<br />

Koordinationsgruppe<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong>-Gruppe Nr. 2349<br />

www.ai-2349.de<br />

Sprecherin:<br />

Katja Heydenreich<br />

e-mail katjaheydenreich@gmx.de<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.<br />

Anschrift:<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

Nationales Sekretariat<br />

53108 Bonn<br />

Tel 0228 - 983 73 - 0<br />

Fax 0228 - 63 00 36<br />

e-mail Info@<strong>amnesty</strong>.de<br />

Internet www.<strong>amnesty</strong>.de<br />

Spendenkonto:<br />

Nr. 80 90 100<br />

BLZ 370 205 00<br />

Bank für Sozialwirtschaft Köln<br />

Bitte vermerken:<br />

Für Gruppe 2349<br />

Konto für die Bezahlung des Rundbriefes:<br />

Nr. 10 11 85 70 15<br />

BLZ 350 601 90<br />

Bank für Kirche und Diakonie Duisburg (BKD)<br />

Stichwort:<br />

Rundbrief Gruppe 2349


Koordinationsgruppen-Rundbrief Nr. 16<br />

Dezember 2007<br />

Inhalt<br />

3<br />

5<br />

10<br />

11<br />

13<br />

15<br />

16<br />

17<br />

Einleitung<br />

Belarus<br />

Chronik von menschenrechtlich relevanten Ereignissen<br />

Evangelischer Pastor soll wegen Teilnahme<br />

an einem Gebetstreffen ausgewiesen werden<br />

Aktivisten der Jugendbewegung<br />

sind stärkerer Verfolgung ausgesetzt<br />

10.000 Kraniche für Smizer Daschkewitsch<br />

Neuigkeiten von Smizer Daschkewitsch<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> und das belarussische Helsinki-Komitee<br />

verurteilen eine vollzogene Hinrichtung<br />

Eilaktion: Bevorstehende Hinrichtung<br />

19<br />

21<br />

29<br />

30<br />

31<br />

Ukraine<br />

Eilaktion: Drohende Abschiebung / Folter /<br />

Drohende Todesstrafe<br />

Häusliche Gewalt – Die Opfer werden beschuldigt<br />

Menschenrechtlich relevante Nachrichten<br />

Die Gewalt stoppt nicht vor dem eigenen Haus<br />

Eilaktion: Drohende Abschiebung / Drohende Folter<br />

33<br />

35<br />

43<br />

45<br />

Republik Moldau<br />

Chronik von menschenrechtlich relevanten Ereignissen<br />

Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam<br />

„Es ist einfach normal“<br />

Aktionsidee für Vielbeschäftigte:<br />

Eilaktion: Drohende Folter<br />

48<br />

Pressespiegel<br />

Titelbild: Auf einer Polizeistation in der Republik Moldau<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Zur Schreibweise der Namen<br />

Die weißrussischen Personen- und Ortsnamen tauchen in den Dokumenten<br />

in den verschiedensten Formen auf – entweder in der weißrussischen oder<br />

in der russischen Variante und von dieser entweder ins Englische oder ins<br />

Deutsche transkribiert – leider auch oft falsch.<br />

Deshalb gibt es in vielen Fällen zu ein und derselben Person mehrere<br />

Schreibweisen, die bisweilen erheblich voneinander abweichen.<br />

Im Rundbrief haben wir uns für die deutsche Transkription<br />

der weißrussischen Namen entschieden.<br />

In einigen englischsprachigen Texten und bei den Adressen<br />

bleibt die englische Transkription stehen.<br />

Die folgenden Beispiele sollen das Gesagte illustrieren.<br />

Sie finden hier die deutsche und die englischen Transkription,<br />

die sich jeweils an der Phonetik des Deutschen und<br />

des Englischen orientieren.<br />

Um die Verwirrung komplett zu machen, ist auch noch die<br />

(wissenschaftliche) Transliteration mit aufgeführt.<br />

In einigen Dokumenten im Internet findet man auch<br />

diese Form der Schreibung.<br />

Weißrussisch: Зьмíцер Магíлёў<br />

deutsche Transkription: Smizer Mahiljou<br />

englische Transkription: Zmitser Mahilyou<br />

Transliteration: Z’micer Mahilёŭ<br />

Russisch: Дмитрий Могилев<br />

deutsche Transkription: Dmitri Mogiljow<br />

englische Transkription: Dmitri Mogilyov<br />

Transliteration: Dmitrij Mogilёv


Liebe Freundinnen und Freunde,<br />

liebe Interessierte !<br />

Diesmal veröffentlichen wir im Rundbrief den ai-<br />

Bericht zur häuslichen Gewalt in der Ukraine (im<br />

vorigen Rundbrief hatten wir den entsprechenden<br />

Bericht zu Belarus abgedruckt).<br />

Anhand von konkreten Vorfällen wird dokumentiert,<br />

welchen Vorurteilen und Behinderungen<br />

die meist weiblichen Opfer nach den erlittenen<br />

Misshandlungen ausgesetzt sind. <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

hat eine ausführliche Liste von Empfehlungen<br />

und Maßnahmen erarbeitet, mit denen die<br />

ukrainische Regierung das Vorgehen ihrer Behörden<br />

und die öffentliche Meinung positiv beeinflussen<br />

könnte.<br />

Zum ersten Mal veröffentlicht <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

einen Bericht zur Republik Moldau. Dort ist die<br />

Todesstrafe faktisch abgeschafft worden, was ai gegenüber<br />

der Regierung ausdrücklich gewürdigt hat.<br />

Aber nach wie vor gehen Polizisten gegen Beschuldigte<br />

brutal vor, es gelingt selten, einzelne<br />

Beamte vor Gericht zu bringen, und die Betroffenen<br />

können ihre Rechte nicht geltend machen.<br />

Diesen Vorgängen, bei denen leider oft elementare<br />

Menschenrechte verletzt werden, widmet sich der<br />

Bericht mit ausführlichen Darstellungen der juristischen<br />

Situation und anhand von drei konkreten<br />

Schicksalen. Ihr findet eine Zusammenfassung in<br />

diesem Heft, ergänzt um einen Vorschlag für eine<br />

persönliche Aktion.<br />

Dass das Thema der häuslichen Gewalt in der aktuellen<br />

Arbeit von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> eine so<br />

große Rolle spielt, ist eine Auswirkung des weiter<br />

gefassten Verständnisses unseres Mandats. Dass<br />

wir „erst jetzt“ versuchen, die Weltöffentlichkeit<br />

für diese Menschenrechtsverletzungen im angeblich<br />

„privaten“ Bereich zu aktivieren, lässt sich<br />

auch als Signal verstehen, einem endlich bemerkten<br />

Mangel an Einsatz auf diesem Feld abzuhelfen.<br />

Wir wollen also an einem Menschenrechtsthema<br />

weiterarbeiten, das nur auf den ersten Blick kaum<br />

politische Bedeutung hat. Gerade als große und <strong>international</strong><br />

bekannte Menschenrechtsorganisation<br />

sehen wir dies als unsere Aufgabe an.<br />

Über Anregungen und Ideen würden wir uns<br />

freuen.<br />

Im Anhang findet Ihr einige ausgewählte Zeitungsartikel<br />

zur politischen Situation in den drei Ländern<br />

östlich der EU-Grenze.<br />

Wir bitten, den Druck dieses Rundbriefs mit einer<br />

Spende von 3 Euro zu unterstützen. Vielen <strong>Dan</strong>k.<br />

Mit herzlichen Grüßen<br />

<br />

Die Kogruppe<br />

Die politische Lage in Belarus hat sich nach den<br />

Turbulenzen im Gefolge der Präsidentschaftswahlen<br />

scheinbar beruhigt. Die Situation der Menschenrechte<br />

bleibt kritisch.<br />

Viele der mutigen Aktivisten der Jugendopposition<br />

werden weiterhin belästigt oder eingeschüchtert,<br />

einige verbüßen Gefängnisstrafen. So wird<br />

auch in diesem Rundbrief leider wieder über Smizer<br />

Daschkewitsch berichtet, der (sogar als schon<br />

zu 1½ Haft Verurteilter) in einem Gerichtsverfahren<br />

mit neuen Beschuldigungen konfrontiert wurde.<br />

Die <strong>international</strong>e Aufmerksamkeit für diesen<br />

Fall und die daraus resultierenden Aktivitäten für<br />

Daschkewitsch könnten dafür gesorgt haben, dass<br />

er in diesem Verfahren „nur“ zu einer Geldstrafe<br />

verurteilt wurde.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Adressen von Behörden in Weißrussland:<br />

Präsident der Republik Belarus<br />

Alyaksandr Hryhoravich LUKASHENKA<br />

ul. Karla Marksa, 38 · 220016 g. Minsk · Respublika Belarus<br />

Administratsia Prezidenta Respubliki Belarus<br />

Prezidentu LUKASHENKA A.H.<br />

Fax: +375 (172) 26 06 10 oder +375 (172) 22 38 72<br />

E-mail: pres@president.gov.by<br />

web-site: www.president.gov.by/eng/president/mail.shtml<br />

Vorsitzender des Abgeordnetenhauses von Belarus<br />

Vadim A. POPOV<br />

ul Sovetskaya, 11 · 220010 g. Minsk · Respublika Belarus<br />

Fax: +375 (172) 27 37 84<br />

Innenminister<br />

Vladimir V. NAUMOV<br />

ul. Gorodskoi Val, 19 · 220030 g. Minsk · Respublika Belarus<br />

Fax: +375 (172) 26 12 47<br />

Justizminister<br />

Victor G. GOLOVANOV<br />

ul. Kollektornaya, 10 · 220084 g. Minsk · Respublika Belarus<br />

Tel: + 375 (172) 20 6779<br />

Fax: +375 (172) 20 9755<br />

E-mail: info@minjust.belpak.by<br />

Generalstaatsanwalt<br />

Petr P. MIKLASHEVICH<br />

ul. Internatsionalnaya, 22 · 220050 g. Minsk · Respublika Belarus<br />

Fax: +375 (172) 26 41 66<br />

Außenminister<br />

Sergei N. MARTYNOV<br />

ul. Lenina, 19 · 220030 g. Minsk · Respublika Belarus<br />

Fax: +375 (172) 27 45 21 / 23 99 18<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Koordinationsgruppe<br />

Chronik von menschenrechtlich relevanten Ereignissen in Belarus<br />

Februar – November 2007 · Quellen: »Charter 97« und »Wjasna 96«<br />

4. – 7. Februar<br />

Junge Oppositionelle festgenommen<br />

27 Mitglieder der oppositionellen Jugendorganisation<br />

»Malady Front« (Junge Front) werden am<br />

4. Februar in einer Wohnung in Minsk festgenommen<br />

und 7 Stunden von der Polizei festgehalten.<br />

Zwei der Festgenommenen, Smizer Chwedaruk<br />

und Aleh Korban, werden von der Gruppe getrennt,<br />

ihr Aufenthaltsort bleibt zunächst unbekannt. Wie<br />

sich später herausstellt, werden sie einer Straftat<br />

nach § 193 / 1 des Strafgesetzbuches verdächtigt<br />

(Aktivität in einer nicht registrierten Organisation)<br />

und hierzu befragt. Drei Tage später und nach <strong>international</strong>en<br />

Protesten werden die beiden wieder<br />

freigelassen.<br />

12. Februar<br />

Neun Todesurteile im Jahr 2006<br />

Nach Angaben des Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes<br />

Weißrusslands, Walentin Sukala, wurden<br />

im Jahr 2006 in Weißrussland 9 Personen zum<br />

Tode verurteilt. Im Jahr 2005 waren es nach Angaben<br />

der Nachrichtenagentur Interfax noch 7 Todesurteile.<br />

13. Februar<br />

Entlassung einer Lehrerin aufgehoben<br />

Das Regionalgericht in Minsk bestätigt, dass die<br />

Entlassung einer jungen Lehrerin nicht Rechtens<br />

war und daher rückgängig gemacht werden muss.<br />

Ina Kebikawa war nach ihrer Teilnahme an den<br />

Protesten auf dem Minsker Oktoberplatz nach der<br />

Präsidentschaftswahl 2006 aus dem Schuldienst<br />

entlassen worden.<br />

14. Februar<br />

Woche der Solidarität in Warschau<br />

In Warschau beginnt mit einer Kundgebung vor der<br />

weißrussischen Botschaft eine »Woche der Solidarität<br />

mit politischen Gefangenen in Belarus«.<br />

15. Februar<br />

Kontrolle der Internetcafés<br />

Besitzer von Internetcafes müssen von nun an eine<br />

Liste führen, in der alle Internet-Domains angegeben<br />

sind, die von den Besuchern aufgesucht worden<br />

sind. Auf Verlangen müssen die entsprechenden Listen<br />

an Sicherheitskräfte ausgehändigt werden.<br />

16. Februar<br />

Kerzen der Solidarität<br />

150 Menschen marschieren mit brennenden Kerzen<br />

durch die Minsker Innenstadt, um ihre Solidarität<br />

mit politischen Gefangenen und den Familien der<br />

verschwundenen Oppositionellen zu demonstrieren.<br />

16. Februar<br />

Parteienvereinigung nicht registriert<br />

Das weißrussische Justizministerium verweigert<br />

der »Union Linker Parteien« die Registrierung. Es<br />

begründet dies u.a. damit, dass sich die Union nicht<br />

in Weißrussland gegründet hat. Die Oppositionsparteien<br />

»Belarussische Partei der Kommunisten«,<br />

Belarussische Frauenpartei »Nadseja« und Belarussische<br />

Sozialdemokratische Partei »Hramada« haben<br />

die »Union Linker Parteien« (ULP) im Dezember<br />

2006 in der Ukraine gegründet, nachdem es unmöglich<br />

war, irgendwo in Belarus eine geeignete<br />

Versammlungshalle zu finden.<br />

20. Februar<br />

Pawal Sewjarynez nicht vorzeitig freigelassen<br />

Pawal Sewjarynez, einem inhaftierten Führer der<br />

oppositionellen »Malady Front« (Junge Front), wird<br />

eine vorzeitige Freilassung verweigert. Begründet<br />

wird dies seitens der Haftprüfungskommission damit,<br />

dass er sich weiterhin als unschuldig betrachtet.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> betrachtet Pawal Sewjarynez<br />

als gewaltlosen politischen Gefangenen und<br />

fordert seine sofortige und bedingungslose Freilassung.<br />

23. Februar<br />

Dsjanis Dsjanisau ohne Kontakt<br />

Der junge Aktivist der »Malady Front« und Teilnehmer<br />

der Zeltcamps in Minsk, Dsjanis Dsjanisau,<br />

soll am 23. Februar in ein Gefängnis in Minsk<br />

und anschließend nach Witebsk verlegt worden<br />

sein. Anwälte hatten bis zu diesem Tag noch keinen<br />

Zugang zu ihm und auch seine Mutter versteht die<br />

erneute Festnahme nicht, da ein Verfahren gegen<br />

ihn wegen der „Organisation einer Jugendgruppenaktion<br />

und des Verstoßes gegen die öffentliche<br />

Ordnung“ bereits seit einem halben Jahr läuft.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Belarus: Chronik von menschenrechtlich relevanten Ereignissen · Januar – November 2007<br />

1. März<br />

Deutscher Botschafter besucht Statkewitsch<br />

Martin Hecker, deutscher Botschafter in Minsk,<br />

besucht Mikalai Statkewitsch, den inhaftierten<br />

Vorsitzenden der oppositionellen Belarussischen<br />

Sozialdemokratischen Partei »Narodnaya Hramada«,<br />

in einer Strafkolonie. Hecker versicherte Statkewitsch,<br />

dass Deutschland die Situation der weißrussischen<br />

politischen Gefangenen genau verfolge<br />

und beharrlich ihre Freilassung fordere. <strong>amnesty</strong><br />

<strong>international</strong> betrachtet Mikalai Statkewitsch als<br />

gewaltlosen politischen Gefangenen und fordert<br />

seine sofortige und bedingungslose Freilassung.<br />

2. März<br />

Brief der Witwen der Verschwundenen<br />

Die Witwen der verschwundenen belarussischen<br />

Oppositionellen haben sich in einem Brief an das<br />

UNO Generalsekretariat gewandt, in dem sie darum<br />

bitten, den belarussischen Innenminister<br />

Uladsimir Nawumau nicht an einer <strong>international</strong>en<br />

Konferenz in New York teilnehmen zu lassen. Der<br />

Brief wurde auch von mehreren Angehörigen oppositioneller<br />

Parteien in Belarus unterzeichnet. Nawumau<br />

steht im Verdacht, an der Entführung und<br />

Ermordung oppositioneller Politiker beteiligt gewesen<br />

zu sein.<br />

16. März<br />

Tag der Solidarität<br />

Am 16. März finden am Tag der Solidarität in ganz<br />

Belarus zahlreiche Veranstaltungen und Kundgebungen<br />

statt. Es werden Kerzen entzündet und Portraits<br />

der Verschwundenen werden ausgestellt.<br />

16. März<br />

Schließung des Büros einer Organisation<br />

In Minsk wird ein Büro der Organisation »Weltweite<br />

Vereinigung der Belarussen« – Bazkauschtschyna<br />

durchsucht und mehrere Bücher und Unterlagen<br />

beschlagnahmt.<br />

20. März<br />

Verhaftungen bei Demonstration<br />

Bei einer Demonstration junger Aktivisten in<br />

Minsk gegen die Dominanz der russischen Sprache<br />

in Belarus werden mehrere Jugendliche verhaftet<br />

und Flugblätter konfisziert.<br />

26. März<br />

Websites blockiert<br />

Wie der unabhängige weißrussische Journalistenverband<br />

berichtet, wurden mehrere weißrussische<br />

Webseiten am 25. März blockiert. Praktisch alle<br />

unabhängigen Webseiten, wie »Radio Swaboda«,<br />

»Charter 97«, die Webseite der »Vereinten Bürgerpartei«,<br />

»Salidarnasz« und »Nascha Niwa«, waren<br />

in Belarus nicht erreichbar. Aljaksandr Starykewitsch,<br />

Chefredakteur der Internetzeitung »Salidarnasz«<br />

geht von „einer geplanten Aktion spezieller<br />

Kräfte“ aus. Berichte über den »Tag der Freiheit«<br />

wurden daher über »livejournal.com« und Internetforen<br />

veröffentlicht.<br />

26. März<br />

Waleryj Schtschukin vor Gericht<br />

Der Menschenrechtsaktivist und Journalist Waleryj<br />

Schtschukin wird in Witebsk wegen der angeblichen<br />

Beleidigung von Mitgliedern der Wahlkommission<br />

angeklagt. Im Falle einer Verurteilung drohen<br />

ihm bis zu 2 Jahre Gefängnis. Nach den Lokalwahlen<br />

vom Januar 2007 hatte Schtschukin Flugblätter<br />

verteilt, in denen er darüber informierte,<br />

dass Mitglieder der Wahlkommission an der Fälschung<br />

der Wahlergebnisse beteiligt waren.<br />

3. – 5. April<br />

Andrej Klimau verhaftet<br />

Der Oppositionspolitiker Andrej Klimau wird am<br />

3. April verhaftet und beschuldigt, zum „Umsturz<br />

der staatlichen Ordnung“ aufgerufen zu haben.<br />

Klimau wurde aus politischen Gründen mehrfach<br />

inhaftiert und verbrachte insgesamt bereits fünfeinhalb<br />

Jahre im Gefängnis. Nach Verbüßung seiner<br />

letzten Haftstrafe von eineinhalb Jahren wurde<br />

er im Dezember 2006 freigelassen. <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

hatte Andrej Klimau als gewaltlosen politischen<br />

Gefangenen betrachtet und stets seine Freilassung<br />

gefordert. Klimau lehnt es ab, mit den Vertretern<br />

der Anklage gegen ihn zu kooperieren.<br />

Über seine Haftbedingungen ist bisher nichts bekannt.<br />

26. April<br />

»Tschernobyl-Marsch« in Minsk<br />

Am »Tschernobyl-Marsch« in Minsk nehmen nach<br />

Angaben der Organisatoren mehr als 10.000 Menschen<br />

teil. Vor der Tschernobylkirche werden Kerzen<br />

entzündet und es wird eine Schweigeminute abgehalten.<br />

Immer wieder kommt es zu Behinderungen durch<br />

die Polizei. Die Sicherheit der Demonstranten wird<br />

gefährdet, als sie auf einem Baustellenabschnitt<br />

durch Polizisten an den Rand gedrängt werden.<br />

Nach der Kundgebung kommt es auf dem Bangalor-<br />

Platz zu Prügeleien und Verhaftungen durch Spezialeinheiten<br />

der Polizei. Die Organisatoren haben<br />

dagegen offiziell Beschwerde eingereicht. Über 20<br />

Teilnehmer der Demonstration werden kurzzeitig<br />

festgenommen.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Belarus: Chronik von menschenrechtlich relevanten Ereignissen · Januar – November 2007<br />

22. Mai<br />

Statkewitsch und Sewjarynez frei<br />

Mikalaj Statkewitsch und Pawal Sewjarynez sind<br />

frei. Sewjarynez wurde wegen „guter Führung“ und<br />

Statkewitsch „für die Nicht-Verletzung der Disziplin<br />

im Zeitraum von 22 Monaten“ freigelassen. In<br />

einem Interview mit »Charter 97« gaben die beiden<br />

Politiker jedoch an, dass ihre Freilassung in Zusammenhang<br />

mit den westlichen Sanktionen, vor<br />

allem mit der Aussetzung der EU-Zollpräferenzen<br />

aufgrund von Menschenrechtsverletzungen, stehe.<br />

4. Juni<br />

Laut einer Studie des Internationalen Zentrums für<br />

Gefängnisforschung der Universität London zählt<br />

Belarus zu den Ländern mit den höchsten Gefangenenzahlen<br />

bezogen auf die Einwohnerzahl. In Belarus<br />

sitzen pro 100.000 Bürger 426 im Gefängnis.<br />

Die Gefängnisse sind überfüllt, die Hygienestandards<br />

extrem niedrig und die Sicherheit der Gefangenen<br />

vor körperlichen und sexuellen Übergriffen<br />

ist nicht gewährleistet.<br />

25. Juni<br />

Die Organisation »Freedom House« hat ihren regelmäßigen<br />

Bericht zur Pressefreiheit in 195 Ländern<br />

veröffentlicht. <strong>Dan</strong>ach gehört Belarus zu den<br />

10 Ländern, die die Pressefreiheit am stärksten einschränken.<br />

Besonders hervorgehoben wird, dass<br />

die belarussische Regierung sowohl den Willen als<br />

auch die Mittel für eine starke Internetzensur hat,<br />

die über das simple Filtern und Blockieren von Daten<br />

weit hinausgeht.<br />

16. August<br />

Verhaftungen an der ukrainischen Grenze<br />

Am belarussisch-ukrainischen Grenzübergang<br />

werden Aktivisten verhaftet, darunter auch Wital<br />

Stasharau und Aljaksandr Serhijenka, Mitglieder<br />

der Vereinigten Bürgerpartei. Sie hatten den Wartenden<br />

den Dokumentarfilm Ploscha (Der Platz)<br />

gezeigt, Flyer verteilt und dazu aufgerufen, politischen<br />

Gefangenen Grußkarten zu schreiben.<br />

19. August<br />

Verhaftungen bei Buchpremiere<br />

Bei der Vorstellung seines Buches Seiten des<br />

Schicksals werden Pawal Sewjarynez und rund 30<br />

Zuhörer verhaftet. Die Polizei stürmt die Veranstaltung<br />

und zwingt alle Anwesenden zu Boden.<br />

Einen Tag später wird Sewjarynez wegen Teilnahme<br />

an einer unerlaubten Versammlung angeklagt<br />

und erst zwei Tage darauf zu 10 Tagen Haft verurteilt,<br />

weil er gegen Versammlungsverordnungen<br />

verstoßen habe.<br />

Bis zu seiner Verurteilung wird Sewjarynez für<br />

einen Tag in Untersuchungshaft gehalten.<br />

22. August<br />

Polizei stürmt Aufführung<br />

In Minsk stürmen Polizisten eine Theatervorstellung<br />

des »Swabodny Teatr« (Freies Theater) und<br />

verhaften den französischen Regisseur Christian<br />

Benedetti, seinen Assistenten Nino Reno, zwei<br />

Lehrer einer niederländischen Schauspielschule,<br />

den Manager eines französischen Studiotheaters,<br />

sämtliche Zuschauer und Schauspieler. Der Grund<br />

für die Verhaftung ist unklar, denn es wurde kein<br />

politisches oder kritisches Stück aufgeführt.<br />

Theaterdirektor Mikalaj Kalesin vermutet, dass der<br />

belarussische Staat in ein schlechteres Licht gerate,<br />

wenn kreative Belarussen durch <strong>international</strong> gefeierte<br />

Künstler Anerkennung erfahren und wenn<br />

Kunst nicht in den Händen des Staates ist. Die Gefangenen<br />

werden am Tag darauf kommentarlos und<br />

ohne Entschuldigung entlassen.<br />

27. August<br />

Erklärung von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

Die Menschenrechtsorganisation <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

zeigt sich besorgt über die Verfolgung jugendlicher<br />

Oppositioneller in Weißrussland. In den<br />

letzten sechs Wochen seien über ein Dutzend jugendlicher<br />

Aktivisten verhaftet worden. Die Organisation<br />

sieht darin eine gravierende Einschränkung<br />

des Rechts auf Versammlung-, Vereinigungsund<br />

Meinungsfreiheit.<br />

6. September<br />

Frauenpartei aufgelöst<br />

Das weißrussische Justizministerium leitet die<br />

Auflösung der Frauenpartei »Nadseja« ein. Das<br />

Verfahren wird vor dem Obersten Gerichthof verhandelt<br />

werden. Die Leiterin der Partei Alena<br />

Jaskowa sieht keine Gründe für eine Auflösung.<br />

Ein erstes Treffen beider Seiten soll am 12. September<br />

stattfinden.<br />

7. September<br />

Klimau zu 2 Jahren Haft verurteilt<br />

Wie jetzt bekannt geworden ist (laut Informationen<br />

des Journalisten Aleg Gruzdilovich) wurde Andrej<br />

Klimau, ein führender weißrussischer Oppositioneller,<br />

in einem nicht-öffentlichen Prozess Anfang<br />

August zu einer Haftstrafe von zwei Jahren verurteilt.<br />

Er war im April festgenommen worden, nachdem<br />

er regierungskritische Artikel im Internet publiziert<br />

hatte. Ihm wurde vorgeworfen, durch Einsatz<br />

von Massenmedien die verfassungsmäßige<br />

Ordnung des Landes verändern zu wollen. Andrej<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Belarus: Chronik von menschenrechtlich relevanten Ereignissen · Januar – November 2007<br />

Klimau wird von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> als gewaltloser<br />

politischer Gefangener betrachtet.<br />

10. September<br />

Verhaftungen bei Gedenkveranstaltung<br />

Am 8. und 9. September werden in Orscha, Mohiljau<br />

und auf dem »Krawipenskaja-Feld« ungefähr<br />

100 oppositionelle Aktivisten verhaftet. Sie hatten<br />

sich anlässlich des »Tages des Ruhms des Weißrussischen<br />

Militärs« zu Gedenkveranstaltungen versammelt.<br />

Einer der Festgenommenen, Dsjanis<br />

Sadouski, Mitglied des Organisationskomitees für<br />

die Gründung der Weißrussischen Christlichdemokratischen<br />

Partei, wird am 10. September wegen<br />

„geringfügigen Rowdytums“ zu 5 Tagen Gefängnis<br />

verurteilt. Der Künstler Ales Puschkin und der Oppositionsaktivist<br />

Aljaksej Januscheuski sind seit<br />

dem 9. September inhaftiert.<br />

15. September<br />

Trauriges Jubiläum für Daschkewitsch<br />

Smizer Daschkewitsch, Führer der oppositionellen<br />

Jugendorganisation »Malady Front« (Junge Front),<br />

befindet sich seit einem Jahr im Gefängnis. Er wurde<br />

wegen „Aktivitäten in einer nicht registrierten<br />

Organisation“ zu einer Haftstrafe von 18 Monaten<br />

verurteilt. <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> betrachtet ihn als<br />

gewaltlosen politischen Gefangenen und fordert<br />

seine sofortige und bedingungslose Freilassung.<br />

19. September<br />

Botschafter treffen Frauen von Oppositionellen<br />

In Minsk treffen die Botschafter der EU-Staaten<br />

Wolha Kasulina, die Tochter von Aljaksandr Kasulin,<br />

und Tazjana Leanowitsch-Klimawa, die Ehefrau<br />

von Andrej Klimau, um Informationen über<br />

die aktuelle Situation der beiden politischen Gefangenen<br />

zu erfahren. Die Botschafter äußern sich besorgt<br />

über aktuelle Fälle von Festnahmen belarussischer<br />

Bürger aufgrund politischer Aktivitäten<br />

und unterstreichen, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten<br />

weiterhin gegen solche Schikanierungen<br />

belarussischer Bürger protestieren werden<br />

und fordern die Freilassung all dieser Gefangenen.<br />

22. September<br />

Rockfans verhaftet<br />

Freitag Nacht werden zwei Busse mit ca. 100 Menschen,<br />

die am Rockfestival »Das Recht, frei zu<br />

sein« in der ukrainischen Stadt Luzk teilnehmen<br />

wollen, von der weißrussischen Polizei gestoppt.<br />

Bereits vor der Abfahrt der Busse in Minsk sprachen<br />

uniformierte und zivil gekleidete Polizisten<br />

die Passagiere auf einem Parkplatz in der Nähe der<br />

Akademie der Wissenschaften an und filmten ihre<br />

Gesichter auf Video. Nachdem es den Bussen gelang,<br />

aus Minsk in Richtung der ukrainischen<br />

Grenze abzufahren, wurden sie später von der Polizei<br />

gestoppt. Alle Businsassen wurden festgenommen<br />

und zu lokalen Polizeirevieren gebracht, wo<br />

ihre Ausweise kopiert wurden. Anschließend mussten<br />

die Busse mit allen Insassen unter Polizeibegleitung<br />

zurück nach Minsk fahren.<br />

2. Oktober<br />

Ljabedska drangsaliert<br />

Den Vorsitzenden der »Belarussischen Sozialdemokraten«<br />

(Hramada), der Kommunisten und der Vereinten<br />

Bürgerpartei wird der Zugang zum Regierungsgebäude<br />

erschwert. Männern in Zivil behaupten,<br />

dass das gesicherte Gebäude nicht betretbar<br />

sei. Anatol Ljabedska wird geschlagen, Den drei<br />

Parteivorsitzenden gelingt es schließlich, das Gebäude<br />

zu betreten und dem Abgeordnetenhaus<br />

40.000 gesammelte Unterschriften gegen die Streichung<br />

von Vollmachten der Parteien zu übergeben.<br />

4. Oktober<br />

Jugendliche zu Haftstrafen verurteilt<br />

In Minsk werden die beiden in der Bewegung »Für<br />

Freiheit« engagierten Ihar Balykin und Ihar<br />

Zischko festgenommen und zu fünf Tagen Haft<br />

verurteilt. Die beiden Jugendlichen sollen so für<br />

das Aufkleben von Stickern bestraft werden, auf<br />

denen für den Europäischen Marsch geworben<br />

wird.<br />

5. Oktober<br />

Zeitung geschlossen<br />

Eine weitere nicht-staatliche Zeitung, »Mjaszowy<br />

Schljach« aus Pinsk, wird geschlossen. Gründe dafür<br />

sind ihre finanzielle Lage und der Umstand,<br />

dass das städtische Druckhaus die Zeitung nicht<br />

drucken möchte und auch der lokale Zeitungsvertrieb<br />

die Aufnahme in die Verteilung verweigert.<br />

7. Oktober<br />

Antifaschistische Versammlung aufgelöst<br />

In Minsk versammeln sich ca. 50 junge Menschen<br />

vor der russischen Botschaft zu einer antifaschistischen<br />

Protestaktion. Sie halten dabei Fotos von 4<br />

Menschen, die in Russland von Neonazis ermordet<br />

wurden, in den Händen. Die Versammlung wird<br />

nach 5 Minuten von der Polizei aufgelöst. Dabei<br />

werden vier Demonstranten verhaftet: Pawal<br />

Krynewitsch, Wadsim Luhin, Shenja Schymanski<br />

und ein Mädchen namens Lera. Die Gerichtsverhandlung<br />

gegen die Inhaftierten soll am 8. Oktober<br />

stattfinden.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Belarus: Chronik von menschenrechtlich relevanten Ereignissen · Januar – November 2007<br />

8. Oktober<br />

Revision abgelehnt<br />

Der Oberste Gerichtshof bestätigt die Entscheidung<br />

des Justizministeriums, der oppositionellen Jugendorganisation<br />

»Malady Front« (Junge Front) die<br />

Registrierung zu verweigern. In der Begründung<br />

heißt es unter anderem, die Gründer der Organisation<br />

hätten gegen geltendes Recht verstoßen.<br />

9. Oktober<br />

Antifa-Aktivisten verurteilt<br />

Pawal Krynewitsch, Wadsim Luhin, Shenja Schymanski<br />

und ein Mädchen namens Lera, die am 7.<br />

Oktober an einer Demonstration gegen Faschismus<br />

teilnahmen, werden vom zentralen Bezirksgericht<br />

Minsk zu jeweils drei Tagen Haft verurteilt.<br />

11. Oktober<br />

Sassim und Juchnewitsch verhaftet<br />

Die jungen Aktivisten Mikita Sassim und Pawal<br />

Juchnewitsch werden im Minsker Stadtteil Sucharewo<br />

verhaftet. Als Begründung heißt es, sie würden<br />

verdächtigt, eine Straftat begangen zu haben.<br />

Um welche Straftat es sich handelt, wollen die beteiligten<br />

Polizisten nicht sagen. Einen Tag später<br />

werden die beiden Aktivisten zu jeweils fünf Tagen<br />

Haft aufgrund der angeblichen Benutzung obszöner<br />

Sprache in der Öffentlichkeit verurteilt. Die Zahl<br />

der Inhaftierten beläuft sich mittlerweile auf 50.<br />

12. Oktober<br />

Störungen im Internet<br />

Im Vorfeld des »Europäischen Marsches« kommt<br />

es, ähnlich wie im Vorfeld der Wahlen im Jahr<br />

2006, im belarussischen Internet zu einigen Störungen,<br />

von denen hauptsächlich verschiedene unabhängige<br />

Informationsseiten betroffen sind. Offensichtlich<br />

möchten die Behörden auf diese Weise<br />

den Informationsaustausch im Vorfeld des<br />

Marsches erschweren.<br />

14. Oktober<br />

»Europäischer Marsch« in Minsk<br />

In Minsk nehmen ca. 7000 Menschen am »Europäischen<br />

Marsch« der weißrussischen Opposition teil.<br />

Dem Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments,<br />

Janusz Onyszkiewicz, der an der Demonstration<br />

teilnehmen wollte, wurde zuvor die Einreise<br />

nach Belarus verweigert. Die ursprünglich auf dem<br />

zentralen Oktoberplatz geplante Kundgebung durfte<br />

dort nicht stattfinden. Stattdessen wurde eine<br />

Demonstration von der Akademie der Wissenschaften<br />

zum abseits des Zentrums gelegenen Bangalor-Platz<br />

(Park der Freundschaft) genehmigt.<br />

Dennoch versammeln sich gegen 14 Uhr mehrere<br />

tausend Menschen auf dem Oktoberplatz und machen<br />

sich von dort aus, angeführt von Oppositionsführer<br />

Aljaksandr Milinkewitsch, auf den Weg zur<br />

Akademie der Wissenschaften. Nach einigen<br />

kurzen Statements von Politikern an der Akademie<br />

der Wissenschaften wird der Demonstrationszug<br />

zum Bangalor-Platz fortgesetzt. Auf dem Weg dorthin<br />

beschlagnahmt die Polizei die Lautsprecher-<br />

Anlage der Kundgebungsleitung.<br />

Eine der unabhängigen Webseiten, die tagesaktuell<br />

auch in englisch berichtet, »Charter 97« – www.<br />

charter97.org – ist Angriffen und Blockaden ausgesetzt<br />

und daher zeitweise nicht zu erreichen.<br />

8. November<br />

EU-Botschafter fordern Freilassung<br />

Die Botschafter der EU-Staaten in Belarus fordern<br />

die Regierung auf, alle politischen Gefangenen umgehend<br />

freizulassen. Nach einem Treffen mit dem<br />

Oppositionspolitiker Aljaksandr Milinkewitsch<br />

zeigt man sich besonders besorgt über die Lage von<br />

Smizer Daschkewitsch und Andrej Klimau. Einer<br />

Presseerklärung der slowakischen Botschaft zufolge,<br />

die die EU in Belarus vertritt, gab es in jüngster<br />

Vergangenheit zwar Fortschritte in dieser Hinsicht,<br />

nichtsdestotrotz ist ein Ende der Repressionen gegen<br />

die Zivilgesellschaft unerlässlich, um die Kooperation<br />

mit der EU zu verbessern.<br />

Weitere Informationen und eine ständig<br />

aktualisierte Chronik finden Sie bei<br />

www.belarus-actions.org<br />

Eine Auswahl an Links für Nachrichten<br />

zu Weißrussland:<br />

Menschenrechtsorganisation »Charter 97«<br />

www.charter97.org<br />

Menschenrechtsorganisation »Wjasna 96«<br />

www.spring96.org<br />

Internetzeitung zu Belarus »Belarusnews«<br />

(deutsch)<br />

www.belarusnews.de<br />

Internationale Liga für Menschenrechte<br />

www.ilhr.org/ilhr/regional/belarus/<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Belarus: Öffentliche Stellungnahmen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Internationales Sekretariat<br />

Belarus: Evangelischer Pastor soll wegen Teilnahme<br />

an einem Gebetstreffen ausgewiesen werden<br />

AI-News Service No: 104 · AI Index: EUR 49/006/2007<br />

7. Juni 2007<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> hat heute an den belarussischen<br />

Innenminister und an den Generalstaatsanwalt<br />

geschrieben und gegen die geplante Ausweisung<br />

von Jaroslaw Lukasik protestiert.<br />

Jaroslaw Lukasik ist Pastor und Mitglied der<br />

»Union der Christen evangelischen Glaubens«. Er<br />

wurde am 30. Mai 2007 wegen seines Engagements<br />

„bei illegalen religiösen Aktivitäten“ bestraft, es<br />

wurde ihm ein Ausweisungs-Befehl ausgehändigt,<br />

demzufolge er innerhalb von acht Tagen das Land<br />

zu verlassen hat. Diese Frist läuft heute aus.<br />

Ebenso wurde er zu einer Geldstrafe in Höhe<br />

eines Monatslohnes verurteilt.<br />

Jaroslaw Lukasik ist polnischer Staatsbürger<br />

und lebte seit 1999 in Belarus. Seine Frau und drei<br />

Kinder sind belarussische Staatsbürger.<br />

Jaroslaw Lukasik wurde am 27. Mai verhaftet, als<br />

Polizisten einen Gottesdienst stürmten, der in der<br />

Wohnung von Pastor Antoni Bokun von der St. Johannes<br />

Kirche der Pfingstkirche stattfand. Am selben<br />

Tag wurde er nach dem Besuch des polnischen<br />

Konsuls freigelassen. Er wurde nach § 23 (43) des<br />

Verwaltungsgesetzbuchs angeklagt, ein nicht genehmigtes<br />

Treffen abgehalten zu haben.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> hat ebenso Berichte darüber<br />

erhalten, dass die belarussischen Behörden am<br />

8. Mai Lukasiks Aufenthaltsgenehmigung widerrufen<br />

haben. Er wurde beschuldigt, „Aktivitäten“ organisiert<br />

zu haben, „die darauf gerichtet sind, im<br />

Bereich der inter-religiösen Beziehungen die Sicherheit<br />

der Republik Belarus zu gefährden“.<br />

Der Entzug der Aufenthaltserlaubnis durch die Polizei<br />

erfolgte aufgrund eines Berichtes des Sicherheitsdienstes<br />

KGB, dass er „illegale religiöse Aktivitäten<br />

betrieb, dass er an Aktivitäten von radikalen<br />

abseitigen und politisierten Gruppen teilnahm<br />

und dass er an einem anderen als dem genehmigten<br />

Ort wohne.“<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> ist besorgt, dass Jaroslaw<br />

Lukasik der Vorwürfe für schuldig befunden wird,<br />

die sich jedoch lediglich darauf gründen, dass er<br />

friedlich seine Rechte auf Gedanken-, Glaubensund<br />

Religionsfreiheit ausübte, sowie die Rechte auf<br />

Meinungs- und Versammlungsfreiheit.<br />

Die Organisation befürchtet ebenfalls, dass das<br />

Verfahren der Ausweisung nicht im Einklang mit<br />

den <strong>international</strong>en Menschenrechts-Standards<br />

steht.<br />

In dem Brief ruft <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> die Regierung<br />

von Belarus auf, den Ausweisungs-Befehl gegen<br />

Jaroslaw Lukasik zurückzunehmen und seine<br />

Rechte zu respektieren, indem man ihm die Fortsetzung<br />

seines religiösen Dienstes und das Zusammenleben<br />

mit seiner Familie erlaubt.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> hat die belarussische Regierung<br />

auch an ihre Verpflichtungen nach dem Internationalen<br />

Pakt über bürgerliche und politische<br />

Rechte (ICCPR) erinnert, insbesondere an die Artikel<br />

18, 19, 20 und 21, die die Rechte von jedermann<br />

auf Gedanken-, Glaubens- und Religionsfreiheit,<br />

sowie die Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit<br />

garantieren.<br />

Hintergrund<br />

Die Ausweisung von Jaroslaw Lukasik ist als Bestandteil<br />

einer allgemeinen Kampagne gegen religiöse<br />

Gemeinschaften anzusehen. Nach dem restriktiven<br />

Religionsgesetz von 2002 haben nur landesweit<br />

registrierte Religionsgemeinschaften das<br />

Recht, Klöster, missionarische oder Bildungsinstitutionen<br />

einzurichten, ebenso das Recht Personen<br />

aus dem Ausland einzuladen, die in Belarus predigen<br />

oder andere religiöse Aktivitäten durchführen.<br />

2005 konstatierte das UN-Menschenrechtskomitee,<br />

dass Belarus die Garantien für die Religionsfreiheit<br />

nach Artikel 18 des ICCPR verletzt, weil einer landesweiten<br />

Hare-Krishna-Vereinigung ein legaler<br />

Status verweigert wurde.<br />

Die belarussische Regierung wies diese Kritik zurück,<br />

ihre Weigerung stünde im Einklang mit den<br />

belarussischen Gesetzen.<br />

Eine staatliche Erlaubnis ist notwendig, um Gottesdienste<br />

in nicht kirchlichen Gebäuden zu feiern,<br />

und so sehen sich Gemeinden wachsenden Schwierigkeiten<br />

gegenüber Räume zu mieten. Dies betrifft<br />

insbesondere religiöse Gruppen wie die Protestanten,<br />

die in Belarus noch nie Gebäude in Besitz hatten.<br />

Zunehmend kündigen Immobilienbesitzer die<br />

10 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Belarus: Chronik von menschenrechtlich relevanten Ereignissen · Januar – November 2007<br />

Mietverträge mit den Protestanten, wenn die Behörden<br />

davon erfahren.<br />

Im Oktober 2006 traten Mitglieder der in Minsk<br />

beheimateten »New Life Church« in einen Hungerstreik,<br />

um ihr Recht auf die Abhaltung von Gottesdiensten<br />

in ihrem eigenen Gebäude auf dem eigenem<br />

Grundstück zu durchzusetzen. Aber bis jetzt<br />

haben sie keine Genehmigung erhalten.<br />

Die andauernde Behinderung hat einige religiöse<br />

Gemeinschaften veranlasst, ihre religiösen Aktivitäten<br />

zu vermindern oder gar zu beenden.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Internationales Sekretariat<br />

Belarus: Aktivisten der Jugendbewegung sind stärkerer Verfolgung<br />

ausgesetzt<br />

AI-News Sevice No: 162 · AI Index: EUR 49/011/2007<br />

22. August 2007<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> ist tief besorgt über Berichte,<br />

dass die Belästigungen, die Festnahmen und die Inhaftierungen<br />

von jugendlichen Aktivisten durch<br />

die belarussischen Behörden in den letzten Wochen<br />

intensiviert wurden.<br />

Die Organisation ist der Überzeugung, dass die Unterdrückungsmaßnahmen<br />

zu den andauernden Bestrebungen<br />

der Regierung gehören, nicht nur die jugendlichen<br />

Aktivisten sondern die gesamte Zivilgesellschaft<br />

einzuschüchtern und zu behindern,<br />

ihre Rechte der Versammlungs-, Vereinigungs- und<br />

Meinungsfreiheit wahrzunehmen.<br />

In den letzten sechs Wochen sind Berichten zufolge<br />

mehr als ein Dutzend Jugendliche zu Haftstrafen<br />

zwischen 7 und 15 Tagen verurteilt worden, entweder<br />

nach dem Straf- oder dem Administrativrecht.<br />

Viele weitere sind von den belarussischen Sicherheitskräften<br />

festgenommen und tätlich angegriffen<br />

worden.<br />

Am 16. August verhafteten zivil gekleidete Sicherheitsbeamte<br />

Mikita Sassim, den prominenten Aktivisten<br />

der Jugendopposition, während einer öffentlichen<br />

Solidaritätsaktion zur Unterstützung von politischen<br />

Gefangenen und zur Erinnerung an die<br />

»Verschwundenen«, die monatlich in Minsk veranstaltet<br />

wird.<br />

Es wurde berichtet, dass Mikita Sassim bei der<br />

Verhaftung die Arme verdreht wurden und er in ein<br />

Auto gestoßen wurde. Er gibt an, dass er auf den<br />

Rücken und die Beine geschlagen wurde, und dass<br />

ihm die Beamten weitere Schläge androhten. <strong>Dan</strong>n<br />

wurde er mit unbekanntem Ziel weggefahren.<br />

Zwei Freunde von Sassim, die seine Festnahme verhindern<br />

wollten, wurden von den Beamten weggestoßen.<br />

Eine von ihnen, die 18-jährige Tazjana<br />

Tischkewitsch, befindet sich zur Zeit im Krankenhaus<br />

wegen eines diagnostizierten „leichten Schädeltraumas“<br />

infolge des Vorfalls.<br />

Mikita Sassims Verbleib blieb bis zum nächsten<br />

Tag unbekannt, als verlautbart wurde, dass er in der<br />

zentralen Polizeistation von Minsk festgehalten<br />

werde.<br />

Am 20. August wurde Sassim vom Gericht des<br />

Minsker Stadtbezirks Mitte zu einer Haftstrafe von<br />

10 Tagen verurteilt, wegen »leichten Rowdytums«<br />

nach § 17 (1) des Verwaltungsgesetzbuchs.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> nimmt wahr, dass der<br />

§ 17 (1) des Verwaltungsgesetzbuchs von den belarussischen<br />

Behörden immer häufiger angewendet<br />

wird, um jugendliche Aktivisten festzunehmen und<br />

zu inhaftieren. Viele sind nach diesem Paragrafen<br />

in den letzten sechs Wochen verurteilt worden.<br />

Mikita Sassim und weitere wurden angeklagt, dass<br />

sie in der Öffentlichkeit geflucht hätten.<br />

Bei einem anderen Vorfall am 27. Juli wurden die<br />

Führer der Jugendopposition Franak Wjatschorka<br />

und Jaraslau Chryschtschenja auf dem Unabhängigkeitsplatz<br />

in Minsk festgenommen. (Wjatschorka<br />

hatte im April an einer Filmvorführung von <strong>amnesty</strong><br />

<strong>international</strong> in London teilgenommen.) Die<br />

Festnahme der beiden erfolgte, als die Polizei einen<br />

Demonstrationszug stoppte, dessen Teilnehmer an<br />

den 17. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung<br />

von Belarus im Jahr 1990 erinnern wollten.<br />

Berichten zufolge riegelten die Polizisten den Platz<br />

ab und nahmen etwa ein Dutzend Demonstranten<br />

fest, unter ihnen den Vorsitzenden der »Vereinigten<br />

Bürgerpartei«, Anatol Ljabedska, und den stellver-<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 11


Belarus: Öffentliche Stellungnahmen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

tretenden Vorsitzenden der »Belarussischen Volksfront«,<br />

Wiktar Iwaschkewitsch.<br />

Die meisten der Verhafteten wurden nach einigen<br />

Stunden freigelassen, aber Franak Wjatschorka und<br />

Jaraslau Chryschtschenja nicht. Beide wurden nach<br />

§ 17 (1) des Verwaltungsgesetzbuchs angeklagt.<br />

Am 30. Juli wurde Franak Wjatschorka vom Bezirksgericht<br />

des Minsker Stadtbezirks Sawodskij<br />

zu einer 7-tägigen Haftstrafe verurteilt. Am selben<br />

Tag verurteilte das Bezirksgericht des Minsker<br />

Stadtbezirks Leninskij Jaraslau Chryschtschenja zu<br />

einer Haftstrafe von 15 Tagen.<br />

Die Behörden verhaften und bestrafen jugendliche<br />

Aktivisten ebenso nach § 193 (1) des Strafgesetzbuchs<br />

(Organisation einer Aktivität einer nicht registrierten<br />

Nichtregierungsorganisation bzw. Teilnahme<br />

an einer solchen Aktivität). Dieser Paragraf,<br />

der im Dezember 2005 in das Strafgesetzbuch aufgenommen<br />

wurde, gehört zu einer Reihe von Strafbestimmungen,<br />

mit denen Organisationen der Zivilgesellschaft<br />

und die öffentliche Kritik an der regierung<br />

bedroht werden. Diese Paragrafen wurden<br />

im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im März<br />

2006 eingeführt.<br />

Der Führer der Jugend-Oppositionsgruppe »Junge<br />

Front«, Smizer Daschkewitsch, wurde im November<br />

2006 nach Paragraf § 193 (1) zu einer Haftstrafe<br />

von 1 ½ Jahren verurteilt. Daraufhin wurde für seine<br />

Freilassung eine weltweite Kampagne von <strong>amnesty</strong><br />

<strong>international</strong>-Jugendgruppen gestartet.<br />

Am 7. August 2007 klagten die Untersuchungsbehörden<br />

drei weitere Mitglieder der »Jungen Front«<br />

nach diesem Artikel an. Falls sie für schuldig befunden<br />

werden, drohen der 18-jährigen Anastasia<br />

Asarka und dem gleichaltrigen Jaraslau Chryschtschenja<br />

sowie dem 16-jährigen Iwan Schyla Geldbußen<br />

oder Haftstrafen bis zu zwei Jahren.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> appelliert an die belarussischen<br />

Behörden, das Verwaltungsgesetz nicht<br />

länger anzuwenden, um gegen jugendliche Aktivisten,<br />

die nichts weiter als friedlich ihre Rechte<br />

auf Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit<br />

wahrnehmen, Haftstrafen zu verhängen.<br />

Weiterhin fordert <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> von den<br />

belarussischen Behörden, unverzüglich die Gesetze,<br />

Bestimmungen und Praktiken zu überprüfen,<br />

die für die Registrierung und die Aktivitäten von<br />

Nichtregierungsorganisationen gelten – insbesondere<br />

den § 193 (1) des Strafgesetzbuchs – und sicherzustellen,<br />

dass diese mit dem <strong>international</strong>en<br />

Recht übereinstimmen.<br />

Am 24. Juli 2007 konstatierte das UN-Menschenrechts-Komitee,<br />

dass die im Jahr 2003 verfügte<br />

Schließung der Nichtregierungsorganisation<br />

»Wjasna« eine Verletzung des Artikels 22 des Internationalen<br />

Pakts über bürgerliche und politische<br />

Rechte (ICCPR) darstellt.<br />

Das Komitee forderte von Belarus, die Organisation<br />

wieder zuzulassen und deren Mitgliedern eine<br />

Entschädigung anzubieten. Die Anfrage zur erneuten<br />

Registrierung befindet sich in Bearbeitung,<br />

eine Entscheidung durch die Behörden soll am<br />

23. August fallen.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> erinnert die belarussischen<br />

Behörden an ihre Verpflichtungen nach dem <strong>international</strong>en<br />

Recht, einschließlich der Artikel 19, 21<br />

und 22 des ICCPR, bei dem Belarus ein Vertragsstaat<br />

ist, die das Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung,<br />

der Versammlung und der Vereinigung<br />

garantieren.<br />

Die Organisation fordert von den belarussischen<br />

Behörden die unverzügliche Einstellung der Behinderungen,<br />

Belästigungen und Einschüchterungen<br />

von Aktivisten der Zivilgesellschaft, die sich direkt<br />

oder indirekt für die Förderung und Verteidigung<br />

der Menschenrechte in Belarus engagieren.<br />

12 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Internationales Sekretariat<br />

10.000 Kraniche für Smizer Daschkewitsch<br />

Belarus: Öffentliche Stellungnahmen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 13


Belarus: Öffentliche Stellungnahmen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

14 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Belarus: Öffentliche Stellungnahmen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Internationales Sekretariat<br />

Neuigkeiten von Smizer Daschkewitsch<br />

29. Oktober 2007<br />

Am Donnerstag, dem 1. November 2207 wird der<br />

gewaltlose politische Gefangene Smizer Daschkewitsch<br />

ein ganzes Jahr im Gefängnis verbracht haben,<br />

nachdem er zu 1½ Jahren Haft wegen „Organisierung<br />

bzw. Teilnahme an Aktivitäten einer nicht<br />

registrierten Organisation“ verurteilt worden war.<br />

Ein Jahr später bringen die belarussischen Behörden<br />

eine weitere Beschuldigung gegen Smizer<br />

Daschkewitsch vor, der sich nach wie vor im Gefängnis<br />

befindet. Er soll nach § 402 des Strafgesetzbuchs<br />

verurteilt werden: Wegen Verweigerung<br />

einer Zeugenaussage.<br />

Das bezieht sich auf die polizeilichen Ermittlungen<br />

gegen einen weiteres Mitglied der Jugendopposition,<br />

Iwan Schylo.<br />

Während der Ermittlungen hatte – Berichten zufolge<br />

– Daschkewitsch sich auf den Artikel 27 der<br />

belarussischen Verfassung berufen, in dem das<br />

Recht garantiert wird, nicht gegen sich selbst oder<br />

seine nächsten Verwandten aussagen zu müssen.<br />

Gegen Daschkewitsch ist jetzt Anklage erhoben<br />

worden, aber es ist noch kein Termin für die Verhandlung<br />

bekannt.<br />

Wir werden die Entwicklung beobachten.<br />

Eine <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong>-Gruppe in Österreich<br />

hat einen Brief von Smizer Daschkewitsch bekommen,<br />

mit dem er auf ihre unterstützenden Briefe<br />

antwortet. Er schreibt, „Ich bin Euch und anderen<br />

Mitgliedern von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> für die Unterstützung<br />

und die Solidarität sehr dankbar. Das<br />

hilft mir – hinter den Mauern – die Schwierigkeiten<br />

zu bestehen und gibt mir neue Kraft und macht<br />

mich wieder optimistisch. Ich danke Euch für die<br />

Freundschaft und Sympathie.“ Daschkewitsch<br />

fährt fort, dass er gesund sei.<br />

Bitte schreiben Sie weiterhin Briefe an ihn, erst<br />

recht nach der erneuten Anklage.<br />

Bei der sehr erfolgreichen Aktion, Origami-Kraniche<br />

für Smizer Daschkewitsch und die Meinungsfreiheit<br />

in Belarus zu falten, ist das Ziel von<br />

10.000 Stück fast erreicht. Zuletzt waren es 9.000<br />

Kraniche, die an das belarussische Innenministerium<br />

gesendet wurden. Bitte machen Sie weiter!<br />

Ein 2 Meter hoher Kranich, der auf dem diesjährigen<br />

<strong>international</strong>en ai-Meeting von ai-Jugendgruppen<br />

angefertigt wurde, ist nach Belarus geschickt<br />

worden, er wurde jedoch an der Grenze<br />

zwischen Litauen und Belarus gestoppt (Siehe:<br />

http://web.<strong>amnesty</strong>.org/pages/youth-120807-feature-eng).<br />

Nach einer langen Wartezeit, weil der Innenminster<br />

die Einfuhr nach Belarus ablehnte, wurde der Kranich<br />

zu einer Nichtregierungsorganisation gebracht,<br />

zu der ai Kontakt hält. Sie wird den Kranich<br />

persönlich am 1. November, genau ein Jahr nach<br />

der Verurteilung von Smizer Daschkewitsch, übergeben.<br />

Wir hoffen, diese Übergabe filmen zu können.<br />

16. November 2007<br />

Die Gerichtsverhandlung gegen den gewaltlosen<br />

politischen Gefangenen und Aktivisten der Jugendopposition<br />

Smizer Daschkewitsch fand am 9. November<br />

hinter verschlossenen Türen in dem Gefängnis<br />

statt, in dem Daschkewitsch festgehalten<br />

wird. Seine Familie war nicht zugelasssen.<br />

Smizer Daschkewitsch, der eine 18-monatige Haftstrafe<br />

wegen „der Teilnahme an Aktivitäten einer<br />

nicht registrierten Organisation absitzen muss,<br />

wurde nach § 402 des belarussischen Strafgesetzbuchs<br />

angeklagt: Verweigerung der Zeugenaussage,<br />

was mit Haftstrafe bis zu 3 Jahren bedroht wird.<br />

Das Gericht befand Daschkewitsch für schuldig<br />

und verurteilte ihn zu einer Geldstrafe.<br />

Eine örtliche Nichtregierungsorganisation teilte<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> ihre Überzeugung mit, die<br />

Behörden seien von der starken <strong>international</strong>en Reaktion<br />

auf den Fall beeindruckt gewesen. Ein Sprecher<br />

der NGO dankte den ai-Mitgliedern für all die<br />

Unterstützung, die diese für belarussische gewaltlose<br />

politische Gefangene geleistet hätten, und<br />

führte aus, dass der Druck im Fall von Daschkewitsch<br />

dazu geführt habe, dass er nicht zu einer<br />

weiteren Haftstrafe verurteilt worden sei.<br />

Wegen ihrer Aktivitäten zugunsten von Daschkewitsch<br />

konnte diese NGO nicht am 1. November<br />

dem Innenministerium den überdimensionalen<br />

Kranich übergeben. Sie werden es am Tag der Menschenrechte<br />

am 10. Dezember tun und die Übergabe<br />

filmen.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 15


Belarus<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Internationales Sekretariat<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> und das belarussische Helsinki-Komitee<br />

verurteilen eine vollzogene Hinrichtung<br />

11. Oktober 2007 · Öffentliche Stellungnahme<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> und das belarussische Helsinki-Komitee<br />

verurteilen die kürzlich berichtete<br />

Vollstreckung des Todesurteils an Aljaksandr<br />

Sjarheitschik durch die belarussischen Behörden.<br />

Aljaksandr Sjarheitschik wurde des Mordes, der<br />

Vergewaltigung, des Diebstahls von Schusswaffen<br />

und weiterer Verbrechen für schuldig befunden und<br />

am 22. Mai 2007 zum Tode verurteilt.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> und das belarussische Helsinki-Komitee<br />

fordern von den belarussischen Behörden,<br />

unverzüglich und schriftlich die Details im<br />

Fall von Aljaksandr Sjarheitschik klar darzulegen.<br />

Falls er hingerichtet wurde, betonen die Organisationen,<br />

sollten die Verwandten uneingeschränkten<br />

Zugang zu den relevanten Informationen bekommen,<br />

einschließlich des Zeitpunktes und des Ortes<br />

der Exekution sowie des Begräbnis’. Außerdem<br />

sollte ihnen gestattet werden, die Hinterlassenschaften<br />

und die Dinge aus seinem persönlichen<br />

Besitz an sich zu nehmen.<br />

In Übereinstimmung mit der UNO-Resolution<br />

2005/59, die am 20. April 2005 angenommen worden<br />

war, ruft die UNO-Menschenrechtskommission<br />

alle Staaten, die die Todesstrafe noch nicht abgeschafft<br />

haben, dazu auf, „die Verhängung einer<br />

Todesstrafe und den Zeitpunkt einer jeden geplanten<br />

Hinrichtung öffentlich bekannt zu machen.“<br />

Es wurde den belarussischen Behörden deutlich<br />

klar gemacht, dass der Sonderberichterstatter der<br />

UNO zu außergerichtlichen, massenhaften oder<br />

willkürlichen Hinrichtungen konstatiert hat, dass<br />

„Tranparenz stets essentiell ist, wo auch immer die<br />

Todesstrafe Anwendung findet. Geheimhaltung gegenüber<br />

dem Delinquenten widerspricht den Standards<br />

der Menschenrechte. Die vollständige und<br />

akkurate Information über alle Hinrichtungen<br />

sollte publiziert werden und eine verläßliche Statistik<br />

sollte zumindest jährlich vorgelegt werden.“<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> und das belarussische Helsinki-Komitee<br />

treten gegen die Todesstrafe ohne<br />

jegliche Ausnahme auf.<br />

Die Todesstrafe ist die endgültige Verneinung<br />

des Rechts auf Leben, wie es im Artikel 3 der Allgemeinen<br />

Erklärung der Menschenrechte proklamiert<br />

wird. Sie ist die ultimative grausame, unmenschliche<br />

und erniedrigende Bestrafung.<br />

Die letzte Resolution, die zu einem Moratorium für<br />

die Todesstrafe aufruft, wurde vom Dritten Komitee<br />

der Vollversammlung der Vereinten Nationen<br />

am 15. November 2007 angenommen. Die Staaten,<br />

die die Todesstrafe beibehalten, werden aufgefordert<br />

„ein Moratorium für Exekutionen zu beschließen<br />

und dies im Hinblick auf eine Abschaffung der<br />

Todesstrafe tun.“<br />

Von diesen Staaten, zu denen Belarus gehört,<br />

wird verlangt, „die <strong>international</strong>en Standards zu respektieren,<br />

die die Sicherheit der Rechte von zum<br />

Tode Verurteilten garantieren“, „dem UNO-Generalsekretär<br />

Informationen zur Anwendung der Todesstrafe<br />

zuzuleiten“ und „nach und nach die Verhängung<br />

der Todesstrafe einzuschränken und die<br />

Zahl der Verbrechen, die mit dieser Strafe bedroht<br />

sind, zu reduzieren.“<br />

Hintergrund<br />

Belarus ist das einzige Land in Europa und der ehemaligen<br />

Sowjetunion, in dem weiterhin Gefangene<br />

hingerichtet werden. Belarus erhält die Todesstrafe<br />

für „vorsätzlichen schweren Mord“ und weitere 12<br />

Verbrechen in Friedenszeiten aufrecht.<br />

Es sind bis heute keine Zahlen zu Hinrichtungen<br />

im Jahr 2007 verfügbar.<br />

Die Exekution erfolgt mittels Genickschuss. Den<br />

Verwandten wird weder das Datum der Hinrichtung<br />

noch der Ort der Bestattung mitgeteilt.<br />

Am 16. November sagte der Innenminister gegenüber<br />

Journalisten in einem Kommentar zur<br />

oben erwähnten UNO-Resolution, dass es für Belarus<br />

momentan zu sei, ein Moratorium einzuführen.<br />

16 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Belarus: Eilaktionen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

Eilaktion<br />

UA-Nr: UA-317/2007 · AI-Index: EUR 49/009/2007<br />

Datum: 27.11.2007<br />

BELARUS: Bevorstehende Hinrichtung<br />

Sjarhej Marosaw (m)<br />

Ihar <strong>Dan</strong>tschanka (m)<br />

Walerij Gorbatij (m)<br />

Sjarhej Marosaw, Ihar <strong>Dan</strong>tschanka und Walerij Gorbatij sind in Gefahr hingerichtet zu werden, falls<br />

nicht der Präsident Aljaksandr Lukaschenka sein Gnadenrecht ausübt und die Todesstrafen umwandelt.<br />

Sjarhej Marosaw, Ihar <strong>Dan</strong>tschanka und Walerij Gorbatij sind vermeintlich Mitglieder einer kriminellen<br />

Bande, die in der Region von Gomel zwischen 1990 und 2004 mehrfach gemordet haben soll.<br />

Alle drei Männer wurden am 1. Dezember 2006 vom Obersten Gericht zum Tod durch Erschießen verurteilt.<br />

Am 9. Oktober 2007 standen Sjarhej Marosaw, der Chef der Bande, und sein Helfer, Ihar <strong>Dan</strong>tschanka,<br />

wegen weiterer Morde vor Gericht. Sie wurden erneut zum Tode verurteilt.<br />

Beide Prozesse fanden im Minsker Untersuchungshaftzentrum statt, wo die Männer auch gefangen gehalten<br />

werden. Die Prozesse waren nicht öffentlich und das Gebäude war von starken Aufgeboten der Sicherheitskräfte<br />

umstellt.<br />

Presseberichten zufolge haben die drei Männer in Appellen an Präsident Lukaschenka um Gnade gebeten,<br />

erhielten bislang jedoch keine Antwort.<br />

Der Staatsanwalt sagte am 9. Oktober vor der Presse, dass es sich vom Ausmaß der Untersuchungen her<br />

um einen „in der Geschichte der belarussischen Justiz einmaligen Fall“ handele. Die Ermittlungen zu den<br />

Aktivitäten der Bande würden fortgesetzt und im Interesse dieser Untersuchungen würde die Todesstrafe<br />

bei Sjarhej Marosaw nicht vollzogen. Über das Vorgehen gegen die beiden anderen Männer äußerte er<br />

sich nicht.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> wendet sich gegen die Todesstrafe in jedem Fall – ohne Ausnahme.<br />

Die Todesstrafe ist die endgültige Verneinung der Menschenrechte – ein vorsätzliches und kaltblütiges<br />

Beenden des Lebens eines Menschen durch den Staat – im Namen der Gerechtigkeit.<br />

Sie verletzt das Recht auf Leben wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte proklamiert ist<br />

und ist die ultimative grausame, unmenschliche und erniedrigende Bestrafung.<br />

Hintergrundinformationen<br />

Belarus hält die Todesstrafe für „vorsätzlichen, schweren Mord“ und 12 weitere Verbrechen in Friedenszeiten<br />

aufrecht. Die Exekution erfolgt mit einem Genickschuss. Die Verwandten bekommen keine offiziellen<br />

Informationen über das Datum der Hinrichtung und auch nicht über den Ort der Bestattung.<br />

In der Regel werden die Hinrichtungen innerhalb von sechs Monaten nach dem Urteil ausgeführt.<br />

Das Oberste Gericht verlautbarte im Februar 2007, dass im Jahr 2006 16 Menschen zum Tode verurteilt<br />

wurden, gab jedoch nicht bekannt, wieviele Hinrichtungen ausgeführt wurden.<br />

Am 15. November 2007 nahm das Dritte Komitee der Generalversammlung der Vereinten Nationen, das<br />

Menschenrechtsfragen behandelt, eine Resolution an, die ein weltweites Moratorium für die Todesstrafe<br />

fordert. Die Resolution ruft diejenigen Staaten, die die Todesstrafe beibehalten, auf, „ein Moratorium für<br />

Hinrichtungen einzuhalten und dies mit der Perspektive der vollständigen Abschaffung der Todesstrafe“.<br />

Sie fordert von diesen Staaten, „diejenigen <strong>international</strong>en Standards einzuhalten, die den Schutz der<br />

Rechte der zum Tode Verurteilten garantieren“ sowie „eine stärkere Einschränkung der Anwendung der<br />

Todesstrafe und die Verringerung der Zahl der Verbrechen, bei denen sie verhängt werden kann.“<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 17


Belarus: Eilaktionen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

Der belarussische Innenminister kommentierte die<br />

UN-Resolution: „ Belarus könne zur Zeit noch<br />

nicht ohne die Todesstrafe auskommen“. Nach seinen<br />

Worten ist die Resolution im Sinne der Politik<br />

angenommen worden, aber nicht im Sinne des gesunden<br />

Menschenverstandes. Er stellte fest, dass in<br />

den letzten fünf Jahren die Zahl der Morde in Belarus<br />

abgenommen habe und dass „in den Ländern<br />

ohne die Todesstrafe das Gegenteil eingetreten sei“.<br />

Wissenschaftliche Studien konnten keinen überzeugenden<br />

Beweis erbringen, dass die Todesstrafe<br />

eine effektivere Abschreckung darstellte als andere<br />

Bestrafungen. Der momentan aktuelleste Überblick<br />

der Vereinten Nationen (1998 und 2002 aktualisiert)<br />

über Forschungen zur Relation zwischen<br />

Todesstrafe und Mordrate zieht die Schlußfolgerung:<br />

„ es ist nicht klug, die Hypothese zu akzeptieren,<br />

dass die Höchststrafe Mörder in größerem<br />

Maße abschreckt als die vermeintlich geringere<br />

Strafe der lebenslänglichen Freiheitsstrafe.“<br />

Appelle an:<br />

Präsident Alyaksandr LUKASHENKA<br />

ul .Karla Marksa, 38<br />

220016 Minsk, Belarus<br />

Fax: (00 375) 172 26 06 10 oder<br />

(00 375) 172 22 38 72<br />

Email: infogrp@president.gov.by<br />

oder via website:<br />

www.president.gov.by/eng/president/mail.shtml<br />

Anrede: Dear President Lukashenka<br />

Vorsitzender des Obersten Gerichts der Republik<br />

Belarus<br />

Valentin SUKALO<br />

ul. Lenina. 28<br />

2200681 Minsk, Belarus<br />

Fax: (00 375) 17 227 12 25 (funktioniert nur in den<br />

Bürostunden. Sagen Sie bitte deutlich “fax” und<br />

warten Sie auf den Faxton)<br />

Anrede: Dear Chairman<br />

Empfohlene Aktionen<br />

Senden Sie bitte so schnell wie möglich Appelle auf<br />

Russisch, Englisch oder in Ihrer eigenen Sprache.<br />

• Schreiben Sie bitte, dass <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

die Todesstrafe in jeglichem Fall ablehnt.<br />

• Erklären Sie bitte, dass <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

den Verwandten der Opfer der Gewaltverbrechen<br />

ihre Anteilnahme ausspricht, und dass jedoch<br />

wissenschaftliche Studien zu dem Ergebnis<br />

gekommen seien, dass die Todesstrafe keine<br />

wirksame Abschreckung darstellt.<br />

• Fordern Sie bitte Präsident Lukaschenka auf, die<br />

Verurteilten Sjarhej Marosaw, Ihar <strong>Dan</strong>tschanka<br />

und Walerij Gorbatij zu begnadigen.<br />

• Erinnern Sie bitte Präsident Lukaschenka daran,<br />

dass das Dritte Komitee der Generalversammlung<br />

der Vereinten Nationen am 15. November<br />

2007 eine Resolution angenommen hat, die ein<br />

weltweites Moratorium für die Todesstrafe fordert<br />

und die Staaten aufruft, „eine stärkere Einschränkung<br />

der Anwendung der Todesstrafe und<br />

die Verringerung der Zahl der Verbrechen, bei<br />

denen sie verhängt werden kann.“ vorzunehmen.<br />

• Fordern Sie bitte Präsident Lukaschenka auf, ein<br />

Moratorium für Hinrichtungen in Belarus zu dekretieren.<br />

Kopien an:<br />

Generalstaatsanwalt Petr MIKLASHEVICH<br />

ul. Internatsionalnaya 22<br />

220050 Minsk, Belarus<br />

Fax: (00 375) 17 226 42 52<br />

Anrede: Dear General Prosecutor<br />

Botschaft der Republik Belarus<br />

S. E. Herrn Wladimir Skworzow<br />

Am Treptower Park 32, 12435 Berlin<br />

Telefax: 030-5363 5923<br />

18 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Ukraine: Eilaktion<br />

Eilaktion<br />

UA-Nr: UA-264/2007 · AI-Index: EUR 50/005/2007<br />

Datum: 16.10.2007<br />

Ukraine / Belarus: Drohende Abschiebung / Folter /<br />

Drohende Todesstrafe<br />

Igor Koktisch, 27-jähriger Staatsbürger von Belarus<br />

Dem weißrussischen Staatsbürger Igor Koktisch [englische Transkription: Igor Koktysh] droht die Auslieferung<br />

durch die ukrainischen Behörden an Belarus (Weißrussland), wo er in Gefahr wäre, misshandelt<br />

oder gefoltert zu werden, um ihn zum Geständnis eines Mordes zu zwingen. Zudem droht ihm ein unfaires<br />

Gerichtsverfahren, in dem er zum Tode verurteilt werden könnte.<br />

Dem Rockmusiker Igor Koktisch wurde vorgeworfen, im Januar 2001 im weißrussischen Baranowizi<br />

[Baranovici] den Familienangehörigen eines engen Freundes ermordet zu haben. Vor seiner Festnahme<br />

hatte er sich für Jugendliche in Baranowizi, die drogenabhängig waren und andere soziale Probleme hatten,<br />

eingesetzt. Er war mit der örtlichen Polizei in Konflikt geraten, weil er Rockfestivals organisiert<br />

hatte. Als er eine katholische Jugendorganisation gründen wollte, baten ihn die Polizisten, diese nicht<br />

registrieren zu lassen. Weil er sich von seinem Vorhaben aber nicht abbringen ließ, drohte ihm die Polizei<br />

damit, einen Grund für seine Festnahme zu finden.<br />

Im Januar 2001 wurde ein Verwandter eines guten Freundes von Igor Koktisch ermordet. Der Rockmusiker<br />

wurde daraufhin festgenommen und des Mordes beschuldigt. Während der einjährigen Untersuchungshaft<br />

soll er in Polizeigewahrsam geschlagen, misshandelt und gefoltert worden sein. So sperrte<br />

man ihn dem Vernehmen nach unbekleidet in eine eiskalte Zelle und verweigerte ihm die erforderlichen<br />

Medikamente zur Behandlung seines Asthmas, um ihn so zu zwingen, den Mord zu gestehen. Am 7. Dezember<br />

2001 befand ihn das Bezirksgericht von Brest für nicht schuldig, und das Oberste Gericht von<br />

Belarus bestätigte am 1. Februar 2002 dieses Urteil. Der Generalstaatsanwalt legte jedoch am 11. April<br />

2002 Rechtsmittel gegen die Entscheidung ein, und der Fall wurde an das Gericht zu einem Wiederaufnahmeverfahren<br />

verwiesen. Igor Koktisch verließ Belarus im Oktober 2003 und zog in die Ukraine.<br />

Am 25. Juni 2007 nahm die ukrainische Polizei den Musiker fest, um ihn an Belarus auszuliefern. Auf der<br />

Grundlage von Paragraph 139, Absatz 2, des Strafgesetzbuchs von Belarus steht er wegen „Mordes unter<br />

erschwerenden Umständen“ unter Anklage, ein Straftatbestand, der mit der Todesstrafe geahndet wird.<br />

HINTERGRUNDINFORMATIONEN<br />

Entsprechend ihren Verpflichtungen als Mitglied des Europarats hat die Ukraine die Todesstrafe abgeschafft<br />

und das UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende<br />

Behandlung oder Strafe ratifiziert, welches festschreibt, dass ein Vertragsstaat eine Person nicht in<br />

einen anderen Staat ausweisen, abschieben oder an diesen ausliefern darf, „wenn stichhaltige Gründe für<br />

die Annahme bestehen, dass sie dort Gefahr liefe, gefoltert zu werden“.<br />

In Belarus wird die Todesstrafe nach wie vor angewendet. Allerdings liegen keine Angaben über die Anzahl<br />

der Hinrichtungen vor. Todesurteile werden durch Erschießung vollstreckt. Die Familienangehörigen<br />

der Verurteilten erhalten jedoch weder Informationen über das Datum der Hinrichtung noch über den Bestattungsort.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> hat wiederholt kritisiert, dass Gerichtsverfahren in Belarus nicht den<br />

<strong>international</strong>en Standards für faire Prozesse entsprechen und die Justizbehörden nicht unabhängig sind.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 19


Ukraine: Eilaktion<br />

EMPFOHLENE AKTIONEN:<br />

Schreiben Sie bitte Telefaxe, E-Mails oder Luftpostbriefe, in denen Sie<br />

• die Behörden auffordern, sicherzustellen, dass Igor Koktisch nicht an die Behörden von Belarus ausgeliefert<br />

wird, da er ansonsten in Gefahr wäre, gefoltert und in einem unfairen Verfahren zum Tode verurteilt<br />

zu werden;<br />

• die Behörden daran erinnern, dass die Todesstrafe eine Verletzung des Rechts auf Leben (des fundamentalsten<br />

Menschenrechts) und des Rechts, keiner grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden<br />

Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden, darstellt, und die Ukraine auffordern, dafür einzutreten,<br />

dass diese Rechte weltweit respektiert werden;<br />

• die Behörden daran erinnern, dass die Ukraine Vertragsstaat des UN-Übereinkommens gegen Folter<br />

und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe ist und sich somit<br />

verpflichtet hat, niemanden in ein Land zu bringen, in dem dieser Person Folter oder andere schwere<br />

Menschenrechtsverletzungen drohen.<br />

Appelle an:<br />

den Staatspräsidenten der Ukraine,<br />

W. Juschtschenko:<br />

Viktor Yushchenko, President of Ukraine,<br />

Bankovaya Str. 11, 01220 Kyiv,<br />

UKRAINE<br />

Anrede: Dear President Yushchenko<br />

Telefax: (00 380) 44 255 61 61<br />

E-Mail: postmaster@ribbon.kiev.ua<br />

den Generalstaatsanwalt der Ukraine,<br />

O. Medwedko:<br />

Oleksandr Medvedko, Prosecutor General,<br />

Riznitska Str.13/15, 01601 Kyiv,<br />

UKRAINE<br />

Anrede: Dear Prosecutor General<br />

Telefax: (00 380) 44-280 2603 (kombinierter Telefon-/Faxanschluss,<br />

bitten Sie um die Umstellung<br />

auf „Fax“)<br />

Kopien an:<br />

Botschaft der Ukraine, S.E. Herrn Ihor Dolhov,<br />

Albrechtstraße 26, 10117 Berlin<br />

Telefax: 030-2888 7163<br />

E-Mail: ukremb@t-online.de<br />

Botschaft der Republik Belarus<br />

S. E. Herrn Wladimir Skworzow<br />

Am Treptower Park 32, 12435 Berlin<br />

Telefax: 030-5363 5923<br />

E-Mail: info@belarus-botschaft.de<br />

Bitte schreiben Sie Ihre Appelle möglichst sofort. Schreiben Sie in gutem Ukrainisch, Russisch, Englisch<br />

oder auf Deutsch. Da Informationen in Urgent Actions schnell an Aktualität verlieren können, bitten wir<br />

Sie, nach dem 27. November 2007 keine Appelle mehr zu verschicken.<br />

RECOMMENDED ACTION:<br />

Please send appeals to arrive as quickly as possible, in Russian or English or your own language:<br />

• urging the authorities to ensure that Igor Koktysh is not extradited to Belarus, where he would be at risk<br />

of the death penalty, torture and an unfair trial;<br />

• reminding the authorities that the death penalty is a violation of the right to life, and urging Ukraine to<br />

ensure that those rights are respected globally;<br />

• reminding the authorities that Ukraine is a state party to the UN Convention against Torture, which<br />

prohibits the return in any manner whatsoever of any person to a situation where they would be at risk<br />

of torture or other serious human rights violations.<br />

20 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Internationales Sekretariat<br />

Ukraine: Häusliche Gewalt – Die Opfer werden beschuldigt<br />

AI Index: EUR 49/014/2006<br />

Einführung<br />

In diesem Kurzbericht zeigt <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong>,<br />

dass – trotz der eingeleiteten Maßnahmen der ukrainischen<br />

Regierung zur Bekämpfung der häuslichen<br />

Gewalt – das Problem immer noch weit verbreitet<br />

ist. Dazu gehört, dass Frauen, die Opfer<br />

häuslicher Gewalt geworden sind, keinen ausreichenden<br />

Schutz oder Zugang zur Justiz bekommen.<br />

Die Ukraine erfüllt ihre aus der <strong>international</strong>en<br />

Menschenrechtsgesetzgebung erwachsenden Verpflichtungen<br />

nicht, sich mit gebührender Sorgfalt<br />

für die Sicherung der Rechte von Frauen auf<br />

Gleichheit, Leben, Freiheit und Sicherheit sowie<br />

darauf, frei von Diskriminierung, Folter und grausamer,<br />

unmenschlicher und erniedrigender Behandlung<br />

zu leben, einzusetzen.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> formuliert acht Empfehlungen,<br />

die der Regierung helfen sollen, ihre Verpflichtungen<br />

entsprechend der <strong>international</strong>en<br />

Menschenrechtsgesetzgebung einzuhalten.<br />

In der Ukraine handeln häusliche Gewalttäter mit<br />

der Aussicht auf Straffreiheit. Das Gesetz zur Prävention<br />

häuslicher Gewalt garantiert den Opfern<br />

keinen angemessenen Schutz und hält am Mythos<br />

fest, dass Frauen an der gegen sie verübten Gewalt<br />

selbst schuld seien.<br />

Oft unternimmt die Polizei nichts, wenn Frauen<br />

Fälle von häuslicher Gewalt anzeigen, und oft reagiert<br />

sie unangemessen. Frauen, die Täter vor Gericht<br />

zu bringen versuchen, werden auf Schritt und<br />

Tritt durch Korruption behindert und müssen erleben,<br />

dass unangemessene Strafen verhängt werden.<br />

Das <strong>international</strong>e Gesetz verpflichtet die Ukraine,<br />

Zufluchtsorte einzurichten und andere Formen der<br />

Unterstützung für Opfer häuslicher Gewalt bereitzustellen.<br />

Das Ministerium für Familie, Jugend und<br />

Sport hat ein Netzwerk von Zentren aufgebaut, die<br />

juristische und psychologische Beratung sowie Zuflucht<br />

für junge Menschen bis zum Alter von 35<br />

Jahren und für Familien bieten. Diese sind jedoch<br />

nicht auf Frauen ausgerichtet und bieten deshalb<br />

nicht den Schutz und die Hilfe, die für Opfer häuslicher<br />

Gewalt nötig wären.<br />

Die Überwindung geschlechtsbezogener Stereotypen<br />

ist einer der effektivsten Wege, die häusliche<br />

Gewalt zu bekämpfen. Während der Recherche für<br />

diesen Kurzbericht fand <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> Belege<br />

für weitverbreitete soziale Verhaltensmuster,<br />

die Frauen diskriminieren. Es bleibt zu hoffen, dass<br />

das neue Gesetz über die Gleichberechtigung von<br />

Frauen und Männern effektiv umgesetzt wird.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> ist der Überzeugung,<br />

• dass für die Schaffung eines Systems, das<br />

Frauen Schutz bietet und die Ausrottung häuslicher<br />

Gewalt anstrebt, ein starker politischer<br />

Wille nötig ist und dass die Behörden entschiedene<br />

Maßnahmen ergreifen müssen.<br />

• Es müssen Frauen kurzfristige Zufluchtsorte<br />

und langfristige Wohnmöglichkeiten und effektive,<br />

speziell auf sie zugeschnittene Hilfsdienste<br />

zur Verfügung gestellt werden.<br />

• Polizeibeamte müssen dahingehend ausgebildet<br />

werden, dass sie Verständnis für die psychologischen<br />

Folgen von häuslicher Gewalt aufbringen.<br />

• Das Gesetz zur Prävention häuslicher Gewalt<br />

muss geändert werden und die im Strafgesetzbuch<br />

sowie im Verwaltungsgesetzbuch vorgesehenen<br />

Strafen bedürfen der Überarbeitung.<br />

• Die Regierung muss öffentliche Kampagnen<br />

durchführen, um die Öffentlichkeit über häusliche<br />

Gewalt zu informieren und die Stigmatisierung<br />

der Opfer zu überwinden.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> behauptet nicht, dass Gewalt<br />

gegen Frauen ein spezifisch ukrainisches Problem<br />

sei oder dass sie dort mehr verbreitet sei als in anderen<br />

Ländern. <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> hat in vielen<br />

Berichten – so z.B. in Europa über Albanien, Frankreich,<br />

Georgien, Großbritannien, Russland,<br />

Schweden, Spanien, die Türkei und Weißrussland –<br />

dokumentiert, dass Frauen Opfer von Gewalt von<br />

Seiten ihrer Partner sind, unabhängig davon, wo<br />

oder in welchen sozialen Verhältnissen sie leben.<br />

In vielen Fällen wird Gewalt als normale Erscheinung<br />

in einer Beziehung zwischen Mann und<br />

Frau angesehen, oder sie wird mit Argumenten wie<br />

Eifersucht, Ehre oder Tradition gerechtfertigt. <strong>amnesty</strong><br />

<strong>international</strong> ist der Überzeugung, dass keiner<br />

dieser Gründe wie auch keinerlei anderes Motiv<br />

Gewalt gegen Frauen jemals rechtfertigen kann.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 21


Ukraine: Häusliche Gewalt – Die Opfer werden beschuldigt<br />

Die <strong>international</strong>e Menschenrechtsgesetzgebung<br />

und die Menschenrechtsstandards machen unmissverständlich<br />

deutlich, dass Gewalt gegen Frauen<br />

eine unverzeihliche Menschenrechtsverletzung<br />

darstellt.<br />

Das Ausmaß der häuslichen Gewalt<br />

Es gibt keine Statistiken über die Zahl der Frauen,<br />

die Gewalt durch ihren Partner erfahren, aber es<br />

gibt viele Hinweise darauf, dass das Problem sehr<br />

weit verbreitet ist.<br />

Laut Statistik der Abteilung Öffentliche Sicherheit<br />

im Innenministerium über die Einhaltung des<br />

Gesetzes zur Prävention häuslicher Gewalt hat es in<br />

den ersten fünf Monaten des Jahres 2005 83.150<br />

Fälle von Gewalt in der Familie gegeben. Diese Statistik<br />

unterscheidet nicht nach Geschlecht, aber laut<br />

Angaben der Abteilung Öffentliche Sicherheit sind<br />

90 Prozent der Opfer häuslicher Gewalt Frauen.<br />

Dem Innenministerium zufolge waren die meisten<br />

Opfer von 1008 registrierten Mordfällen und<br />

402 Fällen von Totschlag zu Hause in den ersten<br />

neun Monaten des Jahres 2006 Frauen.<br />

Ein Polizist informierte <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

darüber, dass im Winnyzja-Gebiet täglich 40 bis 45<br />

Anrufe wegen Fällen von häuslicher Gewalt kommen,<br />

und dass es 2006 neun Mordfälle in Familien<br />

gab.<br />

Diese Zahlen spiegeln nur die Fälle von häuslicher<br />

Gewalt wider, die der Polizei bekannt wurden.<br />

Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass viel mehr<br />

Opfer von häuslicher Gewalt sich nicht an die Polizei<br />

und noch nicht einmal an ihnen nahe stehende<br />

Angehörigen wenden.<br />

Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen<br />

(NGOs) und Polizeibeamte, die von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

im September 2006 befragt wurden, meinen,<br />

dass zwischen 50 und 70 Prozent aller ukrainischen<br />

Frauen schon häuslicher Gewalt ausgesetzt<br />

waren. Eine landesweite Umfrage im Jahre 2001<br />

unter 6000 Ukrainerinnen im Alter zwischen 12<br />

und 30 Jahren durch Winrock International führte<br />

zu dem Ergebnis, dass 33 Prozent der ukrainischen<br />

Frauen verbalen oder sittlichen Übergriffen, zumeist<br />

von Seiten ihrer Ehemänner, Freunde oder<br />

Nachbarn, ausgesetzt waren. Von den befragten<br />

Frauen waren 11 bis 12 Prozent sexuell missbraucht<br />

worden, und fünf Prozent waren körperlicher Gewalt,<br />

zumeist von Seiten ihrer Ehemänner, ausgesetzt.<br />

<br />

Zentrum für soziales Monitoring und Ukrainisches Institut<br />

für Sozialforschung: Frauenhandel als soziales Problem<br />

der ukrainischen Gesellschaft – Resümee. Kiew 2001<br />

www.winrock.org/leadership/files/SocialMonitoring.pdf.<br />

Ein Arzt der Notaufnahme des Städtischen Krankenhauses<br />

Nr. 2 in Winnyzja teilte <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

mit, dass im Durchschnitt zehn Frauen pro<br />

Jahr angäben, ihre Verletzungen seien eine Folge<br />

häuslicher Gewalt. Es gäbe sehr viel mehr Frauen<br />

mit Spuren von Schlägen, aber die Ärzte der Intensivstation<br />

äußerten gegenüber <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong>,<br />

dass es ihre Aufgabe sei, die Frauen zu behandeln,<br />

nicht jedoch herauszufinden, wie ihnen die<br />

Verletzungen beigefügt wurden. Eine Frau wurde<br />

mit Schnittwunden eingeliefert und erklärte, sie<br />

habe Kartoffeln geschält, was die Ärzte wunderte,<br />

weil es mitten in der Nacht war.<br />

Gewalt gegen Frauen durch Familienmitglieder<br />

reicht von der wirtschaftlichen Bevormundung, der<br />

Anwendung verbaler und psychologischer Gewalt<br />

bis hin zu Schlägen, sexueller Gewalt oder gar<br />

Mord.<br />

Larissa beschrieb, wie ihr Ehemann ihr Gewalt<br />

antat, um ihre Kinder einzuschüchtern. Er drückte<br />

ihren Kopf in der Badewanne unter Wasser und<br />

drohte damit, sie zu ertränken, wenn ihre Tochter<br />

keine Hausaufgaben machen würde.<br />

Shanna litt 13 Jahre lang unter der Gewalt ihres<br />

Ehemannes. Er demütigte oder schlug sie, brachte<br />

danach jedoch Blumen mit und bat sie um Verzeihung.<br />

Einmal kam er ins Badezimmer, als sie sich<br />

gerade wusch, und urinierte auf sie.<br />

Sozialarbeiter in Kiew beschrieben den Fall einer<br />

Frau, die stellvertretende Direktorin einer<br />

Schule war, zu Hause aber unter psychologischer<br />

Gewalt von Seiten ihres Mannes litt. Er ließ es<br />

nicht zu, dass sie mit ihm aß oder auf dem Sofa saß.<br />

Auch Männer können Opfer von häuslicher Gewalt<br />

werden. <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> hat Kenntnis<br />

von einem Mann, den die Gewalt seiner Frau dazu<br />

brachte, zusammen mit den Kindern sein Zuhause<br />

zu verlassen, und der in Folge wohnungslos war.<br />

„Das Leben hier in diesem Land ist hart für uns.<br />

Sie (die Männer) haben es schwer, und darum trinken<br />

sie.“ Larissa, Winnyzja, September 2006<br />

Laut World Mental Health survey (einer Studie zu<br />

mentalen Störungen) der WHO, die von 2001 bis<br />

2003 in 14 Ländern durchgeführt wurde, sind die<br />

Hauptrisikofaktoren für von Männern ausgehende<br />

Gewalt in Beziehungen in der Ukraine Erfahrungen<br />

mit Gewalt in der eigenen Familie, Verhaltensprobleme<br />

(spontane Wutausbrüche (Intermittent<br />

Explosive Disorder)) und Alkoholmissbrauch.<br />

Larissas Ehemann schlug sie, wenn er betrunken<br />

war, und später fand sie zufällig heraus, dass er in<br />

22 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Ukraine: Häusliche Gewalt – Die Opfer werden beschuldigt<br />

einem Klima der Gewalt aufgewachsen war. Seine<br />

Mutter war von ihrem Ehemann geschlagen worden,<br />

hatte aber nie darüber gesprochen.<br />

In einigen Fällen kann es so weit kommen, dass<br />

Frauen ihren Partner töten, um der Gewalt zu entkommen.<br />

Eine Sozialarbeiterin in Kiew berichtete <strong>amnesty</strong><br />

<strong>international</strong> von einer Frau, die viele Jahre lang<br />

die Gewalt ihres Mannes ertragen hatte, ihn dann<br />

aber, als er sie vor den Augen ihrer Kinder vergewaltigte<br />

und drohte, auch die Kinder zu vergewaltigen,<br />

umbrachte. Sie wurde zu 15 Jahren Haft<br />

verurteilt.<br />

Häusliche Gewalt ist nicht nur eine Menschenrechtsverletzung,<br />

sondern wurde auch als begünstigender<br />

Faktor angesehen, der Frauen in den Frauenhandel<br />

treibt.<br />

Mitarbeiterinnen eines Frauenberatungszentrums,<br />

einer NGO, die eine Hotline für potentielle<br />

Opfer von Frauenhandel in Dnepropetrowsk betreibt,<br />

teilte Vertretern von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

mit, dass etwa die Hälfte der von ihnen beratenen<br />

gehandelten Frauen vor ihrer Ausreise Opfer von<br />

häuslicher Gewalt geworden waren.<br />

Eine Untersuchung der Internationalen Organisation<br />

für Migration ergab, dass 80 Prozent der Frauen,<br />

denen sie Hilfe erwiesen hat, Opfer von häuslicher<br />

Gewalt waren, bevor sie Objekte des Frauenhandels<br />

wurden.<br />

Völkerrechtliche Verpflichtungen<br />

Gewalt gegen Frauen ist eine Verletzung ihrer<br />

grundlegenden Rechte, einschließlich ihres Rechts<br />

auf körperliche und geistige Unversehrtheit, ihres<br />

Rechts auf Leben sowie ihres Rechts auf Gleichstellung<br />

mit Männern.<br />

Die Ukraine ist Unterzeichner aller wichtigen<br />

entsprechenden <strong>international</strong>en Verträge, einschließlich<br />

der folgenden:<br />

– Internationaler Pakt über bürgerliche und politische<br />

Rechte (ICCPR)<br />

– Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale<br />

und kulturelle Rechte (CESCR)<br />

– Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form<br />

von Diskriminierung der Frau (Frauenrechtskonvention)<br />

und sein Fakultativprotokoll<br />

– Übereinkommen gegen Folter und andere grausame,<br />

unmenschliche oder erniedrigende Behandlung<br />

oder Strafe (Anti-Folter-Konvention)<br />

– Übereinkommen über die Rechte des Kindes<br />

(Kinderrechtskonvention).<br />

Durch diese Konventionen ist die Ukraine verpflichtet,<br />

die Rechte derjenigen Personen zu respektieren<br />

und einzulösen, die sich auf ihrem Territorium<br />

befinden und ihrer Rechtsprechung unterstehen,<br />

und zwar ohne jegliche Diskriminierung, insbesondere<br />

nicht aufgrund des Geschlechts.<br />

Was ist Gewalt gegen Frauen?<br />

Die UN-Erklärung über die Beseitigung von Gewalt<br />

gegen Frauen definiert diese als:<br />

„jede gegen Frauen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit<br />

gerichtete Gewalthandlung, durch die<br />

Frauen körperlicher, sexueller oder psychologischer<br />

Schaden oder Leid zugefügt wird oder werden<br />

kann, einschließlich der Androhung derartiger<br />

Handlungen, der Nötigung und der willkürlichen<br />

Freiheitsberaubung, gleichviel ob im öffentlichen<br />

oder im privaten Bereich.“<br />

Die Weltgesundheitsorganisation definiert Partnergewalt<br />

als:<br />

jegliches Verhalten innerhalb einer intimen Beziehung,<br />

das körperliche, psychologische oder sexuelle<br />

Verletzungen zur Folge hat, einschließlich<br />

– Akten körperlicher Aggression wie Ohrfeigen,<br />

Schläge, Stöße oder Tritte<br />

– Psychologischer Misshandlung, wie Einschüchterung,<br />

dauerhafte Erniedrigung und Demütigung<br />

– Erzwungenen Geschlechtsverkehrs und anderer<br />

Formen sexueller Nötigung<br />

– Diverser kontrollierender Verhaltensweisen, wie<br />

Isolierung einer Person von ihrer Familie und ihren<br />

Freunden, Überwachung ihres Bewegungsfeldes,<br />

Beschränkung ihres Zugangs zu Information<br />

oder Hilfe.<br />

Die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Staaten<br />

sind nicht darauf begrenzt sicherzustellen, dass die<br />

eigenen Handlungsträger keine Gewalt ausüben.<br />

Sie sind auch verpflichtet, effektive Maßnahmen<br />

zu ergreifen, um Zuwiderhandlungen durch Privatpersonen<br />

oder Gruppen zu verhindern und zu bestrafen.<br />

Staaten haben deshalb die Pflicht, Gewalt<br />

gegen Frauen zu verhüten, zu verbieten und zu bestrafen,<br />

unabhängig davon, ob der Täter eine Privatperson<br />

oder eine im Auftrag des Staates handelnde<br />

Person ist. Der Staat ist außerdem zu Wiedergutmachung<br />

und Schadenersatz verpflichtet.<br />

Der Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung<br />

der Frau (Committee on the Elimination of<br />

Discrimination against Women – CEDAW), welcher<br />

die Einhaltung der UN-Frauenrechtskonvention<br />

durch die Mitgliedstaaten überwacht, formuliert<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 23


Ukraine: Häusliche Gewalt – Die Opfer werden beschuldigt<br />

in der Allgemeinen Empfehlung 19, dass Gewalt<br />

aufgrund des Geschlechts, einschließlich häuslicher<br />

Gewalt, eine Form der Diskriminierung darstellt.<br />

Somit ist die Ukraine als Vertragsstaat verpflichtet,<br />

„die notwendigen gesetzgeberischen und sonstigen<br />

Maßnahmen, insbesondere auch Sanktionen,<br />

zu ergreifen, um jede Form von Diskriminierung<br />

von Frauen zu unterbinden.“ Sie ist außerdem verpflichtet,<br />

mindestens alle vier Jahre über die Einhaltung<br />

der Konvention zu berichten. Der letzte<br />

Bericht ist von 2002.<br />

Der Europarat ruft seine Mitgliedstaaten dazu auf,<br />

angemessene Schritte zur Bekämpfung der Gewalt<br />

gegen Frauen einzuleiten und mittel- und langfristige<br />

koordinierte Aktionspläne zum Schutz der<br />

Frauen zu erstellen. <br />

Am 27. November 2006 startete der Europarat<br />

eine Kampagne zur Bekämpfung der Gewalt gegen<br />

Frauen, in der gefordert wird: „Der Schutz der<br />

Frauen vor Gewalt in der Familie und im Haus soll<br />

in allen Mitgliedstaaten des Europarats höchste<br />

politische Bedeutung haben, und sie sollen dafür<br />

ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung<br />

stellen.“<br />

Nationale Gesetzgebung<br />

In vielerlei Hinsicht spiegelt das ukrainische Recht<br />

die <strong>international</strong>en Rechtsstandards wider. Das<br />

Parlament verabschiedete am 15. November 2001<br />

ein Gesetz zur Prävention häuslicher Gewalt, das<br />

im Januar 2002 in Kraft trat.<br />

Die Ukraine war das erste Land der ehemaligen<br />

Sowjetunion, das ein solches Gesetz über häusliche<br />

Gewalt verabschiedete. Es deckt sämtliche Aspekte<br />

von Gewalt innerhalb der Familie ab und beinhaltet<br />

eine Definition von häuslicher Gewalt, die mit den<br />

UNO-Standards im Einklang steht. Das Gesetz ist<br />

präventiv ausgerichtet, und häusliche Gewalt wird<br />

nach den geltenden Bestimmungen des Straf- und<br />

des Verwaltungsrechts verfolgt.<br />

Dennoch hat das Gesetz sich als für die Bekämpfung<br />

häuslicher Gewalt nicht effektiv erwiesen.<br />

Eine parlamentarische Anhörung im Juni 2004<br />

(Situation der Frauen in der Ukraine: Wirklichkeit<br />

und Perspektiven) zog den Schluss, dass trotz des<br />

Gesetzes die Zahl der Gewalttaten in Familien weiterhin<br />

anstieg. <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> ist der Ansicht,<br />

dass es ernsthafte Mängel im Gesetz gibt, die<br />

behoben werden müssen, wenn es ein effektives<br />

Siehe Empfehlung Nr. R (2002) 5 des Minister-Komitees<br />

und das erläuternde Memorandum<br />

Mittel zur Verhütung von häuslicher Gewalt sein<br />

soll.<br />

Das Gesetz zur Prävention häuslicher Gewalt beinhaltet<br />

das Konzept des „Opferverhaltens“, das definiert<br />

wird als „Verhalten des Opfers, das häusliche<br />

Gewalt provoziert“. Artikel 11 sieht die Möglichkeit<br />

vor, Opfern häuslicher Gewalt „eine offizielle<br />

Verwarnung wegen der Unzulässigkeit von Opferverhalten“<br />

auszusprechen.<br />

Solch ein Konzept darf nicht in einem Gesetz<br />

vorkommen, auch wenn es ratsam sein kann, Fragen<br />

von Verhaltensmustern in der psychologischen<br />

Beratung zu benennen. Da entsprechende soziale<br />

Dienste und andere Stellen fehlen, um solche Vorschriften<br />

umzusetzen, tragen überarbeitete Polizeibeamte<br />

ohne entsprechende Ausbildung die Hauptlast<br />

bei der Entscheidung, ob eine Frau Opferverhalten<br />

an den Tag gelegt hat oder nicht.<br />

In der alltäglichen Realität leistet der Gesetzestext<br />

der Annahme Vorschub, Frauen würden<br />

schuldhaft die Gewalt selbst herbei provozieren,<br />

wodurch die Täter Verfolgung vermeiden können.<br />

Er ermöglicht es der Polizei und staatlichen Behörden,<br />

den Fokus darauf zu verlegen, Frauen zu einer<br />

„Verbesserung“ ihres Verhaltens anzuhalten, anstatt<br />

sie angemessen zu schützen oder die Gewalttäter<br />

zu verhaften.<br />

Darüber hinaus fließt jede Verwarnung wegen<br />

Opferverhaltens in die persönliche Beurteilung der<br />

Frau ein, wenn ein Fall an ein Gericht weitergeleitet<br />

wird, und kann als mildernder Umstand für den<br />

Täter geltend gemacht werden.<br />

Eine Anwältin in Lwiw, die mit einer NGO zusammenarbeitet,<br />

berichtete, dass einige Polizeibeamte<br />

erkannt haben, dass sie durch das Aussprechen<br />

von Verwarnungen Frauen davon abhalten<br />

können, Anzeige zu erstatten. In den ersten neun<br />

Monaten des Jahres 2005 wurden 3.049 Verwarnungen<br />

wegen Opferverhaltens ausgesprochen.<br />

Es scheint sich aber die Erkenntnis durchzusetzen,<br />

dass das Konzept aus dem Gesetz gestrichen<br />

werden soll. Für das Jahr 2006 gibt es in den offiziellen<br />

Statistiken der Abteilung Öffentliche Sicherheit<br />

keine Angaben über Opferverhalten mehr. Ein<br />

Vertreter der Abteilung berichtete <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong>,<br />

dass nun die Polizeibeamten angewiesen<br />

würden, vorsichtig bei der Benutzung dieses Terminus<br />

zu sein.<br />

Das Gesetz zur Prävention häuslicher Gewalt<br />

nennt eine Reihe von Maßnahmen zur Verhütung<br />

von Gewalt und zum Schutz der Opfer von Gewalt:<br />

Verordnungen zum Schutz, spezielle Institutionen<br />

zum Schutz der Opfer häuslicher Gewalt, Zentren<br />

für medizinische und soziale Rehabilitation, Krisenüberwachungszentren.<br />

24 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Ukraine: Häusliche Gewalt – Die Opfer werden beschuldigt<br />

Es gibt jedoch keinerlei spezifische Beschreibung<br />

solcher Einrichtungen und Dienste und keine<br />

Antwort auf die Frage, wie solche Dienste landesweit<br />

finanziert werden sollen. Die Abteilung Öffentliche<br />

Sicherheit informierte einen Vertreter von<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> im September 2006, dass die<br />

Schutzbestimmungen nur effektiv sind, wenn die<br />

Paare getrennt leben, und dass sie kein effektives<br />

Mittel sind, wenn ein Paar zusammenlebt, da es<br />

keine Vorkehrungen für eine getrennte Unterbringung<br />

der Täter gibt.<br />

Ein Polizist in Winnyzja gab an, dass bis zum<br />

September 2006 56 Schutzverfügungen erlassen<br />

wurden, und dass es keine Fälle gab, in denen ein<br />

Täter gegen die Auflagen verstoßen hätte. Das Ministerium<br />

für Familie, Jugend und Sport hat kürzlich<br />

verschiedene Dienste aufgebaut, einschließlich<br />

Zentren für soziale und psychologische Unterstützung<br />

junger Menschen und Familien. Doch diese<br />

Zentren richten sich an Familien, nicht an Frauen.<br />

Sie erfüllen nicht den <strong>international</strong>en Standard für<br />

Frauenhäuser. (s.u. Mangel an Frauenhäusern)<br />

Hindernisse für die Justiz<br />

Wie Frauen in anderen Ländern auch machen Frauen<br />

in der Ukraine, die Opfer häuslicher Gewalt geworden<br />

sind, selten den ersten Schritt, sich an die<br />

Polizei zu wenden, aber für eine strafrechtliche<br />

Verfolgung bedarf es der Anzeige durch das Opfer.<br />

Duldung von Gewalt, Angst vor Racheakten des<br />

gewalttätigen Partners, eigene Schuldgefühle,<br />

Angst davor, die eigene Familie in Verruf zu bringen,<br />

niedriges Selbstwertgefühl und materielle Abhängigkeit<br />

sind einige der Gründe dafür, dass<br />

Frauen nicht zur Polizei gehen. Aber sogar wenn<br />

Opfer häuslicher Gewalt den wichtigen Schritt unternehmen,<br />

häusliche Gewalt bei der Polizei anzuzeigen,<br />

und versuchen, die Gewalttäter strafrechtlich<br />

zu verfolgen, werden ihnen viele Steine in den<br />

Weg gelegt. In manchen Fällen halten unangemessene<br />

Strafen Frauen davon ab, Anzeige zu erstatten,<br />

in anderen Fällen empfinden die Frauen die Reaktion<br />

der Polizisten als unangemessen oder sind die<br />

Polizisten korrumpierbar.<br />

Häusliche Gewalt wird nicht als eigenständige<br />

Straftat angesehen und wird nach einer Reihe von<br />

Artikeln des Strafgesetzbuchs verfolgt, die sich auf<br />

leichte oder schwere Körperverletzung, Schläge,<br />

Misshandlung und Morddrohungen beziehen. Die<br />

üblicherweise herangezogenen Artikel sind Art.<br />

121 (vorsätzliche schwere Körperverletzung), Art.<br />

125 (vorsätzliche leichte Körperverletzung) und<br />

Art. 127 (Misshandlung).<br />

Die verhängten Strafen variieren von Geldstrafen<br />

bis zu Haftstrafen von bis zu zwei Jahren, und in<br />

außergewöhnlichen Fällen sind auch längere Haftstrafen<br />

möglich. In vielen Fällen hängt die Strafe<br />

vom Schweregrad der Verletzungen ab.<br />

Mit dem Gesetz zur Prävention häuslicher Gewalt<br />

wurde das Verwaltungsgesetzbuch um einen<br />

neuen Artikel ergänzt (Art. 173/2), der es möglich<br />

macht, für eine Straftat, die zuhause begangen<br />

wurde, eine Geldstrafe oder eine 15-tägige Haftstrafe<br />

zu verhängen.<br />

Die Praxis, für häusliche Gewalt Geldstrafen zu<br />

verhängen, schreckt Frauen davon ab, Gewalttätigkeit<br />

anzuzeigen, weil das Geld in aller Regel vom<br />

Haushaltsgeld abgezogen werden muss, wovon neben<br />

dem Gewalttäter auch die anderen Familienmitglieder<br />

betroffen sind. Eine für die NGO »Westukrainische<br />

Perspektiven« in Lwiw tätige Rechtsberaterin<br />

informierte <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong>, dass<br />

von zwanzig <strong>Richter</strong>n, die an einer von der NGO<br />

organisierten Fortbildung teilnahmen, 19 angaben,<br />

sie würden für häusliche Gewalt immer eine Geldstrafe<br />

verhängen, und nur eine <strong>Richter</strong>in gab an,<br />

dass sie immer eine 15tägige Haftstrafe verhängen<br />

würde.<br />

„Der Polizeichef hatte Anweisung gegeben, mich<br />

nicht reinzulassen. Offensichtlich hatte mein<br />

Mann ihn bestochen und er ließ mich einfach nicht<br />

in die Polizeistelle. Ich bin da hingegangen und<br />

man sagte mir, es gäbe die Anweisung, mich nicht<br />

reinzulassen.” Shanna, Winnyzja, September 2006<br />

In allen Schichten der ukrainischen Gesellschaft<br />

floriert die Korruption. Transparency International<br />

setzt die Ukraine in ihrem Korruptionswahrnehmungsindex<br />

für 2005 auf Rang 107 von 158.<br />

Der stellvertretende Innenminister gab im Oktober<br />

an, dass Beamte in den ersten neun Monaten<br />

des Jahres 2006 Bestechungsgelder in Höhe von<br />

9,3 Mio. Griwna (60 Mio. Euro) angenommen hätten<br />

. Die Tatsache, dass es innerhalb des Innenministeriums<br />

Korruption in hohem Maße gegeben hat,<br />

hat der Innenminister Juri Luzenko eingeräumt, als<br />

er seinen Posten im Februar 2005 antrat und eine<br />

Antikorruptionskampagne begann.<br />

Der Länderbericht zur Ukraine des amerikanischen<br />

Außenministeriums bezeichnet Korruption<br />

in der Justiz als ernstes Problem und legt dar, dass<br />

„Verdächtige Gerichtsbeamte oft mit dem Ziel bestachen,<br />

dass die Anklage fallengelassen würde,<br />

bevor es zu einer Gerichtsverhandlung käme, oder<br />

aber, um das Strafmaß herabzusetzen.”<br />

http://tribuna.com.ua/news/2006/10/12/60260/<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 25


Ukraine: Häusliche Gewalt – Die Opfer werden beschuldigt<br />

Opfer häuslicher Gewalt haben auch die Erfahrung<br />

gemacht, dass Korruption im Justizsystem und bei<br />

der Polizei verhindert, dass ihnen Gerechtigkeit zuteil<br />

wird.<br />

Shanna gab <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> gegenüber an,<br />

dass ihr Mann nicht nur die Polizei bestochen hat,<br />

sie nicht zu vorzulassen, sondern auch dafür bezahlt<br />

hat, dass sie die erste Verhandlung gegen ihn<br />

„verloren“ hat. Eine zweite Verhandlung wurde<br />

jetzt eröffnet, aber laut Shannas Aussagen ist es ihrem<br />

Mann gelungen, Zeugen zu bestechen.<br />

Mitglieder von NGOs beklagen, dass die Polizei<br />

es häufig ablehnt, in Fällen häuslicher Gewalt etwas<br />

zu unternehmen. Eine für die NGO Westukrainische<br />

Perspektiven in Lwiw tätige Rechtsberaterin<br />

berichtete <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong>, dass die Polizei<br />

in fünf bis acht Fällen von den 20 bis 25 Fällen<br />

häuslicher Gewalt, zu denen sie im Monat arbeitet,<br />

etwas unternimmt.<br />

Shanna erklärt, dass der Polizist ihr das erste<br />

Mal, als sie ihren Mann bei der Polizei anzeigte,<br />

weil er sie geschlagen hatte, sagte, sie solle ihm sexuelle<br />

Dienste leisten, wenn sie wolle, dass der Fall<br />

schnell bearbeitet würde.<br />

Mangel an Frauenhäusern<br />

Laut Völkerrecht ist die Ukraine dazu verpflichtet,<br />

mittels verschiedener Maßnahmen sicherzustellen,<br />

dass Frauen in ihren Bemühungen unterstützt werden,<br />

einer gewalttätigen Beziehung zu entkommen.<br />

Die UN-Vollversammlung als alle Regierungen der<br />

Welt vertretendes Organ hat in verschiedenen Resolutionen<br />

zu diesem Thema gefordert, dass Staaten<br />

Frauenhäuser und Notrufstellen bereitstellen,<br />

Mitarbeiter der Rechtsschutzorgane ausbilden und<br />

andere Initiativen ergreifen sollen, um Gewalt gegen<br />

Frauen auszurotten.<br />

Auch das Gesetz zur Prävention häuslicher Gewalt<br />

fordert die Einrichtung von Frauenhäusern.<br />

Es existieren verschiedene Arten von Zufluchtsstätten,<br />

die vom Staat oder von NGOs betrieben<br />

werden, aber es gibt keine umfassenden genauen<br />

Informationen über Frauenhäuser. Die meisten der<br />

vorhandenen Einrichtungen sind nicht speziell zur<br />

Unterstützung von Frauen, die Opfer häuslicher<br />

Gewalt geworden sind, eingerichtet worden und<br />

entsprechen in vielen Fällen nicht den <strong>international</strong>en<br />

Standards für solche Häuser.<br />

Standards für Frauenhäuser<br />

gemäß dem Bericht der 7. Assembly of Women’s<br />

Shelters and Support Centres,<br />

3. - 5. Dezember 2004 in Çanakkale, Türkei<br />

– Adressen von Frauenhäusern sind geheimzuhalten<br />

und Informationen/Daten über Frauenhäuser<br />

aufsuchende Frauen vertraulich zu behandeln.<br />

– Es darf keinerlei Diskriminierung aufgrund von<br />

Religion, Familienstand, Hautfarbe, Nationalität,<br />

Beruf, Muttersprache, Behinderung, sozialer<br />

Herkunft, Alter oder politischer Meinung gegenüber<br />

den Frauen geben.<br />

– Frauenhäuser sollen für alle Frauen offen sein,<br />

auch für kinderlose Frauen und Angehörige<br />

ethnischer Minderheiten.<br />

– Frauenhäuser sollen von Frauen betrieben werden,<br />

die sich der Belange der Frauen annehmen.<br />

– Frauen und ihre Kinder sollen gemeinsam untergebracht<br />

werden und es ist unbedingt für ihre<br />

Sicherheit Sorge zu tragen.<br />

– Es ist davon auszugehen, dass die Frauen Gewalt<br />

erlitten haben und dass ihre Aussagen wahr sind.<br />

– Frauenhäuser sollen die Frauen dazu ermutigen,<br />

einen Weg aus der Gewalt zu finden, indem Unterstützung<br />

in Form von Kinderbetreuung,<br />

Rechtsberatung, beruflicher Ausbildung, Arbeitsmöglichkeiten,<br />

medizinischer und psychologischer<br />

Betreuung angeboten wird in einer sicheren<br />

Umgebung, in der sie wieder Vertrauen<br />

fassen können.<br />

– Frauenhäuser bieten Unterstützung in Form von<br />

Kinderbetreuung, Rechtsberatung, beruflicher<br />

Ausbildung, Arbeitsmöglichkeiten, medizinischer<br />

und psychologischer Betreuung, damit<br />

sich die Frauen ein Leben ohne Gewalt aufbauen<br />

können.<br />

– Frauenhäuser bieten eine sichere Umgebung, in<br />

der Frauen wieder Vertrauen fassen können.<br />

Während der letzten zwei Jahre hat das Ministerium<br />

für Familie, Jugend und Sport 21 miteinander<br />

vernetzte Zentren für soziale und psychologische<br />

Unterstützung junger Menschen und Familien aufgebaut,<br />

weitere sind in Planung.<br />

Diese Zentren bieten juristische und psychologische<br />

Beratung sowie Unterbringung für bis zu<br />

drei Monaten an. Jedoch entsprechen sie nicht den<br />

<strong>international</strong>en Standards für Frauenhäuser und<br />

können nicht als den Anforderungen des Gesetzes<br />

zur Prävention häuslicher Gewalt genügend angesehen<br />

werden.<br />

Gründe dafür sind:<br />

– Die Zentren sind mit dem Ziel eingerichtet worden,<br />

die Familie als Ganzes zu schützen und<br />

nicht die Frauen.<br />

26 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Ukraine: Häusliche Gewalt – Die Opfer werden beschuldigt<br />

– Die Adressen der Zentren für soziale und psychologische<br />

Unterstützung sind auf der Website<br />

des Ministeriums veröffentlicht. Dies kann Opfer<br />

häuslicher Gewalt in Gefahr bringen, da Täter<br />

ihre Opfer leicht ausfindig machen können.<br />

– Frauen müssen in der Stadt / dem Stadtbezirk registriert<br />

sein, in dem sich das Zentrum befindet.<br />

Um zugelassen zu werden, muss die Registrierung<br />

nachgewiesen werden.<br />

Diese starren Zugangsbedingungen führen dazu,<br />

dass die staatlichen Einrichtungen oft ungenutzt<br />

bleiben. An Orten ohne ein solches Zentrum versuchen<br />

Sozialarbeiter und die lokalen Behörden, was<br />

ihnen möglich ist, um Frauen in Krisensituationen<br />

zu helfen.<br />

Der Direktor der lokalen Verwaltung für Jugend<br />

und Familie in Dnepropetrowsk erklärte <strong>amnesty</strong><br />

<strong>international</strong>, es gäbe mit dem Gesundheitsministerium<br />

die Absprache, dass den Frauen ein Bett in<br />

einem Krankenhaus angeboten werden kann.<br />

Internationale Standards fordern auch, dass Regierungen<br />

finanzielle Unterstützung für Opfer häuslicher<br />

Gewalt bieten. Die Einrichtung der oben genannten<br />

Zentren wurde durch das Ministerium finanziert,<br />

doch werden die laufenden Kosten dann<br />

den Kommunalverwaltungen überlassen. Dies kann<br />

problematisch sein, da einige Kommunalverwaltungen<br />

nur über sehr begrenzte Finanzmittel verfügen.<br />

Das Zentrum in Dnepropetrowsk blieb im letzten<br />

Jahr aufgrund von fehlenden Finanzen der<br />

Kommunalverwaltung geschlossen.<br />

Es gibt auch einige von NGOs betriebene Zufluchtsorte,<br />

die speziell auf Frauen, die Opfer häuslicher<br />

Gewalt geworden sind, ausgerichtet sind. In<br />

Kiew gibt es eine Einrichtung, die von einer Frauenorganisation<br />

betrieben und aus dem Budget der<br />

Stadt finanziert wird. Der Standort dieser Einrichtung<br />

wird gemäß den <strong>international</strong>en Standards<br />

vertraulich gehandelt, doch geschieht es nur in Ausnahmefällen,<br />

dass Frauen, die nicht in Kiew registriert<br />

sind, dort aufgenommen werden. <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

wurde weiterhin von Frauenhäusern in<br />

Charkiw und Odessa berichtet. Der Bürgermeister<br />

von Kiew versprach in einer live ausgestrahlten<br />

Fernsehsendung im Oktober 2006 die Einrichtung<br />

fünf weiterer Zufluchtsorte für Opfer häuslicher<br />

Gewalt.<br />

Viele Frauen verlassen eine durch Gewalt bestimmte<br />

Beziehung zeitweilig, indem sie zum Beispiel<br />

bei Verwandten oder Freunden Unterschlupf<br />

finden, die wenigsten aber gehen für immer. Meistens<br />

ist es das Fehlen praktikabler Alternativen,<br />

das sie davon abhält.<br />

Da Frauen häufig nicht über ein ausreichendes<br />

Einkommen verfügen, um Wohnraum zu mieten<br />

oder zu kaufen, können sie nirgendwo hin, wenn sie<br />

nicht bei Freunden oder Verwandten dauerhaft unterkommen<br />

können.<br />

Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen<br />

zum Recht auf angemessenes Wohnen als Teil<br />

des Rechts auf angemessenen Lebensstandard und<br />

des Rechts auf Nichtdiskriminierung stellte in seinem<br />

dem UN-Menschenrechtsausschuss im Februar<br />

2005 vorgelegten Bericht Frauen und angemessenes<br />

Wohnen fest, dass „Frauen, die von häuslicher<br />

Gewalt betroffen sind, schon an sich unter<br />

einer nicht angemessenen Wohnsituation leiden, da<br />

sie in ihrem Zuhause Gewalt erleben. Viele Frauen<br />

können dem Klima der Gewalt nicht entkommen,<br />

weil sie weder alternative Wohnmöglichkeiten noch<br />

die entsprechenden finanziellen Mittel haben.“<br />

Er rief die Regierungen auf „sicherzustellen,<br />

dass Frauen zeitlich begrenzt Zugang zu angemessenen<br />

Zufluchtsorten haben und bei der Suche nach<br />

angemessenem langfristigem Wohnraum Unterstützung<br />

erfahren, um zu verhindern, dass sie in<br />

Ermangelung angemessenen Wohnraums im gewaltgeprägten<br />

Umfeld bleiben müssen.“ Außerdem<br />

forderte er die Regierungen auf, „im Wohnrecht<br />

Regelungen einzuführen, die häusliche Gewalt verhindern,<br />

und in die Gesetzgebung zur häuslichen<br />

Gewalt eine Regelung aufzunehmen, die den<br />

Schutz des Rechts von Frauen auf angemessenen<br />

Wohnraum garantiert“.<br />

Eine für die NGO »Rosrada« in Kiew arbeitende<br />

Psychologin berichtete <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> vom<br />

Fall einer Frau, die vor den Augen ihrer beiden<br />

Söhne von ihrem Ehemann vergewaltigt wurde. Sie<br />

konnte es sich nicht leisten wegzuziehen und lebte<br />

zwei Jahre lang bei Freunden; als diese jedoch<br />

schließlich ihre Wohnung verkauften, sah sie sich<br />

gezwungen, in die Wohnung und zu ihrem Ehemann<br />

zurückzukehren, wo sie erneut Opfer von<br />

Gewalt wurde. Eine andere Frau, Larissa, lebt weiterhin<br />

mit ihrem Ehemann trotz der Tatsache, dass<br />

er sie in der Vergangenheit geschlagen hat. Sie berichtete<br />

einer Mitarbeiterin von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong>,<br />

dass die Anwesenheit zweier erwachsener<br />

Männer, ihres Sohnes und ihres Schwiegersohnes,<br />

ein „positiver Kontrollfaktor“ wäre.<br />

Im Wohnrecht gibt es eine Bestimmung (Art.<br />

116), die es möglich macht, jemanden aufgrund von<br />

unsozialem Verhalten aus kommunalen Wohnungen<br />

zu verweisen. Opfer häuslicher Gewalt haben<br />

von diesem Recht Gebrauch gemacht, um die Täter<br />

zum Auszug zu zwingen. Jedoch wohnen immer<br />

mehr Ukrainer in privatem Wohnraum, was die<br />

Anwendung dieses Artikels unmöglich macht.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 27


Ukraine: Häusliche Gewalt – Die Opfer werden beschuldigt<br />

Oft ergreifen Menschen verzweifelte Maßnahmen,<br />

um getrennt zu leben. Einige teilen das Wohneigentum<br />

und versuchen, getrennte Wohnräume zu<br />

schaffen; jedoch ist dies nur dann legal, wenn die<br />

Wohnung zwei Eingänge hat. Auch ist es verbreitet,<br />

Wohneigentum zu tauschen – etwa eine große<br />

Wohnung gegen zwei kleinere.<br />

Da es in der Ukraine keinen sozialen Wohnungsbau<br />

gibt, sind Frauen bei Verlassen der ehelichen<br />

Wohnung mit der Aussicht auf Obdachlosigkeit<br />

konfrontiert, so dass sich die meisten entscheiden<br />

zu bleiben und eher die Gewalt erdulden als sich<br />

der Obdachlosigkeit ausgesetzt zu sehen.<br />

Um Frauen zu ermöglichen, den Gewaltkreislauf zu<br />

verlassen, müssen ihnen kurzfristige Zufluchtsorte<br />

und langfristige Wohnmöglichkeiten zur Verfügung<br />

gestellt werden.<br />

Die vorherrschende Meinung<br />

Gender-Stereotypen<br />

„Eine nicht geschlagene Frau ist<br />

wie ein ungeflochtener Zopf.“<br />

Sprichwort aus dem Tschernowitzer Gebiet<br />

„Unsere Frauen sind nicht frei. Sie machen sich ihre<br />

Rechte nicht bewusst und fordern diese nicht ein.“<br />

Mitarbeiter des Ministeriums für Familie, Jugend und Sport<br />

Effektive Maßnahmen zur Vermeidung von häuslicher<br />

Gewalt sind unter anderem die Verwirklichung<br />

der Gleichberechtigung von Frauen und<br />

Männern und die Überwindung geschlechtsspezifischer<br />

Stereotypen; jedoch müssen Frauen auch<br />

ihre Rechte kennen und über die Opfern häuslicher<br />

Gewalt angebotenen Hilfen informiert sein.<br />

Mit der Verabschiedung des Gesetzes über die<br />

Gleichberechtigung von Frauen und Männern am<br />

8. September 2005, das am 1. Januar 2006 in Kraft<br />

trat, machte die Ukraine einen entscheidenden<br />

Schritt in Richtung Gleichberechtigung.<br />

Es werden jedoch gezielte Anstrengungen nötig<br />

sein, um die sozialen und kulturellen Verhaltensmuster<br />

zu ändern, die der Diskriminierung von<br />

Frauen und der Gewaltanwendung gegen sie Vorschub<br />

leisten.<br />

Ein weit verbreiteter Mythos, der durch das Gesetz<br />

zur Prävention häuslicher Gewalt noch untermauert<br />

wurde, ist der, dass den Frauen die Schuld<br />

zu geben ist für die Gewalt, die ihnen zugefügt<br />

wird.<br />

„Es ist ein Problem der Erziehung. Kinder müssen<br />

so erzogen werden, dass sie Selbstwertgefühl besitzen,<br />

insbesondere Mädchen. Was auch noch sehr<br />

wichtig ist, ist Offenheit. Es müssen Informationen<br />

verfügbar sein, so dass die Leute Bescheid wissen.<br />

Wissen Sie, viele Menschen haben den Begriff<br />

»Häusliche Gewalt« noch nie gehört.“<br />

Larissa, Winnyzja, September 2006<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> ist der Überzeugung, dass<br />

eine öffentliche Kampagne zu häuslicher Gewalt<br />

helfen kann, die öffentliche Stigmatisierung des<br />

Themas und die Akzeptanz von häuslicher Gewalt<br />

zu überwinden, und Frauen bestärken kann, darüber<br />

zu sprechen.<br />

Empfehlungen<br />

Es wird empfohlen,<br />

• das Gesetz zur Prävention häuslicher Gewalt dahingehend<br />

zu verändern, dass der Begriff des<br />

„Opferverhaltens“ darin nicht mehr vorkommt.<br />

• das Gesetz zur Prävention häuslicher Gewalt dahingehend<br />

zu verändern, dass darin die vorgesehenen<br />

Institutionen und Dienste aufgeführt werden,<br />

und eine eigene Finanzierung für solche<br />

Hilfsdienste für Opfer häuslicher Gewalt daran<br />

zu koppeln.<br />

• die Befugnisse der Staatsanwaltschaft stärker zu<br />

nutzen, um in Fällen von häuslicher Gewalt auch<br />

bei fehlender Anzeige des Opfers Verfahren einzuleiten<br />

und so das Risiko von Vergeltungstaten<br />

durch die Täter sowie die Zahl der im Nachhinein<br />

vom Opfer zurückgezogenen Anzeigen<br />

zu vermindern.<br />

• die Praxis der Verhängung von Geldstrafen für<br />

häusliche Gewalt zu unterbinden und sie durch<br />

geeignete Strafen zu ersetzen, die den Straftaten<br />

angemessen sind und die keine nachteiligen Auswirkungen<br />

für das Opfer mit sich bringen.<br />

• einen Verhaltenskodex für die Mitarbeiter der<br />

Rechtsschutzorgane zu schaffen, der einen angemessenen<br />

Umgang mit Opfern häuslicher Gewalt<br />

aufzeigt, um sicherzustellen, dass sie nicht noch<br />

einmal Opfer von für Genderfragen unsensiblen<br />

Praktiken der Rechtsschutzorgane werden, alle<br />

Polizeibeamten in der Anwendung dieses Kodex<br />

zu schulen und die Effektivität solcher Schulungen<br />

zu überwachen sowie sicherzustellen,<br />

dass solche Verhaltensregeln sich in der Praxis<br />

durchsetzen.<br />

28 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Ukraine: Häusliche Gewalt – Die Opfer werden beschuldigt<br />

• unverzüglich, sicher und langfristig staatliche<br />

Finanzmittel zur Verfügung zu stellen oder intensiv<br />

nach anderen Sponsoren zu suchen, um<br />

eine ausreichende Anzahl von geeigneten Zufluchtsorten<br />

überall im Land zu schaffen, und<br />

zwar in Kooperation mit NGOs, die beim Schutz<br />

von Frauen vor Gewalt Erfahrung haben. Sicherzustellen,<br />

dass solche Zufluchtsorte allen Frauen<br />

offen stehen, unabhängig von ihrem Wohnort<br />

oder ihrer Staatsbürgerschaft.<br />

• die Regularien zu übernehmen, die bereits von<br />

der Abteilung Öffentliche Sicherheit im Innenministerium<br />

genutzt werden, und eine zuverlässige<br />

und verständliche nach Geschlecht getrennte<br />

und auch die Art der Beziehung zwischen<br />

Opfer und Täter erfassende Statistik zu erstellen,<br />

die über die Anzahl der Anzeigen, der<br />

Ermittlungen und der Strafverfolgungen wegen<br />

häuslicher Gewalt gegen Frauen in der Ukraine<br />

Aufschluss gibt, und diese Statistik öffentlich<br />

zugänglich zu machen.<br />

• Aufklärungs- und Informationskampagnen zu<br />

finanzieren und durchzuführen, die sich mit den<br />

zugrunde liegenden sozialen und kulturellen<br />

Verhaltensmustern befassen, welche der Diskriminierung<br />

von Frauen und der Gewaltanwendung<br />

gegen sie Vorschub leisten. Diese Kampagnen<br />

sollen: Null-Toleranz gegenüber Gewalt gegen<br />

Frauen propagieren, die Stigmatisierung von<br />

weiblichen Opfern beenden und die Opfer darin<br />

bestärken, rechtliche Hilfe zu suchen. Die Kampagnen<br />

sollen Vertreter der Öffentlichkeit, Kommunalpolitiker,<br />

die Medien und die Zivilgesellschaft<br />

einbeziehen und in Schulen, Hochschulen,<br />

Bürgerforen und Arbeitsstätten stattfinden und<br />

über das Internet sowie öffentliche Vorlesungen<br />

und Diskussionen verbreitet werden.<br />

Menschenrechtlich relevante Nachrichten aus der Ukraine<br />

Im Newsletter von Radio Free Europe / Radio Liberty finden sich seit Februar 2007<br />

nur diese beiden für die Arbeit von ai relevanten Meldungen:<br />

18. Mai 2007<br />

Angriffe auf die Pressefreiheit<br />

Seit im Juli 2006 der Rechtsexperte der Regionalpartei,<br />

Oleh Kalaschnikow, vorm Parlamentsgebäude<br />

zwei Journalisten angriff, die dort filmten,<br />

häufen sich Meldungen über Aktivitäten zur Einschränkung<br />

der Pressefreiheit.<br />

Am 30. März 2007 wurden die Journalisten Olena<br />

Mechanyk und Olexandr Chomenko, beide von der<br />

Krim, angegriffen, als sie Unterstützer von Janukowitsch<br />

filmten, die in Züge nach Kiew stiegen.<br />

Die Webseite „Ukrainskaja prawda“ ist im vergangenen<br />

halben Jahr sechs Mal vom Parlamentspräsidenten<br />

Olexandr Moros verklagt worden.<br />

Am 20. März setzte das staatlich kontrollierte erste<br />

Fernsehprogramm sein einziges politisches Magazin<br />

ab, nachdem am Vortag Julia Timoschenko und<br />

ein führendes Mitglied der Partei „Unsere Ukraine“<br />

im Magazin zu Gast gewesen waren und von<br />

über 80 % der Anrufer Zustimmung bekommen<br />

hatten.<br />

Weiterhin gibt es Versuche, Parlamentsausschüsse<br />

und andere Gremien für die Massenmedien mit regierungsnahen<br />

Personen zu besetzen.<br />

Dieses einschüchternde Klima führt dazu, dass<br />

Journalisten immer mehr vermeiden, Kritik an der<br />

Regierungskoalition zu üben.<br />

6. September 2007<br />

Schwierigkeiten bei der Wiederansiedlung der<br />

Krimtataren<br />

Noch immer müssen zurückkehrende Krimtataren<br />

eine Diskriminierung in ihrem Heimatland befürchten,<br />

aus dem sie 1944 deportiert worden waren.<br />

Obwohl die ukrainische Regierung die Wiederansiedlung<br />

von Tataren mit jährlich 10 Mio. Dollar<br />

unterstützt hat, bekam doch nur die Hälfte von ihnen<br />

Land zugeteilt. Auf ihrem Weg zur Integration<br />

in die ukrainische Gesellschaft haben viele Krimtataren<br />

nach eigenen Angaben Diskriminierung zu<br />

gewärtigen und sind von deutlich höherer Arbeitslosigkeit<br />

betroffen als die übrige Bevölkerung.<br />

Ein sowjetisches Dekret vom 5.9.1967 erlaubte den<br />

Krimtataren die Rückkehr auf die Krim, jedoch<br />

wird diese rechtliche Grundlage bis heute weithin<br />

ignoriert.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 29


Ukraine<br />

ai-Koordinationsgruppe – Stefanie Beckmann<br />

Die Gewalt stoppt nicht vor dem eigenen Haus<br />

Die Ukraine ist ein Land der Gegensätze: auf der<br />

einen Seite zogen in diesem Jahr erstaunlich viele<br />

Frauen in den Wahlkampf und wird mit Julia Timoschenko<br />

auch eine Frau an der Spitze der Regierung<br />

stehen, auf der anderen Seite ist die Lage der<br />

Frauen in diesem Land immer noch von großer<br />

Schutzlosigkeit geprägt.<br />

Im Jahr 2006 veröffentlichte <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

einen Bericht zu häuslicher Gewalt in der Ukraine<br />

um der Basis Material für eine Kampagne zum<br />

Thema der Gewalt gegen Frauen bereitzustellen.<br />

Die dem Bericht angehängte Aktionsanleitung<br />

sieht unter anderem Solidarität mit den Frauenorganisationen<br />

vor Ort vor. Ganz in diesem Sinne besuchten<br />

wir im September 2007 mit dem »Ukrainian<br />

Women’s Fund« und dem »Kiewer Städtischen<br />

Zentrum der Arbeit mit Frauen« zwei Akteure – eine<br />

nichtstaatliche und eine staatliche Organisation.<br />

Der »Ukrainian Women’s Fund« schien der ideale<br />

Gesprächspartner für uns zu sein, da er das Netzwerk<br />

der ukrainischen Frauenorganisationen in den<br />

Regionen betreut. Leider kam es nur zu einem Informationsaustausch,<br />

da man auf die Pressekonferenz<br />

von Julia Timoschenko eilte, denn es war Ende<br />

September und die heißeste Zeit der Parlamentswahlen<br />

in der Ukraine. Das Gespräch mit der Kiewer<br />

städtischen Struktur gestaltete sich dafür intensiver:<br />

auf die gesetzliche Lage hin angesprochen,<br />

bestätigten die Experten der Organisation die<br />

Information aus dem Bericht von ai, dass es nach<br />

wie vor den Begriff des „Opferverhaltens“ in der<br />

Strafgesetzgebung gibt, dessen Anwendung dazu<br />

führt, dass Männer, die Frauen Gewalt antun, unter<br />

Umständen mit milderen Strafen rechnen können,<br />

wenn gezeigt werden konnte, dass die Frauen<br />

gleichsam Gewalt produzierten.<br />

Um für die Sache der Menschenrechte aktiv zu<br />

werden, gab es außer den Wahlen mit ihren interessanten<br />

Einflüssen auf die ukrainische Frauenbewegung<br />

auch die zahlreichen Möglichkeiten der Begegnung,<br />

die die <strong>international</strong>e Partnerschaftskonferenz<br />

„Das europäische Haus gemeinsam gestalten“<br />

in Kiew Ende September bot. Auf der Konferenz<br />

kamen sowohl ukrainisch-deutsche als auch<br />

belarussisch-deutsche Initiativen – meist mit sozialem<br />

Arbeitsschwerpunkt – zusammen. Zu zwei<br />

Frauenorganisationen aus Belarus, das ja, was die<br />

Rechte der Frauen betrifft, in einer ähnlichen Lage<br />

wie die Ukraine ist, wurde der Kontakt aufgenommen.<br />

Auch hier merkte man nach einer gewissen<br />

Zeit, dass selbst unter den Vorkämpferinnen für die<br />

Frauenrechte die Emanzipation dort ihre Grenzen<br />

hat, wo die Frau etwas von ihrem Nimbus der verehrten<br />

Schönen verliert und die Einkaufstüten allein<br />

tragen muss.<br />

Mit den Teilnehmern der Tagung führten wir auch<br />

die Aktion »Faces for Amnesty« der Initiatoren von<br />

belarus-actions (sind auf der gleichnamigen Internetseite<br />

zu finden: www.belarus-actions.org) durch<br />

und erklärten allen Mitmachenden die genauen<br />

Hintergründe zu den gewaltlosen Gefangenen<br />

Smizer Daschkewitsch und Aljaksandr Kasulin, für<br />

deren Freilassung sie mit ihrer Teilnahme eintraten.<br />

Zuflucht vor häuslicher Gewalt bietet das Zentrum<br />

in einer Art Frauenhaus, das jedoch einerseits nur<br />

sehr wenige Plätze bietet und andererseits in einer<br />

akuten Notsituation nicht unbedingt erreichbar<br />

schien. Die katholische Kirche leistet hier anscheinend<br />

in den Westgebieten der Ukraine eine weitaus<br />

bedeutendere Hilfe. Auch sie setzt wie die Notunterkunft<br />

innerhalb des Kiewer Zentrums der Arbeit<br />

mit Frauen den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die<br />

(Wieder)Zusammenführung der Familien.<br />

30 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Ukraine: Eilaktionen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

Eilaktion<br />

UA-Nr: UA-207/2007 · AI-Index: EUR 50/003/2007<br />

Datum: 9. August 2007<br />

Ukraine / Russische Föderation:<br />

Drohende Abschiebung / Drohende Folter<br />

Lema Susarow, 25 Jahre alt<br />

Die ukrainischen Behörden bereiten die Auslieferung des tschetschenischen Flüchtlings Lema Susarow<br />

[englische Transkription: Susarov] in die Russische Förderation vor, wo er in Gefahr wäre, gefoltert und<br />

weiteren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt zu werden. Die Ukraine ist Vertragsstaat der Genfer<br />

Flüchtlingskonvention und des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche<br />

oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, die beide die Rückführung von Personen in Staaten verbieten,<br />

in denen diesen Personen Folter droht. Lema Susarow befindet sich derzeit in der Hafteinrichtung<br />

Nr. 13 in Kiew.<br />

Das Büro des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) in der aserbaidschanischen Hauptstadt<br />

Baku hat Lema Susarow 2006 als Flüchtling anerkannt. Laut Angaben des UNHCR traf der Tschetschene<br />

Ende 2006 in der Ukraine ein. Die Russische Föderation forderte am 16. Februar 2007 seine Auslieferung,<br />

weil er wegen Raubes unter Anklage stehe. Die ukrainischen Behörden nahmen ihn daraufhin am 20. Juli<br />

2007 fest. Die Generalstaatsanwaltschaft entschied am 27. Juli 2007, ihn auszuliefern, dennoch wurde er<br />

am 8. August 2007 von der Einwanderungsbehörde der Hauptstadt Kiew als Asylbewerber registriert. Auf<br />

der Grundlage des Völkerrechts dürfen weder anerkannte Flüchtlinge noch Asylsuchende gegen ihren<br />

Willen in Länder verbracht werden, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit in Gefahr wären. Die ukrainische<br />

Behörden beabsichtigen offenbar, gegen diesen Grundsatz des Völkerrechts zu verstoßen. Sie haben<br />

bereits mehrfach zuvor Asylsuchende abgeschoben beziehungsweise ausgeliefert.<br />

HINTERGRUNDINFORMATIONEN<br />

Die russischen Sicherheitskräfte haben Berichten zufolge zahlreiche Tschetschenen misshandelt und gefoltert,<br />

um sie zu „Geständnissen“ zu zwingen. <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> und in der Region tätige Menschenrechtsorganisationen<br />

reagieren mit großer Besorgnis auf Berichte, denen zufolge zahlreiche Tschetschenen<br />

in der Russischen Föderation auf der Grundlage derartiger unter Folter erpresster „Geständnisse“<br />

unter Anklage gestellt werden, illegalen Gruppierungen anzugehören und terroristische Straftaten begangen<br />

zu haben. Immer wieder werden auch Vorwürfe erhoben, dass Gerichtsverfahren gegen Tschetschenen<br />

nicht den Standards für faire Prozesse entsprechen und auf konstruierten Beweisen basieren. Der<br />

tschetschenische Ombudsmann für Menschenrechte Nurdi Nuchadschijew [Nukhazhiev] hat Berichten<br />

zufolge im Februar 2006 erklärt, ein Großteil der verurteilten Tschetschenen in russischen Gefängnissen<br />

sei aufgrund falscher Anschuldigungen verurteilt worden, und die Mehrzahl der Fälle müsse überprüft<br />

werden. Bislang haben in nahezu keinem Fall Ermittlungen zur strafrechtlichen Verfolgung von Beamten<br />

mit Polizeibefugnissen wegen Folterungen geführt, so dass ein Klima der Straflosigkeit in der Region entsteht.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 31


Ukraine: Eilaktionen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

Empfohlene Aktionen<br />

Schreiben Sie bitte Telefaxe, E-Mails oder Luftpostbriefe, in denen Sie<br />

• die Behörden auffordern, sicherzustellen, dass Lema Susarow nicht an die Behörden der russischen Föderation<br />

ausgeliefert wird, da er ansonsten in Gefahr wäre, gefoltert und weiteren Menschenrechtsverletzungen<br />

ausgesetzt zu werden;<br />

• die Behörden daran erinnern, dass die Ukraine Vertragsstaat der Genfer Flüchtlingskonvention und des<br />

UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung<br />

oder Strafe ist und sich somit verpflichtet hat, niemanden in ein Land zu bringen, in dem dieser<br />

Person Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen;<br />

• die Behörden auffordern, die Freilassung von Lema Susarow zu veranlassen und ihn in die Obhut des<br />

UNHCR zu übergeben, damit eine dauerhafte Lösung für seine Lage gefunden wird.<br />

Appelle an:<br />

den Staatspräsidenten der Ukraine,<br />

W. Juschtschenko:<br />

Viktor Yushchenko, President of Ukraine,<br />

Bankovaya Str. 11, 01220 Kyiv, UKRAINE<br />

Anrede: Dear President Yushchenko<br />

Telefax: (00 380) 44 255 71 61<br />

E-Mail: postmaster@ribbon.kiev.ua<br />

den Generalstaatsanwalt der Ukraine,<br />

O. Medwedko:<br />

Oleksandr Medvedko, Prosecutor General,<br />

Riznitska Str.13/15, 01601 Kyiv, UKRAINE<br />

Anrede: Dear Prosecutor General<br />

Telefax: (00 380) 44-290 2851<br />

Kopien an:<br />

den Staatsanwalt von Kiew, J. Blaschiwski:<br />

Yevhen Blazhivskyi, Kyiv Prosecutor,<br />

Predslavynska Str. 45/9, 03150 Kyiv, UKRAINE<br />

(korrekte englische Anrede: Dear Prosecutor<br />

Telefax: (00 380) 44 524 8258/8262<br />

Botschaft der Ukraine,<br />

S.E. Herrn Ihor Dolhov,<br />

Albrechtstraße 26, 10117 Berlin<br />

Telefax: 030-2888 7163<br />

E-Mail: ukremb@t-online.de<br />

Bitte schreiben Sie Ihre Appelle möglichst sofort. Schreiben Sie in gutem Ukrainisch, Russisch, Englisch<br />

oder auf Deutsch. Da Informationen in Urgent Actions schnell an Aktualität verlieren können, bitten wir<br />

Sie, nach dem 20. September 2007 keine Appelle mehr zu verschicken.<br />

RECOMMENDED ACTION:<br />

Please send appeals to arrive as quickly as possible, in Russian or English or your own language:<br />

• urging the authorities to ensure that Lema Susarov is not forcibly returned to the Russian Federation,<br />

where he would be at risk of torture and other serious human rights violations;<br />

• reminding the authorities that as a state party to the Refugee Convention and the UN Convention<br />

against Torture, both of which prohibit the return in any manner whatsoever of any person to a situation<br />

where they would be at risk of torture or other serious human rights violations;<br />

• urging them to ensure that Lema Susarov is immediately released and handed over to the UNHCR to<br />

seek a durable solution to his situation.<br />

32 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Koordinationsgruppe<br />

Chronik von menschenrechtlich relevanten Ereignissen<br />

in der Republik Moldau<br />

Januar – Oktober 2007<br />

19. Februar<br />

Zahl der HIV-Infektionen steigt<br />

Nach offiziellen Angaben sind 29 000 der 4,3 Millionen<br />

Bewohner der Republik Moldau HIV-positiv.<br />

Das UN-Aidsprogramm UNAIDS schätzt ihre<br />

Zahl auf bis zu 69 000 - mehr als ein Prozent der<br />

Bevölkerung. Die Zahl der Neuinfektionen steigt.<br />

2005 haben die Behörden mit 444 neu HIV-positiven<br />

Menschen beinahe doppelt so viele Patienten<br />

registriert wie zwei Jahre zuvor.<br />

Staatspräsident Wladimir Woronin äußerte sich<br />

zum Welt-Aids-Tag am 1. Dezember 2006 erstmals<br />

im Fernsehen zu der Bedrohung durch Aids.<br />

[Ärztezeitung]<br />

27. Februar<br />

Verletzung der Religionsfreiheit<br />

Die Republik Moldau ist wegen Verletzung der Religionsfreiheit<br />

verurteilt worden. Das Land habe<br />

sich zu Unrecht geweigert, eine christlich-orthodoxe<br />

Religionsgemeinschaft zu registrieren, urteilte<br />

der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht<br />

in Straßburg. Die Gemeinschaft habe auch<br />

keine Möglichkeit gehabt, gegen die Nichtanerkennung<br />

ausreichende juristische Schritte zu unternehmen.<br />

Die Kläger erhielten 10.000 Euro Schadensersatz<br />

zugesprochen.<br />

[Radio Vatikan]<br />

28. März<br />

Häftlinge misshandelt – Republik Moldau<br />

verurteilt<br />

Weil ein schwerkranker Häftling bis zu seiner Not-<br />

OP an einen Heizkörper angekettet wurde, hat der<br />

Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Republik<br />

Moldau verurteilt. Die Straßburger <strong>Richter</strong><br />

rügten zudem die Haftbedingungen im Gefängnis<br />

von Chişinău. Die Republik Moldau muss 15.000<br />

Euro Schmerzensgeld an drei Kläger zahlen. [taz]<br />

27.April<br />

Die Republik Moldau verbietet wieder CSD<br />

Zum dritten Mal in Folge hat die Stadtverwaltung<br />

der Hauptstadt Chişinău eine Cristopher-Street-<br />

Day-Parade verboten. Eine solche Veranstaltung<br />

sei eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und<br />

verletze außerdem die christlichen Werte der Republik<br />

Moldau. [queer.de]<br />

11. Juni<br />

Urgent Action: Valentin Besleag<br />

Valentin Besleag aus Transnistrien wurde am<br />

2. Juni verhaftet, ohne dass er und seine Familie<br />

über die Gründe informiert wurden. Er war als<br />

Kandidat für die Bürgermeisterwahl am 3. Juni in<br />

seinem Heimatdorf Corjova aufgestellt. Corjova ist<br />

eines von neun Dörfern, die auf dem Gebiet Transnistriens<br />

liegen, jedoch von der Republik Moldau<br />

aus regiert werden.<br />

Besleag wurde auf dem Heimweg verhaftet, als<br />

er mit dem Auto aus Richtung der Grenze zur Republik<br />

Moldau kam und Wahlmaterial mit sich<br />

führte. Nach transnistrischer Gesetzgebung ist es<br />

illegal, ausländisches Wahlmaterial einzuführen.<br />

Er wurde am 17. Juni freigelassen. In der Haft<br />

wurde er nicht geschlagen, jedoch in einer überfüllten<br />

Zelle untergebracht, die schlecht belüftet<br />

war und in der alle anderen Insassen rauchten. [ai]<br />

27. Juni<br />

Die Republik Moldau muss wegen brutaler<br />

Zwangsernährung 20.000 € Strafe zahlen<br />

Republik Moldau muss einem 42-jährigen Mann<br />

aus Chişinău wegen einer als Folter eingestuften<br />

Zwangsernährung im Gefängnis ein Schmerzensgeld<br />

von 20.000 € zahlen. Zu diesem Urteil kam in<br />

Straßburg der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.<br />

Der Beschwerdeführer, der an Schizophrenie<br />

leidet, verbüßt eine Haftstrafe wegen Betrugs.<br />

Nach mehrfachen Hungerstreiks wegen unerträglicher<br />

Haftbedingungen in zu kleinen und ungezieferverseuchten<br />

Zellen war er ab 2001 gewaltsam<br />

zwangsernährt worden.<br />

Die Ärzte hatten den Mann nach dessen Schilderung<br />

an den Haaren gezerrt und auf die Füße getreten,<br />

bis er vor lauter Schmerz den Mund öffnete.<br />

Mit einer Metallsonde hätten sie seinen Magen verletzt.<br />

Die besondere Brutalität des Verfahrens, bei<br />

dem der Mann innere Blutungen und eine Mageninfektion<br />

erlitt, sei als Folter einzustufen, befanden<br />

die Straßburger <strong>Richter</strong>. [dpa]<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 33


Republik Moldau: Chronik von menschenrechtlich relevanten Ereignissen · Januar – November 2007<br />

27. Juni<br />

Lokalwahlen<br />

In Chişinău wurde der 29jährige Kanditat der Liberalen<br />

Partei, Dorin Chirtoaca, zum Bürgermeister<br />

gewählt. Im Rest des Landes bleibt die Kommunistische<br />

Partei weiterhin die stärkste Partei mit 328<br />

von ihr gestellten Bürgermeistern. Zwar haben sich<br />

die Wahlbedingungen seit den letzten Kommunalwahlen<br />

2003 verbessert, doch wurde die Fairness<br />

weiterhin von <strong>international</strong>en Beobachtern kritisiert.<br />

[Radio Free Europe]<br />

9. Juli<br />

Pasat freigelassen<br />

Der ehemalige Verteidigungsminister Valeriu Pasat<br />

wurde auf Anweisung der Berufungskammer in<br />

Chişinău freigelassen. Die Freilassung fiele unter<br />

das Amnestiegesetz von 2004, nach dem zum zehnjährigen<br />

Bestehen der Verfassung der Republik<br />

Moldau alle Häftlinge mit Strafen von 7 Jahren und<br />

weniger entlassen werden dürfen, so Pasats Anwalt.<br />

Pasat wurde im März 2005 verhaftet, da er Kampfflugzeuge<br />

aus den Beständen der Republik Moldau<br />

zu einem zu geringen Preis an die USA verkauft<br />

haben solle und so dem Staat Schaden zugefügt<br />

habe.<br />

Informationen über die Republik Moldau<br />

Rumänische Truppen besetzten im Januar 1918 das<br />

zwischen den Flüssen Pruth, Dnjestr und dem Schwarzen<br />

Meer gelegene russische Generalgouvernement<br />

Bessarabien. Der Name hat nichts mit Arabien zu tun,<br />

sondern geht auf das aus der Walachei stammende Fürstengeschlecht<br />

Basarab zurück, welches den südlichen,<br />

heute in der Ukraine liegenden Teil der Region beherrscht<br />

hatte. Der übrige Teil war als Fürstentum Moldau<br />

1812 an Russland übergegangen. Gegründet worden<br />

war das Fürstentum im Jahre 1359, nachdem sich<br />

die Ungarn aus dieser Region zurückgezogen hatten.<br />

1538 geriet die Moldau unter den Herrschaftsbereich<br />

des Osmanischen Reichs.<br />

Das zum Zeitpunkt des rumänischen Einmarschs<br />

knapp zur Hälfe von Rumänen bewohnte Bessarabien<br />

schloss sich bereits im Februar 1918 Rumänien an. In<br />

einem geheimen Zusatzprotokoll des deutsch-sowjetischen<br />

Nichtangriffspakts vom August 1939 sicherte<br />

sich Moskau das Gebiet, das im Jahr darauf von Rumänien<br />

an die Sowjetunion abgetreten wurde. Von 1941<br />

bis zum Einmarsch der Roten Armee 1944 unterstand<br />

Bessarabien der mit Nazi-Deutschland verbündeten<br />

rumänischen Antonescu-Regierung.<br />

Nach dem Zerfall der Sowjetunion erklärte sich die<br />

Moldau am 23. Juni 1990 für souverän. Im August des<br />

folgenden Jahres wurde die Unabhängigkeit ausgerufen.<br />

Das Land wird seither in Anlehnung an seinen rumänischen<br />

Namen Moldova auch als Moldawien bezeichnet.<br />

Von den rund 4 Millionen Einwohnern der Moldau sind<br />

rund zwei Drittel rumänischsprachig. Etwa ein Viertel<br />

der Bevölkerung lebt nach Schätzungen im Ausland,<br />

vor allem in Rumänien und anderen EU-Staaten. Auf<br />

dem rumänischen Konsulat in der moldauischen<br />

Hauptstadt Chisinau warten derzeit laut nicht zu bestätigenden<br />

Angaben 800 000 Gesuche (teilweise mehrere<br />

Personen betreffend) zur Erlangung der rumänischen<br />

Staatsbürgerschaft auf eine Bearbeitung.<br />

Sollten sie positiv beantwortet werden, bedeutete dies,<br />

dass über die Hälfte aller Moldauer entweder über einen<br />

EU-Pass verfügten oder sich in EU-Gebiet aufhielten.<br />

Eine 2003 erlassene Bestimmung erlaubt moldauisch-rumänischen<br />

Doppelbürgern erst vier Jahre<br />

nach Erhalt des rumänischen Passes Reisefreiheit für<br />

das Gebiet der EU.<br />

Neue Zürcher Zeitung vom 20. August 2007<br />

34 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Internationales Sekretariat<br />

Republik Moldau: Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam<br />

„Es ist einfach normal“<br />

Auszug aus der Aktionsanleitung zum gleichnamigen Bericht<br />

AI Index: EUR 59/002/2007<br />

Der ausführliche Bericht „It is just normal“ zu Folter<br />

und Misshandlung in Polizeigewahrsam in der<br />

Republik Moldau ist im Internet unter<br />

http://web.<strong>amnesty</strong>.org/library/pdf/<br />

EUR590022007ENGLISH/$File/EUR5900207.pdf<br />

als pdf zu finden.<br />

Der Text hier soll einen kurzen Überblick geben<br />

über die wichtigsten Fakten und die konkreten Einzelfälle.<br />

Interessierte Gruppen können die gesamte<br />

Aktionsanleitung gerne bei uns anfordern. Ein<br />

Aktionsvorschlag ist am Ende dieser Zusammenfassung<br />

zu finden.<br />

Hintergrund<br />

Folter und Misshandlungen durch die Hand der Polizei<br />

sind weit verbreitet und systematisch in der<br />

Republik Moldau. Gesetzeshüter erzwingen routinemäßig<br />

durch Gewalt Schuldgeständnisse und<br />

Aussagen von Häftlingen, manchmal auch durch<br />

den Gebrauch von Folter. Die von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

untersuchten Fälle zeigen, dass Verdächtige,<br />

Zeugen und alle, die in irgendeiner Weise in eine<br />

polizeiliche Untersuchung verwickelt sind, dieser<br />

Behandlung unterzogen werden können.<br />

Seit 1995 ist die Republik Moldau Mitglied im<br />

Europarat und hat seitdem beträchtlichen Fortschritt<br />

bezüglich der Verbesserung des Schutzes<br />

der Menschenrechte gemacht, indem 62 von 200<br />

der Abmachungen des Europarats ratifiziert wurden.<br />

Die Republik Moldau ist Vertragsstaat in allen<br />

bedeutenden <strong>international</strong>en Abkommen, die Folter<br />

und Misshandlung durch Staatsbeamte verbieten<br />

(siehe Anhang 1 zu völkerrechtlichen Verpflichtungen<br />

der Republik Moldau).<br />

Innerhalb der Regierung besteht Bereitschaft zum<br />

Angehen des Problems, aber bisher hat die Regierung<br />

nicht genug getan, um Folter und Misshandlung<br />

auszurotten und die Methoden der Polizei zu<br />

verändern. Die Republik Moldau hat ihre Gesetze<br />

wesentlich überarbeitet, um sie nach europäischen<br />

Standards auszurichten, aber Praxis und innere<br />

Einstellung haben mit diesen Veränderungen nicht<br />

Schritt gehalten. Trotz positiver Entwicklungen<br />

werden weiterhin Vorwürfe von Folter und Misshandlung<br />

in Polizeigewahrsam an <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

herangetragen und es gibt Grund zur Annahme,<br />

dass das Problem weit verbreitet ist.<br />

Die Republik Moldau erfüllt ihre völkerrechtlichen<br />

Verpflichtungen nicht, die nötig wären, um<br />

ihren Bürgern das Recht auf ein Leben frei von Folter<br />

und anderer grausamer, unmenschlicher oder<br />

erniedrigender Behandlung oder Strafe zu garantieren.<br />

Ministerialbeamte und Leiter örtlicher Polizeidienststellen<br />

berichteten <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> unabhängig<br />

voneinander, dass mehr finanzielle Mittel<br />

benötigt würden; aber auch wenn ausreichend Mittel<br />

zur Verfügung stehen würden, werden Folter<br />

und Misshandlung nicht aufhören, solange es keine<br />

radikale Veränderung in der inneren Einstellung<br />

und fest verwurzelten Kultur der Gesetzeshüter<br />

gibt.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> ist besorgt, dass Polizeibeamte<br />

in der Republik Moldau die Möglichkeit der<br />

Unschuld nicht in Betracht ziehen, dass sie nicht<br />

adäquat ausgebildet und ausgestattet sind, um Beweise<br />

zu sammeln und die Fakten eines Falls zu ermitteln,<br />

und daher zu sehr darauf bedacht sind, zur<br />

Auflösung eines Verbrechens Geständnisse zu erhalten.<br />

Das System zur Evaluierung der Arbeit der<br />

Polizeibeamten und das System von Auszeichnungen<br />

und Anreizen benötigen eine Veränderung,<br />

da sie sich zurzeit auf die Anzahl an vor Gericht gebrachte<br />

Fälle stützen.<br />

Strategie<br />

Dies ist der erste bedeutende Bericht zur Republik<br />

Moldau von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> und wird daher<br />

voraussichtlich deutliche Wirkung haben. In den<br />

Jahren 2005 und 2006 wurden Urgent Actions (UA)<br />

für von Folter und Misshandlung bedrohte Personen<br />

durchgeführt. Die an die Regierung der Republik<br />

Moldau gesendeten Briefe führten zur Freilassung<br />

der Häftlinge. Die Regierung erhielt bis zu<br />

150 Briefe pro Tag und schrieb an <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

mit der Forderung, die Kampagne zu stoppen,<br />

da sie <strong>international</strong> das Bild der Republik Moldau<br />

ruiniere. Angesichts dieses „Erfolgs“ wurde<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 35


Republik Moldau: Folter und Misshandlungen im Polizeigewahrsam „Es ist einfach normal“<br />

der aktuelle Bericht „Republik Moldau – Folter und<br />

Misshandlung in Polizeigewahrsam“ (AI Index<br />

EUR 59/002/2007) verfasst. Während mehrerer Besuche<br />

von aiVertretern im Jahr 2007 zeigten das Innenministerium<br />

und das Büro des Generalstaatsanwalts<br />

eine bemerkenswerte Offenheit und Bereitschaft<br />

zur Kooperation. Während der Treffen bestätigten<br />

offizielle Vertreter, dass Folter und Misshandlung<br />

ein Problem seien, und luden <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

ein, Empfehlungen abzugeben.<br />

Seit der Unabhängigkeit von der ehemaligen Sowjetunion<br />

im August 1991 ist in der Republik Moldau<br />

der Übergang zu Marktwirtschaft und einer<br />

demokratischen Gesellschaft mit Problemen belastet<br />

und die Republik Moldau bleibt eines der ärmeren<br />

Länder in Europa. Die EU ist der größte<br />

Geldgeber und die Republik Moldau sieht ihre Zukunft<br />

zunehmend in Hinsicht auf vermehrte Kooperation<br />

mit der und Integration in die EU. Im Jahr<br />

2005 beschlossen die Republik Moldau und die EU<br />

den ersten Action Plan für die EU und die Republik<br />

Moldau im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik.<br />

Dessen Ziel ist es, der Republik<br />

Moldau bei politischen, wirtschaftlichen und institutionellen<br />

Reformen zu helfen, und der insbesondere<br />

die Abschaffung von Folter und Misshandlung<br />

vorsieht. Der nächste Action Plan (2008 - 2011)<br />

wird derzeit von der EU unter Mitarbeit der Regierung<br />

der Republik Moldau entworfen. Dies bietet<br />

die ideale Möglichkeit sich dafür einzusetzen, dass<br />

die Abschaffung von Folter und Misshandlung weiterhin<br />

fest auf der Agenda der Regierung der Republik<br />

Moldau bleibt.<br />

Ziel<br />

Das Ziel ist, Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam<br />

in der Republik Moldau durch das Festlegen<br />

von Schutzmaßnahmen gegen Folter und<br />

Misshandlung vorzubeugen und die Straflosigkeit<br />

der Täter abzubauen.<br />

Das Festlegen von Schutzmaßnahmen gegen Folter<br />

und Misshandlung wird den Schutz der Häftlinge<br />

sicherstellen und das Verhalten der Polizei verändern,<br />

indem die überkommene Praxis überwunden<br />

wird, die Unschuldsvermutung auszuhebeln und<br />

sich hauptsächlich auf Geständnisse zu verlassen.<br />

Für den Staat ist es unerlässlich, auf alle Klagen<br />

wegen Folter und Misshandlungen in Polizeigewahrsam<br />

in wirksamer Weise zu reagieren, um die<br />

weit verbreitete Straflosigkeit bei Fällen von Folter<br />

und Misshandlungen innerhalb der Polizei zu beenden.<br />

Fälle aus der Republik Moldau<br />

Diese drei Fälle von vermutlicher Folter und weiteren<br />

Misshandlungen bekräftigen Besorgnisse von<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong>s, dass die Behörden ihre<br />

Verpflichtungen zum wirksamen rechtlichen<br />

Schutz von Opfern von Menschenrechtsverletzungen<br />

nicht erfüllen.<br />

Entgegen den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs<br />

für Menschenrechte, die von den Behörden<br />

eine effektive Untersuchung solcher Beschuldigungen<br />

fordern, zeigen diese Fälle, dass gegen die<br />

in den Urteilen festgestellten Mängel nicht vorgegangen<br />

wird.<br />

1. A.B.<br />

A.B. gab <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> folgenden Bericht<br />

über seine Behandlung.<br />

A.B. war am 25. Februar 2006 in Chişinău in<br />

Räumen der für Organisierte Kriminalität zuständigen<br />

Abteilung von Beamten der Abteilung für Innere<br />

Sicherheit des Innenministeriums brutal geschlagen<br />

worden. Er war einbestellt worden, um<br />

Aussagen über Benzingutscheine zu machen, die er<br />

im Januar erhalten hatte. Er hatte den Verdacht gehabt,<br />

dass es sich um gestohlene Gutscheine handelte,<br />

daraufhin hatte er sie einem befreundeten<br />

Polizeibeamten übergeben, damit der auf einer Polizeistation<br />

kontrollieren könne, ob sie benutzbar<br />

seien. Der Freund teilte A.B. mit, die Coupons<br />

seien in Ordnung.<br />

Während des Verhörs am 25. Februar versuchten<br />

Polizeibeamte, A.B. zu der Aussage zu zwingen,<br />

dass der Freund ihm die Gutscheine gegeben habe,<br />

aber er lehnte es ab, eine falsche Aussage abzugeben.<br />

Die Beamten sagten ihm, dass sie ihn gehen<br />

lassen, wenn er das Gewünschte aussage. A.B. wiederholte<br />

seine Weigerung, eine unwahre Aussage<br />

zu machen. Daraufhin wurde er von einem höherrangigen<br />

Beamten der Abteilung für Innere Sicherheit<br />

verhört, der ihn ebenfalls zu einer Aussage zu<br />

zwingen versuchte. A.B. berichtet, dass ihm gedroht<br />

wurde, dass er des Diebstahls beschuldigt<br />

werde, und dann sei er von drei Beamten der Abteilung<br />

für Innere Sicherheit geschlagen worden, ein<br />

Beamter habe mit Handschellen auf ihn eingeschlagen,<br />

ein weiterer mit einer Plastik-Taschenlampe.<br />

Angeblich sei der Sanitäter des Haftzentrums dabei<br />

gewesen, habe seine Beine festgehalten und dieser<br />

habe bedauert, dass das Elektroschockgerät nicht<br />

funktioniere.<br />

Schon zuvor hatte sich A.B. an einer Hand verletzt,<br />

das Pflaster an dieser Hand hielt die Beamten<br />

davon ab, ihm Handschellen anzulegen. Er wurde<br />

auch auf ein Ohr geschlagen, das sofort anschwoll.<br />

36 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Republik Moldau: Folter und Misshandlungen im Polizeigewahrsam „Es ist einfach normal“<br />

Einige Stunden lang wurde er geschlagen, aber er<br />

weigerte sich weiter, die geforderte Aussage abzugeben.<br />

A.B.s Schwester war zu dem Haftzentrum gekommen<br />

um herauszufinden, was mit ihm geschehen<br />

sei – ihr wurde gedroht, dass sie ihren Arbeitsplatz<br />

verlieren werde. <strong>Dan</strong>n wurde ein Treffen mit<br />

A.B. arrangiert, bei dem sie ihn überzeugen sollte,<br />

die Aussage abzugeben.<br />

Nach seiner erneuten Weigerung wurde A.B.<br />

nach §195 (2) des Strafgesetzbuches wegen Diebstahls<br />

angeklagt. Nach der Misshandlung besorgten<br />

die Polizeibeamten einen staatlich bezahlten Anwalt<br />

für A.B. A.B. zufolge machte der Anwalt nicht<br />

einmal Notizen, als er von den Schlägen erzählte,<br />

die er soeben hatte erleiden müssen, ebenso nahm<br />

er nicht zur Kenntnis, dass sein Mandant stark blutete.<br />

Der Anwalt forderte A.B. auf, ihm US $150 zu<br />

übergeben, und ging fort.<br />

A.B. zufolge hatte die Polizei zunächst diese<br />

Geldübergabe dokumentiert, aber angeblich habe<br />

der Anwalt die Polizisten aufgefordert, diesen Bericht<br />

zu vernichten – jetzt gibt es keinen Bericht<br />

von der Geldübergabe.<br />

Nach der Misshandlung wurde A.B. in den Zellentrakt<br />

des Gebäudes gebracht.<br />

Zunächst lehnte es der zuständige Beamte der<br />

Abteilung gegen das organisierte Verbrechen ab,<br />

den Inhaftierten zu übernehmen, weil er so schwer<br />

verwundet sei. Nach einem Telefonat mit einem höheren<br />

Offizier wurde A.B. doch in dem Zellentrakt<br />

untergebracht.<br />

Die anderen Inhaftierten waren über den Zustand<br />

von A.B. schockiert und ermutigten ihn, um<br />

medizinische Hilfe zu bitten. A.B.’s Zellenältester<br />

warnte ihn, dass man ihn mit so offensichtlichen<br />

Verletzungen nicht entlassen werde. Am 26. Februar<br />

schaute sich ein sehr unerfahrener Sanitäter das<br />

verletzte Ohr an und meinte, dass er nichts tun könne.<br />

Am 27. Februar wurde eine Ambulanz gerufen<br />

und der Notarzt sagte, dass er in dem Haftzentrum<br />

keine Operation durchführen könne und A.B. in ein<br />

Krankenhaus gebracht werden müsse. Die Polizeibeamten,<br />

die ihn geschlagen hatten, behaupteten,<br />

dass man ihn mangels Transportmöglichkeiten<br />

nicht in ein öffentliches Krankenhaus verlegen<br />

könne und brachten ihn ins Krankenhaus des Innenministeriums.<br />

Dort wurde sein Ohr verbunden,<br />

aber nicht behandelt. Dies wurde auch nicht dokumentiert.<br />

Am 28. Februar wurde A.B. einem Untersuchungsrichter<br />

vorgeführt, der eine 10-tägige Haftstrafe<br />

anordnete.<br />

Am selben Tag engagierte A.B.’s Schwester einen<br />

Anwalt, der Revision gegen die Haftstrafe einlegte<br />

und eine Untersuchung der Misshandlungs-Vorwürfe<br />

forderte, weiterhin drang er auf eine medizinische<br />

Behandlung.<br />

Auf Betreiben des Anwalts fand am 6. März (9<br />

Tage nach den Schlägen) eine gerichtsmedizinische<br />

Untersuchung statt, in deren Ergebnis Quetschungen<br />

an A.B.’s Brustkorb, Beinen und Gesicht festgestellt<br />

wurden, und dass die Verletzungen an seiner<br />

Ohrmuschel von einer „traumatischen Einwirkung<br />

schwerer Gegenstände mit einer begrenzten<br />

Fläche zur Kraftübertragung“ herrühren. Es wurde<br />

konstatiert, dass die Verletzungen durch die von A.<br />

B. beschriebenen Schläge erlitten wurden. Der Experte<br />

weigerte sich jedoch, die Verletzung genauer<br />

zu untersuchen, weil es die hygienischen Verhältnisse<br />

in seinem Büro nicht erlaubten, den Patienten<br />

zu entkleiden.<br />

Am 7. März, 6. April, 5. Mai und am 5. Juni verhängte<br />

ein Untersuchungsrichter weitere 30-tägige<br />

Verlängerungen der Haft. A.B.s Anwalt legte gegen<br />

diese Entscheidungen Revision ein, aber seine Einsprüche<br />

wurden vom Revisionsgericht nicht behandelt.<br />

A.B. wurde bis zum 17. Juli in Haft gehalten,<br />

dann wurde er gegen Kaution freigelassen.<br />

Jedes Mal, wenn A.B. einem Untersuchungsrichter<br />

vorgeführt wurde, stellte dieser die Verletzungen<br />

fest und ordnete eine medizinische Behandlung<br />

an, aber weder die Freilassung noch eine Untersuchung<br />

der behaupteten Misshandlung.<br />

Die Forderungen nach Behandlung wurden<br />

ignoriert. Der Anwalt brachte den Fall der Misshandlung<br />

am 28. Februar sowie am 9. und 13. März<br />

2006 vor den Staatsanwalt, dieser weigerte sich jedoch,<br />

Anklage gegen die Polizeibeamten zu erheben.<br />

Gegen diese Entscheidungen legte A.B.s Anwalt<br />

am 21. April, 26. Juli und 9. November Einspruch<br />

ein. In einer Entscheidung vom 9. November<br />

missbilligte ein Untersuchungsrichter die Weigerung<br />

des Staatsanwaltes und entschied, dass es<br />

„triftige Gründe“ gebe, von „einer Misshandlung<br />

der inhaftierten Person gemäß § 328 (2) des Strafgesetzbuches“<br />

durch Polizeibeamte zu sprechen. Als<br />

der Staatsanwalt entschieden habe, kein Verfahren<br />

zu eröffnen, habe er die „unbestreitbaren Beweise“<br />

unberücksichtigt gelassen, „die sich im Verlauf des<br />

Strafverfahrens angesammelt hatten“.<br />

Daraufhin protestierte der Staatsanwalt gegen<br />

diese Entscheidung und bis heute gibt es keine Aktivitäten<br />

seitens der Behörden in diesem Fall.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> schrieb zu diesem Fall am<br />

18. April 2007 an den Generalstaatsanwalt, erhielt<br />

aber bis jetzt keine Antwort.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 37


Republik Moldau: Folter und Misshandlungen im Polizeigewahrsam „Es ist einfach normal“<br />

2. Sergei Gurgurow<br />

„Ich habe gewonnen, weil ich kein Geständnisabgelegt<br />

habe.“<br />

Sergei Gurgurow gab folgenden Bericht über seine<br />

Behandlung.<br />

Sergei Gurgurow wurde am 25. Oktober 2005<br />

von der Polizei im Bezirk Rîscani von Chişinău unter<br />

dem Verdacht, ein Mobiltelefon gestohlen zu<br />

haben, festgenommen. Er wurde im IVS des Polizei-Hauptquartiers<br />

von Chişinău festgehalten und<br />

wurde angeblich in der Zeit bis zu der Freilassung<br />

gegen Kaution am 3. November 2005 geschlagen.<br />

Während der Inhaftierung wurde er abends und<br />

mittags in Büros im zweiten Stock des Hauptquartiers<br />

gebracht und gefoltert, damit er den Diebstahl<br />

weiterer Mobiltelefone gestehe.<br />

Er sagt aus, dass er auf den Rücken geschlagen<br />

wurde, dass man ihn Elektroschocks ausgesetzt<br />

habe, dass man ihn beinahe mit einer Gasmaske erstickt<br />

habe und dass ihm seine Finger verdreht worden<br />

seien.<br />

Er hatte keinen Zugang zu einem Anwalt bis<br />

zum 3. November, als er bei Gericht einem Untersuchungsrichter<br />

vorgeführt wurde. Videoaufnahmen<br />

seiner Ankunft im Gerichtsgebäude, die <strong>amnesty</strong><br />

<strong>international</strong> vorliegen, zeigen, dass er nicht<br />

in der Lage war zu gehen und von zwei Polizeibeamten<br />

geschleppt wurde. Er konnte auch seine Finger<br />

nicht bewegen und hatte Schwierigkeiten beim<br />

Sprechen. Bei der Anhörung ordnete der <strong>Richter</strong><br />

die Freilassung gegen Kaution an. Dennoch wurde<br />

Sergei Gurgurow von Polizeibeamten aus dem Gerichtssaal<br />

geführt, man behauptete, es seien noch<br />

Papiere für seine Freilassung auszufüllen. In Wahrheit<br />

wurde er in das IDP der Abteilung gegen das<br />

organisierte Verbrechen verbracht. Sein Anwalt<br />

konnte am folgenden Tag – 4. November – lediglich<br />

seinen Aufenthaltsort ermitteln.<br />

Die Polizei rechtfertigte später die weitere Inhaftierung<br />

mit einem Haftbefehl vom 5. September<br />

2001. Dass dieser Haftbefehl aber nicht die Grundlage<br />

für Gurgurows Verhaftung am 25. Oktober<br />

2005 war, legt nahe, dass es darum ging, die Verletzungen<br />

geheim zu halten und eine Freilassung zu<br />

verhindern, die Gurgurow hätte nutzen können,<br />

Anklage wegen der erlittenen Folter zu erheben.<br />

Am 4. November erhob der Anwalt im Büro des<br />

Generalstaatsanwaltes Anklage wegen Misshandlung<br />

und es wurde eine Ermittlung eingeleitet, allerdings<br />

weder effektiv durchgeführt noch eine<br />

Aussage Sergei Gurgurows zu den Foltervorwürfen<br />

eingeholt.<br />

Sergei Gurgurow berichtet im Behandlungszentrum<br />

für Folteropfer der NGO »Memorial« den<br />

ai-Mitarbeiterinnen<br />

Am 1. Dezember 2005 ordnete der Untersuchungsrichter<br />

eine Verlängerung der Haft für 25 Tage an.<br />

Dagegen legte der Anwalt beim Revisionsgericht<br />

Einspruch ein und am 9. Dezember wurde Gurgurow<br />

gegen Kaution freigelassen.<br />

Bis zum 2. Dezember erhielt er keinerlei medizinische<br />

Behandlung der bei der Folter erlittenen<br />

Verletzungen, an diesem Tag wurde er in das Gefängniskrankenhaus<br />

verlegt. Dort gab es aber nicht<br />

den nötigen Neurologen, sodass er erst nach der<br />

Freilassung von Spezialisten behandelt werden<br />

konnte.<br />

Der 28-jährige Sergei Gurgurow ist nach den Misshandlungen<br />

und der Folter, die er durch die Polizei<br />

erlitten hatte, behindert und arbeitsunfähig. Beide<br />

Trommelfelle sind zerstört und auf einem Ohr kann<br />

er gar nichts mehr hören.<br />

Aufgrund der Verletzungen ist seine Sprechfähigkeit<br />

vermindert und die Verletzungen am Rücken<br />

machen es ihm unmöglich, ohne Krücken zu<br />

gehen. Im Juni 2007 wurden seine Behinderungen<br />

als solche 2. Grades eingestuft, was eine kleine monatliche<br />

Rente und einige Vergünstigungen mit sich<br />

bringt.<br />

Die Anklage wegen Diebstahls wird weiter aufrecht<br />

erhalten und er muss mit einem Prozess rechnen.<br />

Die Polizeibeamten, die ihn angeblich gefoltert<br />

haben, sind weiterhin im Dienst und haben Gurgu-<br />

38 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Republik Moldau: Folter und Misshandlungen im Polizeigewahrsam „Es ist einfach normal“<br />

rows Verwandte, bei denen er lebt, dermaßen bedroht,<br />

dass sie ihn baten auszuziehen.<br />

Bis zum 3. August 2007 ist in dieser Angelegenheit<br />

nichts weiter geschehen.<br />

Als letzte Entwicklung hat das Oberste Gericht<br />

am 3. Juli 2007 die Entscheidung des Bezirksgerichts<br />

revidiert, die Forderung von Gurgurows Anwalt<br />

nach Untersuchung der Foltervorwürfe abzulehnen.<br />

Der Fall wurde an das Bezirksgericht von<br />

Rîscani zurückverwiesen, das die Staatsanwaltschaft<br />

beauftragte, ein Strafverfahren zu eröffnen.<br />

Bis August 2007 ist dies nicht geschehen.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> schrieb am 30. November<br />

2005 und am 18. April 2007 und brachte die Besorgnis<br />

der Organisation zu diesem Fall vor.<br />

In einem Brief vom 9. März 2006, der sich auf<br />

eine Eilaktion von ai bezog, stellte der Generalstaatsanwalt<br />

fest, dass die in der Eilaktion wiedergegebene<br />

Darstellung der Ereignisse „nicht mit der<br />

Wirklichkeit übereinstimmt und Schaden für das<br />

Ansehen unseres Staates anrichtet“.<br />

In einer Antwort auf den Brief von ai vom 18.<br />

April schreibt der Generalstaatsanwalt, dass kein<br />

Verfahren eröffnet worden sei, weil keine „wesentlichen<br />

Anhaltspunkte für ein Verbrechen“ gefunden<br />

worden wären.<br />

3. Viorica Plate<br />

Viorica Plate wurde angeblich am 19. Mai 2007 von<br />

der Polizei auf der Polizeistation des Bezirks Botanica<br />

in Chişinău gefoltert.<br />

Sie wollte aus der Wohnung, in der sie mit ihrem<br />

ehemaligen Ehemann lebte, einige ihrer Habseligkeiten<br />

holen. Sie glaubt, dass ihr Ex-Ehemann die<br />

Polizisten dafür bezahlt hat, sie einzuschüchtern,<br />

damit sie ihren Anspruch auf die Hälfte der gemeinsam<br />

erworbenen Wohnung aufgebe.<br />

Polizeibeamte kamen in ihre Wohnung in Orhei,<br />

40 km entfernt von Chişinău, beschuldigten sie des<br />

Diebstahls von 7000 $ ihres Ehemanns und forderten<br />

sie zum Mitkommen auf. Als sie sich weigerte,<br />

warfen sie sie auf ein Sofa und verdrehten<br />

ihre Arme. Schließlich willigte sie ein und wurde<br />

zu einem Anbau der Polizeistation Botanica gebracht.<br />

Sie berichtet: „Einer von ihnen griff mir in die<br />

Haare und begann auf meinen Kopf einzuschlagen.<br />

Er sagte: „Ich schwöre, dass ich dich foltern werde.“<br />

Ich dachte, er will mir Angst machen. Wir gingen<br />

in ein Büro. Ich setzte mich. Einer holte eine<br />

Gasmaske und einige Lappen und sagte ,Sag uns,<br />

wo das Geld ist, oder wir setzen dir die Gasmaske<br />

auf. Die hatte neulich jemand auf, der hat Tuberkulose,<br />

und du steckst dich an.’<br />

Er nahm die Handschellen ab und befahl mir,<br />

mich auf den Boden zu legen. Ich wollte nicht, weil<br />

der Boden dreckig war, aber er stieß mich, bis ich<br />

lag. Er stülpte mir die Gasmaske über und begann,<br />

mir auf die Fußsohlen zu schlagen – Ich fing an zu<br />

schreien, daraufhin verschlossen sie die Luftzufuhr<br />

der Gasmaske.<br />

Ich fiel in Ohnmacht und sie begossen mich mit<br />

Wasser. Sie holten ein Metallrohr und banden mir<br />

die Hände hinter dem Rücken an das Rohr. <strong>Dan</strong>n<br />

stellten sie Stühle auf einen Tisch und hängten<br />

mich zwischen die Stühle. Sie fuhren fort, mir auf<br />

die Füße zu schlagen.“<br />

Nach den Schlägen wurde Viorica Plate in einen<br />

anderen Raum gebracht, wo eine Frau sie fragte,<br />

warum sie geschlagen worden sei und wo sie das<br />

Geld in der Wohnung ihres Ex-Ehemannes gefunden<br />

habe. Viorica Plate glaubt, dass dies ein Versuch<br />

war sie zu belasten.<br />

Wieder wurde sie zu den Beamten gebracht, die<br />

sie geschlagen hatten, sie bekam Angst vor weiteren<br />

Schlägen und griff sich ein Messer vom Tisch<br />

und schnitt sich in die Pulsadern. Eine Ambulanz<br />

kam und sie wurde in ein Krankenhaus gebracht.<br />

Sie sagt, dass ein Arzt sie untersucht und bestätigt<br />

hat, dass die Verletzungen ihren Aussagen entsprechen.<br />

Daraufhin schickte der Innenminister<br />

zwei Beamte, die sie vernahmen.<br />

Am 22. Mai erhob Viorica Plate Anklage beim<br />

Generalstaatsanwalt, und eine strafrechtliche Ermittlung<br />

wurde eingeleitet.<br />

Das Innenministerium leitete die Information an<br />

den Staatsanwalt der Stadt weiter, der den Fall weiter<br />

bearbeitete. Die der Folter angeklagten Polizeibeamten<br />

wurden während der Ermittlung nicht suspendiert.<br />

Am 8. Juni um 6:30 Uhr erschienen zwei der Polizisten,<br />

die sie geschlagen haben sollen, mit einem<br />

Durchsuchungsbefehl und durchsuchten ihre Wohnung.<br />

Sie zogen den Telefonstecker und nahmen ihr<br />

das Handy weg – sie schaffte es, ihr Handy zurückzubekommen<br />

und rief ihren Anwalt an, der mit den<br />

Polizisten sprach und eine Untersuchung ihres Verhaltens<br />

androhte.<br />

Der Anwalt berichtete <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

später, dass sie ihn heftig beschimpften und keine<br />

Bedenken zu haben schienen, dass ihr Verhalten<br />

dokumentiert würde. Dem Anwalt zufolge verließen<br />

sie sich auf „völlige Straflosigkeit“. Die Polizisten<br />

bestanden darauf, dass Viorica Plate erneut<br />

mit zur Polizeistation komme, aber sie weigerte<br />

sich und sicherte zu, dass sie im Verlaufe des Tages<br />

dort erscheinen werde.<br />

Am 11. Juni wurde Viorica Plate wegen Diebstahls<br />

angeklagt. Nach dem Einspruch ihres An-<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 39


Republik Moldau: Folter und Misshandlungen im Polizeigewahrsam „Es ist einfach normal“<br />

walts beim Revisionsgericht und beim Generalstaatsanwalt<br />

wurden die Anklagen gegen sie fallengelassen<br />

und sie kam frei.<br />

Das Verfahren gegen die der Folter beschuldigten<br />

Beamten wird weiter bearbeitet.<br />

Empfehlungen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> ist besorgt,<br />

– dass Polizeibeamte in der Republik Moldau das<br />

Prinzip der Unschuldsvermutung nicht respektieren,<br />

– dass sie nicht angemessen ausgebildet und<br />

– ausgerüstet sind, um Beweismittel zu sammeln<br />

und die Fakten eines Falls zu ermitteln<br />

– und in Folge dessen zu sehr auf Geständnisse angewiesen<br />

sind, um Verbrechen aufzuklären.<br />

• Das Bewertungssystem für die Arbeit eines Polizeibeamten<br />

und das System von Auszeichnungen<br />

und Anreizen innerhalb des Innenministeriums<br />

muss entsprechend geändert werden.<br />

• Das wachsende Bewusstsein für das Problem in<br />

Verbindung mit den zunehmenden Schadensersatzzahlungen,<br />

die der Europäische Gerichtshof<br />

für Menschenrechte auferlegt, haben zu einer<br />

steigenden Zahl von Klagen gegen Polizeibeamte<br />

wegen Folter und Misshandlung geführt, aber<br />

Gewalttäter handeln nach wie vor ungestraft.<br />

• Damit die Republik Moldau ihren <strong>international</strong>en<br />

Verpflichtungen zur Wahrung der Menschenrechte<br />

gerecht wird und auf ihrem Staatsgebiet<br />

das Recht der Menschen, nicht Opfer von<br />

Folter und Misshandlung zu werden, schützt,<br />

wird sie gewährleisten müssen, dass alle Anschuldigungen<br />

sorgfältig, zügig sowie unabhängig<br />

und unvoreingenommen untersucht werden,<br />

dass Gewalttäter bestraft werden und dass Opfern<br />

eine Entschädigung geboten wird.<br />

Um die dringendsten Probleme, die in diesem Bericht<br />

aufgezeigt werden, anzugehen, gibt <strong>amnesty</strong><br />

<strong>international</strong> der Regierung der Republik Moldau<br />

die folgenden Empfehlungen:<br />

• Das absolute Verbot von Folter oder anderer<br />

Misshandlung<br />

– Höhere Bedienstete des Innenministeriums sollten<br />

ihren für die Untersuchung von Straftaten<br />

und die Verwahrung Inhaftierter zuständigen<br />

Untergebenen klarmachen, dass Folter und Misshandlung<br />

von festgenommenen Personen (und<br />

zwar unabhängig davon, ob wegen einer Straftat<br />

oder einer Ordnungswidrigkeit verhaftet) oder<br />

–<br />

–<br />

Androhungen derartiger Behandlungen absolut<br />

untersagt sind – und dass solches Handeln sowie<br />

das stillschweigende Dulden von Folter und<br />

Misshandlung durch Vorgesetzte mit schwerwiegenden<br />

Sanktionen belegt wird;<br />

In Erwartung der Schaffung einer neuen, unabhängigen<br />

Prozedur zur Untersuchung aller Vorwürfe<br />

von Menschenrechtsverletzungen durch<br />

Sicherheitsbeamte sollten Staatsanwälte jedes<br />

Mal, wenn sie eine Beschwerde über Folter und<br />

Misshandlung erhalten, Untersuchungen anstrengen.<br />

Sie sollten das auch ohne eine formelle<br />

Beschwerde tun, wenn sie Grund haben, anzunehmen,<br />

dass Folter oder Misshandlung vorgekommen<br />

sind.<br />

Staatsanwälte und <strong>Richter</strong> sollten ihre gesetzlichen<br />

Befugnisse nutzen, um Untersuchungen<br />

einzuleiten, wann immer eine Person Vorwürfe<br />

über Folter oder Misshandlungen erhebt bzw.<br />

falls nachvollziehbare Gründe nahe legen, dass<br />

ein Akt von Folter oder Misshandlung vorgekommen<br />

ist, einschließlich gerichtsmedizinischer<br />

Untersuchungen. Sie sollten Beweismittel,<br />

die durch Folter und Misshandlung erzwungen<br />

wurden, von Gerichtsverfahren ausschließen.<br />

• Sicherheit vor Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam<br />

– Allen in Gewahrsam befindlichen Personen sollen<br />

zu Beginn des Gewahrsams sowohl die<br />

Gründe für ihre Festnahme als auch ihre Rechte<br />

dargelegt werden.<br />

Ihnen ist zu garantieren, dass sie Zugang zu<br />

einem Rechtsanwalt ihrer Wahl und einem Arzt<br />

erhalten und dass ihre Angehörigen über ihren<br />

Verbleib in Kenntnis gesetzt werden.<br />

Allen Verhafteten sollte garantiert werden, dass<br />

sie unverzüglich und regelmäßig einen Anwalt<br />

hinzuziehen (und auch ohne Aufsicht mit ihm<br />

sprechen) oder einen Arzt unter vier Augen konsultieren<br />

können.<br />

– Die Regierung der Republik Moldau sollte die<br />

Pläne, dem Justizministerium die Verantwortung<br />

für die Untersuchungshaft zu übertragen,<br />

umgehend umsetzen.<br />

Falls notwendig, sollten Bedienstete des Justizministeriums<br />

in die bestehenden Untersuchungshaftzentren<br />

»IDP« (Akronym aus dem Moldauischen,<br />

»izolatoare de detenńie preventivă«) entsandt<br />

werden, um zu gewährleisten, dass dort<br />

eine Trennung von Untersuchungs- und Verwahrungsaufgaben<br />

eingehalten wird.<br />

40 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Republik Moldau: Folter und Misshandlungen im Polizeigewahrsam „Es ist einfach normal“<br />

• Für alle Inhaftierten müssen genaue und standardisierte<br />

Aufzeichnungen geführt werden.<br />

Diese müssen Folgendes enthalten:<br />

– Informationen über Gründe für die Verhaftung,<br />

die Identität des Verhafteten, Datum und Uhrzeit<br />

der Festnahme, Anzeichen von Verletzungen<br />

oder Geisteskrankheiten, wann nächste Verwandte<br />

und ihr Anwalt kontaktiert wurden und<br />

wann diese den Inhaftierten besuchten, wann<br />

Nahrungsmittel angeboten wurden, wann der Inhaftierte<br />

befragt wurde, wann der Inhaftierte in<br />

eine andere Anstalt gebracht und wann er/sie<br />

entlassen wurde. Der Anwalt des Inhaftierten<br />

sollte Zugang zu diesen Aufzeichnungen über<br />

die Zwangsverwahrung haben.<br />

• Bei Straftaten sollte die Haftzeit, bevor der Verhaftete<br />

einem <strong>Richter</strong> vorgeführt wird, von 72<br />

auf 24 Stunden reduziert werden und dies sollte<br />

nicht als die zulässige, sondern als die maximale<br />

Dauer angesehen werden.<br />

– sobald Inhaftierte in Einrichtungen überführt<br />

wurden, die dem Justizministerium unterstehen,<br />

sollten sie aus Prinzip nicht in eine »IDP« des<br />

Innenministeriums zurückgebracht werden und<br />

Vernehmungen sollten unter Gewährleistung der<br />

notwendigen Schutzmaßnahmen gegen Befragungen<br />

unter Gewaltandrohung in der Einrichtung<br />

durchgeführt werden, in der sie in Gewahrsam<br />

sind.<br />

• Die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit von<br />

Sanitätern, die in den vom Innenministerium betriebenen<br />

Haftanstalten arbeiten, muss garantiert<br />

sein, damit gewährleistet ist, dass alle Fälle<br />

von Folter und Misshandlung genau dokumentiert<br />

werden.<br />

Hierzu sollten sie nicht vom Innenministerium,<br />

sondern von einem andern Ministerium angestellt<br />

sein, angemessen entlohnt werden sowie<br />

gut ausgerüstet und ausreichend qualifiziert<br />

sein, um ihre Aufgaben auszuführen.<br />

• Gründliche, vertrauliche medizinische Untersuchungen<br />

bei der Ankunft in und der Abreise aus<br />

einer Haftanstalt sollten gesetzlich vorgeschrieben<br />

werden.<br />

• Alle Verhöre sollten in dafür bestimmten Räumlichkeiten<br />

stattfinden. In den Büros der Ermittlungsbeamten<br />

sollten keine Verhöre durchgeführt<br />

werden.<br />

•<br />

• Die Auflage aus der Strafprozessordnung, dass<br />

während Polizeiverhören immer Anwälte anwesend<br />

sein müssen, muss erfüllt werden, und alle<br />

Verhöre sollten genau aufgezeichnet werden, am<br />

besten mit einer Video/Audio-Ausrüstung.<br />

• Die Unschuldsvermutung muss respektiert und<br />

in Haftanstalten eine strenge Trennung zwischen<br />

Verurteilten und Untersuchungshäftlingen eingehalten<br />

werden.<br />

• Häftlinge, die wegen eines Vergehens nach dem<br />

Verwaltungsgesetzbuch verurteilt wurden,<br />

sollten ihre Haftstrafen nicht in IDP-Einrichtungen<br />

verbüßen. Das Gesetzbuch sollte dahingehend<br />

geändert werden, dass Menschen, die<br />

wegen Verstößen gegen das Verwaltungsgesetz<br />

festgenommen werden, die gleichen Rechte genießen<br />

wie die nach dem Strafgesetzbuch Verhafteten,<br />

wie z. B. das Recht einen Anwalt hinzuzuziehen.<br />

• Eindeutige Sicherheitsmaßnahmen sollten gewährleisten,<br />

dass die Praxis, nach dem Verwaltungsgesetzbuch<br />

Inhaftierte zur Arbeit zu schicken,<br />

nicht missbraucht wird, indem sie gegen<br />

ihren Willen arbeiten müssen.<br />

• Es muss gewährleistet werden, dass <strong>Richter</strong> sich<br />

der Möglichkeit bewusst sind, jemanden gegen<br />

Kaution auf freien Fuß zu lassen. Verfahren, die<br />

es <strong>Richter</strong>n ermöglichen, Maßnahmen ohne<br />

Freiheitsentzug zu verhängen, müssen insbesondere<br />

für diejenigen, die nach dem Verwaltungsgesetzbuch<br />

angeklagt sind, klargestellt bzw. eingeführt<br />

werden.<br />

• Die Empfehlungen des Europäischen Komitees<br />

zur Verhütung von Folter und unmenschlicher<br />

oder erniedrigender Behandlung oder Strafe<br />

(CPT) hinsichtlich der Bedingungen in IDP-Einrichtungen<br />

müssen vollständig und umgehend<br />

umgesetzt werden.<br />

Es muss insbesondere gewährleistet werden,<br />

dass angemessene und der Menge nach ausreichend<br />

Nahrungsmittel angeboten werden. Für<br />

die Renovierung dieser Einrichtungen müssen<br />

klare Fristen gesetzt werden.<br />

• Es muss ein Nationaler Präventionsmechanismus<br />

geschaffen werden, der dem Zusatzprotokoll zur<br />

UN-Anti-Folterkonvention (OPCAT) gerecht<br />

wird, indem er funktionell unabhängig, in Konsultationen<br />

mit Vertretern der Zivilgesellschaft<br />

entwickelt und mit den notwendigen Finanzmit-<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 41


Republik Moldau: Folter und Misshandlungen im Polizeigewahrsam „Es ist einfach normal“<br />

teln ausgestattet wird. Ein Gesetz über den Nationalen<br />

Präventionsmechanismus muss umgehend<br />

verabschiedet werden.<br />

• Effektive Auswertungen<br />

Kriterien für die Evaluierung der Arbeit der Polizei<br />

auf allen Ebenen müssen klar und präzise<br />

sein und qualitative Kriterien einschließen, die<br />

auf dem Kodex für Ethik und Sittenlehre für die<br />

Arbeit der Polizei basieren und Verständnis für<br />

Menschenrechte, Einstellungen und Kommunikationsfähigkeit<br />

widerspiegeln.<br />

(Im Mai 2006 wurde in der Republik Moldau ein<br />

Kodex für Ethik und Sittenlehre für die Arbeit<br />

der Polizei mit dem Ziel angenommen, das Verhalten<br />

der Polizei zu verbessern, das Vertrauen<br />

in die Polizei in der Gesellschaft zu verankern<br />

und Missbrauch von professioneller Seite auszumerzen.<br />

[Siehe Seite 8 imBericht „It is just normal“;<br />

Anmerkung der Übersetzerin])<br />

•<br />

–<br />

–<br />

Straflosigkeit verhindern<br />

Es sollte gewährleistet sein, dass alle Vorwürfe<br />

von Misshandlung oder Folter durch Polizeibeamte<br />

zum Gegenstand einer unverzüglichen,<br />

gründlichen und unparteiischen Untersuchung<br />

gemacht werden, die eine Befragung des Opfers<br />

und weiterer Zeugen einschließt.<br />

Die Regierung der Republik Moldau sollte die<br />

Einrichtung einer ausreichend ausgestatteten<br />

und unabhängigen Kommission in Betracht zie-<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

hen, die alle Anschuldigungen über Verletzungen<br />

der Menschenrechte durch alle Bediensteten<br />

von Vollzugsbehörden – einschließlich von Polizisten<br />

– untersucht.<br />

Jeder Polizeibeamte oder Bedienstete einer Vollzugsbehörde<br />

gegen den wegen des Verdachts,<br />

Akte von Folter oder andere Misshandlungen begangen<br />

zu haben, ermittelt wird, sollte für die<br />

Dauer der Ermittlungen bei vollen Bezügen vom<br />

Dienst suspendiert werden.<br />

Jeder Polizeibeamte oder Bedienstete einer Vollzugsbehörde,<br />

der begründeterweise für verdächtig<br />

gehalten wird, für Folter oder Misshandlungen<br />

verantwortlich zu sein, sollte vor Gericht gestellt<br />

werden. Falls er für schuldig befunden<br />

wird, soll eine Strafe ausgesprochen werden, die<br />

in angemessenem Verhältnis zur Schwere der<br />

Tat steht.<br />

Opfer und ihre Angehörigen sollten eine Wiedergutmachung<br />

erhalten, einschließlich einer fairen<br />

und angemessenen Entschädigung sowie – falls<br />

nötig – der Mittel für eine möglichst vollständige<br />

Rehabilitation.<br />

Statistiken zu Beschwerden über Folter oder<br />

Misshandlung und darüber, wie diesen nachgegangen<br />

wurde, sollten regelmäßig veröffentlicht<br />

werden, um Muster von Rechtsverletzungen zu<br />

erkennen und Gegenmaßnahmen und -verfahren<br />

einzuleiten.<br />

42 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Aktionsidee<br />

für Vielbeschäftigte:<br />

Schick eine Spirale<br />

in die Republik Moldau!<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 43


Republik Moldau: Aktionsidee<br />

Aktionsidee für Vielbeschäftigte:<br />

Schick eine Spirale<br />

in die Republik Moldau!<br />

Es kommt in der Republik Moldau nicht selten vor,<br />

dass Kanaldeckel gestohlen werden, um sie einzuschmelzen<br />

und das Material anschließend zu verkaufen.<br />

Dadurch entstehen große schwarze Löcher<br />

im Boden, in die jeder Gefahr läuft hineinzufallen,<br />

da sich die offenen Löcher häufig in unbeleuchteten<br />

Straßen befinden.<br />

Diese schwarzen Löcher können symbolisch<br />

verwendet werden – jeder ist anfällig dafür, in ein<br />

schwarzes Loch der Menschenrechtsverletzungen<br />

zu fallen und in Polizeigewahrsam in der Republik<br />

Moldau gefoltert oder misshandelt zu werden.<br />

1. Anhang ausdrucken<br />

2. Papier in der Mitte – zwischen den beiden Spiralen<br />

– falten<br />

3. Die Spiralen mit beiden Rückseiten aneinander<br />

kleben<br />

4. Spirale entlang der äußeren Begrenzung ausschneiden<br />

und entlang der gestrichelten Linien<br />

einschneiden, so dass die Spirale in beide Richtungen<br />

fallen kann - entweder in das schwarze<br />

Loch der Menschenrechtsverletzungen oder aus<br />

dem schwarzen Loch heraus in Richtung vermehrter<br />

Achtung der Menschenrechte.<br />

5. Namen und Land auf die Spirale schreiben (das<br />

ist wichtig, damit die Regierung in der Republik<br />

Moldau weiß, dass es sich um eine <strong>international</strong>e<br />

Aktion handelt), Spirale nach Belieben anmalen<br />

und an eine der im Anhang zu findenden Adressen<br />

der Regierung und/oder an die moldauische<br />

Botschaft schicken.<br />

Auf der schwarzen Seite der Spirale, die in ein<br />

Loch fallende Menschen darstellt, steht:<br />

„Hebt die Republik Moldau aus dem schwarzen<br />

Loch der Menschenrechtsverletzungen heraus.<br />

Stoppt Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam<br />

jetzt!“<br />

Adressen der Regierung<br />

der Republik Moldau:<br />

Präsident der Republik Moldau<br />

Vladimir VORONIN<br />

Stefan cel Mare Blvd, 154<br />

277073 Chişinău<br />

Republik Moldau<br />

Fax: + 373 - 22 24 50 89<br />

Anrede: Dear President<br />

Minister of Internal Affairs<br />

Gheorghe PAPUC<br />

Stefan cel Mare Blvd, 75<br />

MD-2012, Chişinău<br />

Republik Moldau<br />

Fax: + 373 - 22 22 27 23<br />

Anrede: Dear Minister<br />

Justizminister<br />

Vitalie PIRLOG<br />

Stefan cel Mare Blvd, 73<br />

277001 Chişinău<br />

Republik Moldau<br />

Fax: +373 - 22 23 47 97<br />

Anrede: Dear Minister<br />

Generalstaatsanwalt der Republik Moldau<br />

Valeriu BALABAN<br />

Mitropolit Benulesku-Bodoni Str., 26<br />

MD-2005 Chişinău<br />

Republik Moldau<br />

Fax: + 373 - 22 21 20 32<br />

Anrede: Dear Prosecutor General<br />

Auf der weißen Seite, mit einem lachenden Gesicht<br />

in der Mitte, steht geschrieben:<br />

„Niemand soll Folter oder unmenschlichen und erniedrigenden<br />

Behandlungen oder Strafen ausgesetzt<br />

sein. Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention.“<br />

Auf welche Seite die Spirale fällt liegt im Ermessen<br />

der Regierung der Republik Moldaus.<br />

44 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Eilaktion<br />

Republik Moldau: Eilaktionen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

UA-Nr: UA-145/2007 · AI-Index: EUR 59/001/2007<br />

Datum: 11.Juni 2007<br />

Moldau (Dnjestr-Republik): Drohende Folter<br />

Valentin Besleag, 59 Jahre alt<br />

Valentin Besleag aus dem Dorf Corjova in der Region Dubasari der selbsternannten Moldauischen Dnjestr-Republik<br />

(Transnistrien) ist seit dem 2. Juni 2007 im Gewahrsam der Polizeiwache von Dubasari.<br />

Weder er noch seine Familie wurden über die Gründe seiner Inhaftierung unterrichtet, und man hat ihnen<br />

auch nicht den richterlichen Beschluss für die Festnahme gezeigt. Darüber hinaus dürfen seine Familienangehörigen<br />

ihm Medikamente, die er dringend benötigt, nicht zukommen lassen. Möglicherweise handelt<br />

es sich bei Valentin Besleag um einen gewaltlosen politischen Gefangenen, der allein wegen der<br />

Wahrnehmung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung inhaftiert worden ist.<br />

Valentin Besleag war einer der Kandidaten bei der Bürgermeisterwahl von Corjova, die am 3. Juni 2007<br />

stattfinden sollte. Corjova ist eines von neun Dörfern in einem Territorium, das in der Dnjestr-Republik<br />

gelegen ist, aber von der Zentralregierung von Moldau (Moldawien) kontrolliert wird, da die Einwohner<br />

der Orte während des Bürgerkriegs von 1990 bis 1992 auf Seiten der moldauischen Streitkräfte standen.<br />

Die Dnjestr-Republik wird <strong>international</strong> nicht als souveräner Staat anerkannt. Dort sind sowohl Streitkräfte<br />

als auch Friedenstruppen der Russischen Föderation stationiert. Am 3. Juni dieses Jahres fanden in<br />

Moldau landesweit Kommunalwahlen statt, die aber in der Dnjestr-Republik nur in den von der moldauischen<br />

Zentralregierung kontrollierten Gebieten durchgeführt werden konnten.<br />

Valentin Besleag war am 1. Juni 2007 gegen 23:00 Uhr mit Wahlkampfmaterial aus Moldau zurückgekehrt,<br />

als er von Verkehrspolizisten angehalten wurde, die seinen Führerschein konfiszierten und ihn anwiesen,<br />

sich zur Polizeiwache in dem Ort Dubasari zu begeben. Er weigerte sich, dem umgehend Folge zu<br />

leisten, begab sich aber am folgenden Morgen um acht Uhr dorthin, um seinen Führerschein zurückzubekommen.<br />

Valentin Besleag kehrte jedoch nicht nach Hause zurück und war auch nicht über sein Mobiltelefon<br />

zu erreichen. Seine Tochter ging am 2. Juni 2007 um 14:00 zu der Polizeistation, um sich nach seinem<br />

Verbleib zu erkundigen. Sie konnte durch eine halbgeöffnete Tür einen Blick von ihm erhaschen, als<br />

man ihr seinen Gürtel, seine Schnürsenkel und sein Mobiltelefon aushändigte. Dabei konnte sie sehen,<br />

dass seine Hände hinter dem Rücken gefesselt waren. Die Polizeibeamten machten keinerlei Angaben darüber,<br />

warum Valentin Besleag festgenommen worden war. Als die Tochter fragte, weshalb die Familie<br />

nicht über seine Inhaftierung informiert wurde, antworteten die Polizisten, da müsste sie schon den <strong>Richter</strong><br />

fragen. Deshalb geht Valentin Besleags Familie davon aus, dass er bereits einem <strong>Richter</strong> der Dnjestr-<br />

Republik vorgeführt und angeklagt worden ist. Die Familienangehörigen vermuten, dass sich die Anklage<br />

auf den Transport der Wahlkampfunterlagen beziehen könnte. Laut den gesetzlichen Bestimmungen der<br />

Dnjestr-Republik ist die Einfuhr von Wahlkampfmaterialien aus dem Ausland, wozu auch Moldau gezählt<br />

wird, untersagt.<br />

Obwohl Valentin Besleag vor seiner Festnahme über Brustschmerzen geklagt und deswegen Medikamente<br />

eingenommen hatte, darf ihm seine Familie weder Lebensmittel noch Arzneimittel in der Haft zukommen<br />

lassen. Seine Angehörigen haben sich bemüht, einen Rechtsanwalt für ihn zu finden, aber wegen<br />

der politisch motivierten Anklagen war bislang niemand bereit, sein Mandat zu übernehmen, sodass er<br />

bislang ohne Rechtsbeistand ist. Rechtsanwälte aus Moldau, die sich bereit erklärten, ihn zu vertreten,<br />

wurde dies untersagt.<br />

HINTERGRUNDINFORMATIONEN<br />

Sowohl in Moldau (Moldawien) als auch in der selbsternannten Dnjestr-Republik (Transnistrien) sind die<br />

Haftbedingungen in Polizeieinrichtungen extrem schlecht. Der Europäische Ausschuss zur Verhütung<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 45


Republik Moldau: Eilaktionen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe hat die Zustände in den Hafteinrichtungen<br />

des moldauischen Innenministeriums als „katastrophal“ bezeichnet, sodass sie in vielen<br />

Fällen einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung gleichkämen. Die Kost der Häftlinge ist von<br />

sehr schlechter Qualität, weshalb die Gefangenen zur Gewährleistung ihrer Gesundheit auf Nahrungsmittelpakte<br />

aus dem Familien- und Freundeskreis dringend angewiesen sind. Wie es heißt, sind die Haftbedingungen<br />

in der Dnjestr-Republik genauso miserabel oder gar noch schlimmer.<br />

Die Polizei der Dnjestr-Republik verhinderte, dass am 3. Juni 2007 in Corjova Kommunalwahlen stattfinden<br />

konnten. Der Dorfbewohner Iurie Cotofan, der seine Stimme abgeben wollte, wurde dem Vernehmen<br />

nach von Polizisten geschlagen. Mehrere Beamte der Polizeikräfte der Dnjestr-Republik führten ihn aus<br />

dem Wahllokal heraus und zwängten ihn in einen Streifenwagen. Dort wurde sein Gesicht auf den Boden<br />

gedrückt und er mit Schlägen und Tritten traktiert. Einer der Polizisten kniete auf seinem Rücken und<br />

drückte seinen Körper herunter, während ihn die anderen Polizeibeamten verprügelten. Anschließend<br />

wurde Iurie Cotofan zur Polizeiwache von Dubasari gebracht, wo man ihn bis Mitternacht festhielt und<br />

dann ohne Anklageerhebung und ohne Angabe von Gründen freiließ. Er wird derzeit im Krankenhaus<br />

von Chisinau wegen seiner Verletzungen behandelt.<br />

EMPFOHLENE AKTIONEN: Schreiben Sie bitte Telefaxe oder Luftpostbriefe, in denen Sie<br />

darlegen, dass <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> zu Territorialkonflikten keine Stellung bezieht, Sie sich aber an die<br />

Behörden der Moldauischen Dnjestr-Republik wenden, da sie de facto die Verwaltungshoheit über die von<br />

ihr kontrollierten Gebiete Moldaus ausübt;<br />

sich um die Gesundheit von Valentin Besleag besorgt zeigen, der seit dem 2. Juni 2007 von der Polizei in<br />

Dubasari in Gewahrsam gehalten wird;<br />

die Behörden auffordern, umgehend dafür Sorge zu tragen, dass er von seiner Familie zur Verfügung gestellte<br />

Lebensmittel und dringend benötigte Medikamente erhält;<br />

die Behörden daran erinnern, dass alle Gefangenen in vollem Maße über die Gründe für ihre Inhaftierung<br />

informiert werden müssen und man Valentin Besleag und seine Familie umgehend darüber unterrichtet;<br />

die Behörden daran erinnern, dass Artikel 19 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische<br />

Rechte das Recht auf freie Meinungsäußerung garantiert, und deshalb fordern, dass Valentin Besleag sofort<br />

und bedingungslos freigelassen wird, falls er allein wegen seiner Ausübung dieses Grundrechts inhaftiert<br />

worden ist;<br />

darauf dringen, dass Valentin Besleags Recht auf rechtlichen Beistand durch einen Verteidiger, wie es unter<br />

anderem in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert<br />

ist, von den Behörden der Dnjestr-Republik vorbehaltlos respektiert wird.<br />

Appelle an:<br />

Generalstaatsanwalt<br />

Anatoliy Guretskiy, Prosecutor General of the<br />

Dnestr Moldavian Republic<br />

25 October Str., 101, Tiraspol, MOLDAU<br />

Anrede: Dear Procurator General<br />

Telefax: (00 373) 5338 0761 (kombinierter Anschluss:<br />

„Fax, please“)<br />

Kopien an:<br />

Valeriu Gurbulea, Procurator General of the Republic<br />

of Moldova,<br />

Mitropolit Banulesku-Bodoni Str. 26<br />

MD-2005, Chisinau, MOLDAU<br />

Anrede: Dear Procurator General<br />

Telefax: (00 373) 2221 2032 (kombinierter Anschluss:<br />

„Fax, please“)<br />

Kanzlei der Botschaft der Republik Moldau,<br />

Gotlandstraße 16, 10439 Berlin<br />

(S.E. Herrn Dr. Igor Corman)<br />

Telefax: 030-4465 2972<br />

E-Mail: office@botschaft-moldau.de<br />

46 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Republik Moldau: Eilaktionen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />

Weitere Informationen<br />

zu UA 145/07 (EUR 59/001/2007, 11. Juni 2007)<br />

UA-Nr: UA-145/2007-1 · AI-Index: EUR 59/003/2007<br />

Datum: 26.Juni 2007<br />

Valentin Besleag kam am 17. Juni 2007 aus dem Polizeigewahrsam frei. Wie es heißt, wurde er in der Haft<br />

nicht geschlagen, war aber in einer überfüllten Zelle mit schlechter Belüftung untergebracht, in der seine<br />

Mitinsassen rauchten. Gegenwärtig wird er wegen einer Lungenentzündung und Atembeschwerden medizinisch<br />

behandelt.<br />

Während seines 15-tägigen Gewahrsams musste sich Valentin Besleag ständig hämische Bemerkungen<br />

anhören, weil er während des bewaffneten Konflikts zwischen Moldau und separatistischen Kräften von<br />

1990 bis 1992 für die moldauische Seite Partei ergriffen hatte. Seine Familienangehörigen durften ihn in<br />

der Haft nicht besuchen. Valentin Besleag wurde mitgeteilt, dass wegen des Verstoßes gegen Verwaltungsvorschriften,<br />

die eine Verteilung von Agitationsmaterial verbieten, Anklage gegen ihn erhoben worden<br />

sei. Er nimmt an, dass sich dies auf den Transport von Wahlkampfmaterialien aus Moldau in seinem<br />

Wagen bezieht. Eine schriftliche Stellungnahme hinsichtlich der Gründe für die Anklageerhebung liegt<br />

ihm aber bislang nicht vor.<br />

Weitere Schritte seitens der Teilnehmer am Eilaktionsnetz sind nicht erforderlich. Vielen <strong>Dan</strong>k allen, die<br />

sich mit Appellen für Valentin Besleag eingesetzt haben.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 47


Pressespiegel<br />

Seite<br />

49 23. 2. Der Standard „Einkaufsparadies“ Moldawien:<br />

Wenn Frauen zur Billigware werden<br />

50 22. 3. Deutsche Welle Transnistrien: Wirtschaftsprobleme verschärfen sich<br />

51 31. 5. die tageszeitung Vom guten Frieden<br />

52 21. 6. Deutsche Welle UNO streicht Belarus von „Schwarzer Liste“<br />

53 20.8. Neue Zürcher Zeitung Menschliche Tragödien an der EU-Ostgrenze<br />

55 12. 10. OÖ Nachrichten Republik Moldau auf der Suche<br />

nach Identität und Zukunft<br />

48 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Pressespiegel<br />

Der Standard<br />

23. Februar 2007<br />

„Einkaufsparadies“ Moldawien: Wenn Frauen zur Billigware werden<br />

Tausende Mädchen werden jährlich mit dem Versprechen auf einen Traumjob<br />

im Ausland in die Zwangsprostitution gelockt<br />

Von Andreas Tröscher/APA<br />

Chisinau - Alina sagt, sie sei 17 Jahre<br />

alt. Dabei ist sie 24. Und Alina<br />

heißt sie eigentlich auch nicht. An<br />

ihre wahre Identität will sich das<br />

moldawische Mädchen partout nicht<br />

erinnern. Manchmal fängt sie einfach<br />

so zu schreien an: „Er überfährt<br />

mich mit dem Auto, wenn ich nicht<br />

gehorche!“ Was Alina in all seinen<br />

grausamen Details erzählt, klingt<br />

fast unglaubwürdig. Aber es ist traurige<br />

Wahrheit. Tausende Frauen aus<br />

dem ärmsten Land Europas können<br />

es bezeugen. Auch sie wurden an<br />

brutale Menschenhändler verscherbelt.<br />

Keine schwierige<br />

Überzeugungsarbeit<br />

50 Dollar sind in Moldawien eine<br />

Menge Geld. Fast ein Monatslohn.<br />

Da werden sogar Väter schwach, die<br />

schon seit Jahren arbeitslos sind. Innerhalb<br />

weniger Augenblicke kann<br />

so aus einer Tochter Billigware werden.<br />

Die Händler wissen das nur zu<br />

gut. Meist brauchen sie nicht lange<br />

Überzeugungsarbeit leisten. Das<br />

kleine Land im Osten Rumäniens hat<br />

niemandem etwas zu bieten, schon<br />

gar nicht jungen Menschen. Sie verlassen<br />

in Scharen ihre Heimat. Von<br />

offiziell 4,3 Millionen Einwohnerinnen<br />

und Einwohnern leben nur<br />

knapp drei Millionen innerhalb der<br />

Grenzen Moldawiens. Der Rest versucht<br />

sein Glück weit weg von zu<br />

Hause.<br />

Fort von Trostlosigkeit<br />

Die Perspektivlosigkeit ist erdrückend.<br />

Keine sozialen Strukturen,<br />

keine Zivilgesellschaft, keine Ausbildungsmöglichkeiten,<br />

keine Jobs,<br />

keine Aussicht auf Besserung. Auch<br />

Alina war klar, dass das Angebot,<br />

das ihr dieser nette Herr unterbreitet<br />

hatte, die große Chance sein könnte.<br />

Als Kellnerin oder Kindermädchen.<br />

Fort von Trostlosigkeit und Stillstand,<br />

endlich Spaß, Freude, Wohlstand,<br />

Geld. Über Rumänien, wo der<br />

Preis für ein Mädchen im Normalfall<br />

bereits auf 500 Dollar ansteigt,<br />

ging die Reise nach Italien. Zumindest<br />

sollte es Italien werden. Gekommen<br />

ist Alina nur bis Albanien. Dort<br />

begann ihr Martyrium erst richtig.<br />

Keine Hilfe<br />

Menschenhandel wird <strong>international</strong><br />

als „Trafficking“ bezeichnet. Der<br />

Schweizer Martin Wyss ist dafür<br />

Spezialist. Seit drei Jahren kämpft er<br />

in der Hauptstadt Chisinau im Rahmen<br />

seiner Tätigkeit für die International<br />

Organization for Migration<br />

(IOM) gegen dieses in Moldawien<br />

besonders verbreitete Phänomen.<br />

„Was mich am meisten betroffen gemacht<br />

hat, war, dass den Mädchen<br />

niemand geholfen hat - und zwar bevor<br />

sie etwas gewagt haben, von dem<br />

sie selbst wussten, dass es nicht sehr<br />

intelligent ist.“<br />

Nach Martyrium Abschiebung<br />

Die meisten Mädchen und Frauen<br />

haben aber gar nicht die Möglichkeit,<br />

sich zu überlegen, ob der angebotene<br />

Job eventuell eine Falle sein<br />

könnte. Viele haben bereits Kinder,<br />

die sie nicht ernähren können, und<br />

Männer, die sich daheim im Alkohol<br />

ertränken. Alina hingegen träumte<br />

nur von einem besseren Leben. Und<br />

musste für ihren Gutglauben teuer<br />

bezahlen: Von ihrem Peiniger eingesperrt,<br />

mit Eisenstangen gefügig geprügelt<br />

und vergewaltigt, hat sie sich<br />

irgendwann aus dem Fenster ihres<br />

Gefängnisses gestürzt und schleppte<br />

sich schwer verletzt zur Polizei. Das<br />

Touristenvisum war natürlich längst<br />

abgelaufen, also wurde Alina abgeschoben.<br />

Mit schweren Unterleibsentzündungen<br />

und seelisch völlig verstümmelt<br />

muss die 24-Jährige nun in Chisinau<br />

betreut werden. Ihre Freundin<br />

wurde ebenfalls Opfer von Menschenhändlern,<br />

ist von der jahrelangen<br />

Tortur psychisch gezeichnet. Sie<br />

sagt: „Ich kann allen Mädchen nur<br />

raten, in Moldawien zu bleiben. So<br />

schlecht kann es hier gar nicht sein.<br />

Daheim ist es immer noch am besten.“<br />

Opfer bringen<br />

Trafficking-Experte Wyss kennt unzählige<br />

Schicksale, die dem von Alina<br />

täuschend ähnlich sind: „Jede Geschichte<br />

ist der absolute Horror. Die<br />

Mädchen wissen, was von ihnen erwartet<br />

wird. Nur nicht, in welcher<br />

Dimension. Aber das Geld, das zu<br />

verdienen ist, ist viel zu wichtig.<br />

Meist geht es auch darum, für jemanden<br />

ein Opfer zu bringen, oftmals<br />

für das eigene Kind.“<br />

Dunkelziffer<br />

In den vergangenen drei Jahren<br />

konnte die IOM rund 300 Mädchen<br />

aus den Fängen ihrer „Besitzer“ befreien<br />

und nach Moldawien zurückbringen.<br />

Wie viele Opfer es tatsächlich<br />

sind, kann selbst ein Insider wie<br />

Wyss nicht sagen, wahrscheinlich<br />

tausende: „Ganz ehrlich, wir wissen<br />

es nicht.“ In dem armen Land wird<br />

Mädchenhandel „im großen Stil“ organisiert,<br />

bis vor kurzem war die Bekämpfung<br />

aussichtslos, verrät der<br />

Schweizer. 2006 ist in Moldawien<br />

übrigens ein Anti-Trafficking-Gesetz<br />

in Kraft getreten. Es gab auch<br />

schon Verurteilungen. Drei.<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 49


Pressespiegel<br />

Deutsche Welle<br />

22. März 2007<br />

Transnistrien: Wirtschaftsprobleme verschärfen sich<br />

Von Serhij Osadtschuk, Odessa<br />

Seit einem Jahr gelten neue Zollbestimmungen<br />

am transnistrischen<br />

Abschnitt der ukrainisch-moldauischen<br />

Grenze. Chisinau<br />

und Kiew wollen damit den<br />

Schmuggel bekämpfen. Tiraspol<br />

spricht hingegen von einer Blockade.<br />

Auf dem zentralen Platz von Tiraspol<br />

befinden sich nahe dem Suworow-Denkmal<br />

immer viele Menschen.<br />

Nebenan sind ein Markt und<br />

mehrere Bushaltestellen. Dort halten<br />

sich oft Rentner auf. Auf die Frage,<br />

wie sich der Durchschnittsbürger in<br />

Transnistrien fühlt, sagen sie nur:<br />

„Sehr schlecht.“ Sie berichten, dass<br />

die Renten nicht rechtzeitig ausgezahlt<br />

werden. Und diejenigen, die im<br />

Ausland Verwandte hätten, seien<br />

längst fort. Vor allem die Jugend verlasse<br />

Transnistrien. Junge Menschen<br />

zieht es auf der Suche nach Arbeit<br />

meist ins Ausland. Aleksandr Pakur<br />

erzählte, er habe nur wenig Geld verdient.<br />

Deshalb habe er sich entschieden,<br />

in Russland auf Baustellen zu<br />

arbeiten: „Man kann hier mit dem<br />

wenigen Geld nicht überleben. Man<br />

hat die Menschen so weit gebracht,<br />

dass sie in Moskau oder sonst wo<br />

Gastarbeiter sein müssen.“<br />

Es ist nicht verwunderlich, wenn<br />

viele Menschen unter diesen Bedingungen<br />

versuchen, Transnistrien zu<br />

verlassen. Dies ist aber nicht gerade<br />

einfach, denn derzeit gibt es nur einen<br />

Passagierzug, und der ist nur<br />

eine Transitverbindung in die Republik<br />

Moldau. Um Transnistrien zu<br />

verlassen, müssen die Menschen erst<br />

die Grenze in einem Auto passieren.<br />

Erst dann können sie in einen Zug<br />

steigen.<br />

Vorwürfe gegen Kiew<br />

und Chisinau<br />

Die separatistische Führung Transnistriens<br />

weist jegliche Verantwortung<br />

für die Wirtschaftslage zurück.<br />

Tiraspol beschuldigt vor allem die<br />

Ukraine und die Republik Moldau,<br />

die vor einem Jahr neue Zollbestimmungen<br />

am transnistrischen Abschnitt<br />

der Grenze zwischen beiden<br />

Ländern eingeführt hatten. Kiew<br />

und Chisinau wollen in Zusammenarbeit<br />

mit der Europäischen Union<br />

den unkontrollierten Transport von<br />

Gütern über die Grenze stoppen und<br />

insbesondere Schmuggel und illegalen<br />

Waffenhandel in der Region verhindern.<br />

Seit der Einführung der<br />

neuen Zollbestimmungen spricht Tiraspol<br />

von einer Wirtschaftsblockade.<br />

Den Vorwurf, dass über das Territorium<br />

Transnistriens Waffen und<br />

Schmuggelwaren transportiert wurden,<br />

weist man in der selbsternannten<br />

Republik zurück.<br />

Gemäß den neuen Zollbestimmungen<br />

müssen transnistrische Unternehmen<br />

in der Republik Moldau<br />

registriert sein. Sie müssen zudem<br />

ihre Transporte ausschließlich über<br />

den moldauischen Zoll abfertigen.<br />

Transnistrische Unternehmen bemühen<br />

sich allerdings nicht sonderlich<br />

um eine Registrierung in der Republik<br />

Moldau. Sie begründen dies mit<br />

zusätzlichen Kosten. Aber auch die<br />

Führung Transnistriens ermuntert<br />

sie, die neuen Bestimmungen nicht<br />

zu befolgen. Dies führte schließlich<br />

dazu, dass die Produktion in den<br />

transnistrischen Unternehmen zurückgefahren<br />

werden musste. Der<br />

Direktor eines der größten Unternehmen<br />

in Tiraspol, Wiktor Iwantschenko,<br />

sagte der Deutschen Welle:<br />

„Die Menschen erhalten keine Löhne,<br />

wenn die Produktion stillsteht,<br />

und manche mussten wir in Zwangsurlaub<br />

schicken.“<br />

Menschen hoffen auf Russland<br />

Fast die Hälfte der Einwohner Transnistriens<br />

sind ethnische Ukrainer. In<br />

Tiraspol gibt es ein ukrainisches Lyzeum,<br />

das etwa 300 Kinder besuchen.<br />

Oleksandr Sajtschuk arbeitet<br />

dort als Lehrer für Geschichte der<br />

Ukraine und Gesellschaftskunde.<br />

Ihm zufolge schauen die Menschen<br />

aber heute eher nach Russland. Sie<br />

hoffen, dass dort über das weitere<br />

Schicksal Transnistriens entschieden<br />

wird: „Transnistrien hat Verbindungen<br />

zur Ukraine, aber es gibt<br />

auch Verbindungen nach Russland.<br />

Derzeit orientiert man sich eher nach<br />

Russland hin. Natürlich muss die<br />

Ukraine eine wichtige Rolle spielen<br />

und man sollte dort nicht nur mit der<br />

moldauischen Führung sprechen,<br />

sondern auch mit der Transnistriens.“<br />

Viele der Menschen, die sich auf<br />

dem zentralen Platz von Tiraspol<br />

treffen, verfolgen gespannt die Diskussion<br />

um das Kosovo. Sie sind<br />

überzeugt: wenn das Kosovo unabhängig<br />

würde, dann müsste auch<br />

Transnistrien das Recht auf Souveränität<br />

bekommen. Andere sagen<br />

hingegen, ihnen sei der Status ihrer<br />

Region egal, denn sie hätten andere,<br />

wichtigere Probleme.<br />

50 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Pressespiegel<br />

die tageszeitung<br />

31. Mai 2007<br />

Vom guten Frieden<br />

Von Mykola Rabtschuk<br />

Aus dem Englischen von Heike Holdinghausen<br />

Die Ukraine ist eine chaotische und<br />

unreife Demokratie - aber immerhin<br />

ist sie eine. Die Bevölkerung verfolgt<br />

das Schauspiel der politischen<br />

Klasse mit wachsendem Zynismus<br />

Es war eine Mischung aus einem<br />

armseligen, patriotisch aufgeladenen<br />

Drama und einem Kabarettprogramm.<br />

In den frühen Morgenstunden<br />

des Pfingstsonntags, etwa gegen<br />

drei Uhr, erschienen der Präsident,<br />

der Ministerpräsident und der Parlamentspräsident<br />

der Ukraine vor<br />

Journalisten, die in ihrer Nähe eine<br />

Nachtwache gehalten hatten, und<br />

verkündeten die Beilegung der politischen<br />

Krise. Ihre friedliche Lösung<br />

sieht vorgezogene Neuwahlen<br />

am 30. September vor. Offenbar hatte<br />

die heilige Dreifaltigkeit das ukrainische<br />

Trio erleuchtet und ihm dabei<br />

geholfen, das Land vor einer Katastrophe<br />

zu bewahren, die es selbst<br />

heraufbeschworen hatte.<br />

Es scheint ukrainische Tradition zu<br />

werden, die brisantesten politischen<br />

Themen bis Mitternacht oder, wie es<br />

1996 bei der Annahme der Verfassung<br />

geschah, ins Morgengrauen hinein<br />

zu verhandeln. Seit dem Mittelalter<br />

ist diese Form der Kompromisssuche<br />

- zu streiten, bis es ein Ergebnis<br />

gibt - von den Kardinälen praktiziert<br />

worden, die einen Papst wählen<br />

mussten. So ist dieser Vorgang kaum<br />

neu für Europa. Aber er ist sehr unüblich<br />

für die postsowjetische Welt,<br />

in der Gewehre immer noch ein gewichtigeres<br />

politisches Argument<br />

sind als Wahlen.<br />

Es stimmt, dass die Ukraine bisweilen<br />

an den Rand eines blutigen Konflikts<br />

gerät. Aber die ganze Zeit sitzen<br />

die postsowjetischen Politiker,<br />

so stumpf und egoistisch sie auch<br />

sein mögen, mit ihren Rivalen an<br />

einem Tisch und treffen Abmachungen,<br />

mit denen sie hinterher alle<br />

nicht ganz zufrieden sind. Aber das<br />

ist es ja wohl, was Demokratie ausmacht.<br />

Man mag darüber spekulieren, warum<br />

die ukrainischen Kontrahenten<br />

sich so anders verhalten als ihre postsowjetischen<br />

Brüder anderswo. Die<br />

Ursache mag in der politischen Kultur<br />

in der Ukraine liegen, die sie vor<br />

langer Zeit, in vorsowjetischer, vorrussischer<br />

Zeit ausgeprägt hat, als<br />

das Land Teil des Habsburger Reichs<br />

und der polnisch-litauischen Union<br />

war. Es mag außerdem an einer Eigentümlichkeit<br />

des ukrainischen<br />

Charakters liegen, die sich in dem<br />

Witz ausdrückt, dass „die Russen bis<br />

zum letzten Tropfen Blut kämpfen<br />

und die Ukrainer bis zum ersten<br />

Tropfen“. Doch am ehesten ist der<br />

Unterschied politisch und ökonomisch<br />

zu erklären. Die ukrainischen<br />

Oligarchen, ob sie nun zum „blauen“<br />

Lager des Premierministers Janukowitsch<br />

oder zum „orangenen“ von<br />

Präsident Juschtschenko gehören,<br />

würden zu viel verlieren, wenn die<br />

politische Instabilität die Wirtschaft<br />

behindern würde. Und sie würden<br />

noch mehr verlieren, wenn Gewalt<br />

angewendet würde und sie dafür<br />

leicht vorhersehbare <strong>international</strong>e<br />

Sanktionen ernten würden.<br />

So spielen sie also weiter das kindische<br />

Spiel „wer zwinkert zuerst“.<br />

Und genau so nimmt die Mehrheit<br />

der Ukrainer die internen Machtkämpfe<br />

auch wahr - in deutlichem<br />

Kontrast zu den <strong>international</strong>en Medien,<br />

die dazu neigen, die starken<br />

Worte der Politiker für bare Münze<br />

zu nehmen.<br />

Seit dem 2. April, als Präsident Wiktor<br />

Juschtschenko mit seinem umstrittenen<br />

Erlass das Parlament auflöste<br />

und Neuwahlen anordnete, verfolgten<br />

die Ukrainer den eskalierenden<br />

Konflikt zwischen den beteiligten<br />

Figuren eher mit Vorsicht. Ihr<br />

Interesse machte mehr den Anschein,<br />

als würden sie einer Seifenoper<br />

zuschauen, als dass sie die Ereignisse<br />

mit tiefer persönlicher Anteilnahme<br />

verfolgt hätten, wie das während<br />

der orangenen Revolution der<br />

Fall war.<br />

Was auch immer die Politiker über<br />

eine „Krise“, einen „Putsch“ oder<br />

„Verrat“ sagten - die ukrainische<br />

Wirtschaft wuchs monatlich um ein<br />

Prozent, die Durchschnittsgehälter<br />

haben sich innerhalb einiger Jahre<br />

verdreifacht, und die Massenmedien<br />

sind pluralistisch genug, um die eigentlichen<br />

Absichten der beteiligten<br />

Parteien abzubilden.<br />

Damit enden dann allerdings die guten<br />

Nachrichten aus der Ukraine.<br />

Kommen wir zu den schlechten: Die<br />

Kehrseite der skeptischen Haltung<br />

gegenüber der Politik sind Politikverdrossenheit<br />

und Zynismus. Es<br />

mag heute schwierig, ja beinahe unmöglich<br />

sein, die Bevölkerung für<br />

etwas Schlechtes wie einen Bürgerkrieg<br />

zu mobilisieren. Aber es ist<br />

ebenso schwierig, sie für etwas<br />

Gutes zu gewinnen, wie den Aufbau<br />

der Demokratie. Sie hat eine klare<br />

Entscheidung für einen schlechten<br />

Frieden und gegen einen guten Krieg<br />

getroffen, aber sie hat die Aussicht<br />

auf einen guten Frieden aus dem<br />

Blick verloren.<br />

Guter Friede, das meint in diesem<br />

Fall eine tief greifende Reform der<br />

staatlichen Institutionen, die die Ukraine<br />

von der Sowjetunion geerbt<br />

hat. Sie waren eher Dekoration und<br />

spielten gegenüber der Kommunistischen<br />

Partei eine untergeordnete<br />

Rolle. Die Partei war die wahre<br />

Macht im Staat. Als sie ausfiel, wurde<br />

überdeutlich, dass die überholten<br />

Institutionen nicht funktionierten.<br />

Mitte der 90er-Jahre machte der damalige<br />

Präsident Leonid Kutschma<br />

sie wieder handlungsfähig, doch er<br />

reformierte sie nicht. Er ersetzte lediglich<br />

die Kommunistische Partei<br />

durch andere Machtmechanismen.<br />

Er formte den Erpresserstaat, in dem<br />

er mittels eines ausgeklügelten Systems<br />

regierte: Die Regierung<br />

sammelte „Kompromat“ - kompromittierendes<br />

Material - gegen jedermann,<br />

die Justiz agierte willkürlich<br />

gegen missliebige Subjekte. Die<br />

Führer der orangenen Revolution<br />

setzten dieses System außer Kraft,<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 51


Pressespiegel<br />

aber sie bauten kein neues auf. Wieder<br />

wurde offenbar, dass die Institutionen<br />

aus der Sowjetzeit nicht funktionierten<br />

und die junge ukrainische<br />

Demokratie bedrohten.<br />

Weil weitreichende Reformen ausblieben,<br />

musste die institutionelle<br />

Leerstelle gefüllt werden - und die<br />

neosowjetische, autoritäre Partei der<br />

Regionen, geführt von Wiktor Janukowitsch,<br />

kam nach den Parlamentswahlen<br />

von 2006 wieder an die<br />

Macht. Doch musste sie die Macht<br />

mit einem Präsidenten teilen, der<br />

sich nicht mit Kutschmas Erpresserstaat<br />

gemein gemacht hatte und sich<br />

Janukowitschs Versuchen, die ganze<br />

Macht an sich zu reißen und Kutschmas<br />

Herrschaftssystem wieder zu<br />

errichten, eisern widersetzte.<br />

Die Krise wurde unvermeidlich.<br />

Auf der einen Seite entwickelte die<br />

Ukraine demokratische Strukturen<br />

mit Gewaltenteilung. Auf der anderen<br />

Seite erwies sie sich als äußerst<br />

anfällig ohne effizient funktionierende<br />

Institutionen, die die Gewaltenteilung<br />

klar und unmissverständlich<br />

garantieren könnten.<br />

Demzufolge ist die politische Einigung,<br />

die die Kontrahenten kürzlich<br />

gefunden haben, nur dann von Bedeutung,<br />

wenn sie sich jetzt zu weitreichenden<br />

institutionellen Reformen<br />

durchringen, vor allem der<br />

Justiz. Das demokratische System<br />

muss funktionieren, ungeachtet dessen,<br />

wer an der Macht ist und wer in<br />

der Opposition. Sonst wird die Ukraine<br />

von Krise zu Krise schlittern,<br />

bis die politische Klasse endlich versteht,<br />

dass in diesem Land niemand<br />

je wieder die ganze Macht erringen<br />

wird. Und dass die ständigen Pattsituationen<br />

und Blockaden des politischen<br />

Systems nur zu vermeiden<br />

sind, wenn unumstößliche Regeln<br />

für die Teilung und Kontrolle der<br />

Macht für alle gelten.<br />

Deutsche Welle<br />

21. Juni 2007<br />

UNO streicht Belarus von „Schwarzer Liste“<br />

Von Olga Müller<br />

Belarus gehört künftig nicht mehr<br />

zu den Staaten, die von einem UN-<br />

Sonderbeobachter auf Menschenrechtsverletzungen<br />

hin geprüft werden.<br />

Belarussische Bürgerrechtler<br />

sind skeptisch, hoffen aber auf Bewegung<br />

in Minsk.<br />

Nach zähem Ringen haben sich die<br />

Mitglieder des im vergangenen Jahr<br />

als Ersatz für die 53-köpfige UN-<br />

Menschenrechtskommission neu gegründeten<br />

UN-Menschenrechtsrats<br />

auf Arbeitsrichtlinien geeinigt.<br />

Demnach werden Kuba und Belarus<br />

von der Liste der Staaten gestrichen,<br />

die durch Sonderbeobachter auf<br />

Menschenrechtsverletzungen hin<br />

geprüft werden. Die Mandate der<br />

weiteren zehn Beobachter wurden<br />

aber verlängert. Begründet wurde<br />

die Streichung der beiden Länder mit<br />

dem Ablauf des auf sechs Jahre angelegten<br />

Mandats der dortigen UN-<br />

Sonderbeobachter. Die Regierungen<br />

in Havanna und Minsk hatten ihnen<br />

stets Parteilichkeit vorgeworfen und<br />

eine Zusammenarbeit verweigert.<br />

Experten hatten mit der Streichung<br />

beider Länder gerechnet. Diplomaten<br />

bewerteten dies als annehmbares<br />

Opfer, um zu gewährleisten,<br />

dass der Menschenrechtsrat<br />

künftig auch funktioniert. Zudem<br />

solle eine „regelmäßige umfassende<br />

Untersuchung“ künftig ermöglichen,<br />

sämtliche Staaten - besonders die 47<br />

Ratsmitglieder – auf Menschenrechtsverletzungen<br />

hin prüfen zu<br />

lassen.<br />

Lage in Belarus unverändert<br />

Die Vorsitzende des /Belarussischen<br />

Helsinki-Komitees/, Tatjana Protko,<br />

kritisiert die Streichung ihres Landes<br />

von jener Liste. Im Gespräch mit der<br />

Deutschen Welle sagte sie, die Beamten<br />

im belarussischen Außenministerium<br />

hätten offensichtlich „gute<br />

Arbeit geleistet“. Gleichzeitig stellte<br />

sie klar: „Die Situation im Lande hat<br />

sich nicht verändert. Vieles in Belarus<br />

steht nicht in Einklang mit den<br />

Menschenrechten. Belarus hat den<br />

für die Konventionen zuständigen<br />

Komitees keinen Bericht vorgelegt.<br />

Das heißt, dass es keine reale Veränderung<br />

der Lage gibt.“<br />

Protko bewertet den Beschluss der<br />

UNO als politisch: „Politische Beschlüsse<br />

werden entweder als Strafe<br />

oder als Ermutigung verabschiedet.<br />

Vielleicht haben unsere Beamten sogar<br />

feierlich irgendwelche Versprechen<br />

abgegeben, die Situation in<br />

Belarus zu verbessern und sich für<br />

die Umsetzung der UNO-Programme<br />

im Bereich der Menschenrechte<br />

in Belarus einzusetzen.“ Protko<br />

äußerte in diesem Zusammenhang<br />

die Hoffnung, dass sich in<br />

Belarus die Dinge zum Besseren<br />

wenden werden: „Wir hoffen, dass<br />

die belarussische Staatsmacht ihre<br />

Verpflichtungen innerhalb der UNO<br />

ernst nehmen wird und, nachdem sie<br />

einen solchen Vorschuss bekommen<br />

hat, diesen auch künftig abarbeiten<br />

wird.“<br />

Menschenrechtler geben nicht auf<br />

Die belarussischen Bürgerrechtler<br />

wollen der Vorsitzenden des Belarussischen<br />

Helsinki-Komitees zufolge<br />

ihre Arbeit wie bisher fortsetzen.<br />

Im Gegensatz zu den Politikern unterlägen<br />

sie keiner Konjunktur. „Wir<br />

haben unsere Berichte allen Organen<br />

der UNO vorgelegt“, sagte Protko<br />

und betonte: „Die Mitarbeiter jener<br />

Organe kennen dank unserer Berichte<br />

die Situation in Belarus gut.“<br />

Die belarussische Menschenrechtlerin<br />

kündigte an, das Helsinki-Komitee<br />

werde sich nun mit Berichten<br />

für das UN-Anti-Folter-Komitee und<br />

das für die Rechte von Kindern zuständige<br />

Komitee befassen. In diesen<br />

Bereichen weise der belarussische<br />

Staat Defizite auf. „Wir legen<br />

dort regelmäßig unsere Berichte vor,<br />

im Unterschied zum Staat“, erklärte<br />

Protko und betonte im Zusammenhang<br />

mit dem UNO-Beschluss: „An<br />

unserer Arbeit wird sich nichts ändern,<br />

mit oder ohne Sonderbeobachter.<br />

Wir legen unsere Berichte vor,<br />

damit die <strong>international</strong>en Organisationen<br />

Belarus zwingen, sich im Bereich<br />

der Menschenrechte zu bewegen.<br />

Wie die Organe der UNO dies<br />

machen, ist eine andere Frage.<br />

52 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Pressespiegel<br />

Menschliche Tragödien an der EU-Ostgrenze<br />

Rumänische Abschottung gegenüber der Republik Moldau<br />

Neue Zürcher Zeitung<br />

20. August 2007<br />

Seit Jahresbeginn sind Rumänien<br />

und die Republik Moldau durch<br />

die EU-Aussengrenze getrennt.<br />

Das verschärfte Grenzregime hat<br />

für die örtliche Bevölkerung teilweise<br />

drastische Konsequenzen.<br />

Im zwischenstaatlichen Verkehr<br />

distanziert sich Bukarest von jeglicher<br />

Verbrüderung.<br />

Von unserem Südosteuropa-Korrespondenten<br />

Martin Woker<br />

Iasi, Ende Juni<br />

Sie sind freundlich im Ton, in der<br />

Sache aber hart: Nein, keinen Schritt<br />

weiter. Und fotografieren schon gar<br />

nicht. Die beiden aus dem Nichts<br />

aufgetauchten rumänischen Grenzpolizisten<br />

auf ihrem schnittigen<br />

Strand-Buggy passen nicht ganz ins<br />

Bild der ländlichen Idylle am Flüsschen<br />

Pruth, das Rumänien von der<br />

ehemaligen Sowjetrepublik Moldau<br />

trennt. An diesem äussersten Ostrand<br />

des EU-Territoriums scheint<br />

die Zeit stillzustehen. Über den<br />

durch eine staubige Schotterstrasse<br />

verbundenen Dörfern lastet die Mittagshitze,<br />

gelegentlich klappert ein<br />

Fuhrwerk vorbei. Auszuhalten ist<br />

die Schwüle nur im Schatten oder im<br />

Wasser. Das Flussufer liegt einen<br />

Steinwurf entfernt, und so machen<br />

wir uns zu Fuss dahin auf. Wir gehen<br />

nicht weit, und schon kommen<br />

sie angefahren. «Nein», sagen die<br />

zwei Polizisten, «hier ist Grenzgebiet.<br />

Bis zum Flussufer dürfen Sie<br />

nicht.» Sie überprüfen die Ausweise,<br />

notieren die Autonummer, salutieren<br />

und machen sich mit ihrem Buggy<br />

aus dem Staub. Wie die beiden in<br />

dieser ausgestorbenen Gegend von<br />

unserem kurzem Fussmarsch erfuhren,<br />

bleibt ihr Geheimnis.<br />

.<br />

Kontaktsperre<br />

Was für uns eine harmlose Episode<br />

blieb, ist für Zenaida Ganea eine<br />

echte Tragödie. Die 38-jährige Mutter<br />

von fünf Töchtern lebt seit 1991<br />

in Macaresti, einem von etwa 250<br />

Familien bewohnten Dorf am Westufer<br />

des Pruth. Aufgewachsen ist<br />

sie auf der östlichen Flussseite gleich<br />

gegenüber, ebenfalls in Macaresti.<br />

Doch dieser Teil des Dorfs liegt im<br />

ehemaligen Bessarabien, der heutigen<br />

Republik Moldau, die bis 1991<br />

eine Sowjetrepublik war (siehe Kasten).<br />

Bis vor drei Jahren hatte Frau<br />

Ganea mit ihren Eltern und Geschwistern<br />

regelmässig Kontakt, von<br />

Ufer zu Ufer. Man tauschte über das<br />

Wasser hinweg Botschaften aus. Ein<br />

wenig mühsam war das Hin-undher-Schreien<br />

zwar, doch es bestand<br />

Hoffnung, dass dieser seltsame Zustand<br />

ein Ende haben werde. Diesseits<br />

und jenseits des Pruth leben<br />

dieselben Leute mit derselben Sprache.<br />

Nur ganz winzige Unterschiede<br />

habe er im Dialekt seiner Frau bemerken<br />

können, als er sie erstmals<br />

traf, sagt Zenaidas Ehemann, der im<br />

rumänischen Macaresti aufgewachsen<br />

ist. Er bewirtschaftet mit seiner<br />

Frau eine Hektare Land, die er nach<br />

der Reprivatisierung des Bodens erhalten<br />

hatte. Das reicht knapp zum<br />

Überleben, für mehr nicht.<br />

Seit drei Jahren ist nun auch der Rufkontakt<br />

zwischen West- und Ost-<br />

Macaresti unterbunden, da auf der<br />

rumänischen Seite das Flussufer zur<br />

verbotenen Grenzzone erklärt wurde.<br />

Die Grenzpolizisten überwachen<br />

die Zone sehr genau, niemand darf<br />

ans Wasser, ob Fremder oder Einheimischer.<br />

Für Zenaida Ganea bedeutet<br />

dies faktisch, mit ihrem Vater, ihren<br />

vier Brüdern und ihrer Schwester<br />

kaum mehr Kontakt zu haben,<br />

obwohl sie beinahe in Sichtkontakt<br />

von ihrem Elternhaus wohnt. Bereits<br />

am Begräbnis ihrer Mutter vor sieben<br />

Jahren konnte sie nicht teilnehmen,<br />

da ihr die notwendigen Papier<br />

fehlten, um von West-Macaresti<br />

nach Ost-Macaresti zu fahren. Sie ist<br />

eine jener statistisch nicht erfassten<br />

Moldauerinnen in Rumänien, die es<br />

aus Unwissenheit oder wegen fehlender<br />

Mittel verpassten, eine Aufenthaltsbewilligung<br />

zu holen. Die<br />

Frist dafür ist längst abgelaufen. Um<br />

ihre Situation zu regeln, müsste Frau<br />

Ganea in die moldauische Hauptstadt<br />

Chisinau fahren und dort auf<br />

dem rumänischen Konsulat ein Einreisevisum<br />

plus eine Aufenthaltserlaubnis<br />

zwecks Familienzusammenführung<br />

anfordern. Das aber kann<br />

Wochen oder Monate dauern und ist<br />

teuer. Zenaida aber hat weder Geld<br />

noch Zeit; ihre Töchter brauchen sie.<br />

Vergleich mit der Berliner Mauer<br />

Ein tragisches Einzelschicksal?<br />

Nein. Allein in Macaresti sind drei<br />

andere Moldauerinnen in derselben<br />

Lage. Der Fall ist weiter exemplarisch<br />

für die exponierte Randlage<br />

der Moldau zwischen Ost und West.<br />

1990, im Jahr des grossen Wechsels,<br />

hatte alles noch ganz anders ausgesehen.<br />

An der Grenze zwischen Rumänien<br />

und der Moldau spielten sich<br />

ergreifende Szenen ab, die damalige<br />

Beobachter mit dem Fall der Berliner<br />

Mauer verglichen. Die wenigen<br />

über den Pruth führenden Übergänge<br />

wurden bekränzt und zu Blumen-<br />

Brücken erklärt. Die Bevölkerung<br />

von dies- und jenseits des Flusses<br />

fiel sich in die Arme, Verwandte begegneten<br />

sich nach Jahrzehnten wieder,<br />

Popen von Ost und West segneten<br />

die Menge, und Schulkinder<br />

von hüben und drüben sangen patriotische<br />

Lieder. Da wo keine Brücken<br />

bestanden, wie in Macaresti, streute<br />

die Menge Blumen aufs Wasser. Die<br />

Schwimmer waren mit ein paar Zügen<br />

am anderen Ufer, und Nichtschwimmer<br />

traversierten auf behelfsmässigen<br />

Schwimmreifen. Exakt<br />

auf diese Weise überquerte auch<br />

Zenaida damals den Fluss. Niemand<br />

dachte dabei etwas Böses. Im Gegenteil.<br />

Entlang der 681 Kilometer langen<br />

Grenze zwischen Rumänien und der<br />

Moldau bestehen insgesamt acht<br />

Passagen; fünf Strassenübergänge<br />

und drei für die Eisenbahn. Seit dem<br />

Mauerfall ist kein neuer Übergang<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 53


Pressespiegel<br />

hinzugekommen, und an den bestehenden<br />

wurden die Kontrollen intensiviert.<br />

Zum Beispiel in Albita. Hier<br />

führt eine der beiden Hauptstrassen<br />

zwischen Bukarest und Chisinau<br />

über den Fluss. Die Zöllner und<br />

Grenzer langweilen sich, es gibt<br />

kaum etwas zu tun. Ein paar hundert<br />

Fahrzeuge pro Tag gelte es abzufertigen,<br />

sagt der Postenchef. An diesem<br />

Tag sind es wohl weniger. Der<br />

Verkehr ging in den letzten Jahren<br />

kontinuierlich zurück. Bis 2002 war<br />

ein kleiner Grenzverkehr für die örtliche<br />

Bevölkerung erlaubt, ein Personalausweis<br />

genügte. Seit Jahresbeginn<br />

benötigen die Moldauer zur<br />

Einreise nach Rumänien ein Visum.<br />

An Schmuggelgut konfiszierten die<br />

Grenzer im Verkehr von Ost nach<br />

West bisher vor allem Zigaretten und<br />

gefälschte Marken-Textilien sowie<br />

in der Gegenrichtung gestohlene Autos.<br />

Der Posten wie auch die gesamte<br />

Grenzüberwachung funktionierten<br />

nach den Schengen-Kriterien, sagt<br />

der Chef mit sichtlichem Stolz.<br />

Erfüllen der Schengen-Kriterien<br />

Rumäniens Beitritt zum Schengen-<br />

Raum ist das erklärte Ziel für Dumitru<br />

Scutelnicu, den obersten Verantwortlichen<br />

der Grenzpolizei im<br />

Osten Rumäniens. Dem Beamten<br />

unterstehen 4000 Polizisten, die<br />

während der vergangenen Jahre alle<br />

eine von Spezialisten aus EU-Ländern<br />

mitgestaltete Ausbildung absolviert<br />

haben. Der Polizeichef hält den<br />

Einbezug Rumäniens in den Schengen-Raum<br />

bis zum Jahr 2012 für realistisch.<br />

Die bisherigen Erfahrungen<br />

mit der Grenzsicherung seien<br />

positiv. Das Problem Transnistrien<br />

sei erkannt und mit vermehrten Kontrollen<br />

in der Moldau entschärft worden<br />

(das östlich des Dnjestr auf moldauischem<br />

Territorium gelegene Gebiet<br />

gilt als ein rechtsfreier Raum<br />

und Hort dunkler Geschäfte). Hat<br />

der zuvorkommende Polizeichef<br />

Verständnis für alle jene menschlichen<br />

Härtefälle, welche sich aus<br />

dem verschärften Grenzregime ergeben?<br />

Scutelnicu, der aus der Region<br />

stammt und seine Karriere als<br />

einfacher Grenzpolizist begonnen<br />

hat, zögert mit der Antwort und<br />

spielt den Ball weiter. Wenn die EU<br />

von der Effizienz der rumänischen<br />

Grenzsicherung überzeugt sei, könne<br />

der kleine Grenzverkehr eventuell<br />

wieder zugelassen werden. Er erfülle<br />

lediglich einen Auftrag, das<br />

Ausmass jeglichen Grenzschutzes<br />

sei letztlich immer eine politische<br />

Frage.<br />

In diesem Fall gar eine hochbrisante<br />

Frage, denn davon betroffen ist nicht<br />

nur die Aussengrenze der EU, sondern<br />

auch das vielschichtige Verhältnis<br />

zwischen Rumänien und der Republik<br />

Moldau. Davon ein Lied zu<br />

singen weiss der Bukarester Advokat<br />

Ruslan Deleanu. Er stammt selbst<br />

aus der Moldau und beschäftigt sich<br />

vor allem mit Fällen von Moldauern,<br />

die sich um die rumänische Staatsbürgerschaft<br />

bewerben. Deleanu<br />

verweist auf die gesetzliche Grundlage,<br />

wonach die Einwohner des ehemaligen<br />

Bessarabiens und deren<br />

Nachkommen bis zur zweiten Generation<br />

das Recht auf die rumänische<br />

Staatsbürgerschaft haben. Derzeit<br />

sind seines Wissens rund 800 000<br />

Einbürgerungsgesuche auf dem rumänischen<br />

Konsulat in Chisinau<br />

hängig. Im Zeitraum von Sommer<br />

2002 bis Sommer 2004 wurde kein<br />

einziges dieser Gesuche behandelt,<br />

seither nur sehr wenige. Warum?<br />

Im Jahre 2002, so führt der Anwalt<br />

aus, wurde die Zuständigkeit zur Erteilung<br />

der Staatsbürgerschaft in Bukarest<br />

vom Innenministerium an das<br />

Justizministerium übertragen. Seither<br />

prüft ein Gremium von fünf<br />

<strong>Richter</strong>n zweimal pro Woche für einen<br />

halben Tag jedes einzelne Gesuch.<br />

Deleanu hat keinen Zweifel daran,<br />

dass dieser Kapazitätsengpass<br />

mit der Absicht eingeführt wurde,<br />

die Masseneinbürgerung der Moldauer<br />

zu verhindern. Er erwirkte mit<br />

zahlreichen Schreiben an EU-Vertreter<br />

und an rumänische Amtsstellen<br />

immer dieselbe Reaktion: Verlegenheit.<br />

Von Seiten der EU wurde<br />

ihm von höchster zuständiger Stelle<br />

beschieden, dieses Problem liege<br />

einzig und allein in der Kompetenz<br />

der rumänischen Behörden, und diese<br />

wiederum beriefen sich schliesslich<br />

auf die gesetzliche Vorgabe, wonach<br />

Rumänien die Staatsbürgerschaft<br />

an Moldauer vergeben kann,<br />

aber nicht muss. Diese eher windige<br />

Argumentation kann aber nicht die<br />

Tatsache verbergen, worum es eigentlich<br />

geht: Rumänien soll Europa<br />

vor einer Masseninvasion der bettelarmen<br />

Moldauer bewahren. «Doch<br />

genau das wird Ihnen in Bukarest<br />

niemand offiziell bestätigen», sagt<br />

der Anwalt. Und er hat recht.<br />

Ein einziger Ausweg?<br />

Allerdings sollen fairerweise auch<br />

noch andere Gründe für die eingefrorenen<br />

brüderlichen Bande zwischen<br />

dem EU-Neumitglied Rumänien<br />

und seinem armen östlichen<br />

Nachbarn angeführt werden. So ist<br />

etwa die ungarische Minderheit in<br />

Rumänien alles andere als erpicht<br />

auf eine Masseneinbürgerung von<br />

Moldauern, die den ethnischen Proporz<br />

in Rumänien unweigerlich noch<br />

mehr zu ihren Ungunsten verschieben<br />

würden. Und in der Moldau<br />

selbst ist der von den Doppelbürgern<br />

erwirkte heimliche Anschluss an<br />

Rumänien sehr kontrovers. Abwehrreflexe<br />

gegen eine befürchtete Vereinnahmung<br />

durch den mächtigen<br />

Nachbarn im Westen drückten sich<br />

etwa darin aus, Moldauisch als eigene<br />

Sprache zu definieren. Derzeit leben<br />

laut Deleanus Angaben rund 500<br />

000 Moldauer legal in Rumänien,<br />

die Anzahl Illegaler ist unbekannt.<br />

Einen Ausweg aus der verfahrenen<br />

Situation nennt Valentina Iftime. Sie<br />

ist seit 30 Jahren Lehrerin an der<br />

kleinen Dorfschule von Macaresti<br />

(West). «Die Moldau muss in die<br />

EU», sagt die resolute Frau. «Dafür<br />

sollt ihr Journalisten euch einsetzen.»<br />

Sie lacht und bietet in ihrem<br />

Haus am Küchentisch einen ausgezeichneten<br />

grillierten Zander zum<br />

Verzehr an, den ihr Ehegatte am selben<br />

Morgen gefangen hat. Einen<br />

Zander? Woher? Aus dem Pruth natürlich.<br />

Aus dem Pruth? Wie lässt<br />

sich da fischen, wenn das Betreten<br />

der Ufer verboten ist? Frau Iftimes<br />

Mann winkt ab. Für Sportfischer<br />

gelte eine Ausnahmeregelung, sagt<br />

er und wechselt das Thema.<br />

54 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007


Pressespiegel<br />

OÖ Nachrichten<br />

11. Oktober 2007<br />

Republik Moldau auf der Suche nach Identität und Zukunft<br />

CHISINAU. „Was glauben Sie? Haben<br />

wir eine Chance?“ Wer die<br />

Republik Moldau besucht, bekommt<br />

diese Frage von Einheimischen<br />

häufig gestellt. Meist blähen<br />

sich dann die Wangen auf, die<br />

Schultern tanzen verlegen auf und<br />

ab, der ganze Körper windet sich.<br />

Man will ja nicht unhöflich sein<br />

und sagt deshalb Dinge wie „najaaa“<br />

oder „hmmm“, um Zeit zu<br />

gewinnen. Gleich mit der Wahrheit<br />

rauszurücken, wäre zu hart.<br />

Moldau hat nämlich keine Chance.<br />

Derzeit zumindest.<br />

Wenn man über die holprigen, löchrigen<br />

Asphaltpisten des Landes<br />

hochkonzentriert Schlaglochslalom<br />

fährt, kommt man durch Dörfer, in<br />

denen sich die Menschen an Begriffe<br />

wie Hoffnung, Aufschwung und Perspektive<br />

nicht mehr erinnern können<br />

oder noch nie gehört haben. Moldau<br />

hat den Startschuss verpasst: Vor<br />

mittlerweile 16 Jahren entließ sich<br />

der ethnische Schmelztiegel, in dem<br />

Russen, Moldauer, Rumänen, Ukrainer,<br />

Juden, Gagausen (türkische<br />

Christen), Bulgaren, Zigeuner und<br />

Deutschstämmige Seite an Seite leben,<br />

in die Unabhängigkeit. Und<br />

weiß seither nicht, was er mit ihr anfangen<br />

soll. Wirtschaftlich bewegt<br />

sich null. Wenn doch, dann haben<br />

die Wenigsten etwas davon. Sie sind<br />

übrigens an ihren großen, schwarz<br />

lackierten Autos, mit denen sie durch<br />

die Hauptstadt Chisinau rasen, leicht<br />

zu erkennen. Sie heben sich vom<br />

Rest nur allzu deutlich ab.<br />

Jahrelang nur Durchzugsgebiet<br />

Ein gigantischer Rucksack, der voll<br />

gepackt ist mit ungelösten Problemen<br />

der Vergangenheit, lässt Moldau<br />

einfach nicht von der Stelle kommen.<br />

Nicht erst seit Stalin 1924 die<br />

„Moldauische Autonome Sozialistische<br />

Sowjetrepublik“ (MASSR) an<br />

das alte Fürstentum Bessarabien andockte,<br />

um dort allem Nicht-Russischen<br />

systematisch den Garaus zu<br />

machen, ist das Land auf der Suche<br />

nach seiner Identität. Über Jahrhunderte<br />

galten die weiten Ebenen als<br />

Durchzugsgebiet vielerlei Armeen<br />

und als Heimat einfacher Bauern.<br />

Das permanente Gezerre zwischen<br />

dem zaristischen Russland und der<br />

Sowjetunion auf der einen sowie Rumänien<br />

auf der anderen Seite, die<br />

Bessarabien abwechselnd für sich<br />

beanspruchten und versuchten, der<br />

Bevölkerung ihre jeweiligen Sprachen<br />

und Schriften aufs Auge zu<br />

drücken, trugen maßgeblich zur heutigen<br />

Situation bei.<br />

Misstrauen und Abneigung<br />

Da wäre zum Beispiel der Transnistrien-Konflikt:<br />

Als Bessarabien,<br />

das sich zwischen den beiden Flüssen<br />

bis hinunter ans Schwarze Meer<br />

erstreckte, 1940 von den Sowjets annektiert<br />

wurde, verschmolz die<br />

MASSR, die bis ans östliche Ufer<br />

des Dnjestr reichte, mit dem Kernland<br />

zur Moldauischen Sozialistischen<br />

Sowjetrepublik (MSSR). Als<br />

das Riesenreich 1989 in seine Bestandteile<br />

zerfiel, begann es zu brodeln.<br />

Das russisch dominierte Transnistrien<br />

und das geschrumpfte ehemalige<br />

Bessarabien sollten plötzlich<br />

einen unabhängigen Staat bilden.<br />

Auf der einen Seite slawische<br />

Schwerindustrie, auf der anderen romanophone<br />

Agrikultur. Dazwischen:<br />

Misstrauen und Abneigung.<br />

Mehr noch: Im Sommer 1991 eskalierte<br />

die Situation, bei Schießereien,<br />

die man durchaus als Bürgerkrieg<br />

bezeichnen darf, starben Hunderte<br />

Soldaten, Polizisten und bewaffnete<br />

Arbeiter dies- und jenseits des Dnjestr.<br />

Eine politische Lösung<br />

scheint in weiter Ferne<br />

Nach Ende der Auseinandersetzungen<br />

wurde es ruhig um „Moldawien“,<br />

wie es in Europa gerne genannt<br />

wird. Wirtschaftlich abhängig<br />

von Russland, steuerten die Regierungen<br />

einen nach außen hin prowestlichen<br />

Kurs, ohne jedoch schlagkräftige<br />

Verbündete im Boot zu haben.<br />

Niemand interessierte sich für<br />

die Republik Moldau, schon gar<br />

nicht die Europäische Union. Erst in<br />

den vergangenen zwei Jahren wurde<br />

eine <strong>international</strong>e Mission installiert,<br />

die Zoll und Polizei bei der Bekämpfung<br />

von Schmuggel und Korruption<br />

mit Rat und Tat zur Seite stehen<br />

soll. Die „Schulung“ wird wohl<br />

noch einige Jahre andauern müssen.<br />

Was mit dem „abtrünnigen“ Transnistrien,<br />

dem punkto illegalen Warenumschlags<br />

meist als „schwarzes<br />

Loch“ titulierten Landstreifens in<br />

Form und Größe des Burgenlands,<br />

geschehen soll, bleibt unklar. Eine<br />

politische Lösung scheint in weiter<br />

Ferne.<br />

Trostlosigkeit<br />

so weit das Auge reicht<br />

Selbst unverbesserliche Sozialromantiker<br />

kommen in der Republica<br />

Moldova nicht auf ihre Rechnung.<br />

Denn hier ist nichts sozial und schon<br />

gar nicht romantisch. An jeder der<br />

Ortseinfahrten liegen die Gebeine<br />

der Sowjetunion: Eingestürzte Stallungen<br />

und Lagerhallen der ehemaligen<br />

Kolch- und Sowchosen, verrottete<br />

Fabriken und Wassertürme,<br />

windschiefe Gewächshäuser, in denen<br />

nur noch Unkraut gedeiht. Entlang<br />

der staubigen, nicht asphaltierten<br />

Pfade gibt es keine Geschäfte,<br />

keine Gasthäuser, kein gesellschaftliches<br />

Leben. Baufällige Häuser<br />

werden von ausgemergelten Bauern<br />

bewohnt, die die bleischwere Trostlosigkeit<br />

oft nur mit Alkohol bekämpfen<br />

können. Wer die Kraft hat,<br />

um seinen Acker zu bestellen, der tut<br />

das mit einem Pferd, einem Esel oder<br />

presst den Pflug eigenhändig durch<br />

die Schollen. Die verrosteten Landmaschinen-Riesen<br />

der „goldenen<br />

Ära“ schauen dabei zu.<br />

Zurück bleiben<br />

die Alten und die Kleinen<br />

Die aussichtslose Situation mündete<br />

in einen beispiellosen Exodus:<br />

Von den knapp viereinhalb Millionen<br />

Moldauern suchte rund ein Viertel<br />

das Weite bzw. sein Glück im<br />

Ausland. Das wiederum führt nicht<br />

nur zum sogenannten Braindrain,<br />

<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 55


Pressespiegel<br />

also zur Abwanderung potenzieller<br />

oder ausgebildeter Facharbeiter und<br />

sonstiger Spezialisten, sondern auch<br />

zu organisierter Ausbeutung,<br />

Zwangsprostitution, Menschenhandel.<br />

Zurück bleiben die Alten und<br />

die Kleinsten. Hilflosigkeit hat sich<br />

wie ein mit Äther getränktes Tuch<br />

über das ganze Land gebreitet. Es<br />

hat den Anschein, als seien die Moldauer<br />

immer noch betäubt und paralysiert<br />

vom Untergang der UdSSR.<br />

Man wartet auf Hilfe, die nicht<br />

kommt, und ergibt sich widerstandslos<br />

seinem Schicksal. Eine Vielzahl<br />

an <strong>international</strong>en NGOs haben sich<br />

dauerhaft niedergelassen. Ihr Einsatz<br />

lindert die ärgste Not, kann aber<br />

freilich nicht dem ganzen Staat auf<br />

die Beine helfen.<br />

Selbst die medizinische Versorgung<br />

wird blockiert<br />

Arbeitsplätze, so heißt es, seien verfügbar.<br />

Nicht in Hülle und Fülle,<br />

aber doch. Nur, wer will schon Jobs,<br />

bei denen man dermaßen wenig verdient,<br />

dass es wesentlich lohnender<br />

ist, den eigenen Garten in einen Lebensmittelversorgungsposten<br />

umzufunktionieren?<br />

Dort graben selbst<br />

ehemalige Universitätsprofessoren,<br />

deren Wissen längst nicht mehr gefragt<br />

ist, die fette schwarze Erde um,<br />

die einst das halbe Sowjetreich mit<br />

bestem Obst und Gemüse ernährt<br />

hat. Wer dazu noch das Pech hat<br />

krank zu werden, der hat ein Problem.<br />

Denn der Zugang zu medizinischer<br />

Versorgung ist blockiert von<br />

Medikamentenpreisen und Behandlungskosten,<br />

die sich niemand leisten<br />

kann. Die staatliche Krankenversicherung<br />

ist das Papier nicht<br />

wert, auf der sie gedruckt ist.<br />

Alles könnte besser sein, wenn...<br />

Dabei könnte alles so viel besser<br />

sein. Moldaus landschaftlicher<br />

Reichtum, die lange Winzertradition,<br />

die die größten Weinkeller der<br />

Welt hervorgebracht hat; die fast<br />

schon beschämende Gastfreundlichkeit<br />

der Menschen; eine Küche, deren<br />

deftiger Köstlichkeit sogar Diätfreaks<br />

und Kalorienzähler nicht widerstehen<br />

könnten; sanfte Hügel und<br />

weite Täler, fruchtbare Böden, die<br />

großartiges Gemüse hervorzubringen<br />

vermögen; Nussbaumalleen, die<br />

sich über Dutzende Kilometer erstrecken;<br />

sprachliche und kulturelle<br />

Vielfalt. Auch das ist Moldau. Doch<br />

diese erhaltens- und fördernswerten<br />

Kleinodien versickern im von Korruption,<br />

Misswirtschaft und Konzeptlosigkeit<br />

ausgedörrten Boden.<br />

Kühne Optimisten werden sagen:<br />

Moldau wird seine Chance bekommen.<br />

Die Frage ist nur, wann.<br />

www.nachrichten.at<br />

56 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007

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