amnesty international - Dan Richter
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<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.<br />
Koordinationsgruppe<br />
Weißrussland · Ukraine · Republik Moldau<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong>-Eilaktionen zu Fällen in Weißrussland<br />
Ukraine: Häusliche Gewalt<br />
Republik Moldau: Misshandlungen<br />
in Polizeigewahrsam<br />
Koordinationsgruppen-Rundbrief Nr. 16<br />
Dezember 2007<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 12/ 2005
Wir verwenden die Bezeichnungen<br />
»Weißrussland« oder »Belarus«,<br />
»Republik Moldau«, »Moldawien« oder »Moldova«,<br />
ohne damit eine politische Intention zu verbinden.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.<br />
Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau<br />
Koordinationsgruppe<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong>-Gruppe Nr. 2349<br />
www.ai-2349.de<br />
Sprecherin:<br />
Katja Heydenreich<br />
e-mail katjaheydenreich@gmx.de<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.<br />
Anschrift:<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
Nationales Sekretariat<br />
53108 Bonn<br />
Tel 0228 - 983 73 - 0<br />
Fax 0228 - 63 00 36<br />
e-mail Info@<strong>amnesty</strong>.de<br />
Internet www.<strong>amnesty</strong>.de<br />
Spendenkonto:<br />
Nr. 80 90 100<br />
BLZ 370 205 00<br />
Bank für Sozialwirtschaft Köln<br />
Bitte vermerken:<br />
Für Gruppe 2349<br />
Konto für die Bezahlung des Rundbriefes:<br />
Nr. 10 11 85 70 15<br />
BLZ 350 601 90<br />
Bank für Kirche und Diakonie Duisburg (BKD)<br />
Stichwort:<br />
Rundbrief Gruppe 2349
Koordinationsgruppen-Rundbrief Nr. 16<br />
Dezember 2007<br />
Inhalt<br />
3<br />
5<br />
10<br />
11<br />
13<br />
15<br />
16<br />
17<br />
Einleitung<br />
Belarus<br />
Chronik von menschenrechtlich relevanten Ereignissen<br />
Evangelischer Pastor soll wegen Teilnahme<br />
an einem Gebetstreffen ausgewiesen werden<br />
Aktivisten der Jugendbewegung<br />
sind stärkerer Verfolgung ausgesetzt<br />
10.000 Kraniche für Smizer Daschkewitsch<br />
Neuigkeiten von Smizer Daschkewitsch<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> und das belarussische Helsinki-Komitee<br />
verurteilen eine vollzogene Hinrichtung<br />
Eilaktion: Bevorstehende Hinrichtung<br />
19<br />
21<br />
29<br />
30<br />
31<br />
Ukraine<br />
Eilaktion: Drohende Abschiebung / Folter /<br />
Drohende Todesstrafe<br />
Häusliche Gewalt – Die Opfer werden beschuldigt<br />
Menschenrechtlich relevante Nachrichten<br />
Die Gewalt stoppt nicht vor dem eigenen Haus<br />
Eilaktion: Drohende Abschiebung / Drohende Folter<br />
33<br />
35<br />
43<br />
45<br />
Republik Moldau<br />
Chronik von menschenrechtlich relevanten Ereignissen<br />
Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam<br />
„Es ist einfach normal“<br />
Aktionsidee für Vielbeschäftigte:<br />
Eilaktion: Drohende Folter<br />
48<br />
Pressespiegel<br />
Titelbild: Auf einer Polizeistation in der Republik Moldau<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Zur Schreibweise der Namen<br />
Die weißrussischen Personen- und Ortsnamen tauchen in den Dokumenten<br />
in den verschiedensten Formen auf – entweder in der weißrussischen oder<br />
in der russischen Variante und von dieser entweder ins Englische oder ins<br />
Deutsche transkribiert – leider auch oft falsch.<br />
Deshalb gibt es in vielen Fällen zu ein und derselben Person mehrere<br />
Schreibweisen, die bisweilen erheblich voneinander abweichen.<br />
Im Rundbrief haben wir uns für die deutsche Transkription<br />
der weißrussischen Namen entschieden.<br />
In einigen englischsprachigen Texten und bei den Adressen<br />
bleibt die englische Transkription stehen.<br />
Die folgenden Beispiele sollen das Gesagte illustrieren.<br />
Sie finden hier die deutsche und die englischen Transkription,<br />
die sich jeweils an der Phonetik des Deutschen und<br />
des Englischen orientieren.<br />
Um die Verwirrung komplett zu machen, ist auch noch die<br />
(wissenschaftliche) Transliteration mit aufgeführt.<br />
In einigen Dokumenten im Internet findet man auch<br />
diese Form der Schreibung.<br />
Weißrussisch: Зьмíцер Магíлёў<br />
deutsche Transkription: Smizer Mahiljou<br />
englische Transkription: Zmitser Mahilyou<br />
Transliteration: Z’micer Mahilёŭ<br />
Russisch: Дмитрий Могилев<br />
deutsche Transkription: Dmitri Mogiljow<br />
englische Transkription: Dmitri Mogilyov<br />
Transliteration: Dmitrij Mogilёv
Liebe Freundinnen und Freunde,<br />
liebe Interessierte !<br />
Diesmal veröffentlichen wir im Rundbrief den ai-<br />
Bericht zur häuslichen Gewalt in der Ukraine (im<br />
vorigen Rundbrief hatten wir den entsprechenden<br />
Bericht zu Belarus abgedruckt).<br />
Anhand von konkreten Vorfällen wird dokumentiert,<br />
welchen Vorurteilen und Behinderungen<br />
die meist weiblichen Opfer nach den erlittenen<br />
Misshandlungen ausgesetzt sind. <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
hat eine ausführliche Liste von Empfehlungen<br />
und Maßnahmen erarbeitet, mit denen die<br />
ukrainische Regierung das Vorgehen ihrer Behörden<br />
und die öffentliche Meinung positiv beeinflussen<br />
könnte.<br />
Zum ersten Mal veröffentlicht <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
einen Bericht zur Republik Moldau. Dort ist die<br />
Todesstrafe faktisch abgeschafft worden, was ai gegenüber<br />
der Regierung ausdrücklich gewürdigt hat.<br />
Aber nach wie vor gehen Polizisten gegen Beschuldigte<br />
brutal vor, es gelingt selten, einzelne<br />
Beamte vor Gericht zu bringen, und die Betroffenen<br />
können ihre Rechte nicht geltend machen.<br />
Diesen Vorgängen, bei denen leider oft elementare<br />
Menschenrechte verletzt werden, widmet sich der<br />
Bericht mit ausführlichen Darstellungen der juristischen<br />
Situation und anhand von drei konkreten<br />
Schicksalen. Ihr findet eine Zusammenfassung in<br />
diesem Heft, ergänzt um einen Vorschlag für eine<br />
persönliche Aktion.<br />
Dass das Thema der häuslichen Gewalt in der aktuellen<br />
Arbeit von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> eine so<br />
große Rolle spielt, ist eine Auswirkung des weiter<br />
gefassten Verständnisses unseres Mandats. Dass<br />
wir „erst jetzt“ versuchen, die Weltöffentlichkeit<br />
für diese Menschenrechtsverletzungen im angeblich<br />
„privaten“ Bereich zu aktivieren, lässt sich<br />
auch als Signal verstehen, einem endlich bemerkten<br />
Mangel an Einsatz auf diesem Feld abzuhelfen.<br />
Wir wollen also an einem Menschenrechtsthema<br />
weiterarbeiten, das nur auf den ersten Blick kaum<br />
politische Bedeutung hat. Gerade als große und <strong>international</strong><br />
bekannte Menschenrechtsorganisation<br />
sehen wir dies als unsere Aufgabe an.<br />
Über Anregungen und Ideen würden wir uns<br />
freuen.<br />
Im Anhang findet Ihr einige ausgewählte Zeitungsartikel<br />
zur politischen Situation in den drei Ländern<br />
östlich der EU-Grenze.<br />
Wir bitten, den Druck dieses Rundbriefs mit einer<br />
Spende von 3 Euro zu unterstützen. Vielen <strong>Dan</strong>k.<br />
Mit herzlichen Grüßen<br />
<br />
Die Kogruppe<br />
Die politische Lage in Belarus hat sich nach den<br />
Turbulenzen im Gefolge der Präsidentschaftswahlen<br />
scheinbar beruhigt. Die Situation der Menschenrechte<br />
bleibt kritisch.<br />
Viele der mutigen Aktivisten der Jugendopposition<br />
werden weiterhin belästigt oder eingeschüchtert,<br />
einige verbüßen Gefängnisstrafen. So wird<br />
auch in diesem Rundbrief leider wieder über Smizer<br />
Daschkewitsch berichtet, der (sogar als schon<br />
zu 1½ Haft Verurteilter) in einem Gerichtsverfahren<br />
mit neuen Beschuldigungen konfrontiert wurde.<br />
Die <strong>international</strong>e Aufmerksamkeit für diesen<br />
Fall und die daraus resultierenden Aktivitäten für<br />
Daschkewitsch könnten dafür gesorgt haben, dass<br />
er in diesem Verfahren „nur“ zu einer Geldstrafe<br />
verurteilt wurde.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Adressen von Behörden in Weißrussland:<br />
Präsident der Republik Belarus<br />
Alyaksandr Hryhoravich LUKASHENKA<br />
ul. Karla Marksa, 38 · 220016 g. Minsk · Respublika Belarus<br />
Administratsia Prezidenta Respubliki Belarus<br />
Prezidentu LUKASHENKA A.H.<br />
Fax: +375 (172) 26 06 10 oder +375 (172) 22 38 72<br />
E-mail: pres@president.gov.by<br />
web-site: www.president.gov.by/eng/president/mail.shtml<br />
Vorsitzender des Abgeordnetenhauses von Belarus<br />
Vadim A. POPOV<br />
ul Sovetskaya, 11 · 220010 g. Minsk · Respublika Belarus<br />
Fax: +375 (172) 27 37 84<br />
Innenminister<br />
Vladimir V. NAUMOV<br />
ul. Gorodskoi Val, 19 · 220030 g. Minsk · Respublika Belarus<br />
Fax: +375 (172) 26 12 47<br />
Justizminister<br />
Victor G. GOLOVANOV<br />
ul. Kollektornaya, 10 · 220084 g. Minsk · Respublika Belarus<br />
Tel: + 375 (172) 20 6779<br />
Fax: +375 (172) 20 9755<br />
E-mail: info@minjust.belpak.by<br />
Generalstaatsanwalt<br />
Petr P. MIKLASHEVICH<br />
ul. Internatsionalnaya, 22 · 220050 g. Minsk · Respublika Belarus<br />
Fax: +375 (172) 26 41 66<br />
Außenminister<br />
Sergei N. MARTYNOV<br />
ul. Lenina, 19 · 220030 g. Minsk · Respublika Belarus<br />
Fax: +375 (172) 27 45 21 / 23 99 18<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Koordinationsgruppe<br />
Chronik von menschenrechtlich relevanten Ereignissen in Belarus<br />
Februar – November 2007 · Quellen: »Charter 97« und »Wjasna 96«<br />
4. – 7. Februar<br />
Junge Oppositionelle festgenommen<br />
27 Mitglieder der oppositionellen Jugendorganisation<br />
»Malady Front« (Junge Front) werden am<br />
4. Februar in einer Wohnung in Minsk festgenommen<br />
und 7 Stunden von der Polizei festgehalten.<br />
Zwei der Festgenommenen, Smizer Chwedaruk<br />
und Aleh Korban, werden von der Gruppe getrennt,<br />
ihr Aufenthaltsort bleibt zunächst unbekannt. Wie<br />
sich später herausstellt, werden sie einer Straftat<br />
nach § 193 / 1 des Strafgesetzbuches verdächtigt<br />
(Aktivität in einer nicht registrierten Organisation)<br />
und hierzu befragt. Drei Tage später und nach <strong>international</strong>en<br />
Protesten werden die beiden wieder<br />
freigelassen.<br />
12. Februar<br />
Neun Todesurteile im Jahr 2006<br />
Nach Angaben des Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes<br />
Weißrusslands, Walentin Sukala, wurden<br />
im Jahr 2006 in Weißrussland 9 Personen zum<br />
Tode verurteilt. Im Jahr 2005 waren es nach Angaben<br />
der Nachrichtenagentur Interfax noch 7 Todesurteile.<br />
13. Februar<br />
Entlassung einer Lehrerin aufgehoben<br />
Das Regionalgericht in Minsk bestätigt, dass die<br />
Entlassung einer jungen Lehrerin nicht Rechtens<br />
war und daher rückgängig gemacht werden muss.<br />
Ina Kebikawa war nach ihrer Teilnahme an den<br />
Protesten auf dem Minsker Oktoberplatz nach der<br />
Präsidentschaftswahl 2006 aus dem Schuldienst<br />
entlassen worden.<br />
14. Februar<br />
Woche der Solidarität in Warschau<br />
In Warschau beginnt mit einer Kundgebung vor der<br />
weißrussischen Botschaft eine »Woche der Solidarität<br />
mit politischen Gefangenen in Belarus«.<br />
15. Februar<br />
Kontrolle der Internetcafés<br />
Besitzer von Internetcafes müssen von nun an eine<br />
Liste führen, in der alle Internet-Domains angegeben<br />
sind, die von den Besuchern aufgesucht worden<br />
sind. Auf Verlangen müssen die entsprechenden Listen<br />
an Sicherheitskräfte ausgehändigt werden.<br />
16. Februar<br />
Kerzen der Solidarität<br />
150 Menschen marschieren mit brennenden Kerzen<br />
durch die Minsker Innenstadt, um ihre Solidarität<br />
mit politischen Gefangenen und den Familien der<br />
verschwundenen Oppositionellen zu demonstrieren.<br />
16. Februar<br />
Parteienvereinigung nicht registriert<br />
Das weißrussische Justizministerium verweigert<br />
der »Union Linker Parteien« die Registrierung. Es<br />
begründet dies u.a. damit, dass sich die Union nicht<br />
in Weißrussland gegründet hat. Die Oppositionsparteien<br />
»Belarussische Partei der Kommunisten«,<br />
Belarussische Frauenpartei »Nadseja« und Belarussische<br />
Sozialdemokratische Partei »Hramada« haben<br />
die »Union Linker Parteien« (ULP) im Dezember<br />
2006 in der Ukraine gegründet, nachdem es unmöglich<br />
war, irgendwo in Belarus eine geeignete<br />
Versammlungshalle zu finden.<br />
20. Februar<br />
Pawal Sewjarynez nicht vorzeitig freigelassen<br />
Pawal Sewjarynez, einem inhaftierten Führer der<br />
oppositionellen »Malady Front« (Junge Front), wird<br />
eine vorzeitige Freilassung verweigert. Begründet<br />
wird dies seitens der Haftprüfungskommission damit,<br />
dass er sich weiterhin als unschuldig betrachtet.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> betrachtet Pawal Sewjarynez<br />
als gewaltlosen politischen Gefangenen und<br />
fordert seine sofortige und bedingungslose Freilassung.<br />
23. Februar<br />
Dsjanis Dsjanisau ohne Kontakt<br />
Der junge Aktivist der »Malady Front« und Teilnehmer<br />
der Zeltcamps in Minsk, Dsjanis Dsjanisau,<br />
soll am 23. Februar in ein Gefängnis in Minsk<br />
und anschließend nach Witebsk verlegt worden<br />
sein. Anwälte hatten bis zu diesem Tag noch keinen<br />
Zugang zu ihm und auch seine Mutter versteht die<br />
erneute Festnahme nicht, da ein Verfahren gegen<br />
ihn wegen der „Organisation einer Jugendgruppenaktion<br />
und des Verstoßes gegen die öffentliche<br />
Ordnung“ bereits seit einem halben Jahr läuft.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Belarus: Chronik von menschenrechtlich relevanten Ereignissen · Januar – November 2007<br />
1. März<br />
Deutscher Botschafter besucht Statkewitsch<br />
Martin Hecker, deutscher Botschafter in Minsk,<br />
besucht Mikalai Statkewitsch, den inhaftierten<br />
Vorsitzenden der oppositionellen Belarussischen<br />
Sozialdemokratischen Partei »Narodnaya Hramada«,<br />
in einer Strafkolonie. Hecker versicherte Statkewitsch,<br />
dass Deutschland die Situation der weißrussischen<br />
politischen Gefangenen genau verfolge<br />
und beharrlich ihre Freilassung fordere. <strong>amnesty</strong><br />
<strong>international</strong> betrachtet Mikalai Statkewitsch als<br />
gewaltlosen politischen Gefangenen und fordert<br />
seine sofortige und bedingungslose Freilassung.<br />
2. März<br />
Brief der Witwen der Verschwundenen<br />
Die Witwen der verschwundenen belarussischen<br />
Oppositionellen haben sich in einem Brief an das<br />
UNO Generalsekretariat gewandt, in dem sie darum<br />
bitten, den belarussischen Innenminister<br />
Uladsimir Nawumau nicht an einer <strong>international</strong>en<br />
Konferenz in New York teilnehmen zu lassen. Der<br />
Brief wurde auch von mehreren Angehörigen oppositioneller<br />
Parteien in Belarus unterzeichnet. Nawumau<br />
steht im Verdacht, an der Entführung und<br />
Ermordung oppositioneller Politiker beteiligt gewesen<br />
zu sein.<br />
16. März<br />
Tag der Solidarität<br />
Am 16. März finden am Tag der Solidarität in ganz<br />
Belarus zahlreiche Veranstaltungen und Kundgebungen<br />
statt. Es werden Kerzen entzündet und Portraits<br />
der Verschwundenen werden ausgestellt.<br />
16. März<br />
Schließung des Büros einer Organisation<br />
In Minsk wird ein Büro der Organisation »Weltweite<br />
Vereinigung der Belarussen« – Bazkauschtschyna<br />
durchsucht und mehrere Bücher und Unterlagen<br />
beschlagnahmt.<br />
20. März<br />
Verhaftungen bei Demonstration<br />
Bei einer Demonstration junger Aktivisten in<br />
Minsk gegen die Dominanz der russischen Sprache<br />
in Belarus werden mehrere Jugendliche verhaftet<br />
und Flugblätter konfisziert.<br />
26. März<br />
Websites blockiert<br />
Wie der unabhängige weißrussische Journalistenverband<br />
berichtet, wurden mehrere weißrussische<br />
Webseiten am 25. März blockiert. Praktisch alle<br />
unabhängigen Webseiten, wie »Radio Swaboda«,<br />
»Charter 97«, die Webseite der »Vereinten Bürgerpartei«,<br />
»Salidarnasz« und »Nascha Niwa«, waren<br />
in Belarus nicht erreichbar. Aljaksandr Starykewitsch,<br />
Chefredakteur der Internetzeitung »Salidarnasz«<br />
geht von „einer geplanten Aktion spezieller<br />
Kräfte“ aus. Berichte über den »Tag der Freiheit«<br />
wurden daher über »livejournal.com« und Internetforen<br />
veröffentlicht.<br />
26. März<br />
Waleryj Schtschukin vor Gericht<br />
Der Menschenrechtsaktivist und Journalist Waleryj<br />
Schtschukin wird in Witebsk wegen der angeblichen<br />
Beleidigung von Mitgliedern der Wahlkommission<br />
angeklagt. Im Falle einer Verurteilung drohen<br />
ihm bis zu 2 Jahre Gefängnis. Nach den Lokalwahlen<br />
vom Januar 2007 hatte Schtschukin Flugblätter<br />
verteilt, in denen er darüber informierte,<br />
dass Mitglieder der Wahlkommission an der Fälschung<br />
der Wahlergebnisse beteiligt waren.<br />
3. – 5. April<br />
Andrej Klimau verhaftet<br />
Der Oppositionspolitiker Andrej Klimau wird am<br />
3. April verhaftet und beschuldigt, zum „Umsturz<br />
der staatlichen Ordnung“ aufgerufen zu haben.<br />
Klimau wurde aus politischen Gründen mehrfach<br />
inhaftiert und verbrachte insgesamt bereits fünfeinhalb<br />
Jahre im Gefängnis. Nach Verbüßung seiner<br />
letzten Haftstrafe von eineinhalb Jahren wurde<br />
er im Dezember 2006 freigelassen. <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
hatte Andrej Klimau als gewaltlosen politischen<br />
Gefangenen betrachtet und stets seine Freilassung<br />
gefordert. Klimau lehnt es ab, mit den Vertretern<br />
der Anklage gegen ihn zu kooperieren.<br />
Über seine Haftbedingungen ist bisher nichts bekannt.<br />
26. April<br />
»Tschernobyl-Marsch« in Minsk<br />
Am »Tschernobyl-Marsch« in Minsk nehmen nach<br />
Angaben der Organisatoren mehr als 10.000 Menschen<br />
teil. Vor der Tschernobylkirche werden Kerzen<br />
entzündet und es wird eine Schweigeminute abgehalten.<br />
Immer wieder kommt es zu Behinderungen durch<br />
die Polizei. Die Sicherheit der Demonstranten wird<br />
gefährdet, als sie auf einem Baustellenabschnitt<br />
durch Polizisten an den Rand gedrängt werden.<br />
Nach der Kundgebung kommt es auf dem Bangalor-<br />
Platz zu Prügeleien und Verhaftungen durch Spezialeinheiten<br />
der Polizei. Die Organisatoren haben<br />
dagegen offiziell Beschwerde eingereicht. Über 20<br />
Teilnehmer der Demonstration werden kurzzeitig<br />
festgenommen.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Belarus: Chronik von menschenrechtlich relevanten Ereignissen · Januar – November 2007<br />
22. Mai<br />
Statkewitsch und Sewjarynez frei<br />
Mikalaj Statkewitsch und Pawal Sewjarynez sind<br />
frei. Sewjarynez wurde wegen „guter Führung“ und<br />
Statkewitsch „für die Nicht-Verletzung der Disziplin<br />
im Zeitraum von 22 Monaten“ freigelassen. In<br />
einem Interview mit »Charter 97« gaben die beiden<br />
Politiker jedoch an, dass ihre Freilassung in Zusammenhang<br />
mit den westlichen Sanktionen, vor<br />
allem mit der Aussetzung der EU-Zollpräferenzen<br />
aufgrund von Menschenrechtsverletzungen, stehe.<br />
4. Juni<br />
Laut einer Studie des Internationalen Zentrums für<br />
Gefängnisforschung der Universität London zählt<br />
Belarus zu den Ländern mit den höchsten Gefangenenzahlen<br />
bezogen auf die Einwohnerzahl. In Belarus<br />
sitzen pro 100.000 Bürger 426 im Gefängnis.<br />
Die Gefängnisse sind überfüllt, die Hygienestandards<br />
extrem niedrig und die Sicherheit der Gefangenen<br />
vor körperlichen und sexuellen Übergriffen<br />
ist nicht gewährleistet.<br />
25. Juni<br />
Die Organisation »Freedom House« hat ihren regelmäßigen<br />
Bericht zur Pressefreiheit in 195 Ländern<br />
veröffentlicht. <strong>Dan</strong>ach gehört Belarus zu den<br />
10 Ländern, die die Pressefreiheit am stärksten einschränken.<br />
Besonders hervorgehoben wird, dass<br />
die belarussische Regierung sowohl den Willen als<br />
auch die Mittel für eine starke Internetzensur hat,<br />
die über das simple Filtern und Blockieren von Daten<br />
weit hinausgeht.<br />
16. August<br />
Verhaftungen an der ukrainischen Grenze<br />
Am belarussisch-ukrainischen Grenzübergang<br />
werden Aktivisten verhaftet, darunter auch Wital<br />
Stasharau und Aljaksandr Serhijenka, Mitglieder<br />
der Vereinigten Bürgerpartei. Sie hatten den Wartenden<br />
den Dokumentarfilm Ploscha (Der Platz)<br />
gezeigt, Flyer verteilt und dazu aufgerufen, politischen<br />
Gefangenen Grußkarten zu schreiben.<br />
19. August<br />
Verhaftungen bei Buchpremiere<br />
Bei der Vorstellung seines Buches Seiten des<br />
Schicksals werden Pawal Sewjarynez und rund 30<br />
Zuhörer verhaftet. Die Polizei stürmt die Veranstaltung<br />
und zwingt alle Anwesenden zu Boden.<br />
Einen Tag später wird Sewjarynez wegen Teilnahme<br />
an einer unerlaubten Versammlung angeklagt<br />
und erst zwei Tage darauf zu 10 Tagen Haft verurteilt,<br />
weil er gegen Versammlungsverordnungen<br />
verstoßen habe.<br />
Bis zu seiner Verurteilung wird Sewjarynez für<br />
einen Tag in Untersuchungshaft gehalten.<br />
22. August<br />
Polizei stürmt Aufführung<br />
In Minsk stürmen Polizisten eine Theatervorstellung<br />
des »Swabodny Teatr« (Freies Theater) und<br />
verhaften den französischen Regisseur Christian<br />
Benedetti, seinen Assistenten Nino Reno, zwei<br />
Lehrer einer niederländischen Schauspielschule,<br />
den Manager eines französischen Studiotheaters,<br />
sämtliche Zuschauer und Schauspieler. Der Grund<br />
für die Verhaftung ist unklar, denn es wurde kein<br />
politisches oder kritisches Stück aufgeführt.<br />
Theaterdirektor Mikalaj Kalesin vermutet, dass der<br />
belarussische Staat in ein schlechteres Licht gerate,<br />
wenn kreative Belarussen durch <strong>international</strong> gefeierte<br />
Künstler Anerkennung erfahren und wenn<br />
Kunst nicht in den Händen des Staates ist. Die Gefangenen<br />
werden am Tag darauf kommentarlos und<br />
ohne Entschuldigung entlassen.<br />
27. August<br />
Erklärung von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
Die Menschenrechtsorganisation <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
zeigt sich besorgt über die Verfolgung jugendlicher<br />
Oppositioneller in Weißrussland. In den<br />
letzten sechs Wochen seien über ein Dutzend jugendlicher<br />
Aktivisten verhaftet worden. Die Organisation<br />
sieht darin eine gravierende Einschränkung<br />
des Rechts auf Versammlung-, Vereinigungsund<br />
Meinungsfreiheit.<br />
6. September<br />
Frauenpartei aufgelöst<br />
Das weißrussische Justizministerium leitet die<br />
Auflösung der Frauenpartei »Nadseja« ein. Das<br />
Verfahren wird vor dem Obersten Gerichthof verhandelt<br />
werden. Die Leiterin der Partei Alena<br />
Jaskowa sieht keine Gründe für eine Auflösung.<br />
Ein erstes Treffen beider Seiten soll am 12. September<br />
stattfinden.<br />
7. September<br />
Klimau zu 2 Jahren Haft verurteilt<br />
Wie jetzt bekannt geworden ist (laut Informationen<br />
des Journalisten Aleg Gruzdilovich) wurde Andrej<br />
Klimau, ein führender weißrussischer Oppositioneller,<br />
in einem nicht-öffentlichen Prozess Anfang<br />
August zu einer Haftstrafe von zwei Jahren verurteilt.<br />
Er war im April festgenommen worden, nachdem<br />
er regierungskritische Artikel im Internet publiziert<br />
hatte. Ihm wurde vorgeworfen, durch Einsatz<br />
von Massenmedien die verfassungsmäßige<br />
Ordnung des Landes verändern zu wollen. Andrej<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Belarus: Chronik von menschenrechtlich relevanten Ereignissen · Januar – November 2007<br />
Klimau wird von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> als gewaltloser<br />
politischer Gefangener betrachtet.<br />
10. September<br />
Verhaftungen bei Gedenkveranstaltung<br />
Am 8. und 9. September werden in Orscha, Mohiljau<br />
und auf dem »Krawipenskaja-Feld« ungefähr<br />
100 oppositionelle Aktivisten verhaftet. Sie hatten<br />
sich anlässlich des »Tages des Ruhms des Weißrussischen<br />
Militärs« zu Gedenkveranstaltungen versammelt.<br />
Einer der Festgenommenen, Dsjanis<br />
Sadouski, Mitglied des Organisationskomitees für<br />
die Gründung der Weißrussischen Christlichdemokratischen<br />
Partei, wird am 10. September wegen<br />
„geringfügigen Rowdytums“ zu 5 Tagen Gefängnis<br />
verurteilt. Der Künstler Ales Puschkin und der Oppositionsaktivist<br />
Aljaksej Januscheuski sind seit<br />
dem 9. September inhaftiert.<br />
15. September<br />
Trauriges Jubiläum für Daschkewitsch<br />
Smizer Daschkewitsch, Führer der oppositionellen<br />
Jugendorganisation »Malady Front« (Junge Front),<br />
befindet sich seit einem Jahr im Gefängnis. Er wurde<br />
wegen „Aktivitäten in einer nicht registrierten<br />
Organisation“ zu einer Haftstrafe von 18 Monaten<br />
verurteilt. <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> betrachtet ihn als<br />
gewaltlosen politischen Gefangenen und fordert<br />
seine sofortige und bedingungslose Freilassung.<br />
19. September<br />
Botschafter treffen Frauen von Oppositionellen<br />
In Minsk treffen die Botschafter der EU-Staaten<br />
Wolha Kasulina, die Tochter von Aljaksandr Kasulin,<br />
und Tazjana Leanowitsch-Klimawa, die Ehefrau<br />
von Andrej Klimau, um Informationen über<br />
die aktuelle Situation der beiden politischen Gefangenen<br />
zu erfahren. Die Botschafter äußern sich besorgt<br />
über aktuelle Fälle von Festnahmen belarussischer<br />
Bürger aufgrund politischer Aktivitäten<br />
und unterstreichen, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten<br />
weiterhin gegen solche Schikanierungen<br />
belarussischer Bürger protestieren werden<br />
und fordern die Freilassung all dieser Gefangenen.<br />
22. September<br />
Rockfans verhaftet<br />
Freitag Nacht werden zwei Busse mit ca. 100 Menschen,<br />
die am Rockfestival »Das Recht, frei zu<br />
sein« in der ukrainischen Stadt Luzk teilnehmen<br />
wollen, von der weißrussischen Polizei gestoppt.<br />
Bereits vor der Abfahrt der Busse in Minsk sprachen<br />
uniformierte und zivil gekleidete Polizisten<br />
die Passagiere auf einem Parkplatz in der Nähe der<br />
Akademie der Wissenschaften an und filmten ihre<br />
Gesichter auf Video. Nachdem es den Bussen gelang,<br />
aus Minsk in Richtung der ukrainischen<br />
Grenze abzufahren, wurden sie später von der Polizei<br />
gestoppt. Alle Businsassen wurden festgenommen<br />
und zu lokalen Polizeirevieren gebracht, wo<br />
ihre Ausweise kopiert wurden. Anschließend mussten<br />
die Busse mit allen Insassen unter Polizeibegleitung<br />
zurück nach Minsk fahren.<br />
2. Oktober<br />
Ljabedska drangsaliert<br />
Den Vorsitzenden der »Belarussischen Sozialdemokraten«<br />
(Hramada), der Kommunisten und der Vereinten<br />
Bürgerpartei wird der Zugang zum Regierungsgebäude<br />
erschwert. Männern in Zivil behaupten,<br />
dass das gesicherte Gebäude nicht betretbar<br />
sei. Anatol Ljabedska wird geschlagen, Den drei<br />
Parteivorsitzenden gelingt es schließlich, das Gebäude<br />
zu betreten und dem Abgeordnetenhaus<br />
40.000 gesammelte Unterschriften gegen die Streichung<br />
von Vollmachten der Parteien zu übergeben.<br />
4. Oktober<br />
Jugendliche zu Haftstrafen verurteilt<br />
In Minsk werden die beiden in der Bewegung »Für<br />
Freiheit« engagierten Ihar Balykin und Ihar<br />
Zischko festgenommen und zu fünf Tagen Haft<br />
verurteilt. Die beiden Jugendlichen sollen so für<br />
das Aufkleben von Stickern bestraft werden, auf<br />
denen für den Europäischen Marsch geworben<br />
wird.<br />
5. Oktober<br />
Zeitung geschlossen<br />
Eine weitere nicht-staatliche Zeitung, »Mjaszowy<br />
Schljach« aus Pinsk, wird geschlossen. Gründe dafür<br />
sind ihre finanzielle Lage und der Umstand,<br />
dass das städtische Druckhaus die Zeitung nicht<br />
drucken möchte und auch der lokale Zeitungsvertrieb<br />
die Aufnahme in die Verteilung verweigert.<br />
7. Oktober<br />
Antifaschistische Versammlung aufgelöst<br />
In Minsk versammeln sich ca. 50 junge Menschen<br />
vor der russischen Botschaft zu einer antifaschistischen<br />
Protestaktion. Sie halten dabei Fotos von 4<br />
Menschen, die in Russland von Neonazis ermordet<br />
wurden, in den Händen. Die Versammlung wird<br />
nach 5 Minuten von der Polizei aufgelöst. Dabei<br />
werden vier Demonstranten verhaftet: Pawal<br />
Krynewitsch, Wadsim Luhin, Shenja Schymanski<br />
und ein Mädchen namens Lera. Die Gerichtsverhandlung<br />
gegen die Inhaftierten soll am 8. Oktober<br />
stattfinden.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Belarus: Chronik von menschenrechtlich relevanten Ereignissen · Januar – November 2007<br />
8. Oktober<br />
Revision abgelehnt<br />
Der Oberste Gerichtshof bestätigt die Entscheidung<br />
des Justizministeriums, der oppositionellen Jugendorganisation<br />
»Malady Front« (Junge Front) die<br />
Registrierung zu verweigern. In der Begründung<br />
heißt es unter anderem, die Gründer der Organisation<br />
hätten gegen geltendes Recht verstoßen.<br />
9. Oktober<br />
Antifa-Aktivisten verurteilt<br />
Pawal Krynewitsch, Wadsim Luhin, Shenja Schymanski<br />
und ein Mädchen namens Lera, die am 7.<br />
Oktober an einer Demonstration gegen Faschismus<br />
teilnahmen, werden vom zentralen Bezirksgericht<br />
Minsk zu jeweils drei Tagen Haft verurteilt.<br />
11. Oktober<br />
Sassim und Juchnewitsch verhaftet<br />
Die jungen Aktivisten Mikita Sassim und Pawal<br />
Juchnewitsch werden im Minsker Stadtteil Sucharewo<br />
verhaftet. Als Begründung heißt es, sie würden<br />
verdächtigt, eine Straftat begangen zu haben.<br />
Um welche Straftat es sich handelt, wollen die beteiligten<br />
Polizisten nicht sagen. Einen Tag später<br />
werden die beiden Aktivisten zu jeweils fünf Tagen<br />
Haft aufgrund der angeblichen Benutzung obszöner<br />
Sprache in der Öffentlichkeit verurteilt. Die Zahl<br />
der Inhaftierten beläuft sich mittlerweile auf 50.<br />
12. Oktober<br />
Störungen im Internet<br />
Im Vorfeld des »Europäischen Marsches« kommt<br />
es, ähnlich wie im Vorfeld der Wahlen im Jahr<br />
2006, im belarussischen Internet zu einigen Störungen,<br />
von denen hauptsächlich verschiedene unabhängige<br />
Informationsseiten betroffen sind. Offensichtlich<br />
möchten die Behörden auf diese Weise<br />
den Informationsaustausch im Vorfeld des<br />
Marsches erschweren.<br />
14. Oktober<br />
»Europäischer Marsch« in Minsk<br />
In Minsk nehmen ca. 7000 Menschen am »Europäischen<br />
Marsch« der weißrussischen Opposition teil.<br />
Dem Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments,<br />
Janusz Onyszkiewicz, der an der Demonstration<br />
teilnehmen wollte, wurde zuvor die Einreise<br />
nach Belarus verweigert. Die ursprünglich auf dem<br />
zentralen Oktoberplatz geplante Kundgebung durfte<br />
dort nicht stattfinden. Stattdessen wurde eine<br />
Demonstration von der Akademie der Wissenschaften<br />
zum abseits des Zentrums gelegenen Bangalor-Platz<br />
(Park der Freundschaft) genehmigt.<br />
Dennoch versammeln sich gegen 14 Uhr mehrere<br />
tausend Menschen auf dem Oktoberplatz und machen<br />
sich von dort aus, angeführt von Oppositionsführer<br />
Aljaksandr Milinkewitsch, auf den Weg zur<br />
Akademie der Wissenschaften. Nach einigen<br />
kurzen Statements von Politikern an der Akademie<br />
der Wissenschaften wird der Demonstrationszug<br />
zum Bangalor-Platz fortgesetzt. Auf dem Weg dorthin<br />
beschlagnahmt die Polizei die Lautsprecher-<br />
Anlage der Kundgebungsleitung.<br />
Eine der unabhängigen Webseiten, die tagesaktuell<br />
auch in englisch berichtet, »Charter 97« – www.<br />
charter97.org – ist Angriffen und Blockaden ausgesetzt<br />
und daher zeitweise nicht zu erreichen.<br />
8. November<br />
EU-Botschafter fordern Freilassung<br />
Die Botschafter der EU-Staaten in Belarus fordern<br />
die Regierung auf, alle politischen Gefangenen umgehend<br />
freizulassen. Nach einem Treffen mit dem<br />
Oppositionspolitiker Aljaksandr Milinkewitsch<br />
zeigt man sich besonders besorgt über die Lage von<br />
Smizer Daschkewitsch und Andrej Klimau. Einer<br />
Presseerklärung der slowakischen Botschaft zufolge,<br />
die die EU in Belarus vertritt, gab es in jüngster<br />
Vergangenheit zwar Fortschritte in dieser Hinsicht,<br />
nichtsdestotrotz ist ein Ende der Repressionen gegen<br />
die Zivilgesellschaft unerlässlich, um die Kooperation<br />
mit der EU zu verbessern.<br />
Weitere Informationen und eine ständig<br />
aktualisierte Chronik finden Sie bei<br />
www.belarus-actions.org<br />
Eine Auswahl an Links für Nachrichten<br />
zu Weißrussland:<br />
Menschenrechtsorganisation »Charter 97«<br />
www.charter97.org<br />
Menschenrechtsorganisation »Wjasna 96«<br />
www.spring96.org<br />
Internetzeitung zu Belarus »Belarusnews«<br />
(deutsch)<br />
www.belarusnews.de<br />
Internationale Liga für Menschenrechte<br />
www.ilhr.org/ilhr/regional/belarus/<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Belarus: Öffentliche Stellungnahmen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Internationales Sekretariat<br />
Belarus: Evangelischer Pastor soll wegen Teilnahme<br />
an einem Gebetstreffen ausgewiesen werden<br />
AI-News Service No: 104 · AI Index: EUR 49/006/2007<br />
7. Juni 2007<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> hat heute an den belarussischen<br />
Innenminister und an den Generalstaatsanwalt<br />
geschrieben und gegen die geplante Ausweisung<br />
von Jaroslaw Lukasik protestiert.<br />
Jaroslaw Lukasik ist Pastor und Mitglied der<br />
»Union der Christen evangelischen Glaubens«. Er<br />
wurde am 30. Mai 2007 wegen seines Engagements<br />
„bei illegalen religiösen Aktivitäten“ bestraft, es<br />
wurde ihm ein Ausweisungs-Befehl ausgehändigt,<br />
demzufolge er innerhalb von acht Tagen das Land<br />
zu verlassen hat. Diese Frist läuft heute aus.<br />
Ebenso wurde er zu einer Geldstrafe in Höhe<br />
eines Monatslohnes verurteilt.<br />
Jaroslaw Lukasik ist polnischer Staatsbürger<br />
und lebte seit 1999 in Belarus. Seine Frau und drei<br />
Kinder sind belarussische Staatsbürger.<br />
Jaroslaw Lukasik wurde am 27. Mai verhaftet, als<br />
Polizisten einen Gottesdienst stürmten, der in der<br />
Wohnung von Pastor Antoni Bokun von der St. Johannes<br />
Kirche der Pfingstkirche stattfand. Am selben<br />
Tag wurde er nach dem Besuch des polnischen<br />
Konsuls freigelassen. Er wurde nach § 23 (43) des<br />
Verwaltungsgesetzbuchs angeklagt, ein nicht genehmigtes<br />
Treffen abgehalten zu haben.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> hat ebenso Berichte darüber<br />
erhalten, dass die belarussischen Behörden am<br />
8. Mai Lukasiks Aufenthaltsgenehmigung widerrufen<br />
haben. Er wurde beschuldigt, „Aktivitäten“ organisiert<br />
zu haben, „die darauf gerichtet sind, im<br />
Bereich der inter-religiösen Beziehungen die Sicherheit<br />
der Republik Belarus zu gefährden“.<br />
Der Entzug der Aufenthaltserlaubnis durch die Polizei<br />
erfolgte aufgrund eines Berichtes des Sicherheitsdienstes<br />
KGB, dass er „illegale religiöse Aktivitäten<br />
betrieb, dass er an Aktivitäten von radikalen<br />
abseitigen und politisierten Gruppen teilnahm<br />
und dass er an einem anderen als dem genehmigten<br />
Ort wohne.“<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> ist besorgt, dass Jaroslaw<br />
Lukasik der Vorwürfe für schuldig befunden wird,<br />
die sich jedoch lediglich darauf gründen, dass er<br />
friedlich seine Rechte auf Gedanken-, Glaubensund<br />
Religionsfreiheit ausübte, sowie die Rechte auf<br />
Meinungs- und Versammlungsfreiheit.<br />
Die Organisation befürchtet ebenfalls, dass das<br />
Verfahren der Ausweisung nicht im Einklang mit<br />
den <strong>international</strong>en Menschenrechts-Standards<br />
steht.<br />
In dem Brief ruft <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> die Regierung<br />
von Belarus auf, den Ausweisungs-Befehl gegen<br />
Jaroslaw Lukasik zurückzunehmen und seine<br />
Rechte zu respektieren, indem man ihm die Fortsetzung<br />
seines religiösen Dienstes und das Zusammenleben<br />
mit seiner Familie erlaubt.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> hat die belarussische Regierung<br />
auch an ihre Verpflichtungen nach dem Internationalen<br />
Pakt über bürgerliche und politische<br />
Rechte (ICCPR) erinnert, insbesondere an die Artikel<br />
18, 19, 20 und 21, die die Rechte von jedermann<br />
auf Gedanken-, Glaubens- und Religionsfreiheit,<br />
sowie die Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit<br />
garantieren.<br />
Hintergrund<br />
Die Ausweisung von Jaroslaw Lukasik ist als Bestandteil<br />
einer allgemeinen Kampagne gegen religiöse<br />
Gemeinschaften anzusehen. Nach dem restriktiven<br />
Religionsgesetz von 2002 haben nur landesweit<br />
registrierte Religionsgemeinschaften das<br />
Recht, Klöster, missionarische oder Bildungsinstitutionen<br />
einzurichten, ebenso das Recht Personen<br />
aus dem Ausland einzuladen, die in Belarus predigen<br />
oder andere religiöse Aktivitäten durchführen.<br />
2005 konstatierte das UN-Menschenrechtskomitee,<br />
dass Belarus die Garantien für die Religionsfreiheit<br />
nach Artikel 18 des ICCPR verletzt, weil einer landesweiten<br />
Hare-Krishna-Vereinigung ein legaler<br />
Status verweigert wurde.<br />
Die belarussische Regierung wies diese Kritik zurück,<br />
ihre Weigerung stünde im Einklang mit den<br />
belarussischen Gesetzen.<br />
Eine staatliche Erlaubnis ist notwendig, um Gottesdienste<br />
in nicht kirchlichen Gebäuden zu feiern,<br />
und so sehen sich Gemeinden wachsenden Schwierigkeiten<br />
gegenüber Räume zu mieten. Dies betrifft<br />
insbesondere religiöse Gruppen wie die Protestanten,<br />
die in Belarus noch nie Gebäude in Besitz hatten.<br />
Zunehmend kündigen Immobilienbesitzer die<br />
10 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Belarus: Chronik von menschenrechtlich relevanten Ereignissen · Januar – November 2007<br />
Mietverträge mit den Protestanten, wenn die Behörden<br />
davon erfahren.<br />
Im Oktober 2006 traten Mitglieder der in Minsk<br />
beheimateten »New Life Church« in einen Hungerstreik,<br />
um ihr Recht auf die Abhaltung von Gottesdiensten<br />
in ihrem eigenen Gebäude auf dem eigenem<br />
Grundstück zu durchzusetzen. Aber bis jetzt<br />
haben sie keine Genehmigung erhalten.<br />
Die andauernde Behinderung hat einige religiöse<br />
Gemeinschaften veranlasst, ihre religiösen Aktivitäten<br />
zu vermindern oder gar zu beenden.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Internationales Sekretariat<br />
Belarus: Aktivisten der Jugendbewegung sind stärkerer Verfolgung<br />
ausgesetzt<br />
AI-News Sevice No: 162 · AI Index: EUR 49/011/2007<br />
22. August 2007<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> ist tief besorgt über Berichte,<br />
dass die Belästigungen, die Festnahmen und die Inhaftierungen<br />
von jugendlichen Aktivisten durch<br />
die belarussischen Behörden in den letzten Wochen<br />
intensiviert wurden.<br />
Die Organisation ist der Überzeugung, dass die Unterdrückungsmaßnahmen<br />
zu den andauernden Bestrebungen<br />
der Regierung gehören, nicht nur die jugendlichen<br />
Aktivisten sondern die gesamte Zivilgesellschaft<br />
einzuschüchtern und zu behindern,<br />
ihre Rechte der Versammlungs-, Vereinigungs- und<br />
Meinungsfreiheit wahrzunehmen.<br />
In den letzten sechs Wochen sind Berichten zufolge<br />
mehr als ein Dutzend Jugendliche zu Haftstrafen<br />
zwischen 7 und 15 Tagen verurteilt worden, entweder<br />
nach dem Straf- oder dem Administrativrecht.<br />
Viele weitere sind von den belarussischen Sicherheitskräften<br />
festgenommen und tätlich angegriffen<br />
worden.<br />
Am 16. August verhafteten zivil gekleidete Sicherheitsbeamte<br />
Mikita Sassim, den prominenten Aktivisten<br />
der Jugendopposition, während einer öffentlichen<br />
Solidaritätsaktion zur Unterstützung von politischen<br />
Gefangenen und zur Erinnerung an die<br />
»Verschwundenen«, die monatlich in Minsk veranstaltet<br />
wird.<br />
Es wurde berichtet, dass Mikita Sassim bei der<br />
Verhaftung die Arme verdreht wurden und er in ein<br />
Auto gestoßen wurde. Er gibt an, dass er auf den<br />
Rücken und die Beine geschlagen wurde, und dass<br />
ihm die Beamten weitere Schläge androhten. <strong>Dan</strong>n<br />
wurde er mit unbekanntem Ziel weggefahren.<br />
Zwei Freunde von Sassim, die seine Festnahme verhindern<br />
wollten, wurden von den Beamten weggestoßen.<br />
Eine von ihnen, die 18-jährige Tazjana<br />
Tischkewitsch, befindet sich zur Zeit im Krankenhaus<br />
wegen eines diagnostizierten „leichten Schädeltraumas“<br />
infolge des Vorfalls.<br />
Mikita Sassims Verbleib blieb bis zum nächsten<br />
Tag unbekannt, als verlautbart wurde, dass er in der<br />
zentralen Polizeistation von Minsk festgehalten<br />
werde.<br />
Am 20. August wurde Sassim vom Gericht des<br />
Minsker Stadtbezirks Mitte zu einer Haftstrafe von<br />
10 Tagen verurteilt, wegen »leichten Rowdytums«<br />
nach § 17 (1) des Verwaltungsgesetzbuchs.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> nimmt wahr, dass der<br />
§ 17 (1) des Verwaltungsgesetzbuchs von den belarussischen<br />
Behörden immer häufiger angewendet<br />
wird, um jugendliche Aktivisten festzunehmen und<br />
zu inhaftieren. Viele sind nach diesem Paragrafen<br />
in den letzten sechs Wochen verurteilt worden.<br />
Mikita Sassim und weitere wurden angeklagt, dass<br />
sie in der Öffentlichkeit geflucht hätten.<br />
Bei einem anderen Vorfall am 27. Juli wurden die<br />
Führer der Jugendopposition Franak Wjatschorka<br />
und Jaraslau Chryschtschenja auf dem Unabhängigkeitsplatz<br />
in Minsk festgenommen. (Wjatschorka<br />
hatte im April an einer Filmvorführung von <strong>amnesty</strong><br />
<strong>international</strong> in London teilgenommen.) Die<br />
Festnahme der beiden erfolgte, als die Polizei einen<br />
Demonstrationszug stoppte, dessen Teilnehmer an<br />
den 17. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung<br />
von Belarus im Jahr 1990 erinnern wollten.<br />
Berichten zufolge riegelten die Polizisten den Platz<br />
ab und nahmen etwa ein Dutzend Demonstranten<br />
fest, unter ihnen den Vorsitzenden der »Vereinigten<br />
Bürgerpartei«, Anatol Ljabedska, und den stellver-<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 11
Belarus: Öffentliche Stellungnahmen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
tretenden Vorsitzenden der »Belarussischen Volksfront«,<br />
Wiktar Iwaschkewitsch.<br />
Die meisten der Verhafteten wurden nach einigen<br />
Stunden freigelassen, aber Franak Wjatschorka und<br />
Jaraslau Chryschtschenja nicht. Beide wurden nach<br />
§ 17 (1) des Verwaltungsgesetzbuchs angeklagt.<br />
Am 30. Juli wurde Franak Wjatschorka vom Bezirksgericht<br />
des Minsker Stadtbezirks Sawodskij<br />
zu einer 7-tägigen Haftstrafe verurteilt. Am selben<br />
Tag verurteilte das Bezirksgericht des Minsker<br />
Stadtbezirks Leninskij Jaraslau Chryschtschenja zu<br />
einer Haftstrafe von 15 Tagen.<br />
Die Behörden verhaften und bestrafen jugendliche<br />
Aktivisten ebenso nach § 193 (1) des Strafgesetzbuchs<br />
(Organisation einer Aktivität einer nicht registrierten<br />
Nichtregierungsorganisation bzw. Teilnahme<br />
an einer solchen Aktivität). Dieser Paragraf,<br />
der im Dezember 2005 in das Strafgesetzbuch aufgenommen<br />
wurde, gehört zu einer Reihe von Strafbestimmungen,<br />
mit denen Organisationen der Zivilgesellschaft<br />
und die öffentliche Kritik an der regierung<br />
bedroht werden. Diese Paragrafen wurden<br />
im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im März<br />
2006 eingeführt.<br />
Der Führer der Jugend-Oppositionsgruppe »Junge<br />
Front«, Smizer Daschkewitsch, wurde im November<br />
2006 nach Paragraf § 193 (1) zu einer Haftstrafe<br />
von 1 ½ Jahren verurteilt. Daraufhin wurde für seine<br />
Freilassung eine weltweite Kampagne von <strong>amnesty</strong><br />
<strong>international</strong>-Jugendgruppen gestartet.<br />
Am 7. August 2007 klagten die Untersuchungsbehörden<br />
drei weitere Mitglieder der »Jungen Front«<br />
nach diesem Artikel an. Falls sie für schuldig befunden<br />
werden, drohen der 18-jährigen Anastasia<br />
Asarka und dem gleichaltrigen Jaraslau Chryschtschenja<br />
sowie dem 16-jährigen Iwan Schyla Geldbußen<br />
oder Haftstrafen bis zu zwei Jahren.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> appelliert an die belarussischen<br />
Behörden, das Verwaltungsgesetz nicht<br />
länger anzuwenden, um gegen jugendliche Aktivisten,<br />
die nichts weiter als friedlich ihre Rechte<br />
auf Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit<br />
wahrnehmen, Haftstrafen zu verhängen.<br />
Weiterhin fordert <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> von den<br />
belarussischen Behörden, unverzüglich die Gesetze,<br />
Bestimmungen und Praktiken zu überprüfen,<br />
die für die Registrierung und die Aktivitäten von<br />
Nichtregierungsorganisationen gelten – insbesondere<br />
den § 193 (1) des Strafgesetzbuchs – und sicherzustellen,<br />
dass diese mit dem <strong>international</strong>en<br />
Recht übereinstimmen.<br />
Am 24. Juli 2007 konstatierte das UN-Menschenrechts-Komitee,<br />
dass die im Jahr 2003 verfügte<br />
Schließung der Nichtregierungsorganisation<br />
»Wjasna« eine Verletzung des Artikels 22 des Internationalen<br />
Pakts über bürgerliche und politische<br />
Rechte (ICCPR) darstellt.<br />
Das Komitee forderte von Belarus, die Organisation<br />
wieder zuzulassen und deren Mitgliedern eine<br />
Entschädigung anzubieten. Die Anfrage zur erneuten<br />
Registrierung befindet sich in Bearbeitung,<br />
eine Entscheidung durch die Behörden soll am<br />
23. August fallen.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> erinnert die belarussischen<br />
Behörden an ihre Verpflichtungen nach dem <strong>international</strong>en<br />
Recht, einschließlich der Artikel 19, 21<br />
und 22 des ICCPR, bei dem Belarus ein Vertragsstaat<br />
ist, die das Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung,<br />
der Versammlung und der Vereinigung<br />
garantieren.<br />
Die Organisation fordert von den belarussischen<br />
Behörden die unverzügliche Einstellung der Behinderungen,<br />
Belästigungen und Einschüchterungen<br />
von Aktivisten der Zivilgesellschaft, die sich direkt<br />
oder indirekt für die Förderung und Verteidigung<br />
der Menschenrechte in Belarus engagieren.<br />
12 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Internationales Sekretariat<br />
10.000 Kraniche für Smizer Daschkewitsch<br />
Belarus: Öffentliche Stellungnahmen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 13
Belarus: Öffentliche Stellungnahmen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
14 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Belarus: Öffentliche Stellungnahmen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Internationales Sekretariat<br />
Neuigkeiten von Smizer Daschkewitsch<br />
29. Oktober 2007<br />
Am Donnerstag, dem 1. November 2207 wird der<br />
gewaltlose politische Gefangene Smizer Daschkewitsch<br />
ein ganzes Jahr im Gefängnis verbracht haben,<br />
nachdem er zu 1½ Jahren Haft wegen „Organisierung<br />
bzw. Teilnahme an Aktivitäten einer nicht<br />
registrierten Organisation“ verurteilt worden war.<br />
Ein Jahr später bringen die belarussischen Behörden<br />
eine weitere Beschuldigung gegen Smizer<br />
Daschkewitsch vor, der sich nach wie vor im Gefängnis<br />
befindet. Er soll nach § 402 des Strafgesetzbuchs<br />
verurteilt werden: Wegen Verweigerung<br />
einer Zeugenaussage.<br />
Das bezieht sich auf die polizeilichen Ermittlungen<br />
gegen einen weiteres Mitglied der Jugendopposition,<br />
Iwan Schylo.<br />
Während der Ermittlungen hatte – Berichten zufolge<br />
– Daschkewitsch sich auf den Artikel 27 der<br />
belarussischen Verfassung berufen, in dem das<br />
Recht garantiert wird, nicht gegen sich selbst oder<br />
seine nächsten Verwandten aussagen zu müssen.<br />
Gegen Daschkewitsch ist jetzt Anklage erhoben<br />
worden, aber es ist noch kein Termin für die Verhandlung<br />
bekannt.<br />
Wir werden die Entwicklung beobachten.<br />
Eine <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong>-Gruppe in Österreich<br />
hat einen Brief von Smizer Daschkewitsch bekommen,<br />
mit dem er auf ihre unterstützenden Briefe<br />
antwortet. Er schreibt, „Ich bin Euch und anderen<br />
Mitgliedern von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> für die Unterstützung<br />
und die Solidarität sehr dankbar. Das<br />
hilft mir – hinter den Mauern – die Schwierigkeiten<br />
zu bestehen und gibt mir neue Kraft und macht<br />
mich wieder optimistisch. Ich danke Euch für die<br />
Freundschaft und Sympathie.“ Daschkewitsch<br />
fährt fort, dass er gesund sei.<br />
Bitte schreiben Sie weiterhin Briefe an ihn, erst<br />
recht nach der erneuten Anklage.<br />
Bei der sehr erfolgreichen Aktion, Origami-Kraniche<br />
für Smizer Daschkewitsch und die Meinungsfreiheit<br />
in Belarus zu falten, ist das Ziel von<br />
10.000 Stück fast erreicht. Zuletzt waren es 9.000<br />
Kraniche, die an das belarussische Innenministerium<br />
gesendet wurden. Bitte machen Sie weiter!<br />
Ein 2 Meter hoher Kranich, der auf dem diesjährigen<br />
<strong>international</strong>en ai-Meeting von ai-Jugendgruppen<br />
angefertigt wurde, ist nach Belarus geschickt<br />
worden, er wurde jedoch an der Grenze<br />
zwischen Litauen und Belarus gestoppt (Siehe:<br />
http://web.<strong>amnesty</strong>.org/pages/youth-120807-feature-eng).<br />
Nach einer langen Wartezeit, weil der Innenminster<br />
die Einfuhr nach Belarus ablehnte, wurde der Kranich<br />
zu einer Nichtregierungsorganisation gebracht,<br />
zu der ai Kontakt hält. Sie wird den Kranich<br />
persönlich am 1. November, genau ein Jahr nach<br />
der Verurteilung von Smizer Daschkewitsch, übergeben.<br />
Wir hoffen, diese Übergabe filmen zu können.<br />
16. November 2007<br />
Die Gerichtsverhandlung gegen den gewaltlosen<br />
politischen Gefangenen und Aktivisten der Jugendopposition<br />
Smizer Daschkewitsch fand am 9. November<br />
hinter verschlossenen Türen in dem Gefängnis<br />
statt, in dem Daschkewitsch festgehalten<br />
wird. Seine Familie war nicht zugelasssen.<br />
Smizer Daschkewitsch, der eine 18-monatige Haftstrafe<br />
wegen „der Teilnahme an Aktivitäten einer<br />
nicht registrierten Organisation absitzen muss,<br />
wurde nach § 402 des belarussischen Strafgesetzbuchs<br />
angeklagt: Verweigerung der Zeugenaussage,<br />
was mit Haftstrafe bis zu 3 Jahren bedroht wird.<br />
Das Gericht befand Daschkewitsch für schuldig<br />
und verurteilte ihn zu einer Geldstrafe.<br />
Eine örtliche Nichtregierungsorganisation teilte<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> ihre Überzeugung mit, die<br />
Behörden seien von der starken <strong>international</strong>en Reaktion<br />
auf den Fall beeindruckt gewesen. Ein Sprecher<br />
der NGO dankte den ai-Mitgliedern für all die<br />
Unterstützung, die diese für belarussische gewaltlose<br />
politische Gefangene geleistet hätten, und<br />
führte aus, dass der Druck im Fall von Daschkewitsch<br />
dazu geführt habe, dass er nicht zu einer<br />
weiteren Haftstrafe verurteilt worden sei.<br />
Wegen ihrer Aktivitäten zugunsten von Daschkewitsch<br />
konnte diese NGO nicht am 1. November<br />
dem Innenministerium den überdimensionalen<br />
Kranich übergeben. Sie werden es am Tag der Menschenrechte<br />
am 10. Dezember tun und die Übergabe<br />
filmen.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 15
Belarus<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Internationales Sekretariat<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> und das belarussische Helsinki-Komitee<br />
verurteilen eine vollzogene Hinrichtung<br />
11. Oktober 2007 · Öffentliche Stellungnahme<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> und das belarussische Helsinki-Komitee<br />
verurteilen die kürzlich berichtete<br />
Vollstreckung des Todesurteils an Aljaksandr<br />
Sjarheitschik durch die belarussischen Behörden.<br />
Aljaksandr Sjarheitschik wurde des Mordes, der<br />
Vergewaltigung, des Diebstahls von Schusswaffen<br />
und weiterer Verbrechen für schuldig befunden und<br />
am 22. Mai 2007 zum Tode verurteilt.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> und das belarussische Helsinki-Komitee<br />
fordern von den belarussischen Behörden,<br />
unverzüglich und schriftlich die Details im<br />
Fall von Aljaksandr Sjarheitschik klar darzulegen.<br />
Falls er hingerichtet wurde, betonen die Organisationen,<br />
sollten die Verwandten uneingeschränkten<br />
Zugang zu den relevanten Informationen bekommen,<br />
einschließlich des Zeitpunktes und des Ortes<br />
der Exekution sowie des Begräbnis’. Außerdem<br />
sollte ihnen gestattet werden, die Hinterlassenschaften<br />
und die Dinge aus seinem persönlichen<br />
Besitz an sich zu nehmen.<br />
In Übereinstimmung mit der UNO-Resolution<br />
2005/59, die am 20. April 2005 angenommen worden<br />
war, ruft die UNO-Menschenrechtskommission<br />
alle Staaten, die die Todesstrafe noch nicht abgeschafft<br />
haben, dazu auf, „die Verhängung einer<br />
Todesstrafe und den Zeitpunkt einer jeden geplanten<br />
Hinrichtung öffentlich bekannt zu machen.“<br />
Es wurde den belarussischen Behörden deutlich<br />
klar gemacht, dass der Sonderberichterstatter der<br />
UNO zu außergerichtlichen, massenhaften oder<br />
willkürlichen Hinrichtungen konstatiert hat, dass<br />
„Tranparenz stets essentiell ist, wo auch immer die<br />
Todesstrafe Anwendung findet. Geheimhaltung gegenüber<br />
dem Delinquenten widerspricht den Standards<br />
der Menschenrechte. Die vollständige und<br />
akkurate Information über alle Hinrichtungen<br />
sollte publiziert werden und eine verläßliche Statistik<br />
sollte zumindest jährlich vorgelegt werden.“<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> und das belarussische Helsinki-Komitee<br />
treten gegen die Todesstrafe ohne<br />
jegliche Ausnahme auf.<br />
Die Todesstrafe ist die endgültige Verneinung<br />
des Rechts auf Leben, wie es im Artikel 3 der Allgemeinen<br />
Erklärung der Menschenrechte proklamiert<br />
wird. Sie ist die ultimative grausame, unmenschliche<br />
und erniedrigende Bestrafung.<br />
Die letzte Resolution, die zu einem Moratorium für<br />
die Todesstrafe aufruft, wurde vom Dritten Komitee<br />
der Vollversammlung der Vereinten Nationen<br />
am 15. November 2007 angenommen. Die Staaten,<br />
die die Todesstrafe beibehalten, werden aufgefordert<br />
„ein Moratorium für Exekutionen zu beschließen<br />
und dies im Hinblick auf eine Abschaffung der<br />
Todesstrafe tun.“<br />
Von diesen Staaten, zu denen Belarus gehört,<br />
wird verlangt, „die <strong>international</strong>en Standards zu respektieren,<br />
die die Sicherheit der Rechte von zum<br />
Tode Verurteilten garantieren“, „dem UNO-Generalsekretär<br />
Informationen zur Anwendung der Todesstrafe<br />
zuzuleiten“ und „nach und nach die Verhängung<br />
der Todesstrafe einzuschränken und die<br />
Zahl der Verbrechen, die mit dieser Strafe bedroht<br />
sind, zu reduzieren.“<br />
Hintergrund<br />
Belarus ist das einzige Land in Europa und der ehemaligen<br />
Sowjetunion, in dem weiterhin Gefangene<br />
hingerichtet werden. Belarus erhält die Todesstrafe<br />
für „vorsätzlichen schweren Mord“ und weitere 12<br />
Verbrechen in Friedenszeiten aufrecht.<br />
Es sind bis heute keine Zahlen zu Hinrichtungen<br />
im Jahr 2007 verfügbar.<br />
Die Exekution erfolgt mittels Genickschuss. Den<br />
Verwandten wird weder das Datum der Hinrichtung<br />
noch der Ort der Bestattung mitgeteilt.<br />
Am 16. November sagte der Innenminister gegenüber<br />
Journalisten in einem Kommentar zur<br />
oben erwähnten UNO-Resolution, dass es für Belarus<br />
momentan zu sei, ein Moratorium einzuführen.<br />
16 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Belarus: Eilaktionen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
Eilaktion<br />
UA-Nr: UA-317/2007 · AI-Index: EUR 49/009/2007<br />
Datum: 27.11.2007<br />
BELARUS: Bevorstehende Hinrichtung<br />
Sjarhej Marosaw (m)<br />
Ihar <strong>Dan</strong>tschanka (m)<br />
Walerij Gorbatij (m)<br />
Sjarhej Marosaw, Ihar <strong>Dan</strong>tschanka und Walerij Gorbatij sind in Gefahr hingerichtet zu werden, falls<br />
nicht der Präsident Aljaksandr Lukaschenka sein Gnadenrecht ausübt und die Todesstrafen umwandelt.<br />
Sjarhej Marosaw, Ihar <strong>Dan</strong>tschanka und Walerij Gorbatij sind vermeintlich Mitglieder einer kriminellen<br />
Bande, die in der Region von Gomel zwischen 1990 und 2004 mehrfach gemordet haben soll.<br />
Alle drei Männer wurden am 1. Dezember 2006 vom Obersten Gericht zum Tod durch Erschießen verurteilt.<br />
Am 9. Oktober 2007 standen Sjarhej Marosaw, der Chef der Bande, und sein Helfer, Ihar <strong>Dan</strong>tschanka,<br />
wegen weiterer Morde vor Gericht. Sie wurden erneut zum Tode verurteilt.<br />
Beide Prozesse fanden im Minsker Untersuchungshaftzentrum statt, wo die Männer auch gefangen gehalten<br />
werden. Die Prozesse waren nicht öffentlich und das Gebäude war von starken Aufgeboten der Sicherheitskräfte<br />
umstellt.<br />
Presseberichten zufolge haben die drei Männer in Appellen an Präsident Lukaschenka um Gnade gebeten,<br />
erhielten bislang jedoch keine Antwort.<br />
Der Staatsanwalt sagte am 9. Oktober vor der Presse, dass es sich vom Ausmaß der Untersuchungen her<br />
um einen „in der Geschichte der belarussischen Justiz einmaligen Fall“ handele. Die Ermittlungen zu den<br />
Aktivitäten der Bande würden fortgesetzt und im Interesse dieser Untersuchungen würde die Todesstrafe<br />
bei Sjarhej Marosaw nicht vollzogen. Über das Vorgehen gegen die beiden anderen Männer äußerte er<br />
sich nicht.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> wendet sich gegen die Todesstrafe in jedem Fall – ohne Ausnahme.<br />
Die Todesstrafe ist die endgültige Verneinung der Menschenrechte – ein vorsätzliches und kaltblütiges<br />
Beenden des Lebens eines Menschen durch den Staat – im Namen der Gerechtigkeit.<br />
Sie verletzt das Recht auf Leben wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte proklamiert ist<br />
und ist die ultimative grausame, unmenschliche und erniedrigende Bestrafung.<br />
Hintergrundinformationen<br />
Belarus hält die Todesstrafe für „vorsätzlichen, schweren Mord“ und 12 weitere Verbrechen in Friedenszeiten<br />
aufrecht. Die Exekution erfolgt mit einem Genickschuss. Die Verwandten bekommen keine offiziellen<br />
Informationen über das Datum der Hinrichtung und auch nicht über den Ort der Bestattung.<br />
In der Regel werden die Hinrichtungen innerhalb von sechs Monaten nach dem Urteil ausgeführt.<br />
Das Oberste Gericht verlautbarte im Februar 2007, dass im Jahr 2006 16 Menschen zum Tode verurteilt<br />
wurden, gab jedoch nicht bekannt, wieviele Hinrichtungen ausgeführt wurden.<br />
Am 15. November 2007 nahm das Dritte Komitee der Generalversammlung der Vereinten Nationen, das<br />
Menschenrechtsfragen behandelt, eine Resolution an, die ein weltweites Moratorium für die Todesstrafe<br />
fordert. Die Resolution ruft diejenigen Staaten, die die Todesstrafe beibehalten, auf, „ein Moratorium für<br />
Hinrichtungen einzuhalten und dies mit der Perspektive der vollständigen Abschaffung der Todesstrafe“.<br />
Sie fordert von diesen Staaten, „diejenigen <strong>international</strong>en Standards einzuhalten, die den Schutz der<br />
Rechte der zum Tode Verurteilten garantieren“ sowie „eine stärkere Einschränkung der Anwendung der<br />
Todesstrafe und die Verringerung der Zahl der Verbrechen, bei denen sie verhängt werden kann.“<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 17
Belarus: Eilaktionen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
Der belarussische Innenminister kommentierte die<br />
UN-Resolution: „ Belarus könne zur Zeit noch<br />
nicht ohne die Todesstrafe auskommen“. Nach seinen<br />
Worten ist die Resolution im Sinne der Politik<br />
angenommen worden, aber nicht im Sinne des gesunden<br />
Menschenverstandes. Er stellte fest, dass in<br />
den letzten fünf Jahren die Zahl der Morde in Belarus<br />
abgenommen habe und dass „in den Ländern<br />
ohne die Todesstrafe das Gegenteil eingetreten sei“.<br />
Wissenschaftliche Studien konnten keinen überzeugenden<br />
Beweis erbringen, dass die Todesstrafe<br />
eine effektivere Abschreckung darstellte als andere<br />
Bestrafungen. Der momentan aktuelleste Überblick<br />
der Vereinten Nationen (1998 und 2002 aktualisiert)<br />
über Forschungen zur Relation zwischen<br />
Todesstrafe und Mordrate zieht die Schlußfolgerung:<br />
„ es ist nicht klug, die Hypothese zu akzeptieren,<br />
dass die Höchststrafe Mörder in größerem<br />
Maße abschreckt als die vermeintlich geringere<br />
Strafe der lebenslänglichen Freiheitsstrafe.“<br />
Appelle an:<br />
Präsident Alyaksandr LUKASHENKA<br />
ul .Karla Marksa, 38<br />
220016 Minsk, Belarus<br />
Fax: (00 375) 172 26 06 10 oder<br />
(00 375) 172 22 38 72<br />
Email: infogrp@president.gov.by<br />
oder via website:<br />
www.president.gov.by/eng/president/mail.shtml<br />
Anrede: Dear President Lukashenka<br />
Vorsitzender des Obersten Gerichts der Republik<br />
Belarus<br />
Valentin SUKALO<br />
ul. Lenina. 28<br />
2200681 Minsk, Belarus<br />
Fax: (00 375) 17 227 12 25 (funktioniert nur in den<br />
Bürostunden. Sagen Sie bitte deutlich “fax” und<br />
warten Sie auf den Faxton)<br />
Anrede: Dear Chairman<br />
Empfohlene Aktionen<br />
Senden Sie bitte so schnell wie möglich Appelle auf<br />
Russisch, Englisch oder in Ihrer eigenen Sprache.<br />
• Schreiben Sie bitte, dass <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
die Todesstrafe in jeglichem Fall ablehnt.<br />
• Erklären Sie bitte, dass <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
den Verwandten der Opfer der Gewaltverbrechen<br />
ihre Anteilnahme ausspricht, und dass jedoch<br />
wissenschaftliche Studien zu dem Ergebnis<br />
gekommen seien, dass die Todesstrafe keine<br />
wirksame Abschreckung darstellt.<br />
• Fordern Sie bitte Präsident Lukaschenka auf, die<br />
Verurteilten Sjarhej Marosaw, Ihar <strong>Dan</strong>tschanka<br />
und Walerij Gorbatij zu begnadigen.<br />
• Erinnern Sie bitte Präsident Lukaschenka daran,<br />
dass das Dritte Komitee der Generalversammlung<br />
der Vereinten Nationen am 15. November<br />
2007 eine Resolution angenommen hat, die ein<br />
weltweites Moratorium für die Todesstrafe fordert<br />
und die Staaten aufruft, „eine stärkere Einschränkung<br />
der Anwendung der Todesstrafe und<br />
die Verringerung der Zahl der Verbrechen, bei<br />
denen sie verhängt werden kann.“ vorzunehmen.<br />
• Fordern Sie bitte Präsident Lukaschenka auf, ein<br />
Moratorium für Hinrichtungen in Belarus zu dekretieren.<br />
Kopien an:<br />
Generalstaatsanwalt Petr MIKLASHEVICH<br />
ul. Internatsionalnaya 22<br />
220050 Minsk, Belarus<br />
Fax: (00 375) 17 226 42 52<br />
Anrede: Dear General Prosecutor<br />
Botschaft der Republik Belarus<br />
S. E. Herrn Wladimir Skworzow<br />
Am Treptower Park 32, 12435 Berlin<br />
Telefax: 030-5363 5923<br />
18 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Ukraine: Eilaktion<br />
Eilaktion<br />
UA-Nr: UA-264/2007 · AI-Index: EUR 50/005/2007<br />
Datum: 16.10.2007<br />
Ukraine / Belarus: Drohende Abschiebung / Folter /<br />
Drohende Todesstrafe<br />
Igor Koktisch, 27-jähriger Staatsbürger von Belarus<br />
Dem weißrussischen Staatsbürger Igor Koktisch [englische Transkription: Igor Koktysh] droht die Auslieferung<br />
durch die ukrainischen Behörden an Belarus (Weißrussland), wo er in Gefahr wäre, misshandelt<br />
oder gefoltert zu werden, um ihn zum Geständnis eines Mordes zu zwingen. Zudem droht ihm ein unfaires<br />
Gerichtsverfahren, in dem er zum Tode verurteilt werden könnte.<br />
Dem Rockmusiker Igor Koktisch wurde vorgeworfen, im Januar 2001 im weißrussischen Baranowizi<br />
[Baranovici] den Familienangehörigen eines engen Freundes ermordet zu haben. Vor seiner Festnahme<br />
hatte er sich für Jugendliche in Baranowizi, die drogenabhängig waren und andere soziale Probleme hatten,<br />
eingesetzt. Er war mit der örtlichen Polizei in Konflikt geraten, weil er Rockfestivals organisiert<br />
hatte. Als er eine katholische Jugendorganisation gründen wollte, baten ihn die Polizisten, diese nicht<br />
registrieren zu lassen. Weil er sich von seinem Vorhaben aber nicht abbringen ließ, drohte ihm die Polizei<br />
damit, einen Grund für seine Festnahme zu finden.<br />
Im Januar 2001 wurde ein Verwandter eines guten Freundes von Igor Koktisch ermordet. Der Rockmusiker<br />
wurde daraufhin festgenommen und des Mordes beschuldigt. Während der einjährigen Untersuchungshaft<br />
soll er in Polizeigewahrsam geschlagen, misshandelt und gefoltert worden sein. So sperrte<br />
man ihn dem Vernehmen nach unbekleidet in eine eiskalte Zelle und verweigerte ihm die erforderlichen<br />
Medikamente zur Behandlung seines Asthmas, um ihn so zu zwingen, den Mord zu gestehen. Am 7. Dezember<br />
2001 befand ihn das Bezirksgericht von Brest für nicht schuldig, und das Oberste Gericht von<br />
Belarus bestätigte am 1. Februar 2002 dieses Urteil. Der Generalstaatsanwalt legte jedoch am 11. April<br />
2002 Rechtsmittel gegen die Entscheidung ein, und der Fall wurde an das Gericht zu einem Wiederaufnahmeverfahren<br />
verwiesen. Igor Koktisch verließ Belarus im Oktober 2003 und zog in die Ukraine.<br />
Am 25. Juni 2007 nahm die ukrainische Polizei den Musiker fest, um ihn an Belarus auszuliefern. Auf der<br />
Grundlage von Paragraph 139, Absatz 2, des Strafgesetzbuchs von Belarus steht er wegen „Mordes unter<br />
erschwerenden Umständen“ unter Anklage, ein Straftatbestand, der mit der Todesstrafe geahndet wird.<br />
HINTERGRUNDINFORMATIONEN<br />
Entsprechend ihren Verpflichtungen als Mitglied des Europarats hat die Ukraine die Todesstrafe abgeschafft<br />
und das UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende<br />
Behandlung oder Strafe ratifiziert, welches festschreibt, dass ein Vertragsstaat eine Person nicht in<br />
einen anderen Staat ausweisen, abschieben oder an diesen ausliefern darf, „wenn stichhaltige Gründe für<br />
die Annahme bestehen, dass sie dort Gefahr liefe, gefoltert zu werden“.<br />
In Belarus wird die Todesstrafe nach wie vor angewendet. Allerdings liegen keine Angaben über die Anzahl<br />
der Hinrichtungen vor. Todesurteile werden durch Erschießung vollstreckt. Die Familienangehörigen<br />
der Verurteilten erhalten jedoch weder Informationen über das Datum der Hinrichtung noch über den Bestattungsort.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> hat wiederholt kritisiert, dass Gerichtsverfahren in Belarus nicht den<br />
<strong>international</strong>en Standards für faire Prozesse entsprechen und die Justizbehörden nicht unabhängig sind.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 19
Ukraine: Eilaktion<br />
EMPFOHLENE AKTIONEN:<br />
Schreiben Sie bitte Telefaxe, E-Mails oder Luftpostbriefe, in denen Sie<br />
• die Behörden auffordern, sicherzustellen, dass Igor Koktisch nicht an die Behörden von Belarus ausgeliefert<br />
wird, da er ansonsten in Gefahr wäre, gefoltert und in einem unfairen Verfahren zum Tode verurteilt<br />
zu werden;<br />
• die Behörden daran erinnern, dass die Todesstrafe eine Verletzung des Rechts auf Leben (des fundamentalsten<br />
Menschenrechts) und des Rechts, keiner grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden<br />
Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden, darstellt, und die Ukraine auffordern, dafür einzutreten,<br />
dass diese Rechte weltweit respektiert werden;<br />
• die Behörden daran erinnern, dass die Ukraine Vertragsstaat des UN-Übereinkommens gegen Folter<br />
und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe ist und sich somit<br />
verpflichtet hat, niemanden in ein Land zu bringen, in dem dieser Person Folter oder andere schwere<br />
Menschenrechtsverletzungen drohen.<br />
Appelle an:<br />
den Staatspräsidenten der Ukraine,<br />
W. Juschtschenko:<br />
Viktor Yushchenko, President of Ukraine,<br />
Bankovaya Str. 11, 01220 Kyiv,<br />
UKRAINE<br />
Anrede: Dear President Yushchenko<br />
Telefax: (00 380) 44 255 61 61<br />
E-Mail: postmaster@ribbon.kiev.ua<br />
den Generalstaatsanwalt der Ukraine,<br />
O. Medwedko:<br />
Oleksandr Medvedko, Prosecutor General,<br />
Riznitska Str.13/15, 01601 Kyiv,<br />
UKRAINE<br />
Anrede: Dear Prosecutor General<br />
Telefax: (00 380) 44-280 2603 (kombinierter Telefon-/Faxanschluss,<br />
bitten Sie um die Umstellung<br />
auf „Fax“)<br />
Kopien an:<br />
Botschaft der Ukraine, S.E. Herrn Ihor Dolhov,<br />
Albrechtstraße 26, 10117 Berlin<br />
Telefax: 030-2888 7163<br />
E-Mail: ukremb@t-online.de<br />
Botschaft der Republik Belarus<br />
S. E. Herrn Wladimir Skworzow<br />
Am Treptower Park 32, 12435 Berlin<br />
Telefax: 030-5363 5923<br />
E-Mail: info@belarus-botschaft.de<br />
Bitte schreiben Sie Ihre Appelle möglichst sofort. Schreiben Sie in gutem Ukrainisch, Russisch, Englisch<br />
oder auf Deutsch. Da Informationen in Urgent Actions schnell an Aktualität verlieren können, bitten wir<br />
Sie, nach dem 27. November 2007 keine Appelle mehr zu verschicken.<br />
RECOMMENDED ACTION:<br />
Please send appeals to arrive as quickly as possible, in Russian or English or your own language:<br />
• urging the authorities to ensure that Igor Koktysh is not extradited to Belarus, where he would be at risk<br />
of the death penalty, torture and an unfair trial;<br />
• reminding the authorities that the death penalty is a violation of the right to life, and urging Ukraine to<br />
ensure that those rights are respected globally;<br />
• reminding the authorities that Ukraine is a state party to the UN Convention against Torture, which<br />
prohibits the return in any manner whatsoever of any person to a situation where they would be at risk<br />
of torture or other serious human rights violations.<br />
20 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Internationales Sekretariat<br />
Ukraine: Häusliche Gewalt – Die Opfer werden beschuldigt<br />
AI Index: EUR 49/014/2006<br />
Einführung<br />
In diesem Kurzbericht zeigt <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong>,<br />
dass – trotz der eingeleiteten Maßnahmen der ukrainischen<br />
Regierung zur Bekämpfung der häuslichen<br />
Gewalt – das Problem immer noch weit verbreitet<br />
ist. Dazu gehört, dass Frauen, die Opfer<br />
häuslicher Gewalt geworden sind, keinen ausreichenden<br />
Schutz oder Zugang zur Justiz bekommen.<br />
Die Ukraine erfüllt ihre aus der <strong>international</strong>en<br />
Menschenrechtsgesetzgebung erwachsenden Verpflichtungen<br />
nicht, sich mit gebührender Sorgfalt<br />
für die Sicherung der Rechte von Frauen auf<br />
Gleichheit, Leben, Freiheit und Sicherheit sowie<br />
darauf, frei von Diskriminierung, Folter und grausamer,<br />
unmenschlicher und erniedrigender Behandlung<br />
zu leben, einzusetzen.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> formuliert acht Empfehlungen,<br />
die der Regierung helfen sollen, ihre Verpflichtungen<br />
entsprechend der <strong>international</strong>en<br />
Menschenrechtsgesetzgebung einzuhalten.<br />
In der Ukraine handeln häusliche Gewalttäter mit<br />
der Aussicht auf Straffreiheit. Das Gesetz zur Prävention<br />
häuslicher Gewalt garantiert den Opfern<br />
keinen angemessenen Schutz und hält am Mythos<br />
fest, dass Frauen an der gegen sie verübten Gewalt<br />
selbst schuld seien.<br />
Oft unternimmt die Polizei nichts, wenn Frauen<br />
Fälle von häuslicher Gewalt anzeigen, und oft reagiert<br />
sie unangemessen. Frauen, die Täter vor Gericht<br />
zu bringen versuchen, werden auf Schritt und<br />
Tritt durch Korruption behindert und müssen erleben,<br />
dass unangemessene Strafen verhängt werden.<br />
Das <strong>international</strong>e Gesetz verpflichtet die Ukraine,<br />
Zufluchtsorte einzurichten und andere Formen der<br />
Unterstützung für Opfer häuslicher Gewalt bereitzustellen.<br />
Das Ministerium für Familie, Jugend und<br />
Sport hat ein Netzwerk von Zentren aufgebaut, die<br />
juristische und psychologische Beratung sowie Zuflucht<br />
für junge Menschen bis zum Alter von 35<br />
Jahren und für Familien bieten. Diese sind jedoch<br />
nicht auf Frauen ausgerichtet und bieten deshalb<br />
nicht den Schutz und die Hilfe, die für Opfer häuslicher<br />
Gewalt nötig wären.<br />
Die Überwindung geschlechtsbezogener Stereotypen<br />
ist einer der effektivsten Wege, die häusliche<br />
Gewalt zu bekämpfen. Während der Recherche für<br />
diesen Kurzbericht fand <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> Belege<br />
für weitverbreitete soziale Verhaltensmuster,<br />
die Frauen diskriminieren. Es bleibt zu hoffen, dass<br />
das neue Gesetz über die Gleichberechtigung von<br />
Frauen und Männern effektiv umgesetzt wird.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> ist der Überzeugung,<br />
• dass für die Schaffung eines Systems, das<br />
Frauen Schutz bietet und die Ausrottung häuslicher<br />
Gewalt anstrebt, ein starker politischer<br />
Wille nötig ist und dass die Behörden entschiedene<br />
Maßnahmen ergreifen müssen.<br />
• Es müssen Frauen kurzfristige Zufluchtsorte<br />
und langfristige Wohnmöglichkeiten und effektive,<br />
speziell auf sie zugeschnittene Hilfsdienste<br />
zur Verfügung gestellt werden.<br />
• Polizeibeamte müssen dahingehend ausgebildet<br />
werden, dass sie Verständnis für die psychologischen<br />
Folgen von häuslicher Gewalt aufbringen.<br />
• Das Gesetz zur Prävention häuslicher Gewalt<br />
muss geändert werden und die im Strafgesetzbuch<br />
sowie im Verwaltungsgesetzbuch vorgesehenen<br />
Strafen bedürfen der Überarbeitung.<br />
• Die Regierung muss öffentliche Kampagnen<br />
durchführen, um die Öffentlichkeit über häusliche<br />
Gewalt zu informieren und die Stigmatisierung<br />
der Opfer zu überwinden.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> behauptet nicht, dass Gewalt<br />
gegen Frauen ein spezifisch ukrainisches Problem<br />
sei oder dass sie dort mehr verbreitet sei als in anderen<br />
Ländern. <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> hat in vielen<br />
Berichten – so z.B. in Europa über Albanien, Frankreich,<br />
Georgien, Großbritannien, Russland,<br />
Schweden, Spanien, die Türkei und Weißrussland –<br />
dokumentiert, dass Frauen Opfer von Gewalt von<br />
Seiten ihrer Partner sind, unabhängig davon, wo<br />
oder in welchen sozialen Verhältnissen sie leben.<br />
In vielen Fällen wird Gewalt als normale Erscheinung<br />
in einer Beziehung zwischen Mann und<br />
Frau angesehen, oder sie wird mit Argumenten wie<br />
Eifersucht, Ehre oder Tradition gerechtfertigt. <strong>amnesty</strong><br />
<strong>international</strong> ist der Überzeugung, dass keiner<br />
dieser Gründe wie auch keinerlei anderes Motiv<br />
Gewalt gegen Frauen jemals rechtfertigen kann.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 21
Ukraine: Häusliche Gewalt – Die Opfer werden beschuldigt<br />
Die <strong>international</strong>e Menschenrechtsgesetzgebung<br />
und die Menschenrechtsstandards machen unmissverständlich<br />
deutlich, dass Gewalt gegen Frauen<br />
eine unverzeihliche Menschenrechtsverletzung<br />
darstellt.<br />
Das Ausmaß der häuslichen Gewalt<br />
Es gibt keine Statistiken über die Zahl der Frauen,<br />
die Gewalt durch ihren Partner erfahren, aber es<br />
gibt viele Hinweise darauf, dass das Problem sehr<br />
weit verbreitet ist.<br />
Laut Statistik der Abteilung Öffentliche Sicherheit<br />
im Innenministerium über die Einhaltung des<br />
Gesetzes zur Prävention häuslicher Gewalt hat es in<br />
den ersten fünf Monaten des Jahres 2005 83.150<br />
Fälle von Gewalt in der Familie gegeben. Diese Statistik<br />
unterscheidet nicht nach Geschlecht, aber laut<br />
Angaben der Abteilung Öffentliche Sicherheit sind<br />
90 Prozent der Opfer häuslicher Gewalt Frauen.<br />
Dem Innenministerium zufolge waren die meisten<br />
Opfer von 1008 registrierten Mordfällen und<br />
402 Fällen von Totschlag zu Hause in den ersten<br />
neun Monaten des Jahres 2006 Frauen.<br />
Ein Polizist informierte <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
darüber, dass im Winnyzja-Gebiet täglich 40 bis 45<br />
Anrufe wegen Fällen von häuslicher Gewalt kommen,<br />
und dass es 2006 neun Mordfälle in Familien<br />
gab.<br />
Diese Zahlen spiegeln nur die Fälle von häuslicher<br />
Gewalt wider, die der Polizei bekannt wurden.<br />
Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass viel mehr<br />
Opfer von häuslicher Gewalt sich nicht an die Polizei<br />
und noch nicht einmal an ihnen nahe stehende<br />
Angehörigen wenden.<br />
Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen<br />
(NGOs) und Polizeibeamte, die von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
im September 2006 befragt wurden, meinen,<br />
dass zwischen 50 und 70 Prozent aller ukrainischen<br />
Frauen schon häuslicher Gewalt ausgesetzt<br />
waren. Eine landesweite Umfrage im Jahre 2001<br />
unter 6000 Ukrainerinnen im Alter zwischen 12<br />
und 30 Jahren durch Winrock International führte<br />
zu dem Ergebnis, dass 33 Prozent der ukrainischen<br />
Frauen verbalen oder sittlichen Übergriffen, zumeist<br />
von Seiten ihrer Ehemänner, Freunde oder<br />
Nachbarn, ausgesetzt waren. Von den befragten<br />
Frauen waren 11 bis 12 Prozent sexuell missbraucht<br />
worden, und fünf Prozent waren körperlicher Gewalt,<br />
zumeist von Seiten ihrer Ehemänner, ausgesetzt.<br />
<br />
Zentrum für soziales Monitoring und Ukrainisches Institut<br />
für Sozialforschung: Frauenhandel als soziales Problem<br />
der ukrainischen Gesellschaft – Resümee. Kiew 2001<br />
www.winrock.org/leadership/files/SocialMonitoring.pdf.<br />
Ein Arzt der Notaufnahme des Städtischen Krankenhauses<br />
Nr. 2 in Winnyzja teilte <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
mit, dass im Durchschnitt zehn Frauen pro<br />
Jahr angäben, ihre Verletzungen seien eine Folge<br />
häuslicher Gewalt. Es gäbe sehr viel mehr Frauen<br />
mit Spuren von Schlägen, aber die Ärzte der Intensivstation<br />
äußerten gegenüber <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong>,<br />
dass es ihre Aufgabe sei, die Frauen zu behandeln,<br />
nicht jedoch herauszufinden, wie ihnen die<br />
Verletzungen beigefügt wurden. Eine Frau wurde<br />
mit Schnittwunden eingeliefert und erklärte, sie<br />
habe Kartoffeln geschält, was die Ärzte wunderte,<br />
weil es mitten in der Nacht war.<br />
Gewalt gegen Frauen durch Familienmitglieder<br />
reicht von der wirtschaftlichen Bevormundung, der<br />
Anwendung verbaler und psychologischer Gewalt<br />
bis hin zu Schlägen, sexueller Gewalt oder gar<br />
Mord.<br />
Larissa beschrieb, wie ihr Ehemann ihr Gewalt<br />
antat, um ihre Kinder einzuschüchtern. Er drückte<br />
ihren Kopf in der Badewanne unter Wasser und<br />
drohte damit, sie zu ertränken, wenn ihre Tochter<br />
keine Hausaufgaben machen würde.<br />
Shanna litt 13 Jahre lang unter der Gewalt ihres<br />
Ehemannes. Er demütigte oder schlug sie, brachte<br />
danach jedoch Blumen mit und bat sie um Verzeihung.<br />
Einmal kam er ins Badezimmer, als sie sich<br />
gerade wusch, und urinierte auf sie.<br />
Sozialarbeiter in Kiew beschrieben den Fall einer<br />
Frau, die stellvertretende Direktorin einer<br />
Schule war, zu Hause aber unter psychologischer<br />
Gewalt von Seiten ihres Mannes litt. Er ließ es<br />
nicht zu, dass sie mit ihm aß oder auf dem Sofa saß.<br />
Auch Männer können Opfer von häuslicher Gewalt<br />
werden. <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> hat Kenntnis<br />
von einem Mann, den die Gewalt seiner Frau dazu<br />
brachte, zusammen mit den Kindern sein Zuhause<br />
zu verlassen, und der in Folge wohnungslos war.<br />
„Das Leben hier in diesem Land ist hart für uns.<br />
Sie (die Männer) haben es schwer, und darum trinken<br />
sie.“ Larissa, Winnyzja, September 2006<br />
Laut World Mental Health survey (einer Studie zu<br />
mentalen Störungen) der WHO, die von 2001 bis<br />
2003 in 14 Ländern durchgeführt wurde, sind die<br />
Hauptrisikofaktoren für von Männern ausgehende<br />
Gewalt in Beziehungen in der Ukraine Erfahrungen<br />
mit Gewalt in der eigenen Familie, Verhaltensprobleme<br />
(spontane Wutausbrüche (Intermittent<br />
Explosive Disorder)) und Alkoholmissbrauch.<br />
Larissas Ehemann schlug sie, wenn er betrunken<br />
war, und später fand sie zufällig heraus, dass er in<br />
22 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Ukraine: Häusliche Gewalt – Die Opfer werden beschuldigt<br />
einem Klima der Gewalt aufgewachsen war. Seine<br />
Mutter war von ihrem Ehemann geschlagen worden,<br />
hatte aber nie darüber gesprochen.<br />
In einigen Fällen kann es so weit kommen, dass<br />
Frauen ihren Partner töten, um der Gewalt zu entkommen.<br />
Eine Sozialarbeiterin in Kiew berichtete <strong>amnesty</strong><br />
<strong>international</strong> von einer Frau, die viele Jahre lang<br />
die Gewalt ihres Mannes ertragen hatte, ihn dann<br />
aber, als er sie vor den Augen ihrer Kinder vergewaltigte<br />
und drohte, auch die Kinder zu vergewaltigen,<br />
umbrachte. Sie wurde zu 15 Jahren Haft<br />
verurteilt.<br />
Häusliche Gewalt ist nicht nur eine Menschenrechtsverletzung,<br />
sondern wurde auch als begünstigender<br />
Faktor angesehen, der Frauen in den Frauenhandel<br />
treibt.<br />
Mitarbeiterinnen eines Frauenberatungszentrums,<br />
einer NGO, die eine Hotline für potentielle<br />
Opfer von Frauenhandel in Dnepropetrowsk betreibt,<br />
teilte Vertretern von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
mit, dass etwa die Hälfte der von ihnen beratenen<br />
gehandelten Frauen vor ihrer Ausreise Opfer von<br />
häuslicher Gewalt geworden waren.<br />
Eine Untersuchung der Internationalen Organisation<br />
für Migration ergab, dass 80 Prozent der Frauen,<br />
denen sie Hilfe erwiesen hat, Opfer von häuslicher<br />
Gewalt waren, bevor sie Objekte des Frauenhandels<br />
wurden.<br />
Völkerrechtliche Verpflichtungen<br />
Gewalt gegen Frauen ist eine Verletzung ihrer<br />
grundlegenden Rechte, einschließlich ihres Rechts<br />
auf körperliche und geistige Unversehrtheit, ihres<br />
Rechts auf Leben sowie ihres Rechts auf Gleichstellung<br />
mit Männern.<br />
Die Ukraine ist Unterzeichner aller wichtigen<br />
entsprechenden <strong>international</strong>en Verträge, einschließlich<br />
der folgenden:<br />
– Internationaler Pakt über bürgerliche und politische<br />
Rechte (ICCPR)<br />
– Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale<br />
und kulturelle Rechte (CESCR)<br />
– Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form<br />
von Diskriminierung der Frau (Frauenrechtskonvention)<br />
und sein Fakultativprotokoll<br />
– Übereinkommen gegen Folter und andere grausame,<br />
unmenschliche oder erniedrigende Behandlung<br />
oder Strafe (Anti-Folter-Konvention)<br />
– Übereinkommen über die Rechte des Kindes<br />
(Kinderrechtskonvention).<br />
Durch diese Konventionen ist die Ukraine verpflichtet,<br />
die Rechte derjenigen Personen zu respektieren<br />
und einzulösen, die sich auf ihrem Territorium<br />
befinden und ihrer Rechtsprechung unterstehen,<br />
und zwar ohne jegliche Diskriminierung, insbesondere<br />
nicht aufgrund des Geschlechts.<br />
Was ist Gewalt gegen Frauen?<br />
Die UN-Erklärung über die Beseitigung von Gewalt<br />
gegen Frauen definiert diese als:<br />
„jede gegen Frauen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit<br />
gerichtete Gewalthandlung, durch die<br />
Frauen körperlicher, sexueller oder psychologischer<br />
Schaden oder Leid zugefügt wird oder werden<br />
kann, einschließlich der Androhung derartiger<br />
Handlungen, der Nötigung und der willkürlichen<br />
Freiheitsberaubung, gleichviel ob im öffentlichen<br />
oder im privaten Bereich.“<br />
Die Weltgesundheitsorganisation definiert Partnergewalt<br />
als:<br />
jegliches Verhalten innerhalb einer intimen Beziehung,<br />
das körperliche, psychologische oder sexuelle<br />
Verletzungen zur Folge hat, einschließlich<br />
– Akten körperlicher Aggression wie Ohrfeigen,<br />
Schläge, Stöße oder Tritte<br />
– Psychologischer Misshandlung, wie Einschüchterung,<br />
dauerhafte Erniedrigung und Demütigung<br />
– Erzwungenen Geschlechtsverkehrs und anderer<br />
Formen sexueller Nötigung<br />
– Diverser kontrollierender Verhaltensweisen, wie<br />
Isolierung einer Person von ihrer Familie und ihren<br />
Freunden, Überwachung ihres Bewegungsfeldes,<br />
Beschränkung ihres Zugangs zu Information<br />
oder Hilfe.<br />
Die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Staaten<br />
sind nicht darauf begrenzt sicherzustellen, dass die<br />
eigenen Handlungsträger keine Gewalt ausüben.<br />
Sie sind auch verpflichtet, effektive Maßnahmen<br />
zu ergreifen, um Zuwiderhandlungen durch Privatpersonen<br />
oder Gruppen zu verhindern und zu bestrafen.<br />
Staaten haben deshalb die Pflicht, Gewalt<br />
gegen Frauen zu verhüten, zu verbieten und zu bestrafen,<br />
unabhängig davon, ob der Täter eine Privatperson<br />
oder eine im Auftrag des Staates handelnde<br />
Person ist. Der Staat ist außerdem zu Wiedergutmachung<br />
und Schadenersatz verpflichtet.<br />
Der Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung<br />
der Frau (Committee on the Elimination of<br />
Discrimination against Women – CEDAW), welcher<br />
die Einhaltung der UN-Frauenrechtskonvention<br />
durch die Mitgliedstaaten überwacht, formuliert<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 23
Ukraine: Häusliche Gewalt – Die Opfer werden beschuldigt<br />
in der Allgemeinen Empfehlung 19, dass Gewalt<br />
aufgrund des Geschlechts, einschließlich häuslicher<br />
Gewalt, eine Form der Diskriminierung darstellt.<br />
Somit ist die Ukraine als Vertragsstaat verpflichtet,<br />
„die notwendigen gesetzgeberischen und sonstigen<br />
Maßnahmen, insbesondere auch Sanktionen,<br />
zu ergreifen, um jede Form von Diskriminierung<br />
von Frauen zu unterbinden.“ Sie ist außerdem verpflichtet,<br />
mindestens alle vier Jahre über die Einhaltung<br />
der Konvention zu berichten. Der letzte<br />
Bericht ist von 2002.<br />
Der Europarat ruft seine Mitgliedstaaten dazu auf,<br />
angemessene Schritte zur Bekämpfung der Gewalt<br />
gegen Frauen einzuleiten und mittel- und langfristige<br />
koordinierte Aktionspläne zum Schutz der<br />
Frauen zu erstellen. <br />
Am 27. November 2006 startete der Europarat<br />
eine Kampagne zur Bekämpfung der Gewalt gegen<br />
Frauen, in der gefordert wird: „Der Schutz der<br />
Frauen vor Gewalt in der Familie und im Haus soll<br />
in allen Mitgliedstaaten des Europarats höchste<br />
politische Bedeutung haben, und sie sollen dafür<br />
ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung<br />
stellen.“<br />
Nationale Gesetzgebung<br />
In vielerlei Hinsicht spiegelt das ukrainische Recht<br />
die <strong>international</strong>en Rechtsstandards wider. Das<br />
Parlament verabschiedete am 15. November 2001<br />
ein Gesetz zur Prävention häuslicher Gewalt, das<br />
im Januar 2002 in Kraft trat.<br />
Die Ukraine war das erste Land der ehemaligen<br />
Sowjetunion, das ein solches Gesetz über häusliche<br />
Gewalt verabschiedete. Es deckt sämtliche Aspekte<br />
von Gewalt innerhalb der Familie ab und beinhaltet<br />
eine Definition von häuslicher Gewalt, die mit den<br />
UNO-Standards im Einklang steht. Das Gesetz ist<br />
präventiv ausgerichtet, und häusliche Gewalt wird<br />
nach den geltenden Bestimmungen des Straf- und<br />
des Verwaltungsrechts verfolgt.<br />
Dennoch hat das Gesetz sich als für die Bekämpfung<br />
häuslicher Gewalt nicht effektiv erwiesen.<br />
Eine parlamentarische Anhörung im Juni 2004<br />
(Situation der Frauen in der Ukraine: Wirklichkeit<br />
und Perspektiven) zog den Schluss, dass trotz des<br />
Gesetzes die Zahl der Gewalttaten in Familien weiterhin<br />
anstieg. <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> ist der Ansicht,<br />
dass es ernsthafte Mängel im Gesetz gibt, die<br />
behoben werden müssen, wenn es ein effektives<br />
Siehe Empfehlung Nr. R (2002) 5 des Minister-Komitees<br />
und das erläuternde Memorandum<br />
Mittel zur Verhütung von häuslicher Gewalt sein<br />
soll.<br />
Das Gesetz zur Prävention häuslicher Gewalt beinhaltet<br />
das Konzept des „Opferverhaltens“, das definiert<br />
wird als „Verhalten des Opfers, das häusliche<br />
Gewalt provoziert“. Artikel 11 sieht die Möglichkeit<br />
vor, Opfern häuslicher Gewalt „eine offizielle<br />
Verwarnung wegen der Unzulässigkeit von Opferverhalten“<br />
auszusprechen.<br />
Solch ein Konzept darf nicht in einem Gesetz<br />
vorkommen, auch wenn es ratsam sein kann, Fragen<br />
von Verhaltensmustern in der psychologischen<br />
Beratung zu benennen. Da entsprechende soziale<br />
Dienste und andere Stellen fehlen, um solche Vorschriften<br />
umzusetzen, tragen überarbeitete Polizeibeamte<br />
ohne entsprechende Ausbildung die Hauptlast<br />
bei der Entscheidung, ob eine Frau Opferverhalten<br />
an den Tag gelegt hat oder nicht.<br />
In der alltäglichen Realität leistet der Gesetzestext<br />
der Annahme Vorschub, Frauen würden<br />
schuldhaft die Gewalt selbst herbei provozieren,<br />
wodurch die Täter Verfolgung vermeiden können.<br />
Er ermöglicht es der Polizei und staatlichen Behörden,<br />
den Fokus darauf zu verlegen, Frauen zu einer<br />
„Verbesserung“ ihres Verhaltens anzuhalten, anstatt<br />
sie angemessen zu schützen oder die Gewalttäter<br />
zu verhaften.<br />
Darüber hinaus fließt jede Verwarnung wegen<br />
Opferverhaltens in die persönliche Beurteilung der<br />
Frau ein, wenn ein Fall an ein Gericht weitergeleitet<br />
wird, und kann als mildernder Umstand für den<br />
Täter geltend gemacht werden.<br />
Eine Anwältin in Lwiw, die mit einer NGO zusammenarbeitet,<br />
berichtete, dass einige Polizeibeamte<br />
erkannt haben, dass sie durch das Aussprechen<br />
von Verwarnungen Frauen davon abhalten<br />
können, Anzeige zu erstatten. In den ersten neun<br />
Monaten des Jahres 2005 wurden 3.049 Verwarnungen<br />
wegen Opferverhaltens ausgesprochen.<br />
Es scheint sich aber die Erkenntnis durchzusetzen,<br />
dass das Konzept aus dem Gesetz gestrichen<br />
werden soll. Für das Jahr 2006 gibt es in den offiziellen<br />
Statistiken der Abteilung Öffentliche Sicherheit<br />
keine Angaben über Opferverhalten mehr. Ein<br />
Vertreter der Abteilung berichtete <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong>,<br />
dass nun die Polizeibeamten angewiesen<br />
würden, vorsichtig bei der Benutzung dieses Terminus<br />
zu sein.<br />
Das Gesetz zur Prävention häuslicher Gewalt<br />
nennt eine Reihe von Maßnahmen zur Verhütung<br />
von Gewalt und zum Schutz der Opfer von Gewalt:<br />
Verordnungen zum Schutz, spezielle Institutionen<br />
zum Schutz der Opfer häuslicher Gewalt, Zentren<br />
für medizinische und soziale Rehabilitation, Krisenüberwachungszentren.<br />
24 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Ukraine: Häusliche Gewalt – Die Opfer werden beschuldigt<br />
Es gibt jedoch keinerlei spezifische Beschreibung<br />
solcher Einrichtungen und Dienste und keine<br />
Antwort auf die Frage, wie solche Dienste landesweit<br />
finanziert werden sollen. Die Abteilung Öffentliche<br />
Sicherheit informierte einen Vertreter von<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> im September 2006, dass die<br />
Schutzbestimmungen nur effektiv sind, wenn die<br />
Paare getrennt leben, und dass sie kein effektives<br />
Mittel sind, wenn ein Paar zusammenlebt, da es<br />
keine Vorkehrungen für eine getrennte Unterbringung<br />
der Täter gibt.<br />
Ein Polizist in Winnyzja gab an, dass bis zum<br />
September 2006 56 Schutzverfügungen erlassen<br />
wurden, und dass es keine Fälle gab, in denen ein<br />
Täter gegen die Auflagen verstoßen hätte. Das Ministerium<br />
für Familie, Jugend und Sport hat kürzlich<br />
verschiedene Dienste aufgebaut, einschließlich<br />
Zentren für soziale und psychologische Unterstützung<br />
junger Menschen und Familien. Doch diese<br />
Zentren richten sich an Familien, nicht an Frauen.<br />
Sie erfüllen nicht den <strong>international</strong>en Standard für<br />
Frauenhäuser. (s.u. Mangel an Frauenhäusern)<br />
Hindernisse für die Justiz<br />
Wie Frauen in anderen Ländern auch machen Frauen<br />
in der Ukraine, die Opfer häuslicher Gewalt geworden<br />
sind, selten den ersten Schritt, sich an die<br />
Polizei zu wenden, aber für eine strafrechtliche<br />
Verfolgung bedarf es der Anzeige durch das Opfer.<br />
Duldung von Gewalt, Angst vor Racheakten des<br />
gewalttätigen Partners, eigene Schuldgefühle,<br />
Angst davor, die eigene Familie in Verruf zu bringen,<br />
niedriges Selbstwertgefühl und materielle Abhängigkeit<br />
sind einige der Gründe dafür, dass<br />
Frauen nicht zur Polizei gehen. Aber sogar wenn<br />
Opfer häuslicher Gewalt den wichtigen Schritt unternehmen,<br />
häusliche Gewalt bei der Polizei anzuzeigen,<br />
und versuchen, die Gewalttäter strafrechtlich<br />
zu verfolgen, werden ihnen viele Steine in den<br />
Weg gelegt. In manchen Fällen halten unangemessene<br />
Strafen Frauen davon ab, Anzeige zu erstatten,<br />
in anderen Fällen empfinden die Frauen die Reaktion<br />
der Polizisten als unangemessen oder sind die<br />
Polizisten korrumpierbar.<br />
Häusliche Gewalt wird nicht als eigenständige<br />
Straftat angesehen und wird nach einer Reihe von<br />
Artikeln des Strafgesetzbuchs verfolgt, die sich auf<br />
leichte oder schwere Körperverletzung, Schläge,<br />
Misshandlung und Morddrohungen beziehen. Die<br />
üblicherweise herangezogenen Artikel sind Art.<br />
121 (vorsätzliche schwere Körperverletzung), Art.<br />
125 (vorsätzliche leichte Körperverletzung) und<br />
Art. 127 (Misshandlung).<br />
Die verhängten Strafen variieren von Geldstrafen<br />
bis zu Haftstrafen von bis zu zwei Jahren, und in<br />
außergewöhnlichen Fällen sind auch längere Haftstrafen<br />
möglich. In vielen Fällen hängt die Strafe<br />
vom Schweregrad der Verletzungen ab.<br />
Mit dem Gesetz zur Prävention häuslicher Gewalt<br />
wurde das Verwaltungsgesetzbuch um einen<br />
neuen Artikel ergänzt (Art. 173/2), der es möglich<br />
macht, für eine Straftat, die zuhause begangen<br />
wurde, eine Geldstrafe oder eine 15-tägige Haftstrafe<br />
zu verhängen.<br />
Die Praxis, für häusliche Gewalt Geldstrafen zu<br />
verhängen, schreckt Frauen davon ab, Gewalttätigkeit<br />
anzuzeigen, weil das Geld in aller Regel vom<br />
Haushaltsgeld abgezogen werden muss, wovon neben<br />
dem Gewalttäter auch die anderen Familienmitglieder<br />
betroffen sind. Eine für die NGO »Westukrainische<br />
Perspektiven« in Lwiw tätige Rechtsberaterin<br />
informierte <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong>, dass<br />
von zwanzig <strong>Richter</strong>n, die an einer von der NGO<br />
organisierten Fortbildung teilnahmen, 19 angaben,<br />
sie würden für häusliche Gewalt immer eine Geldstrafe<br />
verhängen, und nur eine <strong>Richter</strong>in gab an,<br />
dass sie immer eine 15tägige Haftstrafe verhängen<br />
würde.<br />
„Der Polizeichef hatte Anweisung gegeben, mich<br />
nicht reinzulassen. Offensichtlich hatte mein<br />
Mann ihn bestochen und er ließ mich einfach nicht<br />
in die Polizeistelle. Ich bin da hingegangen und<br />
man sagte mir, es gäbe die Anweisung, mich nicht<br />
reinzulassen.” Shanna, Winnyzja, September 2006<br />
In allen Schichten der ukrainischen Gesellschaft<br />
floriert die Korruption. Transparency International<br />
setzt die Ukraine in ihrem Korruptionswahrnehmungsindex<br />
für 2005 auf Rang 107 von 158.<br />
Der stellvertretende Innenminister gab im Oktober<br />
an, dass Beamte in den ersten neun Monaten<br />
des Jahres 2006 Bestechungsgelder in Höhe von<br />
9,3 Mio. Griwna (60 Mio. Euro) angenommen hätten<br />
. Die Tatsache, dass es innerhalb des Innenministeriums<br />
Korruption in hohem Maße gegeben hat,<br />
hat der Innenminister Juri Luzenko eingeräumt, als<br />
er seinen Posten im Februar 2005 antrat und eine<br />
Antikorruptionskampagne begann.<br />
Der Länderbericht zur Ukraine des amerikanischen<br />
Außenministeriums bezeichnet Korruption<br />
in der Justiz als ernstes Problem und legt dar, dass<br />
„Verdächtige Gerichtsbeamte oft mit dem Ziel bestachen,<br />
dass die Anklage fallengelassen würde,<br />
bevor es zu einer Gerichtsverhandlung käme, oder<br />
aber, um das Strafmaß herabzusetzen.”<br />
http://tribuna.com.ua/news/2006/10/12/60260/<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 25
Ukraine: Häusliche Gewalt – Die Opfer werden beschuldigt<br />
Opfer häuslicher Gewalt haben auch die Erfahrung<br />
gemacht, dass Korruption im Justizsystem und bei<br />
der Polizei verhindert, dass ihnen Gerechtigkeit zuteil<br />
wird.<br />
Shanna gab <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> gegenüber an,<br />
dass ihr Mann nicht nur die Polizei bestochen hat,<br />
sie nicht zu vorzulassen, sondern auch dafür bezahlt<br />
hat, dass sie die erste Verhandlung gegen ihn<br />
„verloren“ hat. Eine zweite Verhandlung wurde<br />
jetzt eröffnet, aber laut Shannas Aussagen ist es ihrem<br />
Mann gelungen, Zeugen zu bestechen.<br />
Mitglieder von NGOs beklagen, dass die Polizei<br />
es häufig ablehnt, in Fällen häuslicher Gewalt etwas<br />
zu unternehmen. Eine für die NGO Westukrainische<br />
Perspektiven in Lwiw tätige Rechtsberaterin<br />
berichtete <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong>, dass die Polizei<br />
in fünf bis acht Fällen von den 20 bis 25 Fällen<br />
häuslicher Gewalt, zu denen sie im Monat arbeitet,<br />
etwas unternimmt.<br />
Shanna erklärt, dass der Polizist ihr das erste<br />
Mal, als sie ihren Mann bei der Polizei anzeigte,<br />
weil er sie geschlagen hatte, sagte, sie solle ihm sexuelle<br />
Dienste leisten, wenn sie wolle, dass der Fall<br />
schnell bearbeitet würde.<br />
Mangel an Frauenhäusern<br />
Laut Völkerrecht ist die Ukraine dazu verpflichtet,<br />
mittels verschiedener Maßnahmen sicherzustellen,<br />
dass Frauen in ihren Bemühungen unterstützt werden,<br />
einer gewalttätigen Beziehung zu entkommen.<br />
Die UN-Vollversammlung als alle Regierungen der<br />
Welt vertretendes Organ hat in verschiedenen Resolutionen<br />
zu diesem Thema gefordert, dass Staaten<br />
Frauenhäuser und Notrufstellen bereitstellen,<br />
Mitarbeiter der Rechtsschutzorgane ausbilden und<br />
andere Initiativen ergreifen sollen, um Gewalt gegen<br />
Frauen auszurotten.<br />
Auch das Gesetz zur Prävention häuslicher Gewalt<br />
fordert die Einrichtung von Frauenhäusern.<br />
Es existieren verschiedene Arten von Zufluchtsstätten,<br />
die vom Staat oder von NGOs betrieben<br />
werden, aber es gibt keine umfassenden genauen<br />
Informationen über Frauenhäuser. Die meisten der<br />
vorhandenen Einrichtungen sind nicht speziell zur<br />
Unterstützung von Frauen, die Opfer häuslicher<br />
Gewalt geworden sind, eingerichtet worden und<br />
entsprechen in vielen Fällen nicht den <strong>international</strong>en<br />
Standards für solche Häuser.<br />
Standards für Frauenhäuser<br />
gemäß dem Bericht der 7. Assembly of Women’s<br />
Shelters and Support Centres,<br />
3. - 5. Dezember 2004 in Çanakkale, Türkei<br />
– Adressen von Frauenhäusern sind geheimzuhalten<br />
und Informationen/Daten über Frauenhäuser<br />
aufsuchende Frauen vertraulich zu behandeln.<br />
– Es darf keinerlei Diskriminierung aufgrund von<br />
Religion, Familienstand, Hautfarbe, Nationalität,<br />
Beruf, Muttersprache, Behinderung, sozialer<br />
Herkunft, Alter oder politischer Meinung gegenüber<br />
den Frauen geben.<br />
– Frauenhäuser sollen für alle Frauen offen sein,<br />
auch für kinderlose Frauen und Angehörige<br />
ethnischer Minderheiten.<br />
– Frauenhäuser sollen von Frauen betrieben werden,<br />
die sich der Belange der Frauen annehmen.<br />
– Frauen und ihre Kinder sollen gemeinsam untergebracht<br />
werden und es ist unbedingt für ihre<br />
Sicherheit Sorge zu tragen.<br />
– Es ist davon auszugehen, dass die Frauen Gewalt<br />
erlitten haben und dass ihre Aussagen wahr sind.<br />
– Frauenhäuser sollen die Frauen dazu ermutigen,<br />
einen Weg aus der Gewalt zu finden, indem Unterstützung<br />
in Form von Kinderbetreuung,<br />
Rechtsberatung, beruflicher Ausbildung, Arbeitsmöglichkeiten,<br />
medizinischer und psychologischer<br />
Betreuung angeboten wird in einer sicheren<br />
Umgebung, in der sie wieder Vertrauen<br />
fassen können.<br />
– Frauenhäuser bieten Unterstützung in Form von<br />
Kinderbetreuung, Rechtsberatung, beruflicher<br />
Ausbildung, Arbeitsmöglichkeiten, medizinischer<br />
und psychologischer Betreuung, damit<br />
sich die Frauen ein Leben ohne Gewalt aufbauen<br />
können.<br />
– Frauenhäuser bieten eine sichere Umgebung, in<br />
der Frauen wieder Vertrauen fassen können.<br />
Während der letzten zwei Jahre hat das Ministerium<br />
für Familie, Jugend und Sport 21 miteinander<br />
vernetzte Zentren für soziale und psychologische<br />
Unterstützung junger Menschen und Familien aufgebaut,<br />
weitere sind in Planung.<br />
Diese Zentren bieten juristische und psychologische<br />
Beratung sowie Unterbringung für bis zu<br />
drei Monaten an. Jedoch entsprechen sie nicht den<br />
<strong>international</strong>en Standards für Frauenhäuser und<br />
können nicht als den Anforderungen des Gesetzes<br />
zur Prävention häuslicher Gewalt genügend angesehen<br />
werden.<br />
Gründe dafür sind:<br />
– Die Zentren sind mit dem Ziel eingerichtet worden,<br />
die Familie als Ganzes zu schützen und<br />
nicht die Frauen.<br />
26 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Ukraine: Häusliche Gewalt – Die Opfer werden beschuldigt<br />
– Die Adressen der Zentren für soziale und psychologische<br />
Unterstützung sind auf der Website<br />
des Ministeriums veröffentlicht. Dies kann Opfer<br />
häuslicher Gewalt in Gefahr bringen, da Täter<br />
ihre Opfer leicht ausfindig machen können.<br />
– Frauen müssen in der Stadt / dem Stadtbezirk registriert<br />
sein, in dem sich das Zentrum befindet.<br />
Um zugelassen zu werden, muss die Registrierung<br />
nachgewiesen werden.<br />
Diese starren Zugangsbedingungen führen dazu,<br />
dass die staatlichen Einrichtungen oft ungenutzt<br />
bleiben. An Orten ohne ein solches Zentrum versuchen<br />
Sozialarbeiter und die lokalen Behörden, was<br />
ihnen möglich ist, um Frauen in Krisensituationen<br />
zu helfen.<br />
Der Direktor der lokalen Verwaltung für Jugend<br />
und Familie in Dnepropetrowsk erklärte <strong>amnesty</strong><br />
<strong>international</strong>, es gäbe mit dem Gesundheitsministerium<br />
die Absprache, dass den Frauen ein Bett in<br />
einem Krankenhaus angeboten werden kann.<br />
Internationale Standards fordern auch, dass Regierungen<br />
finanzielle Unterstützung für Opfer häuslicher<br />
Gewalt bieten. Die Einrichtung der oben genannten<br />
Zentren wurde durch das Ministerium finanziert,<br />
doch werden die laufenden Kosten dann<br />
den Kommunalverwaltungen überlassen. Dies kann<br />
problematisch sein, da einige Kommunalverwaltungen<br />
nur über sehr begrenzte Finanzmittel verfügen.<br />
Das Zentrum in Dnepropetrowsk blieb im letzten<br />
Jahr aufgrund von fehlenden Finanzen der<br />
Kommunalverwaltung geschlossen.<br />
Es gibt auch einige von NGOs betriebene Zufluchtsorte,<br />
die speziell auf Frauen, die Opfer häuslicher<br />
Gewalt geworden sind, ausgerichtet sind. In<br />
Kiew gibt es eine Einrichtung, die von einer Frauenorganisation<br />
betrieben und aus dem Budget der<br />
Stadt finanziert wird. Der Standort dieser Einrichtung<br />
wird gemäß den <strong>international</strong>en Standards<br />
vertraulich gehandelt, doch geschieht es nur in Ausnahmefällen,<br />
dass Frauen, die nicht in Kiew registriert<br />
sind, dort aufgenommen werden. <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
wurde weiterhin von Frauenhäusern in<br />
Charkiw und Odessa berichtet. Der Bürgermeister<br />
von Kiew versprach in einer live ausgestrahlten<br />
Fernsehsendung im Oktober 2006 die Einrichtung<br />
fünf weiterer Zufluchtsorte für Opfer häuslicher<br />
Gewalt.<br />
Viele Frauen verlassen eine durch Gewalt bestimmte<br />
Beziehung zeitweilig, indem sie zum Beispiel<br />
bei Verwandten oder Freunden Unterschlupf<br />
finden, die wenigsten aber gehen für immer. Meistens<br />
ist es das Fehlen praktikabler Alternativen,<br />
das sie davon abhält.<br />
Da Frauen häufig nicht über ein ausreichendes<br />
Einkommen verfügen, um Wohnraum zu mieten<br />
oder zu kaufen, können sie nirgendwo hin, wenn sie<br />
nicht bei Freunden oder Verwandten dauerhaft unterkommen<br />
können.<br />
Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen<br />
zum Recht auf angemessenes Wohnen als Teil<br />
des Rechts auf angemessenen Lebensstandard und<br />
des Rechts auf Nichtdiskriminierung stellte in seinem<br />
dem UN-Menschenrechtsausschuss im Februar<br />
2005 vorgelegten Bericht Frauen und angemessenes<br />
Wohnen fest, dass „Frauen, die von häuslicher<br />
Gewalt betroffen sind, schon an sich unter<br />
einer nicht angemessenen Wohnsituation leiden, da<br />
sie in ihrem Zuhause Gewalt erleben. Viele Frauen<br />
können dem Klima der Gewalt nicht entkommen,<br />
weil sie weder alternative Wohnmöglichkeiten noch<br />
die entsprechenden finanziellen Mittel haben.“<br />
Er rief die Regierungen auf „sicherzustellen,<br />
dass Frauen zeitlich begrenzt Zugang zu angemessenen<br />
Zufluchtsorten haben und bei der Suche nach<br />
angemessenem langfristigem Wohnraum Unterstützung<br />
erfahren, um zu verhindern, dass sie in<br />
Ermangelung angemessenen Wohnraums im gewaltgeprägten<br />
Umfeld bleiben müssen.“ Außerdem<br />
forderte er die Regierungen auf, „im Wohnrecht<br />
Regelungen einzuführen, die häusliche Gewalt verhindern,<br />
und in die Gesetzgebung zur häuslichen<br />
Gewalt eine Regelung aufzunehmen, die den<br />
Schutz des Rechts von Frauen auf angemessenen<br />
Wohnraum garantiert“.<br />
Eine für die NGO »Rosrada« in Kiew arbeitende<br />
Psychologin berichtete <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> vom<br />
Fall einer Frau, die vor den Augen ihrer beiden<br />
Söhne von ihrem Ehemann vergewaltigt wurde. Sie<br />
konnte es sich nicht leisten wegzuziehen und lebte<br />
zwei Jahre lang bei Freunden; als diese jedoch<br />
schließlich ihre Wohnung verkauften, sah sie sich<br />
gezwungen, in die Wohnung und zu ihrem Ehemann<br />
zurückzukehren, wo sie erneut Opfer von<br />
Gewalt wurde. Eine andere Frau, Larissa, lebt weiterhin<br />
mit ihrem Ehemann trotz der Tatsache, dass<br />
er sie in der Vergangenheit geschlagen hat. Sie berichtete<br />
einer Mitarbeiterin von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong>,<br />
dass die Anwesenheit zweier erwachsener<br />
Männer, ihres Sohnes und ihres Schwiegersohnes,<br />
ein „positiver Kontrollfaktor“ wäre.<br />
Im Wohnrecht gibt es eine Bestimmung (Art.<br />
116), die es möglich macht, jemanden aufgrund von<br />
unsozialem Verhalten aus kommunalen Wohnungen<br />
zu verweisen. Opfer häuslicher Gewalt haben<br />
von diesem Recht Gebrauch gemacht, um die Täter<br />
zum Auszug zu zwingen. Jedoch wohnen immer<br />
mehr Ukrainer in privatem Wohnraum, was die<br />
Anwendung dieses Artikels unmöglich macht.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 27
Ukraine: Häusliche Gewalt – Die Opfer werden beschuldigt<br />
Oft ergreifen Menschen verzweifelte Maßnahmen,<br />
um getrennt zu leben. Einige teilen das Wohneigentum<br />
und versuchen, getrennte Wohnräume zu<br />
schaffen; jedoch ist dies nur dann legal, wenn die<br />
Wohnung zwei Eingänge hat. Auch ist es verbreitet,<br />
Wohneigentum zu tauschen – etwa eine große<br />
Wohnung gegen zwei kleinere.<br />
Da es in der Ukraine keinen sozialen Wohnungsbau<br />
gibt, sind Frauen bei Verlassen der ehelichen<br />
Wohnung mit der Aussicht auf Obdachlosigkeit<br />
konfrontiert, so dass sich die meisten entscheiden<br />
zu bleiben und eher die Gewalt erdulden als sich<br />
der Obdachlosigkeit ausgesetzt zu sehen.<br />
Um Frauen zu ermöglichen, den Gewaltkreislauf zu<br />
verlassen, müssen ihnen kurzfristige Zufluchtsorte<br />
und langfristige Wohnmöglichkeiten zur Verfügung<br />
gestellt werden.<br />
Die vorherrschende Meinung<br />
Gender-Stereotypen<br />
„Eine nicht geschlagene Frau ist<br />
wie ein ungeflochtener Zopf.“<br />
Sprichwort aus dem Tschernowitzer Gebiet<br />
„Unsere Frauen sind nicht frei. Sie machen sich ihre<br />
Rechte nicht bewusst und fordern diese nicht ein.“<br />
Mitarbeiter des Ministeriums für Familie, Jugend und Sport<br />
Effektive Maßnahmen zur Vermeidung von häuslicher<br />
Gewalt sind unter anderem die Verwirklichung<br />
der Gleichberechtigung von Frauen und<br />
Männern und die Überwindung geschlechtsspezifischer<br />
Stereotypen; jedoch müssen Frauen auch<br />
ihre Rechte kennen und über die Opfern häuslicher<br />
Gewalt angebotenen Hilfen informiert sein.<br />
Mit der Verabschiedung des Gesetzes über die<br />
Gleichberechtigung von Frauen und Männern am<br />
8. September 2005, das am 1. Januar 2006 in Kraft<br />
trat, machte die Ukraine einen entscheidenden<br />
Schritt in Richtung Gleichberechtigung.<br />
Es werden jedoch gezielte Anstrengungen nötig<br />
sein, um die sozialen und kulturellen Verhaltensmuster<br />
zu ändern, die der Diskriminierung von<br />
Frauen und der Gewaltanwendung gegen sie Vorschub<br />
leisten.<br />
Ein weit verbreiteter Mythos, der durch das Gesetz<br />
zur Prävention häuslicher Gewalt noch untermauert<br />
wurde, ist der, dass den Frauen die Schuld<br />
zu geben ist für die Gewalt, die ihnen zugefügt<br />
wird.<br />
„Es ist ein Problem der Erziehung. Kinder müssen<br />
so erzogen werden, dass sie Selbstwertgefühl besitzen,<br />
insbesondere Mädchen. Was auch noch sehr<br />
wichtig ist, ist Offenheit. Es müssen Informationen<br />
verfügbar sein, so dass die Leute Bescheid wissen.<br />
Wissen Sie, viele Menschen haben den Begriff<br />
»Häusliche Gewalt« noch nie gehört.“<br />
Larissa, Winnyzja, September 2006<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> ist der Überzeugung, dass<br />
eine öffentliche Kampagne zu häuslicher Gewalt<br />
helfen kann, die öffentliche Stigmatisierung des<br />
Themas und die Akzeptanz von häuslicher Gewalt<br />
zu überwinden, und Frauen bestärken kann, darüber<br />
zu sprechen.<br />
Empfehlungen<br />
Es wird empfohlen,<br />
• das Gesetz zur Prävention häuslicher Gewalt dahingehend<br />
zu verändern, dass der Begriff des<br />
„Opferverhaltens“ darin nicht mehr vorkommt.<br />
• das Gesetz zur Prävention häuslicher Gewalt dahingehend<br />
zu verändern, dass darin die vorgesehenen<br />
Institutionen und Dienste aufgeführt werden,<br />
und eine eigene Finanzierung für solche<br />
Hilfsdienste für Opfer häuslicher Gewalt daran<br />
zu koppeln.<br />
• die Befugnisse der Staatsanwaltschaft stärker zu<br />
nutzen, um in Fällen von häuslicher Gewalt auch<br />
bei fehlender Anzeige des Opfers Verfahren einzuleiten<br />
und so das Risiko von Vergeltungstaten<br />
durch die Täter sowie die Zahl der im Nachhinein<br />
vom Opfer zurückgezogenen Anzeigen<br />
zu vermindern.<br />
• die Praxis der Verhängung von Geldstrafen für<br />
häusliche Gewalt zu unterbinden und sie durch<br />
geeignete Strafen zu ersetzen, die den Straftaten<br />
angemessen sind und die keine nachteiligen Auswirkungen<br />
für das Opfer mit sich bringen.<br />
• einen Verhaltenskodex für die Mitarbeiter der<br />
Rechtsschutzorgane zu schaffen, der einen angemessenen<br />
Umgang mit Opfern häuslicher Gewalt<br />
aufzeigt, um sicherzustellen, dass sie nicht noch<br />
einmal Opfer von für Genderfragen unsensiblen<br />
Praktiken der Rechtsschutzorgane werden, alle<br />
Polizeibeamten in der Anwendung dieses Kodex<br />
zu schulen und die Effektivität solcher Schulungen<br />
zu überwachen sowie sicherzustellen,<br />
dass solche Verhaltensregeln sich in der Praxis<br />
durchsetzen.<br />
28 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Ukraine: Häusliche Gewalt – Die Opfer werden beschuldigt<br />
• unverzüglich, sicher und langfristig staatliche<br />
Finanzmittel zur Verfügung zu stellen oder intensiv<br />
nach anderen Sponsoren zu suchen, um<br />
eine ausreichende Anzahl von geeigneten Zufluchtsorten<br />
überall im Land zu schaffen, und<br />
zwar in Kooperation mit NGOs, die beim Schutz<br />
von Frauen vor Gewalt Erfahrung haben. Sicherzustellen,<br />
dass solche Zufluchtsorte allen Frauen<br />
offen stehen, unabhängig von ihrem Wohnort<br />
oder ihrer Staatsbürgerschaft.<br />
• die Regularien zu übernehmen, die bereits von<br />
der Abteilung Öffentliche Sicherheit im Innenministerium<br />
genutzt werden, und eine zuverlässige<br />
und verständliche nach Geschlecht getrennte<br />
und auch die Art der Beziehung zwischen<br />
Opfer und Täter erfassende Statistik zu erstellen,<br />
die über die Anzahl der Anzeigen, der<br />
Ermittlungen und der Strafverfolgungen wegen<br />
häuslicher Gewalt gegen Frauen in der Ukraine<br />
Aufschluss gibt, und diese Statistik öffentlich<br />
zugänglich zu machen.<br />
• Aufklärungs- und Informationskampagnen zu<br />
finanzieren und durchzuführen, die sich mit den<br />
zugrunde liegenden sozialen und kulturellen<br />
Verhaltensmustern befassen, welche der Diskriminierung<br />
von Frauen und der Gewaltanwendung<br />
gegen sie Vorschub leisten. Diese Kampagnen<br />
sollen: Null-Toleranz gegenüber Gewalt gegen<br />
Frauen propagieren, die Stigmatisierung von<br />
weiblichen Opfern beenden und die Opfer darin<br />
bestärken, rechtliche Hilfe zu suchen. Die Kampagnen<br />
sollen Vertreter der Öffentlichkeit, Kommunalpolitiker,<br />
die Medien und die Zivilgesellschaft<br />
einbeziehen und in Schulen, Hochschulen,<br />
Bürgerforen und Arbeitsstätten stattfinden und<br />
über das Internet sowie öffentliche Vorlesungen<br />
und Diskussionen verbreitet werden.<br />
Menschenrechtlich relevante Nachrichten aus der Ukraine<br />
Im Newsletter von Radio Free Europe / Radio Liberty finden sich seit Februar 2007<br />
nur diese beiden für die Arbeit von ai relevanten Meldungen:<br />
18. Mai 2007<br />
Angriffe auf die Pressefreiheit<br />
Seit im Juli 2006 der Rechtsexperte der Regionalpartei,<br />
Oleh Kalaschnikow, vorm Parlamentsgebäude<br />
zwei Journalisten angriff, die dort filmten,<br />
häufen sich Meldungen über Aktivitäten zur Einschränkung<br />
der Pressefreiheit.<br />
Am 30. März 2007 wurden die Journalisten Olena<br />
Mechanyk und Olexandr Chomenko, beide von der<br />
Krim, angegriffen, als sie Unterstützer von Janukowitsch<br />
filmten, die in Züge nach Kiew stiegen.<br />
Die Webseite „Ukrainskaja prawda“ ist im vergangenen<br />
halben Jahr sechs Mal vom Parlamentspräsidenten<br />
Olexandr Moros verklagt worden.<br />
Am 20. März setzte das staatlich kontrollierte erste<br />
Fernsehprogramm sein einziges politisches Magazin<br />
ab, nachdem am Vortag Julia Timoschenko und<br />
ein führendes Mitglied der Partei „Unsere Ukraine“<br />
im Magazin zu Gast gewesen waren und von<br />
über 80 % der Anrufer Zustimmung bekommen<br />
hatten.<br />
Weiterhin gibt es Versuche, Parlamentsausschüsse<br />
und andere Gremien für die Massenmedien mit regierungsnahen<br />
Personen zu besetzen.<br />
Dieses einschüchternde Klima führt dazu, dass<br />
Journalisten immer mehr vermeiden, Kritik an der<br />
Regierungskoalition zu üben.<br />
6. September 2007<br />
Schwierigkeiten bei der Wiederansiedlung der<br />
Krimtataren<br />
Noch immer müssen zurückkehrende Krimtataren<br />
eine Diskriminierung in ihrem Heimatland befürchten,<br />
aus dem sie 1944 deportiert worden waren.<br />
Obwohl die ukrainische Regierung die Wiederansiedlung<br />
von Tataren mit jährlich 10 Mio. Dollar<br />
unterstützt hat, bekam doch nur die Hälfte von ihnen<br />
Land zugeteilt. Auf ihrem Weg zur Integration<br />
in die ukrainische Gesellschaft haben viele Krimtataren<br />
nach eigenen Angaben Diskriminierung zu<br />
gewärtigen und sind von deutlich höherer Arbeitslosigkeit<br />
betroffen als die übrige Bevölkerung.<br />
Ein sowjetisches Dekret vom 5.9.1967 erlaubte den<br />
Krimtataren die Rückkehr auf die Krim, jedoch<br />
wird diese rechtliche Grundlage bis heute weithin<br />
ignoriert.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 29
Ukraine<br />
ai-Koordinationsgruppe – Stefanie Beckmann<br />
Die Gewalt stoppt nicht vor dem eigenen Haus<br />
Die Ukraine ist ein Land der Gegensätze: auf der<br />
einen Seite zogen in diesem Jahr erstaunlich viele<br />
Frauen in den Wahlkampf und wird mit Julia Timoschenko<br />
auch eine Frau an der Spitze der Regierung<br />
stehen, auf der anderen Seite ist die Lage der<br />
Frauen in diesem Land immer noch von großer<br />
Schutzlosigkeit geprägt.<br />
Im Jahr 2006 veröffentlichte <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
einen Bericht zu häuslicher Gewalt in der Ukraine<br />
um der Basis Material für eine Kampagne zum<br />
Thema der Gewalt gegen Frauen bereitzustellen.<br />
Die dem Bericht angehängte Aktionsanleitung<br />
sieht unter anderem Solidarität mit den Frauenorganisationen<br />
vor Ort vor. Ganz in diesem Sinne besuchten<br />
wir im September 2007 mit dem »Ukrainian<br />
Women’s Fund« und dem »Kiewer Städtischen<br />
Zentrum der Arbeit mit Frauen« zwei Akteure – eine<br />
nichtstaatliche und eine staatliche Organisation.<br />
Der »Ukrainian Women’s Fund« schien der ideale<br />
Gesprächspartner für uns zu sein, da er das Netzwerk<br />
der ukrainischen Frauenorganisationen in den<br />
Regionen betreut. Leider kam es nur zu einem Informationsaustausch,<br />
da man auf die Pressekonferenz<br />
von Julia Timoschenko eilte, denn es war Ende<br />
September und die heißeste Zeit der Parlamentswahlen<br />
in der Ukraine. Das Gespräch mit der Kiewer<br />
städtischen Struktur gestaltete sich dafür intensiver:<br />
auf die gesetzliche Lage hin angesprochen,<br />
bestätigten die Experten der Organisation die<br />
Information aus dem Bericht von ai, dass es nach<br />
wie vor den Begriff des „Opferverhaltens“ in der<br />
Strafgesetzgebung gibt, dessen Anwendung dazu<br />
führt, dass Männer, die Frauen Gewalt antun, unter<br />
Umständen mit milderen Strafen rechnen können,<br />
wenn gezeigt werden konnte, dass die Frauen<br />
gleichsam Gewalt produzierten.<br />
Um für die Sache der Menschenrechte aktiv zu<br />
werden, gab es außer den Wahlen mit ihren interessanten<br />
Einflüssen auf die ukrainische Frauenbewegung<br />
auch die zahlreichen Möglichkeiten der Begegnung,<br />
die die <strong>international</strong>e Partnerschaftskonferenz<br />
„Das europäische Haus gemeinsam gestalten“<br />
in Kiew Ende September bot. Auf der Konferenz<br />
kamen sowohl ukrainisch-deutsche als auch<br />
belarussisch-deutsche Initiativen – meist mit sozialem<br />
Arbeitsschwerpunkt – zusammen. Zu zwei<br />
Frauenorganisationen aus Belarus, das ja, was die<br />
Rechte der Frauen betrifft, in einer ähnlichen Lage<br />
wie die Ukraine ist, wurde der Kontakt aufgenommen.<br />
Auch hier merkte man nach einer gewissen<br />
Zeit, dass selbst unter den Vorkämpferinnen für die<br />
Frauenrechte die Emanzipation dort ihre Grenzen<br />
hat, wo die Frau etwas von ihrem Nimbus der verehrten<br />
Schönen verliert und die Einkaufstüten allein<br />
tragen muss.<br />
Mit den Teilnehmern der Tagung führten wir auch<br />
die Aktion »Faces for Amnesty« der Initiatoren von<br />
belarus-actions (sind auf der gleichnamigen Internetseite<br />
zu finden: www.belarus-actions.org) durch<br />
und erklärten allen Mitmachenden die genauen<br />
Hintergründe zu den gewaltlosen Gefangenen<br />
Smizer Daschkewitsch und Aljaksandr Kasulin, für<br />
deren Freilassung sie mit ihrer Teilnahme eintraten.<br />
Zuflucht vor häuslicher Gewalt bietet das Zentrum<br />
in einer Art Frauenhaus, das jedoch einerseits nur<br />
sehr wenige Plätze bietet und andererseits in einer<br />
akuten Notsituation nicht unbedingt erreichbar<br />
schien. Die katholische Kirche leistet hier anscheinend<br />
in den Westgebieten der Ukraine eine weitaus<br />
bedeutendere Hilfe. Auch sie setzt wie die Notunterkunft<br />
innerhalb des Kiewer Zentrums der Arbeit<br />
mit Frauen den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die<br />
(Wieder)Zusammenführung der Familien.<br />
30 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Ukraine: Eilaktionen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
Eilaktion<br />
UA-Nr: UA-207/2007 · AI-Index: EUR 50/003/2007<br />
Datum: 9. August 2007<br />
Ukraine / Russische Föderation:<br />
Drohende Abschiebung / Drohende Folter<br />
Lema Susarow, 25 Jahre alt<br />
Die ukrainischen Behörden bereiten die Auslieferung des tschetschenischen Flüchtlings Lema Susarow<br />
[englische Transkription: Susarov] in die Russische Förderation vor, wo er in Gefahr wäre, gefoltert und<br />
weiteren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt zu werden. Die Ukraine ist Vertragsstaat der Genfer<br />
Flüchtlingskonvention und des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche<br />
oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, die beide die Rückführung von Personen in Staaten verbieten,<br />
in denen diesen Personen Folter droht. Lema Susarow befindet sich derzeit in der Hafteinrichtung<br />
Nr. 13 in Kiew.<br />
Das Büro des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) in der aserbaidschanischen Hauptstadt<br />
Baku hat Lema Susarow 2006 als Flüchtling anerkannt. Laut Angaben des UNHCR traf der Tschetschene<br />
Ende 2006 in der Ukraine ein. Die Russische Föderation forderte am 16. Februar 2007 seine Auslieferung,<br />
weil er wegen Raubes unter Anklage stehe. Die ukrainischen Behörden nahmen ihn daraufhin am 20. Juli<br />
2007 fest. Die Generalstaatsanwaltschaft entschied am 27. Juli 2007, ihn auszuliefern, dennoch wurde er<br />
am 8. August 2007 von der Einwanderungsbehörde der Hauptstadt Kiew als Asylbewerber registriert. Auf<br />
der Grundlage des Völkerrechts dürfen weder anerkannte Flüchtlinge noch Asylsuchende gegen ihren<br />
Willen in Länder verbracht werden, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit in Gefahr wären. Die ukrainische<br />
Behörden beabsichtigen offenbar, gegen diesen Grundsatz des Völkerrechts zu verstoßen. Sie haben<br />
bereits mehrfach zuvor Asylsuchende abgeschoben beziehungsweise ausgeliefert.<br />
HINTERGRUNDINFORMATIONEN<br />
Die russischen Sicherheitskräfte haben Berichten zufolge zahlreiche Tschetschenen misshandelt und gefoltert,<br />
um sie zu „Geständnissen“ zu zwingen. <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> und in der Region tätige Menschenrechtsorganisationen<br />
reagieren mit großer Besorgnis auf Berichte, denen zufolge zahlreiche Tschetschenen<br />
in der Russischen Föderation auf der Grundlage derartiger unter Folter erpresster „Geständnisse“<br />
unter Anklage gestellt werden, illegalen Gruppierungen anzugehören und terroristische Straftaten begangen<br />
zu haben. Immer wieder werden auch Vorwürfe erhoben, dass Gerichtsverfahren gegen Tschetschenen<br />
nicht den Standards für faire Prozesse entsprechen und auf konstruierten Beweisen basieren. Der<br />
tschetschenische Ombudsmann für Menschenrechte Nurdi Nuchadschijew [Nukhazhiev] hat Berichten<br />
zufolge im Februar 2006 erklärt, ein Großteil der verurteilten Tschetschenen in russischen Gefängnissen<br />
sei aufgrund falscher Anschuldigungen verurteilt worden, und die Mehrzahl der Fälle müsse überprüft<br />
werden. Bislang haben in nahezu keinem Fall Ermittlungen zur strafrechtlichen Verfolgung von Beamten<br />
mit Polizeibefugnissen wegen Folterungen geführt, so dass ein Klima der Straflosigkeit in der Region entsteht.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 31
Ukraine: Eilaktionen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
Empfohlene Aktionen<br />
Schreiben Sie bitte Telefaxe, E-Mails oder Luftpostbriefe, in denen Sie<br />
• die Behörden auffordern, sicherzustellen, dass Lema Susarow nicht an die Behörden der russischen Föderation<br />
ausgeliefert wird, da er ansonsten in Gefahr wäre, gefoltert und weiteren Menschenrechtsverletzungen<br />
ausgesetzt zu werden;<br />
• die Behörden daran erinnern, dass die Ukraine Vertragsstaat der Genfer Flüchtlingskonvention und des<br />
UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung<br />
oder Strafe ist und sich somit verpflichtet hat, niemanden in ein Land zu bringen, in dem dieser<br />
Person Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen;<br />
• die Behörden auffordern, die Freilassung von Lema Susarow zu veranlassen und ihn in die Obhut des<br />
UNHCR zu übergeben, damit eine dauerhafte Lösung für seine Lage gefunden wird.<br />
Appelle an:<br />
den Staatspräsidenten der Ukraine,<br />
W. Juschtschenko:<br />
Viktor Yushchenko, President of Ukraine,<br />
Bankovaya Str. 11, 01220 Kyiv, UKRAINE<br />
Anrede: Dear President Yushchenko<br />
Telefax: (00 380) 44 255 71 61<br />
E-Mail: postmaster@ribbon.kiev.ua<br />
den Generalstaatsanwalt der Ukraine,<br />
O. Medwedko:<br />
Oleksandr Medvedko, Prosecutor General,<br />
Riznitska Str.13/15, 01601 Kyiv, UKRAINE<br />
Anrede: Dear Prosecutor General<br />
Telefax: (00 380) 44-290 2851<br />
Kopien an:<br />
den Staatsanwalt von Kiew, J. Blaschiwski:<br />
Yevhen Blazhivskyi, Kyiv Prosecutor,<br />
Predslavynska Str. 45/9, 03150 Kyiv, UKRAINE<br />
(korrekte englische Anrede: Dear Prosecutor<br />
Telefax: (00 380) 44 524 8258/8262<br />
Botschaft der Ukraine,<br />
S.E. Herrn Ihor Dolhov,<br />
Albrechtstraße 26, 10117 Berlin<br />
Telefax: 030-2888 7163<br />
E-Mail: ukremb@t-online.de<br />
Bitte schreiben Sie Ihre Appelle möglichst sofort. Schreiben Sie in gutem Ukrainisch, Russisch, Englisch<br />
oder auf Deutsch. Da Informationen in Urgent Actions schnell an Aktualität verlieren können, bitten wir<br />
Sie, nach dem 20. September 2007 keine Appelle mehr zu verschicken.<br />
RECOMMENDED ACTION:<br />
Please send appeals to arrive as quickly as possible, in Russian or English or your own language:<br />
• urging the authorities to ensure that Lema Susarov is not forcibly returned to the Russian Federation,<br />
where he would be at risk of torture and other serious human rights violations;<br />
• reminding the authorities that as a state party to the Refugee Convention and the UN Convention<br />
against Torture, both of which prohibit the return in any manner whatsoever of any person to a situation<br />
where they would be at risk of torture or other serious human rights violations;<br />
• urging them to ensure that Lema Susarov is immediately released and handed over to the UNHCR to<br />
seek a durable solution to his situation.<br />
32 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Koordinationsgruppe<br />
Chronik von menschenrechtlich relevanten Ereignissen<br />
in der Republik Moldau<br />
Januar – Oktober 2007<br />
19. Februar<br />
Zahl der HIV-Infektionen steigt<br />
Nach offiziellen Angaben sind 29 000 der 4,3 Millionen<br />
Bewohner der Republik Moldau HIV-positiv.<br />
Das UN-Aidsprogramm UNAIDS schätzt ihre<br />
Zahl auf bis zu 69 000 - mehr als ein Prozent der<br />
Bevölkerung. Die Zahl der Neuinfektionen steigt.<br />
2005 haben die Behörden mit 444 neu HIV-positiven<br />
Menschen beinahe doppelt so viele Patienten<br />
registriert wie zwei Jahre zuvor.<br />
Staatspräsident Wladimir Woronin äußerte sich<br />
zum Welt-Aids-Tag am 1. Dezember 2006 erstmals<br />
im Fernsehen zu der Bedrohung durch Aids.<br />
[Ärztezeitung]<br />
27. Februar<br />
Verletzung der Religionsfreiheit<br />
Die Republik Moldau ist wegen Verletzung der Religionsfreiheit<br />
verurteilt worden. Das Land habe<br />
sich zu Unrecht geweigert, eine christlich-orthodoxe<br />
Religionsgemeinschaft zu registrieren, urteilte<br />
der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht<br />
in Straßburg. Die Gemeinschaft habe auch<br />
keine Möglichkeit gehabt, gegen die Nichtanerkennung<br />
ausreichende juristische Schritte zu unternehmen.<br />
Die Kläger erhielten 10.000 Euro Schadensersatz<br />
zugesprochen.<br />
[Radio Vatikan]<br />
28. März<br />
Häftlinge misshandelt – Republik Moldau<br />
verurteilt<br />
Weil ein schwerkranker Häftling bis zu seiner Not-<br />
OP an einen Heizkörper angekettet wurde, hat der<br />
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Republik<br />
Moldau verurteilt. Die Straßburger <strong>Richter</strong><br />
rügten zudem die Haftbedingungen im Gefängnis<br />
von Chişinău. Die Republik Moldau muss 15.000<br />
Euro Schmerzensgeld an drei Kläger zahlen. [taz]<br />
27.April<br />
Die Republik Moldau verbietet wieder CSD<br />
Zum dritten Mal in Folge hat die Stadtverwaltung<br />
der Hauptstadt Chişinău eine Cristopher-Street-<br />
Day-Parade verboten. Eine solche Veranstaltung<br />
sei eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und<br />
verletze außerdem die christlichen Werte der Republik<br />
Moldau. [queer.de]<br />
11. Juni<br />
Urgent Action: Valentin Besleag<br />
Valentin Besleag aus Transnistrien wurde am<br />
2. Juni verhaftet, ohne dass er und seine Familie<br />
über die Gründe informiert wurden. Er war als<br />
Kandidat für die Bürgermeisterwahl am 3. Juni in<br />
seinem Heimatdorf Corjova aufgestellt. Corjova ist<br />
eines von neun Dörfern, die auf dem Gebiet Transnistriens<br />
liegen, jedoch von der Republik Moldau<br />
aus regiert werden.<br />
Besleag wurde auf dem Heimweg verhaftet, als<br />
er mit dem Auto aus Richtung der Grenze zur Republik<br />
Moldau kam und Wahlmaterial mit sich<br />
führte. Nach transnistrischer Gesetzgebung ist es<br />
illegal, ausländisches Wahlmaterial einzuführen.<br />
Er wurde am 17. Juni freigelassen. In der Haft<br />
wurde er nicht geschlagen, jedoch in einer überfüllten<br />
Zelle untergebracht, die schlecht belüftet<br />
war und in der alle anderen Insassen rauchten. [ai]<br />
27. Juni<br />
Die Republik Moldau muss wegen brutaler<br />
Zwangsernährung 20.000 € Strafe zahlen<br />
Republik Moldau muss einem 42-jährigen Mann<br />
aus Chişinău wegen einer als Folter eingestuften<br />
Zwangsernährung im Gefängnis ein Schmerzensgeld<br />
von 20.000 € zahlen. Zu diesem Urteil kam in<br />
Straßburg der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.<br />
Der Beschwerdeführer, der an Schizophrenie<br />
leidet, verbüßt eine Haftstrafe wegen Betrugs.<br />
Nach mehrfachen Hungerstreiks wegen unerträglicher<br />
Haftbedingungen in zu kleinen und ungezieferverseuchten<br />
Zellen war er ab 2001 gewaltsam<br />
zwangsernährt worden.<br />
Die Ärzte hatten den Mann nach dessen Schilderung<br />
an den Haaren gezerrt und auf die Füße getreten,<br />
bis er vor lauter Schmerz den Mund öffnete.<br />
Mit einer Metallsonde hätten sie seinen Magen verletzt.<br />
Die besondere Brutalität des Verfahrens, bei<br />
dem der Mann innere Blutungen und eine Mageninfektion<br />
erlitt, sei als Folter einzustufen, befanden<br />
die Straßburger <strong>Richter</strong>. [dpa]<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 33
Republik Moldau: Chronik von menschenrechtlich relevanten Ereignissen · Januar – November 2007<br />
27. Juni<br />
Lokalwahlen<br />
In Chişinău wurde der 29jährige Kanditat der Liberalen<br />
Partei, Dorin Chirtoaca, zum Bürgermeister<br />
gewählt. Im Rest des Landes bleibt die Kommunistische<br />
Partei weiterhin die stärkste Partei mit 328<br />
von ihr gestellten Bürgermeistern. Zwar haben sich<br />
die Wahlbedingungen seit den letzten Kommunalwahlen<br />
2003 verbessert, doch wurde die Fairness<br />
weiterhin von <strong>international</strong>en Beobachtern kritisiert.<br />
[Radio Free Europe]<br />
9. Juli<br />
Pasat freigelassen<br />
Der ehemalige Verteidigungsminister Valeriu Pasat<br />
wurde auf Anweisung der Berufungskammer in<br />
Chişinău freigelassen. Die Freilassung fiele unter<br />
das Amnestiegesetz von 2004, nach dem zum zehnjährigen<br />
Bestehen der Verfassung der Republik<br />
Moldau alle Häftlinge mit Strafen von 7 Jahren und<br />
weniger entlassen werden dürfen, so Pasats Anwalt.<br />
Pasat wurde im März 2005 verhaftet, da er Kampfflugzeuge<br />
aus den Beständen der Republik Moldau<br />
zu einem zu geringen Preis an die USA verkauft<br />
haben solle und so dem Staat Schaden zugefügt<br />
habe.<br />
Informationen über die Republik Moldau<br />
Rumänische Truppen besetzten im Januar 1918 das<br />
zwischen den Flüssen Pruth, Dnjestr und dem Schwarzen<br />
Meer gelegene russische Generalgouvernement<br />
Bessarabien. Der Name hat nichts mit Arabien zu tun,<br />
sondern geht auf das aus der Walachei stammende Fürstengeschlecht<br />
Basarab zurück, welches den südlichen,<br />
heute in der Ukraine liegenden Teil der Region beherrscht<br />
hatte. Der übrige Teil war als Fürstentum Moldau<br />
1812 an Russland übergegangen. Gegründet worden<br />
war das Fürstentum im Jahre 1359, nachdem sich<br />
die Ungarn aus dieser Region zurückgezogen hatten.<br />
1538 geriet die Moldau unter den Herrschaftsbereich<br />
des Osmanischen Reichs.<br />
Das zum Zeitpunkt des rumänischen Einmarschs<br />
knapp zur Hälfe von Rumänen bewohnte Bessarabien<br />
schloss sich bereits im Februar 1918 Rumänien an. In<br />
einem geheimen Zusatzprotokoll des deutsch-sowjetischen<br />
Nichtangriffspakts vom August 1939 sicherte<br />
sich Moskau das Gebiet, das im Jahr darauf von Rumänien<br />
an die Sowjetunion abgetreten wurde. Von 1941<br />
bis zum Einmarsch der Roten Armee 1944 unterstand<br />
Bessarabien der mit Nazi-Deutschland verbündeten<br />
rumänischen Antonescu-Regierung.<br />
Nach dem Zerfall der Sowjetunion erklärte sich die<br />
Moldau am 23. Juni 1990 für souverän. Im August des<br />
folgenden Jahres wurde die Unabhängigkeit ausgerufen.<br />
Das Land wird seither in Anlehnung an seinen rumänischen<br />
Namen Moldova auch als Moldawien bezeichnet.<br />
Von den rund 4 Millionen Einwohnern der Moldau sind<br />
rund zwei Drittel rumänischsprachig. Etwa ein Viertel<br />
der Bevölkerung lebt nach Schätzungen im Ausland,<br />
vor allem in Rumänien und anderen EU-Staaten. Auf<br />
dem rumänischen Konsulat in der moldauischen<br />
Hauptstadt Chisinau warten derzeit laut nicht zu bestätigenden<br />
Angaben 800 000 Gesuche (teilweise mehrere<br />
Personen betreffend) zur Erlangung der rumänischen<br />
Staatsbürgerschaft auf eine Bearbeitung.<br />
Sollten sie positiv beantwortet werden, bedeutete dies,<br />
dass über die Hälfte aller Moldauer entweder über einen<br />
EU-Pass verfügten oder sich in EU-Gebiet aufhielten.<br />
Eine 2003 erlassene Bestimmung erlaubt moldauisch-rumänischen<br />
Doppelbürgern erst vier Jahre<br />
nach Erhalt des rumänischen Passes Reisefreiheit für<br />
das Gebiet der EU.<br />
Neue Zürcher Zeitung vom 20. August 2007<br />
34 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Internationales Sekretariat<br />
Republik Moldau: Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam<br />
„Es ist einfach normal“<br />
Auszug aus der Aktionsanleitung zum gleichnamigen Bericht<br />
AI Index: EUR 59/002/2007<br />
Der ausführliche Bericht „It is just normal“ zu Folter<br />
und Misshandlung in Polizeigewahrsam in der<br />
Republik Moldau ist im Internet unter<br />
http://web.<strong>amnesty</strong>.org/library/pdf/<br />
EUR590022007ENGLISH/$File/EUR5900207.pdf<br />
als pdf zu finden.<br />
Der Text hier soll einen kurzen Überblick geben<br />
über die wichtigsten Fakten und die konkreten Einzelfälle.<br />
Interessierte Gruppen können die gesamte<br />
Aktionsanleitung gerne bei uns anfordern. Ein<br />
Aktionsvorschlag ist am Ende dieser Zusammenfassung<br />
zu finden.<br />
Hintergrund<br />
Folter und Misshandlungen durch die Hand der Polizei<br />
sind weit verbreitet und systematisch in der<br />
Republik Moldau. Gesetzeshüter erzwingen routinemäßig<br />
durch Gewalt Schuldgeständnisse und<br />
Aussagen von Häftlingen, manchmal auch durch<br />
den Gebrauch von Folter. Die von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
untersuchten Fälle zeigen, dass Verdächtige,<br />
Zeugen und alle, die in irgendeiner Weise in eine<br />
polizeiliche Untersuchung verwickelt sind, dieser<br />
Behandlung unterzogen werden können.<br />
Seit 1995 ist die Republik Moldau Mitglied im<br />
Europarat und hat seitdem beträchtlichen Fortschritt<br />
bezüglich der Verbesserung des Schutzes<br />
der Menschenrechte gemacht, indem 62 von 200<br />
der Abmachungen des Europarats ratifiziert wurden.<br />
Die Republik Moldau ist Vertragsstaat in allen<br />
bedeutenden <strong>international</strong>en Abkommen, die Folter<br />
und Misshandlung durch Staatsbeamte verbieten<br />
(siehe Anhang 1 zu völkerrechtlichen Verpflichtungen<br />
der Republik Moldau).<br />
Innerhalb der Regierung besteht Bereitschaft zum<br />
Angehen des Problems, aber bisher hat die Regierung<br />
nicht genug getan, um Folter und Misshandlung<br />
auszurotten und die Methoden der Polizei zu<br />
verändern. Die Republik Moldau hat ihre Gesetze<br />
wesentlich überarbeitet, um sie nach europäischen<br />
Standards auszurichten, aber Praxis und innere<br />
Einstellung haben mit diesen Veränderungen nicht<br />
Schritt gehalten. Trotz positiver Entwicklungen<br />
werden weiterhin Vorwürfe von Folter und Misshandlung<br />
in Polizeigewahrsam an <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
herangetragen und es gibt Grund zur Annahme,<br />
dass das Problem weit verbreitet ist.<br />
Die Republik Moldau erfüllt ihre völkerrechtlichen<br />
Verpflichtungen nicht, die nötig wären, um<br />
ihren Bürgern das Recht auf ein Leben frei von Folter<br />
und anderer grausamer, unmenschlicher oder<br />
erniedrigender Behandlung oder Strafe zu garantieren.<br />
Ministerialbeamte und Leiter örtlicher Polizeidienststellen<br />
berichteten <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> unabhängig<br />
voneinander, dass mehr finanzielle Mittel<br />
benötigt würden; aber auch wenn ausreichend Mittel<br />
zur Verfügung stehen würden, werden Folter<br />
und Misshandlung nicht aufhören, solange es keine<br />
radikale Veränderung in der inneren Einstellung<br />
und fest verwurzelten Kultur der Gesetzeshüter<br />
gibt.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> ist besorgt, dass Polizeibeamte<br />
in der Republik Moldau die Möglichkeit der<br />
Unschuld nicht in Betracht ziehen, dass sie nicht<br />
adäquat ausgebildet und ausgestattet sind, um Beweise<br />
zu sammeln und die Fakten eines Falls zu ermitteln,<br />
und daher zu sehr darauf bedacht sind, zur<br />
Auflösung eines Verbrechens Geständnisse zu erhalten.<br />
Das System zur Evaluierung der Arbeit der<br />
Polizeibeamten und das System von Auszeichnungen<br />
und Anreizen benötigen eine Veränderung,<br />
da sie sich zurzeit auf die Anzahl an vor Gericht gebrachte<br />
Fälle stützen.<br />
Strategie<br />
Dies ist der erste bedeutende Bericht zur Republik<br />
Moldau von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> und wird daher<br />
voraussichtlich deutliche Wirkung haben. In den<br />
Jahren 2005 und 2006 wurden Urgent Actions (UA)<br />
für von Folter und Misshandlung bedrohte Personen<br />
durchgeführt. Die an die Regierung der Republik<br />
Moldau gesendeten Briefe führten zur Freilassung<br />
der Häftlinge. Die Regierung erhielt bis zu<br />
150 Briefe pro Tag und schrieb an <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
mit der Forderung, die Kampagne zu stoppen,<br />
da sie <strong>international</strong> das Bild der Republik Moldau<br />
ruiniere. Angesichts dieses „Erfolgs“ wurde<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 35
Republik Moldau: Folter und Misshandlungen im Polizeigewahrsam „Es ist einfach normal“<br />
der aktuelle Bericht „Republik Moldau – Folter und<br />
Misshandlung in Polizeigewahrsam“ (AI Index<br />
EUR 59/002/2007) verfasst. Während mehrerer Besuche<br />
von aiVertretern im Jahr 2007 zeigten das Innenministerium<br />
und das Büro des Generalstaatsanwalts<br />
eine bemerkenswerte Offenheit und Bereitschaft<br />
zur Kooperation. Während der Treffen bestätigten<br />
offizielle Vertreter, dass Folter und Misshandlung<br />
ein Problem seien, und luden <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
ein, Empfehlungen abzugeben.<br />
Seit der Unabhängigkeit von der ehemaligen Sowjetunion<br />
im August 1991 ist in der Republik Moldau<br />
der Übergang zu Marktwirtschaft und einer<br />
demokratischen Gesellschaft mit Problemen belastet<br />
und die Republik Moldau bleibt eines der ärmeren<br />
Länder in Europa. Die EU ist der größte<br />
Geldgeber und die Republik Moldau sieht ihre Zukunft<br />
zunehmend in Hinsicht auf vermehrte Kooperation<br />
mit der und Integration in die EU. Im Jahr<br />
2005 beschlossen die Republik Moldau und die EU<br />
den ersten Action Plan für die EU und die Republik<br />
Moldau im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik.<br />
Dessen Ziel ist es, der Republik<br />
Moldau bei politischen, wirtschaftlichen und institutionellen<br />
Reformen zu helfen, und der insbesondere<br />
die Abschaffung von Folter und Misshandlung<br />
vorsieht. Der nächste Action Plan (2008 - 2011)<br />
wird derzeit von der EU unter Mitarbeit der Regierung<br />
der Republik Moldau entworfen. Dies bietet<br />
die ideale Möglichkeit sich dafür einzusetzen, dass<br />
die Abschaffung von Folter und Misshandlung weiterhin<br />
fest auf der Agenda der Regierung der Republik<br />
Moldau bleibt.<br />
Ziel<br />
Das Ziel ist, Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam<br />
in der Republik Moldau durch das Festlegen<br />
von Schutzmaßnahmen gegen Folter und<br />
Misshandlung vorzubeugen und die Straflosigkeit<br />
der Täter abzubauen.<br />
Das Festlegen von Schutzmaßnahmen gegen Folter<br />
und Misshandlung wird den Schutz der Häftlinge<br />
sicherstellen und das Verhalten der Polizei verändern,<br />
indem die überkommene Praxis überwunden<br />
wird, die Unschuldsvermutung auszuhebeln und<br />
sich hauptsächlich auf Geständnisse zu verlassen.<br />
Für den Staat ist es unerlässlich, auf alle Klagen<br />
wegen Folter und Misshandlungen in Polizeigewahrsam<br />
in wirksamer Weise zu reagieren, um die<br />
weit verbreitete Straflosigkeit bei Fällen von Folter<br />
und Misshandlungen innerhalb der Polizei zu beenden.<br />
Fälle aus der Republik Moldau<br />
Diese drei Fälle von vermutlicher Folter und weiteren<br />
Misshandlungen bekräftigen Besorgnisse von<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong>s, dass die Behörden ihre<br />
Verpflichtungen zum wirksamen rechtlichen<br />
Schutz von Opfern von Menschenrechtsverletzungen<br />
nicht erfüllen.<br />
Entgegen den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs<br />
für Menschenrechte, die von den Behörden<br />
eine effektive Untersuchung solcher Beschuldigungen<br />
fordern, zeigen diese Fälle, dass gegen die<br />
in den Urteilen festgestellten Mängel nicht vorgegangen<br />
wird.<br />
1. A.B.<br />
A.B. gab <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> folgenden Bericht<br />
über seine Behandlung.<br />
A.B. war am 25. Februar 2006 in Chişinău in<br />
Räumen der für Organisierte Kriminalität zuständigen<br />
Abteilung von Beamten der Abteilung für Innere<br />
Sicherheit des Innenministeriums brutal geschlagen<br />
worden. Er war einbestellt worden, um<br />
Aussagen über Benzingutscheine zu machen, die er<br />
im Januar erhalten hatte. Er hatte den Verdacht gehabt,<br />
dass es sich um gestohlene Gutscheine handelte,<br />
daraufhin hatte er sie einem befreundeten<br />
Polizeibeamten übergeben, damit der auf einer Polizeistation<br />
kontrollieren könne, ob sie benutzbar<br />
seien. Der Freund teilte A.B. mit, die Coupons<br />
seien in Ordnung.<br />
Während des Verhörs am 25. Februar versuchten<br />
Polizeibeamte, A.B. zu der Aussage zu zwingen,<br />
dass der Freund ihm die Gutscheine gegeben habe,<br />
aber er lehnte es ab, eine falsche Aussage abzugeben.<br />
Die Beamten sagten ihm, dass sie ihn gehen<br />
lassen, wenn er das Gewünschte aussage. A.B. wiederholte<br />
seine Weigerung, eine unwahre Aussage<br />
zu machen. Daraufhin wurde er von einem höherrangigen<br />
Beamten der Abteilung für Innere Sicherheit<br />
verhört, der ihn ebenfalls zu einer Aussage zu<br />
zwingen versuchte. A.B. berichtet, dass ihm gedroht<br />
wurde, dass er des Diebstahls beschuldigt<br />
werde, und dann sei er von drei Beamten der Abteilung<br />
für Innere Sicherheit geschlagen worden, ein<br />
Beamter habe mit Handschellen auf ihn eingeschlagen,<br />
ein weiterer mit einer Plastik-Taschenlampe.<br />
Angeblich sei der Sanitäter des Haftzentrums dabei<br />
gewesen, habe seine Beine festgehalten und dieser<br />
habe bedauert, dass das Elektroschockgerät nicht<br />
funktioniere.<br />
Schon zuvor hatte sich A.B. an einer Hand verletzt,<br />
das Pflaster an dieser Hand hielt die Beamten<br />
davon ab, ihm Handschellen anzulegen. Er wurde<br />
auch auf ein Ohr geschlagen, das sofort anschwoll.<br />
36 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Republik Moldau: Folter und Misshandlungen im Polizeigewahrsam „Es ist einfach normal“<br />
Einige Stunden lang wurde er geschlagen, aber er<br />
weigerte sich weiter, die geforderte Aussage abzugeben.<br />
A.B.s Schwester war zu dem Haftzentrum gekommen<br />
um herauszufinden, was mit ihm geschehen<br />
sei – ihr wurde gedroht, dass sie ihren Arbeitsplatz<br />
verlieren werde. <strong>Dan</strong>n wurde ein Treffen mit<br />
A.B. arrangiert, bei dem sie ihn überzeugen sollte,<br />
die Aussage abzugeben.<br />
Nach seiner erneuten Weigerung wurde A.B.<br />
nach §195 (2) des Strafgesetzbuches wegen Diebstahls<br />
angeklagt. Nach der Misshandlung besorgten<br />
die Polizeibeamten einen staatlich bezahlten Anwalt<br />
für A.B. A.B. zufolge machte der Anwalt nicht<br />
einmal Notizen, als er von den Schlägen erzählte,<br />
die er soeben hatte erleiden müssen, ebenso nahm<br />
er nicht zur Kenntnis, dass sein Mandant stark blutete.<br />
Der Anwalt forderte A.B. auf, ihm US $150 zu<br />
übergeben, und ging fort.<br />
A.B. zufolge hatte die Polizei zunächst diese<br />
Geldübergabe dokumentiert, aber angeblich habe<br />
der Anwalt die Polizisten aufgefordert, diesen Bericht<br />
zu vernichten – jetzt gibt es keinen Bericht<br />
von der Geldübergabe.<br />
Nach der Misshandlung wurde A.B. in den Zellentrakt<br />
des Gebäudes gebracht.<br />
Zunächst lehnte es der zuständige Beamte der<br />
Abteilung gegen das organisierte Verbrechen ab,<br />
den Inhaftierten zu übernehmen, weil er so schwer<br />
verwundet sei. Nach einem Telefonat mit einem höheren<br />
Offizier wurde A.B. doch in dem Zellentrakt<br />
untergebracht.<br />
Die anderen Inhaftierten waren über den Zustand<br />
von A.B. schockiert und ermutigten ihn, um<br />
medizinische Hilfe zu bitten. A.B.’s Zellenältester<br />
warnte ihn, dass man ihn mit so offensichtlichen<br />
Verletzungen nicht entlassen werde. Am 26. Februar<br />
schaute sich ein sehr unerfahrener Sanitäter das<br />
verletzte Ohr an und meinte, dass er nichts tun könne.<br />
Am 27. Februar wurde eine Ambulanz gerufen<br />
und der Notarzt sagte, dass er in dem Haftzentrum<br />
keine Operation durchführen könne und A.B. in ein<br />
Krankenhaus gebracht werden müsse. Die Polizeibeamten,<br />
die ihn geschlagen hatten, behaupteten,<br />
dass man ihn mangels Transportmöglichkeiten<br />
nicht in ein öffentliches Krankenhaus verlegen<br />
könne und brachten ihn ins Krankenhaus des Innenministeriums.<br />
Dort wurde sein Ohr verbunden,<br />
aber nicht behandelt. Dies wurde auch nicht dokumentiert.<br />
Am 28. Februar wurde A.B. einem Untersuchungsrichter<br />
vorgeführt, der eine 10-tägige Haftstrafe<br />
anordnete.<br />
Am selben Tag engagierte A.B.’s Schwester einen<br />
Anwalt, der Revision gegen die Haftstrafe einlegte<br />
und eine Untersuchung der Misshandlungs-Vorwürfe<br />
forderte, weiterhin drang er auf eine medizinische<br />
Behandlung.<br />
Auf Betreiben des Anwalts fand am 6. März (9<br />
Tage nach den Schlägen) eine gerichtsmedizinische<br />
Untersuchung statt, in deren Ergebnis Quetschungen<br />
an A.B.’s Brustkorb, Beinen und Gesicht festgestellt<br />
wurden, und dass die Verletzungen an seiner<br />
Ohrmuschel von einer „traumatischen Einwirkung<br />
schwerer Gegenstände mit einer begrenzten<br />
Fläche zur Kraftübertragung“ herrühren. Es wurde<br />
konstatiert, dass die Verletzungen durch die von A.<br />
B. beschriebenen Schläge erlitten wurden. Der Experte<br />
weigerte sich jedoch, die Verletzung genauer<br />
zu untersuchen, weil es die hygienischen Verhältnisse<br />
in seinem Büro nicht erlaubten, den Patienten<br />
zu entkleiden.<br />
Am 7. März, 6. April, 5. Mai und am 5. Juni verhängte<br />
ein Untersuchungsrichter weitere 30-tägige<br />
Verlängerungen der Haft. A.B.s Anwalt legte gegen<br />
diese Entscheidungen Revision ein, aber seine Einsprüche<br />
wurden vom Revisionsgericht nicht behandelt.<br />
A.B. wurde bis zum 17. Juli in Haft gehalten,<br />
dann wurde er gegen Kaution freigelassen.<br />
Jedes Mal, wenn A.B. einem Untersuchungsrichter<br />
vorgeführt wurde, stellte dieser die Verletzungen<br />
fest und ordnete eine medizinische Behandlung<br />
an, aber weder die Freilassung noch eine Untersuchung<br />
der behaupteten Misshandlung.<br />
Die Forderungen nach Behandlung wurden<br />
ignoriert. Der Anwalt brachte den Fall der Misshandlung<br />
am 28. Februar sowie am 9. und 13. März<br />
2006 vor den Staatsanwalt, dieser weigerte sich jedoch,<br />
Anklage gegen die Polizeibeamten zu erheben.<br />
Gegen diese Entscheidungen legte A.B.s Anwalt<br />
am 21. April, 26. Juli und 9. November Einspruch<br />
ein. In einer Entscheidung vom 9. November<br />
missbilligte ein Untersuchungsrichter die Weigerung<br />
des Staatsanwaltes und entschied, dass es<br />
„triftige Gründe“ gebe, von „einer Misshandlung<br />
der inhaftierten Person gemäß § 328 (2) des Strafgesetzbuches“<br />
durch Polizeibeamte zu sprechen. Als<br />
der Staatsanwalt entschieden habe, kein Verfahren<br />
zu eröffnen, habe er die „unbestreitbaren Beweise“<br />
unberücksichtigt gelassen, „die sich im Verlauf des<br />
Strafverfahrens angesammelt hatten“.<br />
Daraufhin protestierte der Staatsanwalt gegen<br />
diese Entscheidung und bis heute gibt es keine Aktivitäten<br />
seitens der Behörden in diesem Fall.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> schrieb zu diesem Fall am<br />
18. April 2007 an den Generalstaatsanwalt, erhielt<br />
aber bis jetzt keine Antwort.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 37
Republik Moldau: Folter und Misshandlungen im Polizeigewahrsam „Es ist einfach normal“<br />
2. Sergei Gurgurow<br />
„Ich habe gewonnen, weil ich kein Geständnisabgelegt<br />
habe.“<br />
Sergei Gurgurow gab folgenden Bericht über seine<br />
Behandlung.<br />
Sergei Gurgurow wurde am 25. Oktober 2005<br />
von der Polizei im Bezirk Rîscani von Chişinău unter<br />
dem Verdacht, ein Mobiltelefon gestohlen zu<br />
haben, festgenommen. Er wurde im IVS des Polizei-Hauptquartiers<br />
von Chişinău festgehalten und<br />
wurde angeblich in der Zeit bis zu der Freilassung<br />
gegen Kaution am 3. November 2005 geschlagen.<br />
Während der Inhaftierung wurde er abends und<br />
mittags in Büros im zweiten Stock des Hauptquartiers<br />
gebracht und gefoltert, damit er den Diebstahl<br />
weiterer Mobiltelefone gestehe.<br />
Er sagt aus, dass er auf den Rücken geschlagen<br />
wurde, dass man ihn Elektroschocks ausgesetzt<br />
habe, dass man ihn beinahe mit einer Gasmaske erstickt<br />
habe und dass ihm seine Finger verdreht worden<br />
seien.<br />
Er hatte keinen Zugang zu einem Anwalt bis<br />
zum 3. November, als er bei Gericht einem Untersuchungsrichter<br />
vorgeführt wurde. Videoaufnahmen<br />
seiner Ankunft im Gerichtsgebäude, die <strong>amnesty</strong><br />
<strong>international</strong> vorliegen, zeigen, dass er nicht<br />
in der Lage war zu gehen und von zwei Polizeibeamten<br />
geschleppt wurde. Er konnte auch seine Finger<br />
nicht bewegen und hatte Schwierigkeiten beim<br />
Sprechen. Bei der Anhörung ordnete der <strong>Richter</strong><br />
die Freilassung gegen Kaution an. Dennoch wurde<br />
Sergei Gurgurow von Polizeibeamten aus dem Gerichtssaal<br />
geführt, man behauptete, es seien noch<br />
Papiere für seine Freilassung auszufüllen. In Wahrheit<br />
wurde er in das IDP der Abteilung gegen das<br />
organisierte Verbrechen verbracht. Sein Anwalt<br />
konnte am folgenden Tag – 4. November – lediglich<br />
seinen Aufenthaltsort ermitteln.<br />
Die Polizei rechtfertigte später die weitere Inhaftierung<br />
mit einem Haftbefehl vom 5. September<br />
2001. Dass dieser Haftbefehl aber nicht die Grundlage<br />
für Gurgurows Verhaftung am 25. Oktober<br />
2005 war, legt nahe, dass es darum ging, die Verletzungen<br />
geheim zu halten und eine Freilassung zu<br />
verhindern, die Gurgurow hätte nutzen können,<br />
Anklage wegen der erlittenen Folter zu erheben.<br />
Am 4. November erhob der Anwalt im Büro des<br />
Generalstaatsanwaltes Anklage wegen Misshandlung<br />
und es wurde eine Ermittlung eingeleitet, allerdings<br />
weder effektiv durchgeführt noch eine<br />
Aussage Sergei Gurgurows zu den Foltervorwürfen<br />
eingeholt.<br />
Sergei Gurgurow berichtet im Behandlungszentrum<br />
für Folteropfer der NGO »Memorial« den<br />
ai-Mitarbeiterinnen<br />
Am 1. Dezember 2005 ordnete der Untersuchungsrichter<br />
eine Verlängerung der Haft für 25 Tage an.<br />
Dagegen legte der Anwalt beim Revisionsgericht<br />
Einspruch ein und am 9. Dezember wurde Gurgurow<br />
gegen Kaution freigelassen.<br />
Bis zum 2. Dezember erhielt er keinerlei medizinische<br />
Behandlung der bei der Folter erlittenen<br />
Verletzungen, an diesem Tag wurde er in das Gefängniskrankenhaus<br />
verlegt. Dort gab es aber nicht<br />
den nötigen Neurologen, sodass er erst nach der<br />
Freilassung von Spezialisten behandelt werden<br />
konnte.<br />
Der 28-jährige Sergei Gurgurow ist nach den Misshandlungen<br />
und der Folter, die er durch die Polizei<br />
erlitten hatte, behindert und arbeitsunfähig. Beide<br />
Trommelfelle sind zerstört und auf einem Ohr kann<br />
er gar nichts mehr hören.<br />
Aufgrund der Verletzungen ist seine Sprechfähigkeit<br />
vermindert und die Verletzungen am Rücken<br />
machen es ihm unmöglich, ohne Krücken zu<br />
gehen. Im Juni 2007 wurden seine Behinderungen<br />
als solche 2. Grades eingestuft, was eine kleine monatliche<br />
Rente und einige Vergünstigungen mit sich<br />
bringt.<br />
Die Anklage wegen Diebstahls wird weiter aufrecht<br />
erhalten und er muss mit einem Prozess rechnen.<br />
Die Polizeibeamten, die ihn angeblich gefoltert<br />
haben, sind weiterhin im Dienst und haben Gurgu-<br />
38 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Republik Moldau: Folter und Misshandlungen im Polizeigewahrsam „Es ist einfach normal“<br />
rows Verwandte, bei denen er lebt, dermaßen bedroht,<br />
dass sie ihn baten auszuziehen.<br />
Bis zum 3. August 2007 ist in dieser Angelegenheit<br />
nichts weiter geschehen.<br />
Als letzte Entwicklung hat das Oberste Gericht<br />
am 3. Juli 2007 die Entscheidung des Bezirksgerichts<br />
revidiert, die Forderung von Gurgurows Anwalt<br />
nach Untersuchung der Foltervorwürfe abzulehnen.<br />
Der Fall wurde an das Bezirksgericht von<br />
Rîscani zurückverwiesen, das die Staatsanwaltschaft<br />
beauftragte, ein Strafverfahren zu eröffnen.<br />
Bis August 2007 ist dies nicht geschehen.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> schrieb am 30. November<br />
2005 und am 18. April 2007 und brachte die Besorgnis<br />
der Organisation zu diesem Fall vor.<br />
In einem Brief vom 9. März 2006, der sich auf<br />
eine Eilaktion von ai bezog, stellte der Generalstaatsanwalt<br />
fest, dass die in der Eilaktion wiedergegebene<br />
Darstellung der Ereignisse „nicht mit der<br />
Wirklichkeit übereinstimmt und Schaden für das<br />
Ansehen unseres Staates anrichtet“.<br />
In einer Antwort auf den Brief von ai vom 18.<br />
April schreibt der Generalstaatsanwalt, dass kein<br />
Verfahren eröffnet worden sei, weil keine „wesentlichen<br />
Anhaltspunkte für ein Verbrechen“ gefunden<br />
worden wären.<br />
3. Viorica Plate<br />
Viorica Plate wurde angeblich am 19. Mai 2007 von<br />
der Polizei auf der Polizeistation des Bezirks Botanica<br />
in Chişinău gefoltert.<br />
Sie wollte aus der Wohnung, in der sie mit ihrem<br />
ehemaligen Ehemann lebte, einige ihrer Habseligkeiten<br />
holen. Sie glaubt, dass ihr Ex-Ehemann die<br />
Polizisten dafür bezahlt hat, sie einzuschüchtern,<br />
damit sie ihren Anspruch auf die Hälfte der gemeinsam<br />
erworbenen Wohnung aufgebe.<br />
Polizeibeamte kamen in ihre Wohnung in Orhei,<br />
40 km entfernt von Chişinău, beschuldigten sie des<br />
Diebstahls von 7000 $ ihres Ehemanns und forderten<br />
sie zum Mitkommen auf. Als sie sich weigerte,<br />
warfen sie sie auf ein Sofa und verdrehten<br />
ihre Arme. Schließlich willigte sie ein und wurde<br />
zu einem Anbau der Polizeistation Botanica gebracht.<br />
Sie berichtet: „Einer von ihnen griff mir in die<br />
Haare und begann auf meinen Kopf einzuschlagen.<br />
Er sagte: „Ich schwöre, dass ich dich foltern werde.“<br />
Ich dachte, er will mir Angst machen. Wir gingen<br />
in ein Büro. Ich setzte mich. Einer holte eine<br />
Gasmaske und einige Lappen und sagte ,Sag uns,<br />
wo das Geld ist, oder wir setzen dir die Gasmaske<br />
auf. Die hatte neulich jemand auf, der hat Tuberkulose,<br />
und du steckst dich an.’<br />
Er nahm die Handschellen ab und befahl mir,<br />
mich auf den Boden zu legen. Ich wollte nicht, weil<br />
der Boden dreckig war, aber er stieß mich, bis ich<br />
lag. Er stülpte mir die Gasmaske über und begann,<br />
mir auf die Fußsohlen zu schlagen – Ich fing an zu<br />
schreien, daraufhin verschlossen sie die Luftzufuhr<br />
der Gasmaske.<br />
Ich fiel in Ohnmacht und sie begossen mich mit<br />
Wasser. Sie holten ein Metallrohr und banden mir<br />
die Hände hinter dem Rücken an das Rohr. <strong>Dan</strong>n<br />
stellten sie Stühle auf einen Tisch und hängten<br />
mich zwischen die Stühle. Sie fuhren fort, mir auf<br />
die Füße zu schlagen.“<br />
Nach den Schlägen wurde Viorica Plate in einen<br />
anderen Raum gebracht, wo eine Frau sie fragte,<br />
warum sie geschlagen worden sei und wo sie das<br />
Geld in der Wohnung ihres Ex-Ehemannes gefunden<br />
habe. Viorica Plate glaubt, dass dies ein Versuch<br />
war sie zu belasten.<br />
Wieder wurde sie zu den Beamten gebracht, die<br />
sie geschlagen hatten, sie bekam Angst vor weiteren<br />
Schlägen und griff sich ein Messer vom Tisch<br />
und schnitt sich in die Pulsadern. Eine Ambulanz<br />
kam und sie wurde in ein Krankenhaus gebracht.<br />
Sie sagt, dass ein Arzt sie untersucht und bestätigt<br />
hat, dass die Verletzungen ihren Aussagen entsprechen.<br />
Daraufhin schickte der Innenminister<br />
zwei Beamte, die sie vernahmen.<br />
Am 22. Mai erhob Viorica Plate Anklage beim<br />
Generalstaatsanwalt, und eine strafrechtliche Ermittlung<br />
wurde eingeleitet.<br />
Das Innenministerium leitete die Information an<br />
den Staatsanwalt der Stadt weiter, der den Fall weiter<br />
bearbeitete. Die der Folter angeklagten Polizeibeamten<br />
wurden während der Ermittlung nicht suspendiert.<br />
Am 8. Juni um 6:30 Uhr erschienen zwei der Polizisten,<br />
die sie geschlagen haben sollen, mit einem<br />
Durchsuchungsbefehl und durchsuchten ihre Wohnung.<br />
Sie zogen den Telefonstecker und nahmen ihr<br />
das Handy weg – sie schaffte es, ihr Handy zurückzubekommen<br />
und rief ihren Anwalt an, der mit den<br />
Polizisten sprach und eine Untersuchung ihres Verhaltens<br />
androhte.<br />
Der Anwalt berichtete <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
später, dass sie ihn heftig beschimpften und keine<br />
Bedenken zu haben schienen, dass ihr Verhalten<br />
dokumentiert würde. Dem Anwalt zufolge verließen<br />
sie sich auf „völlige Straflosigkeit“. Die Polizisten<br />
bestanden darauf, dass Viorica Plate erneut<br />
mit zur Polizeistation komme, aber sie weigerte<br />
sich und sicherte zu, dass sie im Verlaufe des Tages<br />
dort erscheinen werde.<br />
Am 11. Juni wurde Viorica Plate wegen Diebstahls<br />
angeklagt. Nach dem Einspruch ihres An-<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 39
Republik Moldau: Folter und Misshandlungen im Polizeigewahrsam „Es ist einfach normal“<br />
walts beim Revisionsgericht und beim Generalstaatsanwalt<br />
wurden die Anklagen gegen sie fallengelassen<br />
und sie kam frei.<br />
Das Verfahren gegen die der Folter beschuldigten<br />
Beamten wird weiter bearbeitet.<br />
Empfehlungen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> ist besorgt,<br />
– dass Polizeibeamte in der Republik Moldau das<br />
Prinzip der Unschuldsvermutung nicht respektieren,<br />
– dass sie nicht angemessen ausgebildet und<br />
– ausgerüstet sind, um Beweismittel zu sammeln<br />
und die Fakten eines Falls zu ermitteln<br />
– und in Folge dessen zu sehr auf Geständnisse angewiesen<br />
sind, um Verbrechen aufzuklären.<br />
• Das Bewertungssystem für die Arbeit eines Polizeibeamten<br />
und das System von Auszeichnungen<br />
und Anreizen innerhalb des Innenministeriums<br />
muss entsprechend geändert werden.<br />
• Das wachsende Bewusstsein für das Problem in<br />
Verbindung mit den zunehmenden Schadensersatzzahlungen,<br />
die der Europäische Gerichtshof<br />
für Menschenrechte auferlegt, haben zu einer<br />
steigenden Zahl von Klagen gegen Polizeibeamte<br />
wegen Folter und Misshandlung geführt, aber<br />
Gewalttäter handeln nach wie vor ungestraft.<br />
• Damit die Republik Moldau ihren <strong>international</strong>en<br />
Verpflichtungen zur Wahrung der Menschenrechte<br />
gerecht wird und auf ihrem Staatsgebiet<br />
das Recht der Menschen, nicht Opfer von<br />
Folter und Misshandlung zu werden, schützt,<br />
wird sie gewährleisten müssen, dass alle Anschuldigungen<br />
sorgfältig, zügig sowie unabhängig<br />
und unvoreingenommen untersucht werden,<br />
dass Gewalttäter bestraft werden und dass Opfern<br />
eine Entschädigung geboten wird.<br />
Um die dringendsten Probleme, die in diesem Bericht<br />
aufgezeigt werden, anzugehen, gibt <strong>amnesty</strong><br />
<strong>international</strong> der Regierung der Republik Moldau<br />
die folgenden Empfehlungen:<br />
• Das absolute Verbot von Folter oder anderer<br />
Misshandlung<br />
– Höhere Bedienstete des Innenministeriums sollten<br />
ihren für die Untersuchung von Straftaten<br />
und die Verwahrung Inhaftierter zuständigen<br />
Untergebenen klarmachen, dass Folter und Misshandlung<br />
von festgenommenen Personen (und<br />
zwar unabhängig davon, ob wegen einer Straftat<br />
oder einer Ordnungswidrigkeit verhaftet) oder<br />
–<br />
–<br />
Androhungen derartiger Behandlungen absolut<br />
untersagt sind – und dass solches Handeln sowie<br />
das stillschweigende Dulden von Folter und<br />
Misshandlung durch Vorgesetzte mit schwerwiegenden<br />
Sanktionen belegt wird;<br />
In Erwartung der Schaffung einer neuen, unabhängigen<br />
Prozedur zur Untersuchung aller Vorwürfe<br />
von Menschenrechtsverletzungen durch<br />
Sicherheitsbeamte sollten Staatsanwälte jedes<br />
Mal, wenn sie eine Beschwerde über Folter und<br />
Misshandlung erhalten, Untersuchungen anstrengen.<br />
Sie sollten das auch ohne eine formelle<br />
Beschwerde tun, wenn sie Grund haben, anzunehmen,<br />
dass Folter oder Misshandlung vorgekommen<br />
sind.<br />
Staatsanwälte und <strong>Richter</strong> sollten ihre gesetzlichen<br />
Befugnisse nutzen, um Untersuchungen<br />
einzuleiten, wann immer eine Person Vorwürfe<br />
über Folter oder Misshandlungen erhebt bzw.<br />
falls nachvollziehbare Gründe nahe legen, dass<br />
ein Akt von Folter oder Misshandlung vorgekommen<br />
ist, einschließlich gerichtsmedizinischer<br />
Untersuchungen. Sie sollten Beweismittel,<br />
die durch Folter und Misshandlung erzwungen<br />
wurden, von Gerichtsverfahren ausschließen.<br />
• Sicherheit vor Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam<br />
– Allen in Gewahrsam befindlichen Personen sollen<br />
zu Beginn des Gewahrsams sowohl die<br />
Gründe für ihre Festnahme als auch ihre Rechte<br />
dargelegt werden.<br />
Ihnen ist zu garantieren, dass sie Zugang zu<br />
einem Rechtsanwalt ihrer Wahl und einem Arzt<br />
erhalten und dass ihre Angehörigen über ihren<br />
Verbleib in Kenntnis gesetzt werden.<br />
Allen Verhafteten sollte garantiert werden, dass<br />
sie unverzüglich und regelmäßig einen Anwalt<br />
hinzuziehen (und auch ohne Aufsicht mit ihm<br />
sprechen) oder einen Arzt unter vier Augen konsultieren<br />
können.<br />
– Die Regierung der Republik Moldau sollte die<br />
Pläne, dem Justizministerium die Verantwortung<br />
für die Untersuchungshaft zu übertragen,<br />
umgehend umsetzen.<br />
Falls notwendig, sollten Bedienstete des Justizministeriums<br />
in die bestehenden Untersuchungshaftzentren<br />
»IDP« (Akronym aus dem Moldauischen,<br />
»izolatoare de detenńie preventivă«) entsandt<br />
werden, um zu gewährleisten, dass dort<br />
eine Trennung von Untersuchungs- und Verwahrungsaufgaben<br />
eingehalten wird.<br />
40 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Republik Moldau: Folter und Misshandlungen im Polizeigewahrsam „Es ist einfach normal“<br />
• Für alle Inhaftierten müssen genaue und standardisierte<br />
Aufzeichnungen geführt werden.<br />
Diese müssen Folgendes enthalten:<br />
– Informationen über Gründe für die Verhaftung,<br />
die Identität des Verhafteten, Datum und Uhrzeit<br />
der Festnahme, Anzeichen von Verletzungen<br />
oder Geisteskrankheiten, wann nächste Verwandte<br />
und ihr Anwalt kontaktiert wurden und<br />
wann diese den Inhaftierten besuchten, wann<br />
Nahrungsmittel angeboten wurden, wann der Inhaftierte<br />
befragt wurde, wann der Inhaftierte in<br />
eine andere Anstalt gebracht und wann er/sie<br />
entlassen wurde. Der Anwalt des Inhaftierten<br />
sollte Zugang zu diesen Aufzeichnungen über<br />
die Zwangsverwahrung haben.<br />
• Bei Straftaten sollte die Haftzeit, bevor der Verhaftete<br />
einem <strong>Richter</strong> vorgeführt wird, von 72<br />
auf 24 Stunden reduziert werden und dies sollte<br />
nicht als die zulässige, sondern als die maximale<br />
Dauer angesehen werden.<br />
– sobald Inhaftierte in Einrichtungen überführt<br />
wurden, die dem Justizministerium unterstehen,<br />
sollten sie aus Prinzip nicht in eine »IDP« des<br />
Innenministeriums zurückgebracht werden und<br />
Vernehmungen sollten unter Gewährleistung der<br />
notwendigen Schutzmaßnahmen gegen Befragungen<br />
unter Gewaltandrohung in der Einrichtung<br />
durchgeführt werden, in der sie in Gewahrsam<br />
sind.<br />
• Die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit von<br />
Sanitätern, die in den vom Innenministerium betriebenen<br />
Haftanstalten arbeiten, muss garantiert<br />
sein, damit gewährleistet ist, dass alle Fälle<br />
von Folter und Misshandlung genau dokumentiert<br />
werden.<br />
Hierzu sollten sie nicht vom Innenministerium,<br />
sondern von einem andern Ministerium angestellt<br />
sein, angemessen entlohnt werden sowie<br />
gut ausgerüstet und ausreichend qualifiziert<br />
sein, um ihre Aufgaben auszuführen.<br />
• Gründliche, vertrauliche medizinische Untersuchungen<br />
bei der Ankunft in und der Abreise aus<br />
einer Haftanstalt sollten gesetzlich vorgeschrieben<br />
werden.<br />
• Alle Verhöre sollten in dafür bestimmten Räumlichkeiten<br />
stattfinden. In den Büros der Ermittlungsbeamten<br />
sollten keine Verhöre durchgeführt<br />
werden.<br />
•<br />
• Die Auflage aus der Strafprozessordnung, dass<br />
während Polizeiverhören immer Anwälte anwesend<br />
sein müssen, muss erfüllt werden, und alle<br />
Verhöre sollten genau aufgezeichnet werden, am<br />
besten mit einer Video/Audio-Ausrüstung.<br />
• Die Unschuldsvermutung muss respektiert und<br />
in Haftanstalten eine strenge Trennung zwischen<br />
Verurteilten und Untersuchungshäftlingen eingehalten<br />
werden.<br />
• Häftlinge, die wegen eines Vergehens nach dem<br />
Verwaltungsgesetzbuch verurteilt wurden,<br />
sollten ihre Haftstrafen nicht in IDP-Einrichtungen<br />
verbüßen. Das Gesetzbuch sollte dahingehend<br />
geändert werden, dass Menschen, die<br />
wegen Verstößen gegen das Verwaltungsgesetz<br />
festgenommen werden, die gleichen Rechte genießen<br />
wie die nach dem Strafgesetzbuch Verhafteten,<br />
wie z. B. das Recht einen Anwalt hinzuzuziehen.<br />
• Eindeutige Sicherheitsmaßnahmen sollten gewährleisten,<br />
dass die Praxis, nach dem Verwaltungsgesetzbuch<br />
Inhaftierte zur Arbeit zu schicken,<br />
nicht missbraucht wird, indem sie gegen<br />
ihren Willen arbeiten müssen.<br />
• Es muss gewährleistet werden, dass <strong>Richter</strong> sich<br />
der Möglichkeit bewusst sind, jemanden gegen<br />
Kaution auf freien Fuß zu lassen. Verfahren, die<br />
es <strong>Richter</strong>n ermöglichen, Maßnahmen ohne<br />
Freiheitsentzug zu verhängen, müssen insbesondere<br />
für diejenigen, die nach dem Verwaltungsgesetzbuch<br />
angeklagt sind, klargestellt bzw. eingeführt<br />
werden.<br />
• Die Empfehlungen des Europäischen Komitees<br />
zur Verhütung von Folter und unmenschlicher<br />
oder erniedrigender Behandlung oder Strafe<br />
(CPT) hinsichtlich der Bedingungen in IDP-Einrichtungen<br />
müssen vollständig und umgehend<br />
umgesetzt werden.<br />
Es muss insbesondere gewährleistet werden,<br />
dass angemessene und der Menge nach ausreichend<br />
Nahrungsmittel angeboten werden. Für<br />
die Renovierung dieser Einrichtungen müssen<br />
klare Fristen gesetzt werden.<br />
• Es muss ein Nationaler Präventionsmechanismus<br />
geschaffen werden, der dem Zusatzprotokoll zur<br />
UN-Anti-Folterkonvention (OPCAT) gerecht<br />
wird, indem er funktionell unabhängig, in Konsultationen<br />
mit Vertretern der Zivilgesellschaft<br />
entwickelt und mit den notwendigen Finanzmit-<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 41
Republik Moldau: Folter und Misshandlungen im Polizeigewahrsam „Es ist einfach normal“<br />
teln ausgestattet wird. Ein Gesetz über den Nationalen<br />
Präventionsmechanismus muss umgehend<br />
verabschiedet werden.<br />
• Effektive Auswertungen<br />
Kriterien für die Evaluierung der Arbeit der Polizei<br />
auf allen Ebenen müssen klar und präzise<br />
sein und qualitative Kriterien einschließen, die<br />
auf dem Kodex für Ethik und Sittenlehre für die<br />
Arbeit der Polizei basieren und Verständnis für<br />
Menschenrechte, Einstellungen und Kommunikationsfähigkeit<br />
widerspiegeln.<br />
(Im Mai 2006 wurde in der Republik Moldau ein<br />
Kodex für Ethik und Sittenlehre für die Arbeit<br />
der Polizei mit dem Ziel angenommen, das Verhalten<br />
der Polizei zu verbessern, das Vertrauen<br />
in die Polizei in der Gesellschaft zu verankern<br />
und Missbrauch von professioneller Seite auszumerzen.<br />
[Siehe Seite 8 imBericht „It is just normal“;<br />
Anmerkung der Übersetzerin])<br />
•<br />
–<br />
–<br />
Straflosigkeit verhindern<br />
Es sollte gewährleistet sein, dass alle Vorwürfe<br />
von Misshandlung oder Folter durch Polizeibeamte<br />
zum Gegenstand einer unverzüglichen,<br />
gründlichen und unparteiischen Untersuchung<br />
gemacht werden, die eine Befragung des Opfers<br />
und weiterer Zeugen einschließt.<br />
Die Regierung der Republik Moldau sollte die<br />
Einrichtung einer ausreichend ausgestatteten<br />
und unabhängigen Kommission in Betracht zie-<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
hen, die alle Anschuldigungen über Verletzungen<br />
der Menschenrechte durch alle Bediensteten<br />
von Vollzugsbehörden – einschließlich von Polizisten<br />
– untersucht.<br />
Jeder Polizeibeamte oder Bedienstete einer Vollzugsbehörde<br />
gegen den wegen des Verdachts,<br />
Akte von Folter oder andere Misshandlungen begangen<br />
zu haben, ermittelt wird, sollte für die<br />
Dauer der Ermittlungen bei vollen Bezügen vom<br />
Dienst suspendiert werden.<br />
Jeder Polizeibeamte oder Bedienstete einer Vollzugsbehörde,<br />
der begründeterweise für verdächtig<br />
gehalten wird, für Folter oder Misshandlungen<br />
verantwortlich zu sein, sollte vor Gericht gestellt<br />
werden. Falls er für schuldig befunden<br />
wird, soll eine Strafe ausgesprochen werden, die<br />
in angemessenem Verhältnis zur Schwere der<br />
Tat steht.<br />
Opfer und ihre Angehörigen sollten eine Wiedergutmachung<br />
erhalten, einschließlich einer fairen<br />
und angemessenen Entschädigung sowie – falls<br />
nötig – der Mittel für eine möglichst vollständige<br />
Rehabilitation.<br />
Statistiken zu Beschwerden über Folter oder<br />
Misshandlung und darüber, wie diesen nachgegangen<br />
wurde, sollten regelmäßig veröffentlicht<br />
werden, um Muster von Rechtsverletzungen zu<br />
erkennen und Gegenmaßnahmen und -verfahren<br />
einzuleiten.<br />
42 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Aktionsidee<br />
für Vielbeschäftigte:<br />
Schick eine Spirale<br />
in die Republik Moldau!<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 43
Republik Moldau: Aktionsidee<br />
Aktionsidee für Vielbeschäftigte:<br />
Schick eine Spirale<br />
in die Republik Moldau!<br />
Es kommt in der Republik Moldau nicht selten vor,<br />
dass Kanaldeckel gestohlen werden, um sie einzuschmelzen<br />
und das Material anschließend zu verkaufen.<br />
Dadurch entstehen große schwarze Löcher<br />
im Boden, in die jeder Gefahr läuft hineinzufallen,<br />
da sich die offenen Löcher häufig in unbeleuchteten<br />
Straßen befinden.<br />
Diese schwarzen Löcher können symbolisch<br />
verwendet werden – jeder ist anfällig dafür, in ein<br />
schwarzes Loch der Menschenrechtsverletzungen<br />
zu fallen und in Polizeigewahrsam in der Republik<br />
Moldau gefoltert oder misshandelt zu werden.<br />
1. Anhang ausdrucken<br />
2. Papier in der Mitte – zwischen den beiden Spiralen<br />
– falten<br />
3. Die Spiralen mit beiden Rückseiten aneinander<br />
kleben<br />
4. Spirale entlang der äußeren Begrenzung ausschneiden<br />
und entlang der gestrichelten Linien<br />
einschneiden, so dass die Spirale in beide Richtungen<br />
fallen kann - entweder in das schwarze<br />
Loch der Menschenrechtsverletzungen oder aus<br />
dem schwarzen Loch heraus in Richtung vermehrter<br />
Achtung der Menschenrechte.<br />
5. Namen und Land auf die Spirale schreiben (das<br />
ist wichtig, damit die Regierung in der Republik<br />
Moldau weiß, dass es sich um eine <strong>international</strong>e<br />
Aktion handelt), Spirale nach Belieben anmalen<br />
und an eine der im Anhang zu findenden Adressen<br />
der Regierung und/oder an die moldauische<br />
Botschaft schicken.<br />
Auf der schwarzen Seite der Spirale, die in ein<br />
Loch fallende Menschen darstellt, steht:<br />
„Hebt die Republik Moldau aus dem schwarzen<br />
Loch der Menschenrechtsverletzungen heraus.<br />
Stoppt Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam<br />
jetzt!“<br />
Adressen der Regierung<br />
der Republik Moldau:<br />
Präsident der Republik Moldau<br />
Vladimir VORONIN<br />
Stefan cel Mare Blvd, 154<br />
277073 Chişinău<br />
Republik Moldau<br />
Fax: + 373 - 22 24 50 89<br />
Anrede: Dear President<br />
Minister of Internal Affairs<br />
Gheorghe PAPUC<br />
Stefan cel Mare Blvd, 75<br />
MD-2012, Chişinău<br />
Republik Moldau<br />
Fax: + 373 - 22 22 27 23<br />
Anrede: Dear Minister<br />
Justizminister<br />
Vitalie PIRLOG<br />
Stefan cel Mare Blvd, 73<br />
277001 Chişinău<br />
Republik Moldau<br />
Fax: +373 - 22 23 47 97<br />
Anrede: Dear Minister<br />
Generalstaatsanwalt der Republik Moldau<br />
Valeriu BALABAN<br />
Mitropolit Benulesku-Bodoni Str., 26<br />
MD-2005 Chişinău<br />
Republik Moldau<br />
Fax: + 373 - 22 21 20 32<br />
Anrede: Dear Prosecutor General<br />
Auf der weißen Seite, mit einem lachenden Gesicht<br />
in der Mitte, steht geschrieben:<br />
„Niemand soll Folter oder unmenschlichen und erniedrigenden<br />
Behandlungen oder Strafen ausgesetzt<br />
sein. Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention.“<br />
Auf welche Seite die Spirale fällt liegt im Ermessen<br />
der Regierung der Republik Moldaus.<br />
44 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Eilaktion<br />
Republik Moldau: Eilaktionen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
UA-Nr: UA-145/2007 · AI-Index: EUR 59/001/2007<br />
Datum: 11.Juni 2007<br />
Moldau (Dnjestr-Republik): Drohende Folter<br />
Valentin Besleag, 59 Jahre alt<br />
Valentin Besleag aus dem Dorf Corjova in der Region Dubasari der selbsternannten Moldauischen Dnjestr-Republik<br />
(Transnistrien) ist seit dem 2. Juni 2007 im Gewahrsam der Polizeiwache von Dubasari.<br />
Weder er noch seine Familie wurden über die Gründe seiner Inhaftierung unterrichtet, und man hat ihnen<br />
auch nicht den richterlichen Beschluss für die Festnahme gezeigt. Darüber hinaus dürfen seine Familienangehörigen<br />
ihm Medikamente, die er dringend benötigt, nicht zukommen lassen. Möglicherweise handelt<br />
es sich bei Valentin Besleag um einen gewaltlosen politischen Gefangenen, der allein wegen der<br />
Wahrnehmung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung inhaftiert worden ist.<br />
Valentin Besleag war einer der Kandidaten bei der Bürgermeisterwahl von Corjova, die am 3. Juni 2007<br />
stattfinden sollte. Corjova ist eines von neun Dörfern in einem Territorium, das in der Dnjestr-Republik<br />
gelegen ist, aber von der Zentralregierung von Moldau (Moldawien) kontrolliert wird, da die Einwohner<br />
der Orte während des Bürgerkriegs von 1990 bis 1992 auf Seiten der moldauischen Streitkräfte standen.<br />
Die Dnjestr-Republik wird <strong>international</strong> nicht als souveräner Staat anerkannt. Dort sind sowohl Streitkräfte<br />
als auch Friedenstruppen der Russischen Föderation stationiert. Am 3. Juni dieses Jahres fanden in<br />
Moldau landesweit Kommunalwahlen statt, die aber in der Dnjestr-Republik nur in den von der moldauischen<br />
Zentralregierung kontrollierten Gebieten durchgeführt werden konnten.<br />
Valentin Besleag war am 1. Juni 2007 gegen 23:00 Uhr mit Wahlkampfmaterial aus Moldau zurückgekehrt,<br />
als er von Verkehrspolizisten angehalten wurde, die seinen Führerschein konfiszierten und ihn anwiesen,<br />
sich zur Polizeiwache in dem Ort Dubasari zu begeben. Er weigerte sich, dem umgehend Folge zu<br />
leisten, begab sich aber am folgenden Morgen um acht Uhr dorthin, um seinen Führerschein zurückzubekommen.<br />
Valentin Besleag kehrte jedoch nicht nach Hause zurück und war auch nicht über sein Mobiltelefon<br />
zu erreichen. Seine Tochter ging am 2. Juni 2007 um 14:00 zu der Polizeistation, um sich nach seinem<br />
Verbleib zu erkundigen. Sie konnte durch eine halbgeöffnete Tür einen Blick von ihm erhaschen, als<br />
man ihr seinen Gürtel, seine Schnürsenkel und sein Mobiltelefon aushändigte. Dabei konnte sie sehen,<br />
dass seine Hände hinter dem Rücken gefesselt waren. Die Polizeibeamten machten keinerlei Angaben darüber,<br />
warum Valentin Besleag festgenommen worden war. Als die Tochter fragte, weshalb die Familie<br />
nicht über seine Inhaftierung informiert wurde, antworteten die Polizisten, da müsste sie schon den <strong>Richter</strong><br />
fragen. Deshalb geht Valentin Besleags Familie davon aus, dass er bereits einem <strong>Richter</strong> der Dnjestr-<br />
Republik vorgeführt und angeklagt worden ist. Die Familienangehörigen vermuten, dass sich die Anklage<br />
auf den Transport der Wahlkampfunterlagen beziehen könnte. Laut den gesetzlichen Bestimmungen der<br />
Dnjestr-Republik ist die Einfuhr von Wahlkampfmaterialien aus dem Ausland, wozu auch Moldau gezählt<br />
wird, untersagt.<br />
Obwohl Valentin Besleag vor seiner Festnahme über Brustschmerzen geklagt und deswegen Medikamente<br />
eingenommen hatte, darf ihm seine Familie weder Lebensmittel noch Arzneimittel in der Haft zukommen<br />
lassen. Seine Angehörigen haben sich bemüht, einen Rechtsanwalt für ihn zu finden, aber wegen<br />
der politisch motivierten Anklagen war bislang niemand bereit, sein Mandat zu übernehmen, sodass er<br />
bislang ohne Rechtsbeistand ist. Rechtsanwälte aus Moldau, die sich bereit erklärten, ihn zu vertreten,<br />
wurde dies untersagt.<br />
HINTERGRUNDINFORMATIONEN<br />
Sowohl in Moldau (Moldawien) als auch in der selbsternannten Dnjestr-Republik (Transnistrien) sind die<br />
Haftbedingungen in Polizeieinrichtungen extrem schlecht. Der Europäische Ausschuss zur Verhütung<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 45
Republik Moldau: Eilaktionen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe hat die Zustände in den Hafteinrichtungen<br />
des moldauischen Innenministeriums als „katastrophal“ bezeichnet, sodass sie in vielen<br />
Fällen einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung gleichkämen. Die Kost der Häftlinge ist von<br />
sehr schlechter Qualität, weshalb die Gefangenen zur Gewährleistung ihrer Gesundheit auf Nahrungsmittelpakte<br />
aus dem Familien- und Freundeskreis dringend angewiesen sind. Wie es heißt, sind die Haftbedingungen<br />
in der Dnjestr-Republik genauso miserabel oder gar noch schlimmer.<br />
Die Polizei der Dnjestr-Republik verhinderte, dass am 3. Juni 2007 in Corjova Kommunalwahlen stattfinden<br />
konnten. Der Dorfbewohner Iurie Cotofan, der seine Stimme abgeben wollte, wurde dem Vernehmen<br />
nach von Polizisten geschlagen. Mehrere Beamte der Polizeikräfte der Dnjestr-Republik führten ihn aus<br />
dem Wahllokal heraus und zwängten ihn in einen Streifenwagen. Dort wurde sein Gesicht auf den Boden<br />
gedrückt und er mit Schlägen und Tritten traktiert. Einer der Polizisten kniete auf seinem Rücken und<br />
drückte seinen Körper herunter, während ihn die anderen Polizeibeamten verprügelten. Anschließend<br />
wurde Iurie Cotofan zur Polizeiwache von Dubasari gebracht, wo man ihn bis Mitternacht festhielt und<br />
dann ohne Anklageerhebung und ohne Angabe von Gründen freiließ. Er wird derzeit im Krankenhaus<br />
von Chisinau wegen seiner Verletzungen behandelt.<br />
EMPFOHLENE AKTIONEN: Schreiben Sie bitte Telefaxe oder Luftpostbriefe, in denen Sie<br />
darlegen, dass <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> zu Territorialkonflikten keine Stellung bezieht, Sie sich aber an die<br />
Behörden der Moldauischen Dnjestr-Republik wenden, da sie de facto die Verwaltungshoheit über die von<br />
ihr kontrollierten Gebiete Moldaus ausübt;<br />
sich um die Gesundheit von Valentin Besleag besorgt zeigen, der seit dem 2. Juni 2007 von der Polizei in<br />
Dubasari in Gewahrsam gehalten wird;<br />
die Behörden auffordern, umgehend dafür Sorge zu tragen, dass er von seiner Familie zur Verfügung gestellte<br />
Lebensmittel und dringend benötigte Medikamente erhält;<br />
die Behörden daran erinnern, dass alle Gefangenen in vollem Maße über die Gründe für ihre Inhaftierung<br />
informiert werden müssen und man Valentin Besleag und seine Familie umgehend darüber unterrichtet;<br />
die Behörden daran erinnern, dass Artikel 19 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische<br />
Rechte das Recht auf freie Meinungsäußerung garantiert, und deshalb fordern, dass Valentin Besleag sofort<br />
und bedingungslos freigelassen wird, falls er allein wegen seiner Ausübung dieses Grundrechts inhaftiert<br />
worden ist;<br />
darauf dringen, dass Valentin Besleags Recht auf rechtlichen Beistand durch einen Verteidiger, wie es unter<br />
anderem in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert<br />
ist, von den Behörden der Dnjestr-Republik vorbehaltlos respektiert wird.<br />
Appelle an:<br />
Generalstaatsanwalt<br />
Anatoliy Guretskiy, Prosecutor General of the<br />
Dnestr Moldavian Republic<br />
25 October Str., 101, Tiraspol, MOLDAU<br />
Anrede: Dear Procurator General<br />
Telefax: (00 373) 5338 0761 (kombinierter Anschluss:<br />
„Fax, please“)<br />
Kopien an:<br />
Valeriu Gurbulea, Procurator General of the Republic<br />
of Moldova,<br />
Mitropolit Banulesku-Bodoni Str. 26<br />
MD-2005, Chisinau, MOLDAU<br />
Anrede: Dear Procurator General<br />
Telefax: (00 373) 2221 2032 (kombinierter Anschluss:<br />
„Fax, please“)<br />
Kanzlei der Botschaft der Republik Moldau,<br />
Gotlandstraße 16, 10439 Berlin<br />
(S.E. Herrn Dr. Igor Corman)<br />
Telefax: 030-4465 2972<br />
E-Mail: office@botschaft-moldau.de<br />
46 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Republik Moldau: Eilaktionen von <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong><br />
Weitere Informationen<br />
zu UA 145/07 (EUR 59/001/2007, 11. Juni 2007)<br />
UA-Nr: UA-145/2007-1 · AI-Index: EUR 59/003/2007<br />
Datum: 26.Juni 2007<br />
Valentin Besleag kam am 17. Juni 2007 aus dem Polizeigewahrsam frei. Wie es heißt, wurde er in der Haft<br />
nicht geschlagen, war aber in einer überfüllten Zelle mit schlechter Belüftung untergebracht, in der seine<br />
Mitinsassen rauchten. Gegenwärtig wird er wegen einer Lungenentzündung und Atembeschwerden medizinisch<br />
behandelt.<br />
Während seines 15-tägigen Gewahrsams musste sich Valentin Besleag ständig hämische Bemerkungen<br />
anhören, weil er während des bewaffneten Konflikts zwischen Moldau und separatistischen Kräften von<br />
1990 bis 1992 für die moldauische Seite Partei ergriffen hatte. Seine Familienangehörigen durften ihn in<br />
der Haft nicht besuchen. Valentin Besleag wurde mitgeteilt, dass wegen des Verstoßes gegen Verwaltungsvorschriften,<br />
die eine Verteilung von Agitationsmaterial verbieten, Anklage gegen ihn erhoben worden<br />
sei. Er nimmt an, dass sich dies auf den Transport von Wahlkampfmaterialien aus Moldau in seinem<br />
Wagen bezieht. Eine schriftliche Stellungnahme hinsichtlich der Gründe für die Anklageerhebung liegt<br />
ihm aber bislang nicht vor.<br />
Weitere Schritte seitens der Teilnehmer am Eilaktionsnetz sind nicht erforderlich. Vielen <strong>Dan</strong>k allen, die<br />
sich mit Appellen für Valentin Besleag eingesetzt haben.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 47
Pressespiegel<br />
Seite<br />
49 23. 2. Der Standard „Einkaufsparadies“ Moldawien:<br />
Wenn Frauen zur Billigware werden<br />
50 22. 3. Deutsche Welle Transnistrien: Wirtschaftsprobleme verschärfen sich<br />
51 31. 5. die tageszeitung Vom guten Frieden<br />
52 21. 6. Deutsche Welle UNO streicht Belarus von „Schwarzer Liste“<br />
53 20.8. Neue Zürcher Zeitung Menschliche Tragödien an der EU-Ostgrenze<br />
55 12. 10. OÖ Nachrichten Republik Moldau auf der Suche<br />
nach Identität und Zukunft<br />
48 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Pressespiegel<br />
Der Standard<br />
23. Februar 2007<br />
„Einkaufsparadies“ Moldawien: Wenn Frauen zur Billigware werden<br />
Tausende Mädchen werden jährlich mit dem Versprechen auf einen Traumjob<br />
im Ausland in die Zwangsprostitution gelockt<br />
Von Andreas Tröscher/APA<br />
Chisinau - Alina sagt, sie sei 17 Jahre<br />
alt. Dabei ist sie 24. Und Alina<br />
heißt sie eigentlich auch nicht. An<br />
ihre wahre Identität will sich das<br />
moldawische Mädchen partout nicht<br />
erinnern. Manchmal fängt sie einfach<br />
so zu schreien an: „Er überfährt<br />
mich mit dem Auto, wenn ich nicht<br />
gehorche!“ Was Alina in all seinen<br />
grausamen Details erzählt, klingt<br />
fast unglaubwürdig. Aber es ist traurige<br />
Wahrheit. Tausende Frauen aus<br />
dem ärmsten Land Europas können<br />
es bezeugen. Auch sie wurden an<br />
brutale Menschenhändler verscherbelt.<br />
Keine schwierige<br />
Überzeugungsarbeit<br />
50 Dollar sind in Moldawien eine<br />
Menge Geld. Fast ein Monatslohn.<br />
Da werden sogar Väter schwach, die<br />
schon seit Jahren arbeitslos sind. Innerhalb<br />
weniger Augenblicke kann<br />
so aus einer Tochter Billigware werden.<br />
Die Händler wissen das nur zu<br />
gut. Meist brauchen sie nicht lange<br />
Überzeugungsarbeit leisten. Das<br />
kleine Land im Osten Rumäniens hat<br />
niemandem etwas zu bieten, schon<br />
gar nicht jungen Menschen. Sie verlassen<br />
in Scharen ihre Heimat. Von<br />
offiziell 4,3 Millionen Einwohnerinnen<br />
und Einwohnern leben nur<br />
knapp drei Millionen innerhalb der<br />
Grenzen Moldawiens. Der Rest versucht<br />
sein Glück weit weg von zu<br />
Hause.<br />
Fort von Trostlosigkeit<br />
Die Perspektivlosigkeit ist erdrückend.<br />
Keine sozialen Strukturen,<br />
keine Zivilgesellschaft, keine Ausbildungsmöglichkeiten,<br />
keine Jobs,<br />
keine Aussicht auf Besserung. Auch<br />
Alina war klar, dass das Angebot,<br />
das ihr dieser nette Herr unterbreitet<br />
hatte, die große Chance sein könnte.<br />
Als Kellnerin oder Kindermädchen.<br />
Fort von Trostlosigkeit und Stillstand,<br />
endlich Spaß, Freude, Wohlstand,<br />
Geld. Über Rumänien, wo der<br />
Preis für ein Mädchen im Normalfall<br />
bereits auf 500 Dollar ansteigt,<br />
ging die Reise nach Italien. Zumindest<br />
sollte es Italien werden. Gekommen<br />
ist Alina nur bis Albanien. Dort<br />
begann ihr Martyrium erst richtig.<br />
Keine Hilfe<br />
Menschenhandel wird <strong>international</strong><br />
als „Trafficking“ bezeichnet. Der<br />
Schweizer Martin Wyss ist dafür<br />
Spezialist. Seit drei Jahren kämpft er<br />
in der Hauptstadt Chisinau im Rahmen<br />
seiner Tätigkeit für die International<br />
Organization for Migration<br />
(IOM) gegen dieses in Moldawien<br />
besonders verbreitete Phänomen.<br />
„Was mich am meisten betroffen gemacht<br />
hat, war, dass den Mädchen<br />
niemand geholfen hat - und zwar bevor<br />
sie etwas gewagt haben, von dem<br />
sie selbst wussten, dass es nicht sehr<br />
intelligent ist.“<br />
Nach Martyrium Abschiebung<br />
Die meisten Mädchen und Frauen<br />
haben aber gar nicht die Möglichkeit,<br />
sich zu überlegen, ob der angebotene<br />
Job eventuell eine Falle sein<br />
könnte. Viele haben bereits Kinder,<br />
die sie nicht ernähren können, und<br />
Männer, die sich daheim im Alkohol<br />
ertränken. Alina hingegen träumte<br />
nur von einem besseren Leben. Und<br />
musste für ihren Gutglauben teuer<br />
bezahlen: Von ihrem Peiniger eingesperrt,<br />
mit Eisenstangen gefügig geprügelt<br />
und vergewaltigt, hat sie sich<br />
irgendwann aus dem Fenster ihres<br />
Gefängnisses gestürzt und schleppte<br />
sich schwer verletzt zur Polizei. Das<br />
Touristenvisum war natürlich längst<br />
abgelaufen, also wurde Alina abgeschoben.<br />
Mit schweren Unterleibsentzündungen<br />
und seelisch völlig verstümmelt<br />
muss die 24-Jährige nun in Chisinau<br />
betreut werden. Ihre Freundin<br />
wurde ebenfalls Opfer von Menschenhändlern,<br />
ist von der jahrelangen<br />
Tortur psychisch gezeichnet. Sie<br />
sagt: „Ich kann allen Mädchen nur<br />
raten, in Moldawien zu bleiben. So<br />
schlecht kann es hier gar nicht sein.<br />
Daheim ist es immer noch am besten.“<br />
Opfer bringen<br />
Trafficking-Experte Wyss kennt unzählige<br />
Schicksale, die dem von Alina<br />
täuschend ähnlich sind: „Jede Geschichte<br />
ist der absolute Horror. Die<br />
Mädchen wissen, was von ihnen erwartet<br />
wird. Nur nicht, in welcher<br />
Dimension. Aber das Geld, das zu<br />
verdienen ist, ist viel zu wichtig.<br />
Meist geht es auch darum, für jemanden<br />
ein Opfer zu bringen, oftmals<br />
für das eigene Kind.“<br />
Dunkelziffer<br />
In den vergangenen drei Jahren<br />
konnte die IOM rund 300 Mädchen<br />
aus den Fängen ihrer „Besitzer“ befreien<br />
und nach Moldawien zurückbringen.<br />
Wie viele Opfer es tatsächlich<br />
sind, kann selbst ein Insider wie<br />
Wyss nicht sagen, wahrscheinlich<br />
tausende: „Ganz ehrlich, wir wissen<br />
es nicht.“ In dem armen Land wird<br />
Mädchenhandel „im großen Stil“ organisiert,<br />
bis vor kurzem war die Bekämpfung<br />
aussichtslos, verrät der<br />
Schweizer. 2006 ist in Moldawien<br />
übrigens ein Anti-Trafficking-Gesetz<br />
in Kraft getreten. Es gab auch<br />
schon Verurteilungen. Drei.<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 49
Pressespiegel<br />
Deutsche Welle<br />
22. März 2007<br />
Transnistrien: Wirtschaftsprobleme verschärfen sich<br />
Von Serhij Osadtschuk, Odessa<br />
Seit einem Jahr gelten neue Zollbestimmungen<br />
am transnistrischen<br />
Abschnitt der ukrainisch-moldauischen<br />
Grenze. Chisinau<br />
und Kiew wollen damit den<br />
Schmuggel bekämpfen. Tiraspol<br />
spricht hingegen von einer Blockade.<br />
Auf dem zentralen Platz von Tiraspol<br />
befinden sich nahe dem Suworow-Denkmal<br />
immer viele Menschen.<br />
Nebenan sind ein Markt und<br />
mehrere Bushaltestellen. Dort halten<br />
sich oft Rentner auf. Auf die Frage,<br />
wie sich der Durchschnittsbürger in<br />
Transnistrien fühlt, sagen sie nur:<br />
„Sehr schlecht.“ Sie berichten, dass<br />
die Renten nicht rechtzeitig ausgezahlt<br />
werden. Und diejenigen, die im<br />
Ausland Verwandte hätten, seien<br />
längst fort. Vor allem die Jugend verlasse<br />
Transnistrien. Junge Menschen<br />
zieht es auf der Suche nach Arbeit<br />
meist ins Ausland. Aleksandr Pakur<br />
erzählte, er habe nur wenig Geld verdient.<br />
Deshalb habe er sich entschieden,<br />
in Russland auf Baustellen zu<br />
arbeiten: „Man kann hier mit dem<br />
wenigen Geld nicht überleben. Man<br />
hat die Menschen so weit gebracht,<br />
dass sie in Moskau oder sonst wo<br />
Gastarbeiter sein müssen.“<br />
Es ist nicht verwunderlich, wenn<br />
viele Menschen unter diesen Bedingungen<br />
versuchen, Transnistrien zu<br />
verlassen. Dies ist aber nicht gerade<br />
einfach, denn derzeit gibt es nur einen<br />
Passagierzug, und der ist nur<br />
eine Transitverbindung in die Republik<br />
Moldau. Um Transnistrien zu<br />
verlassen, müssen die Menschen erst<br />
die Grenze in einem Auto passieren.<br />
Erst dann können sie in einen Zug<br />
steigen.<br />
Vorwürfe gegen Kiew<br />
und Chisinau<br />
Die separatistische Führung Transnistriens<br />
weist jegliche Verantwortung<br />
für die Wirtschaftslage zurück.<br />
Tiraspol beschuldigt vor allem die<br />
Ukraine und die Republik Moldau,<br />
die vor einem Jahr neue Zollbestimmungen<br />
am transnistrischen Abschnitt<br />
der Grenze zwischen beiden<br />
Ländern eingeführt hatten. Kiew<br />
und Chisinau wollen in Zusammenarbeit<br />
mit der Europäischen Union<br />
den unkontrollierten Transport von<br />
Gütern über die Grenze stoppen und<br />
insbesondere Schmuggel und illegalen<br />
Waffenhandel in der Region verhindern.<br />
Seit der Einführung der<br />
neuen Zollbestimmungen spricht Tiraspol<br />
von einer Wirtschaftsblockade.<br />
Den Vorwurf, dass über das Territorium<br />
Transnistriens Waffen und<br />
Schmuggelwaren transportiert wurden,<br />
weist man in der selbsternannten<br />
Republik zurück.<br />
Gemäß den neuen Zollbestimmungen<br />
müssen transnistrische Unternehmen<br />
in der Republik Moldau<br />
registriert sein. Sie müssen zudem<br />
ihre Transporte ausschließlich über<br />
den moldauischen Zoll abfertigen.<br />
Transnistrische Unternehmen bemühen<br />
sich allerdings nicht sonderlich<br />
um eine Registrierung in der Republik<br />
Moldau. Sie begründen dies mit<br />
zusätzlichen Kosten. Aber auch die<br />
Führung Transnistriens ermuntert<br />
sie, die neuen Bestimmungen nicht<br />
zu befolgen. Dies führte schließlich<br />
dazu, dass die Produktion in den<br />
transnistrischen Unternehmen zurückgefahren<br />
werden musste. Der<br />
Direktor eines der größten Unternehmen<br />
in Tiraspol, Wiktor Iwantschenko,<br />
sagte der Deutschen Welle:<br />
„Die Menschen erhalten keine Löhne,<br />
wenn die Produktion stillsteht,<br />
und manche mussten wir in Zwangsurlaub<br />
schicken.“<br />
Menschen hoffen auf Russland<br />
Fast die Hälfte der Einwohner Transnistriens<br />
sind ethnische Ukrainer. In<br />
Tiraspol gibt es ein ukrainisches Lyzeum,<br />
das etwa 300 Kinder besuchen.<br />
Oleksandr Sajtschuk arbeitet<br />
dort als Lehrer für Geschichte der<br />
Ukraine und Gesellschaftskunde.<br />
Ihm zufolge schauen die Menschen<br />
aber heute eher nach Russland. Sie<br />
hoffen, dass dort über das weitere<br />
Schicksal Transnistriens entschieden<br />
wird: „Transnistrien hat Verbindungen<br />
zur Ukraine, aber es gibt<br />
auch Verbindungen nach Russland.<br />
Derzeit orientiert man sich eher nach<br />
Russland hin. Natürlich muss die<br />
Ukraine eine wichtige Rolle spielen<br />
und man sollte dort nicht nur mit der<br />
moldauischen Führung sprechen,<br />
sondern auch mit der Transnistriens.“<br />
Viele der Menschen, die sich auf<br />
dem zentralen Platz von Tiraspol<br />
treffen, verfolgen gespannt die Diskussion<br />
um das Kosovo. Sie sind<br />
überzeugt: wenn das Kosovo unabhängig<br />
würde, dann müsste auch<br />
Transnistrien das Recht auf Souveränität<br />
bekommen. Andere sagen<br />
hingegen, ihnen sei der Status ihrer<br />
Region egal, denn sie hätten andere,<br />
wichtigere Probleme.<br />
50 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Pressespiegel<br />
die tageszeitung<br />
31. Mai 2007<br />
Vom guten Frieden<br />
Von Mykola Rabtschuk<br />
Aus dem Englischen von Heike Holdinghausen<br />
Die Ukraine ist eine chaotische und<br />
unreife Demokratie - aber immerhin<br />
ist sie eine. Die Bevölkerung verfolgt<br />
das Schauspiel der politischen<br />
Klasse mit wachsendem Zynismus<br />
Es war eine Mischung aus einem<br />
armseligen, patriotisch aufgeladenen<br />
Drama und einem Kabarettprogramm.<br />
In den frühen Morgenstunden<br />
des Pfingstsonntags, etwa gegen<br />
drei Uhr, erschienen der Präsident,<br />
der Ministerpräsident und der Parlamentspräsident<br />
der Ukraine vor<br />
Journalisten, die in ihrer Nähe eine<br />
Nachtwache gehalten hatten, und<br />
verkündeten die Beilegung der politischen<br />
Krise. Ihre friedliche Lösung<br />
sieht vorgezogene Neuwahlen<br />
am 30. September vor. Offenbar hatte<br />
die heilige Dreifaltigkeit das ukrainische<br />
Trio erleuchtet und ihm dabei<br />
geholfen, das Land vor einer Katastrophe<br />
zu bewahren, die es selbst<br />
heraufbeschworen hatte.<br />
Es scheint ukrainische Tradition zu<br />
werden, die brisantesten politischen<br />
Themen bis Mitternacht oder, wie es<br />
1996 bei der Annahme der Verfassung<br />
geschah, ins Morgengrauen hinein<br />
zu verhandeln. Seit dem Mittelalter<br />
ist diese Form der Kompromisssuche<br />
- zu streiten, bis es ein Ergebnis<br />
gibt - von den Kardinälen praktiziert<br />
worden, die einen Papst wählen<br />
mussten. So ist dieser Vorgang kaum<br />
neu für Europa. Aber er ist sehr unüblich<br />
für die postsowjetische Welt,<br />
in der Gewehre immer noch ein gewichtigeres<br />
politisches Argument<br />
sind als Wahlen.<br />
Es stimmt, dass die Ukraine bisweilen<br />
an den Rand eines blutigen Konflikts<br />
gerät. Aber die ganze Zeit sitzen<br />
die postsowjetischen Politiker,<br />
so stumpf und egoistisch sie auch<br />
sein mögen, mit ihren Rivalen an<br />
einem Tisch und treffen Abmachungen,<br />
mit denen sie hinterher alle<br />
nicht ganz zufrieden sind. Aber das<br />
ist es ja wohl, was Demokratie ausmacht.<br />
Man mag darüber spekulieren, warum<br />
die ukrainischen Kontrahenten<br />
sich so anders verhalten als ihre postsowjetischen<br />
Brüder anderswo. Die<br />
Ursache mag in der politischen Kultur<br />
in der Ukraine liegen, die sie vor<br />
langer Zeit, in vorsowjetischer, vorrussischer<br />
Zeit ausgeprägt hat, als<br />
das Land Teil des Habsburger Reichs<br />
und der polnisch-litauischen Union<br />
war. Es mag außerdem an einer Eigentümlichkeit<br />
des ukrainischen<br />
Charakters liegen, die sich in dem<br />
Witz ausdrückt, dass „die Russen bis<br />
zum letzten Tropfen Blut kämpfen<br />
und die Ukrainer bis zum ersten<br />
Tropfen“. Doch am ehesten ist der<br />
Unterschied politisch und ökonomisch<br />
zu erklären. Die ukrainischen<br />
Oligarchen, ob sie nun zum „blauen“<br />
Lager des Premierministers Janukowitsch<br />
oder zum „orangenen“ von<br />
Präsident Juschtschenko gehören,<br />
würden zu viel verlieren, wenn die<br />
politische Instabilität die Wirtschaft<br />
behindern würde. Und sie würden<br />
noch mehr verlieren, wenn Gewalt<br />
angewendet würde und sie dafür<br />
leicht vorhersehbare <strong>international</strong>e<br />
Sanktionen ernten würden.<br />
So spielen sie also weiter das kindische<br />
Spiel „wer zwinkert zuerst“.<br />
Und genau so nimmt die Mehrheit<br />
der Ukrainer die internen Machtkämpfe<br />
auch wahr - in deutlichem<br />
Kontrast zu den <strong>international</strong>en Medien,<br />
die dazu neigen, die starken<br />
Worte der Politiker für bare Münze<br />
zu nehmen.<br />
Seit dem 2. April, als Präsident Wiktor<br />
Juschtschenko mit seinem umstrittenen<br />
Erlass das Parlament auflöste<br />
und Neuwahlen anordnete, verfolgten<br />
die Ukrainer den eskalierenden<br />
Konflikt zwischen den beteiligten<br />
Figuren eher mit Vorsicht. Ihr<br />
Interesse machte mehr den Anschein,<br />
als würden sie einer Seifenoper<br />
zuschauen, als dass sie die Ereignisse<br />
mit tiefer persönlicher Anteilnahme<br />
verfolgt hätten, wie das während<br />
der orangenen Revolution der<br />
Fall war.<br />
Was auch immer die Politiker über<br />
eine „Krise“, einen „Putsch“ oder<br />
„Verrat“ sagten - die ukrainische<br />
Wirtschaft wuchs monatlich um ein<br />
Prozent, die Durchschnittsgehälter<br />
haben sich innerhalb einiger Jahre<br />
verdreifacht, und die Massenmedien<br />
sind pluralistisch genug, um die eigentlichen<br />
Absichten der beteiligten<br />
Parteien abzubilden.<br />
Damit enden dann allerdings die guten<br />
Nachrichten aus der Ukraine.<br />
Kommen wir zu den schlechten: Die<br />
Kehrseite der skeptischen Haltung<br />
gegenüber der Politik sind Politikverdrossenheit<br />
und Zynismus. Es<br />
mag heute schwierig, ja beinahe unmöglich<br />
sein, die Bevölkerung für<br />
etwas Schlechtes wie einen Bürgerkrieg<br />
zu mobilisieren. Aber es ist<br />
ebenso schwierig, sie für etwas<br />
Gutes zu gewinnen, wie den Aufbau<br />
der Demokratie. Sie hat eine klare<br />
Entscheidung für einen schlechten<br />
Frieden und gegen einen guten Krieg<br />
getroffen, aber sie hat die Aussicht<br />
auf einen guten Frieden aus dem<br />
Blick verloren.<br />
Guter Friede, das meint in diesem<br />
Fall eine tief greifende Reform der<br />
staatlichen Institutionen, die die Ukraine<br />
von der Sowjetunion geerbt<br />
hat. Sie waren eher Dekoration und<br />
spielten gegenüber der Kommunistischen<br />
Partei eine untergeordnete<br />
Rolle. Die Partei war die wahre<br />
Macht im Staat. Als sie ausfiel, wurde<br />
überdeutlich, dass die überholten<br />
Institutionen nicht funktionierten.<br />
Mitte der 90er-Jahre machte der damalige<br />
Präsident Leonid Kutschma<br />
sie wieder handlungsfähig, doch er<br />
reformierte sie nicht. Er ersetzte lediglich<br />
die Kommunistische Partei<br />
durch andere Machtmechanismen.<br />
Er formte den Erpresserstaat, in dem<br />
er mittels eines ausgeklügelten Systems<br />
regierte: Die Regierung<br />
sammelte „Kompromat“ - kompromittierendes<br />
Material - gegen jedermann,<br />
die Justiz agierte willkürlich<br />
gegen missliebige Subjekte. Die<br />
Führer der orangenen Revolution<br />
setzten dieses System außer Kraft,<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 51
Pressespiegel<br />
aber sie bauten kein neues auf. Wieder<br />
wurde offenbar, dass die Institutionen<br />
aus der Sowjetzeit nicht funktionierten<br />
und die junge ukrainische<br />
Demokratie bedrohten.<br />
Weil weitreichende Reformen ausblieben,<br />
musste die institutionelle<br />
Leerstelle gefüllt werden - und die<br />
neosowjetische, autoritäre Partei der<br />
Regionen, geführt von Wiktor Janukowitsch,<br />
kam nach den Parlamentswahlen<br />
von 2006 wieder an die<br />
Macht. Doch musste sie die Macht<br />
mit einem Präsidenten teilen, der<br />
sich nicht mit Kutschmas Erpresserstaat<br />
gemein gemacht hatte und sich<br />
Janukowitschs Versuchen, die ganze<br />
Macht an sich zu reißen und Kutschmas<br />
Herrschaftssystem wieder zu<br />
errichten, eisern widersetzte.<br />
Die Krise wurde unvermeidlich.<br />
Auf der einen Seite entwickelte die<br />
Ukraine demokratische Strukturen<br />
mit Gewaltenteilung. Auf der anderen<br />
Seite erwies sie sich als äußerst<br />
anfällig ohne effizient funktionierende<br />
Institutionen, die die Gewaltenteilung<br />
klar und unmissverständlich<br />
garantieren könnten.<br />
Demzufolge ist die politische Einigung,<br />
die die Kontrahenten kürzlich<br />
gefunden haben, nur dann von Bedeutung,<br />
wenn sie sich jetzt zu weitreichenden<br />
institutionellen Reformen<br />
durchringen, vor allem der<br />
Justiz. Das demokratische System<br />
muss funktionieren, ungeachtet dessen,<br />
wer an der Macht ist und wer in<br />
der Opposition. Sonst wird die Ukraine<br />
von Krise zu Krise schlittern,<br />
bis die politische Klasse endlich versteht,<br />
dass in diesem Land niemand<br />
je wieder die ganze Macht erringen<br />
wird. Und dass die ständigen Pattsituationen<br />
und Blockaden des politischen<br />
Systems nur zu vermeiden<br />
sind, wenn unumstößliche Regeln<br />
für die Teilung und Kontrolle der<br />
Macht für alle gelten.<br />
Deutsche Welle<br />
21. Juni 2007<br />
UNO streicht Belarus von „Schwarzer Liste“<br />
Von Olga Müller<br />
Belarus gehört künftig nicht mehr<br />
zu den Staaten, die von einem UN-<br />
Sonderbeobachter auf Menschenrechtsverletzungen<br />
hin geprüft werden.<br />
Belarussische Bürgerrechtler<br />
sind skeptisch, hoffen aber auf Bewegung<br />
in Minsk.<br />
Nach zähem Ringen haben sich die<br />
Mitglieder des im vergangenen Jahr<br />
als Ersatz für die 53-köpfige UN-<br />
Menschenrechtskommission neu gegründeten<br />
UN-Menschenrechtsrats<br />
auf Arbeitsrichtlinien geeinigt.<br />
Demnach werden Kuba und Belarus<br />
von der Liste der Staaten gestrichen,<br />
die durch Sonderbeobachter auf<br />
Menschenrechtsverletzungen hin<br />
geprüft werden. Die Mandate der<br />
weiteren zehn Beobachter wurden<br />
aber verlängert. Begründet wurde<br />
die Streichung der beiden Länder mit<br />
dem Ablauf des auf sechs Jahre angelegten<br />
Mandats der dortigen UN-<br />
Sonderbeobachter. Die Regierungen<br />
in Havanna und Minsk hatten ihnen<br />
stets Parteilichkeit vorgeworfen und<br />
eine Zusammenarbeit verweigert.<br />
Experten hatten mit der Streichung<br />
beider Länder gerechnet. Diplomaten<br />
bewerteten dies als annehmbares<br />
Opfer, um zu gewährleisten,<br />
dass der Menschenrechtsrat<br />
künftig auch funktioniert. Zudem<br />
solle eine „regelmäßige umfassende<br />
Untersuchung“ künftig ermöglichen,<br />
sämtliche Staaten - besonders die 47<br />
Ratsmitglieder – auf Menschenrechtsverletzungen<br />
hin prüfen zu<br />
lassen.<br />
Lage in Belarus unverändert<br />
Die Vorsitzende des /Belarussischen<br />
Helsinki-Komitees/, Tatjana Protko,<br />
kritisiert die Streichung ihres Landes<br />
von jener Liste. Im Gespräch mit der<br />
Deutschen Welle sagte sie, die Beamten<br />
im belarussischen Außenministerium<br />
hätten offensichtlich „gute<br />
Arbeit geleistet“. Gleichzeitig stellte<br />
sie klar: „Die Situation im Lande hat<br />
sich nicht verändert. Vieles in Belarus<br />
steht nicht in Einklang mit den<br />
Menschenrechten. Belarus hat den<br />
für die Konventionen zuständigen<br />
Komitees keinen Bericht vorgelegt.<br />
Das heißt, dass es keine reale Veränderung<br />
der Lage gibt.“<br />
Protko bewertet den Beschluss der<br />
UNO als politisch: „Politische Beschlüsse<br />
werden entweder als Strafe<br />
oder als Ermutigung verabschiedet.<br />
Vielleicht haben unsere Beamten sogar<br />
feierlich irgendwelche Versprechen<br />
abgegeben, die Situation in<br />
Belarus zu verbessern und sich für<br />
die Umsetzung der UNO-Programme<br />
im Bereich der Menschenrechte<br />
in Belarus einzusetzen.“ Protko<br />
äußerte in diesem Zusammenhang<br />
die Hoffnung, dass sich in<br />
Belarus die Dinge zum Besseren<br />
wenden werden: „Wir hoffen, dass<br />
die belarussische Staatsmacht ihre<br />
Verpflichtungen innerhalb der UNO<br />
ernst nehmen wird und, nachdem sie<br />
einen solchen Vorschuss bekommen<br />
hat, diesen auch künftig abarbeiten<br />
wird.“<br />
Menschenrechtler geben nicht auf<br />
Die belarussischen Bürgerrechtler<br />
wollen der Vorsitzenden des Belarussischen<br />
Helsinki-Komitees zufolge<br />
ihre Arbeit wie bisher fortsetzen.<br />
Im Gegensatz zu den Politikern unterlägen<br />
sie keiner Konjunktur. „Wir<br />
haben unsere Berichte allen Organen<br />
der UNO vorgelegt“, sagte Protko<br />
und betonte: „Die Mitarbeiter jener<br />
Organe kennen dank unserer Berichte<br />
die Situation in Belarus gut.“<br />
Die belarussische Menschenrechtlerin<br />
kündigte an, das Helsinki-Komitee<br />
werde sich nun mit Berichten<br />
für das UN-Anti-Folter-Komitee und<br />
das für die Rechte von Kindern zuständige<br />
Komitee befassen. In diesen<br />
Bereichen weise der belarussische<br />
Staat Defizite auf. „Wir legen<br />
dort regelmäßig unsere Berichte vor,<br />
im Unterschied zum Staat“, erklärte<br />
Protko und betonte im Zusammenhang<br />
mit dem UNO-Beschluss: „An<br />
unserer Arbeit wird sich nichts ändern,<br />
mit oder ohne Sonderbeobachter.<br />
Wir legen unsere Berichte vor,<br />
damit die <strong>international</strong>en Organisationen<br />
Belarus zwingen, sich im Bereich<br />
der Menschenrechte zu bewegen.<br />
Wie die Organe der UNO dies<br />
machen, ist eine andere Frage.<br />
52 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Pressespiegel<br />
Menschliche Tragödien an der EU-Ostgrenze<br />
Rumänische Abschottung gegenüber der Republik Moldau<br />
Neue Zürcher Zeitung<br />
20. August 2007<br />
Seit Jahresbeginn sind Rumänien<br />
und die Republik Moldau durch<br />
die EU-Aussengrenze getrennt.<br />
Das verschärfte Grenzregime hat<br />
für die örtliche Bevölkerung teilweise<br />
drastische Konsequenzen.<br />
Im zwischenstaatlichen Verkehr<br />
distanziert sich Bukarest von jeglicher<br />
Verbrüderung.<br />
Von unserem Südosteuropa-Korrespondenten<br />
Martin Woker<br />
Iasi, Ende Juni<br />
Sie sind freundlich im Ton, in der<br />
Sache aber hart: Nein, keinen Schritt<br />
weiter. Und fotografieren schon gar<br />
nicht. Die beiden aus dem Nichts<br />
aufgetauchten rumänischen Grenzpolizisten<br />
auf ihrem schnittigen<br />
Strand-Buggy passen nicht ganz ins<br />
Bild der ländlichen Idylle am Flüsschen<br />
Pruth, das Rumänien von der<br />
ehemaligen Sowjetrepublik Moldau<br />
trennt. An diesem äussersten Ostrand<br />
des EU-Territoriums scheint<br />
die Zeit stillzustehen. Über den<br />
durch eine staubige Schotterstrasse<br />
verbundenen Dörfern lastet die Mittagshitze,<br />
gelegentlich klappert ein<br />
Fuhrwerk vorbei. Auszuhalten ist<br />
die Schwüle nur im Schatten oder im<br />
Wasser. Das Flussufer liegt einen<br />
Steinwurf entfernt, und so machen<br />
wir uns zu Fuss dahin auf. Wir gehen<br />
nicht weit, und schon kommen<br />
sie angefahren. «Nein», sagen die<br />
zwei Polizisten, «hier ist Grenzgebiet.<br />
Bis zum Flussufer dürfen Sie<br />
nicht.» Sie überprüfen die Ausweise,<br />
notieren die Autonummer, salutieren<br />
und machen sich mit ihrem Buggy<br />
aus dem Staub. Wie die beiden in<br />
dieser ausgestorbenen Gegend von<br />
unserem kurzem Fussmarsch erfuhren,<br />
bleibt ihr Geheimnis.<br />
.<br />
Kontaktsperre<br />
Was für uns eine harmlose Episode<br />
blieb, ist für Zenaida Ganea eine<br />
echte Tragödie. Die 38-jährige Mutter<br />
von fünf Töchtern lebt seit 1991<br />
in Macaresti, einem von etwa 250<br />
Familien bewohnten Dorf am Westufer<br />
des Pruth. Aufgewachsen ist<br />
sie auf der östlichen Flussseite gleich<br />
gegenüber, ebenfalls in Macaresti.<br />
Doch dieser Teil des Dorfs liegt im<br />
ehemaligen Bessarabien, der heutigen<br />
Republik Moldau, die bis 1991<br />
eine Sowjetrepublik war (siehe Kasten).<br />
Bis vor drei Jahren hatte Frau<br />
Ganea mit ihren Eltern und Geschwistern<br />
regelmässig Kontakt, von<br />
Ufer zu Ufer. Man tauschte über das<br />
Wasser hinweg Botschaften aus. Ein<br />
wenig mühsam war das Hin-undher-Schreien<br />
zwar, doch es bestand<br />
Hoffnung, dass dieser seltsame Zustand<br />
ein Ende haben werde. Diesseits<br />
und jenseits des Pruth leben<br />
dieselben Leute mit derselben Sprache.<br />
Nur ganz winzige Unterschiede<br />
habe er im Dialekt seiner Frau bemerken<br />
können, als er sie erstmals<br />
traf, sagt Zenaidas Ehemann, der im<br />
rumänischen Macaresti aufgewachsen<br />
ist. Er bewirtschaftet mit seiner<br />
Frau eine Hektare Land, die er nach<br />
der Reprivatisierung des Bodens erhalten<br />
hatte. Das reicht knapp zum<br />
Überleben, für mehr nicht.<br />
Seit drei Jahren ist nun auch der Rufkontakt<br />
zwischen West- und Ost-<br />
Macaresti unterbunden, da auf der<br />
rumänischen Seite das Flussufer zur<br />
verbotenen Grenzzone erklärt wurde.<br />
Die Grenzpolizisten überwachen<br />
die Zone sehr genau, niemand darf<br />
ans Wasser, ob Fremder oder Einheimischer.<br />
Für Zenaida Ganea bedeutet<br />
dies faktisch, mit ihrem Vater, ihren<br />
vier Brüdern und ihrer Schwester<br />
kaum mehr Kontakt zu haben,<br />
obwohl sie beinahe in Sichtkontakt<br />
von ihrem Elternhaus wohnt. Bereits<br />
am Begräbnis ihrer Mutter vor sieben<br />
Jahren konnte sie nicht teilnehmen,<br />
da ihr die notwendigen Papier<br />
fehlten, um von West-Macaresti<br />
nach Ost-Macaresti zu fahren. Sie ist<br />
eine jener statistisch nicht erfassten<br />
Moldauerinnen in Rumänien, die es<br />
aus Unwissenheit oder wegen fehlender<br />
Mittel verpassten, eine Aufenthaltsbewilligung<br />
zu holen. Die<br />
Frist dafür ist längst abgelaufen. Um<br />
ihre Situation zu regeln, müsste Frau<br />
Ganea in die moldauische Hauptstadt<br />
Chisinau fahren und dort auf<br />
dem rumänischen Konsulat ein Einreisevisum<br />
plus eine Aufenthaltserlaubnis<br />
zwecks Familienzusammenführung<br />
anfordern. Das aber kann<br />
Wochen oder Monate dauern und ist<br />
teuer. Zenaida aber hat weder Geld<br />
noch Zeit; ihre Töchter brauchen sie.<br />
Vergleich mit der Berliner Mauer<br />
Ein tragisches Einzelschicksal?<br />
Nein. Allein in Macaresti sind drei<br />
andere Moldauerinnen in derselben<br />
Lage. Der Fall ist weiter exemplarisch<br />
für die exponierte Randlage<br />
der Moldau zwischen Ost und West.<br />
1990, im Jahr des grossen Wechsels,<br />
hatte alles noch ganz anders ausgesehen.<br />
An der Grenze zwischen Rumänien<br />
und der Moldau spielten sich<br />
ergreifende Szenen ab, die damalige<br />
Beobachter mit dem Fall der Berliner<br />
Mauer verglichen. Die wenigen<br />
über den Pruth führenden Übergänge<br />
wurden bekränzt und zu Blumen-<br />
Brücken erklärt. Die Bevölkerung<br />
von dies- und jenseits des Flusses<br />
fiel sich in die Arme, Verwandte begegneten<br />
sich nach Jahrzehnten wieder,<br />
Popen von Ost und West segneten<br />
die Menge, und Schulkinder<br />
von hüben und drüben sangen patriotische<br />
Lieder. Da wo keine Brücken<br />
bestanden, wie in Macaresti, streute<br />
die Menge Blumen aufs Wasser. Die<br />
Schwimmer waren mit ein paar Zügen<br />
am anderen Ufer, und Nichtschwimmer<br />
traversierten auf behelfsmässigen<br />
Schwimmreifen. Exakt<br />
auf diese Weise überquerte auch<br />
Zenaida damals den Fluss. Niemand<br />
dachte dabei etwas Böses. Im Gegenteil.<br />
Entlang der 681 Kilometer langen<br />
Grenze zwischen Rumänien und der<br />
Moldau bestehen insgesamt acht<br />
Passagen; fünf Strassenübergänge<br />
und drei für die Eisenbahn. Seit dem<br />
Mauerfall ist kein neuer Übergang<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 53
Pressespiegel<br />
hinzugekommen, und an den bestehenden<br />
wurden die Kontrollen intensiviert.<br />
Zum Beispiel in Albita. Hier<br />
führt eine der beiden Hauptstrassen<br />
zwischen Bukarest und Chisinau<br />
über den Fluss. Die Zöllner und<br />
Grenzer langweilen sich, es gibt<br />
kaum etwas zu tun. Ein paar hundert<br />
Fahrzeuge pro Tag gelte es abzufertigen,<br />
sagt der Postenchef. An diesem<br />
Tag sind es wohl weniger. Der<br />
Verkehr ging in den letzten Jahren<br />
kontinuierlich zurück. Bis 2002 war<br />
ein kleiner Grenzverkehr für die örtliche<br />
Bevölkerung erlaubt, ein Personalausweis<br />
genügte. Seit Jahresbeginn<br />
benötigen die Moldauer zur<br />
Einreise nach Rumänien ein Visum.<br />
An Schmuggelgut konfiszierten die<br />
Grenzer im Verkehr von Ost nach<br />
West bisher vor allem Zigaretten und<br />
gefälschte Marken-Textilien sowie<br />
in der Gegenrichtung gestohlene Autos.<br />
Der Posten wie auch die gesamte<br />
Grenzüberwachung funktionierten<br />
nach den Schengen-Kriterien, sagt<br />
der Chef mit sichtlichem Stolz.<br />
Erfüllen der Schengen-Kriterien<br />
Rumäniens Beitritt zum Schengen-<br />
Raum ist das erklärte Ziel für Dumitru<br />
Scutelnicu, den obersten Verantwortlichen<br />
der Grenzpolizei im<br />
Osten Rumäniens. Dem Beamten<br />
unterstehen 4000 Polizisten, die<br />
während der vergangenen Jahre alle<br />
eine von Spezialisten aus EU-Ländern<br />
mitgestaltete Ausbildung absolviert<br />
haben. Der Polizeichef hält den<br />
Einbezug Rumäniens in den Schengen-Raum<br />
bis zum Jahr 2012 für realistisch.<br />
Die bisherigen Erfahrungen<br />
mit der Grenzsicherung seien<br />
positiv. Das Problem Transnistrien<br />
sei erkannt und mit vermehrten Kontrollen<br />
in der Moldau entschärft worden<br />
(das östlich des Dnjestr auf moldauischem<br />
Territorium gelegene Gebiet<br />
gilt als ein rechtsfreier Raum<br />
und Hort dunkler Geschäfte). Hat<br />
der zuvorkommende Polizeichef<br />
Verständnis für alle jene menschlichen<br />
Härtefälle, welche sich aus<br />
dem verschärften Grenzregime ergeben?<br />
Scutelnicu, der aus der Region<br />
stammt und seine Karriere als<br />
einfacher Grenzpolizist begonnen<br />
hat, zögert mit der Antwort und<br />
spielt den Ball weiter. Wenn die EU<br />
von der Effizienz der rumänischen<br />
Grenzsicherung überzeugt sei, könne<br />
der kleine Grenzverkehr eventuell<br />
wieder zugelassen werden. Er erfülle<br />
lediglich einen Auftrag, das<br />
Ausmass jeglichen Grenzschutzes<br />
sei letztlich immer eine politische<br />
Frage.<br />
In diesem Fall gar eine hochbrisante<br />
Frage, denn davon betroffen ist nicht<br />
nur die Aussengrenze der EU, sondern<br />
auch das vielschichtige Verhältnis<br />
zwischen Rumänien und der Republik<br />
Moldau. Davon ein Lied zu<br />
singen weiss der Bukarester Advokat<br />
Ruslan Deleanu. Er stammt selbst<br />
aus der Moldau und beschäftigt sich<br />
vor allem mit Fällen von Moldauern,<br />
die sich um die rumänische Staatsbürgerschaft<br />
bewerben. Deleanu<br />
verweist auf die gesetzliche Grundlage,<br />
wonach die Einwohner des ehemaligen<br />
Bessarabiens und deren<br />
Nachkommen bis zur zweiten Generation<br />
das Recht auf die rumänische<br />
Staatsbürgerschaft haben. Derzeit<br />
sind seines Wissens rund 800 000<br />
Einbürgerungsgesuche auf dem rumänischen<br />
Konsulat in Chisinau<br />
hängig. Im Zeitraum von Sommer<br />
2002 bis Sommer 2004 wurde kein<br />
einziges dieser Gesuche behandelt,<br />
seither nur sehr wenige. Warum?<br />
Im Jahre 2002, so führt der Anwalt<br />
aus, wurde die Zuständigkeit zur Erteilung<br />
der Staatsbürgerschaft in Bukarest<br />
vom Innenministerium an das<br />
Justizministerium übertragen. Seither<br />
prüft ein Gremium von fünf<br />
<strong>Richter</strong>n zweimal pro Woche für einen<br />
halben Tag jedes einzelne Gesuch.<br />
Deleanu hat keinen Zweifel daran,<br />
dass dieser Kapazitätsengpass<br />
mit der Absicht eingeführt wurde,<br />
die Masseneinbürgerung der Moldauer<br />
zu verhindern. Er erwirkte mit<br />
zahlreichen Schreiben an EU-Vertreter<br />
und an rumänische Amtsstellen<br />
immer dieselbe Reaktion: Verlegenheit.<br />
Von Seiten der EU wurde<br />
ihm von höchster zuständiger Stelle<br />
beschieden, dieses Problem liege<br />
einzig und allein in der Kompetenz<br />
der rumänischen Behörden, und diese<br />
wiederum beriefen sich schliesslich<br />
auf die gesetzliche Vorgabe, wonach<br />
Rumänien die Staatsbürgerschaft<br />
an Moldauer vergeben kann,<br />
aber nicht muss. Diese eher windige<br />
Argumentation kann aber nicht die<br />
Tatsache verbergen, worum es eigentlich<br />
geht: Rumänien soll Europa<br />
vor einer Masseninvasion der bettelarmen<br />
Moldauer bewahren. «Doch<br />
genau das wird Ihnen in Bukarest<br />
niemand offiziell bestätigen», sagt<br />
der Anwalt. Und er hat recht.<br />
Ein einziger Ausweg?<br />
Allerdings sollen fairerweise auch<br />
noch andere Gründe für die eingefrorenen<br />
brüderlichen Bande zwischen<br />
dem EU-Neumitglied Rumänien<br />
und seinem armen östlichen<br />
Nachbarn angeführt werden. So ist<br />
etwa die ungarische Minderheit in<br />
Rumänien alles andere als erpicht<br />
auf eine Masseneinbürgerung von<br />
Moldauern, die den ethnischen Proporz<br />
in Rumänien unweigerlich noch<br />
mehr zu ihren Ungunsten verschieben<br />
würden. Und in der Moldau<br />
selbst ist der von den Doppelbürgern<br />
erwirkte heimliche Anschluss an<br />
Rumänien sehr kontrovers. Abwehrreflexe<br />
gegen eine befürchtete Vereinnahmung<br />
durch den mächtigen<br />
Nachbarn im Westen drückten sich<br />
etwa darin aus, Moldauisch als eigene<br />
Sprache zu definieren. Derzeit leben<br />
laut Deleanus Angaben rund 500<br />
000 Moldauer legal in Rumänien,<br />
die Anzahl Illegaler ist unbekannt.<br />
Einen Ausweg aus der verfahrenen<br />
Situation nennt Valentina Iftime. Sie<br />
ist seit 30 Jahren Lehrerin an der<br />
kleinen Dorfschule von Macaresti<br />
(West). «Die Moldau muss in die<br />
EU», sagt die resolute Frau. «Dafür<br />
sollt ihr Journalisten euch einsetzen.»<br />
Sie lacht und bietet in ihrem<br />
Haus am Küchentisch einen ausgezeichneten<br />
grillierten Zander zum<br />
Verzehr an, den ihr Ehegatte am selben<br />
Morgen gefangen hat. Einen<br />
Zander? Woher? Aus dem Pruth natürlich.<br />
Aus dem Pruth? Wie lässt<br />
sich da fischen, wenn das Betreten<br />
der Ufer verboten ist? Frau Iftimes<br />
Mann winkt ab. Für Sportfischer<br />
gelte eine Ausnahmeregelung, sagt<br />
er und wechselt das Thema.<br />
54 <strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007
Pressespiegel<br />
OÖ Nachrichten<br />
11. Oktober 2007<br />
Republik Moldau auf der Suche nach Identität und Zukunft<br />
CHISINAU. „Was glauben Sie? Haben<br />
wir eine Chance?“ Wer die<br />
Republik Moldau besucht, bekommt<br />
diese Frage von Einheimischen<br />
häufig gestellt. Meist blähen<br />
sich dann die Wangen auf, die<br />
Schultern tanzen verlegen auf und<br />
ab, der ganze Körper windet sich.<br />
Man will ja nicht unhöflich sein<br />
und sagt deshalb Dinge wie „najaaa“<br />
oder „hmmm“, um Zeit zu<br />
gewinnen. Gleich mit der Wahrheit<br />
rauszurücken, wäre zu hart.<br />
Moldau hat nämlich keine Chance.<br />
Derzeit zumindest.<br />
Wenn man über die holprigen, löchrigen<br />
Asphaltpisten des Landes<br />
hochkonzentriert Schlaglochslalom<br />
fährt, kommt man durch Dörfer, in<br />
denen sich die Menschen an Begriffe<br />
wie Hoffnung, Aufschwung und Perspektive<br />
nicht mehr erinnern können<br />
oder noch nie gehört haben. Moldau<br />
hat den Startschuss verpasst: Vor<br />
mittlerweile 16 Jahren entließ sich<br />
der ethnische Schmelztiegel, in dem<br />
Russen, Moldauer, Rumänen, Ukrainer,<br />
Juden, Gagausen (türkische<br />
Christen), Bulgaren, Zigeuner und<br />
Deutschstämmige Seite an Seite leben,<br />
in die Unabhängigkeit. Und<br />
weiß seither nicht, was er mit ihr anfangen<br />
soll. Wirtschaftlich bewegt<br />
sich null. Wenn doch, dann haben<br />
die Wenigsten etwas davon. Sie sind<br />
übrigens an ihren großen, schwarz<br />
lackierten Autos, mit denen sie durch<br />
die Hauptstadt Chisinau rasen, leicht<br />
zu erkennen. Sie heben sich vom<br />
Rest nur allzu deutlich ab.<br />
Jahrelang nur Durchzugsgebiet<br />
Ein gigantischer Rucksack, der voll<br />
gepackt ist mit ungelösten Problemen<br />
der Vergangenheit, lässt Moldau<br />
einfach nicht von der Stelle kommen.<br />
Nicht erst seit Stalin 1924 die<br />
„Moldauische Autonome Sozialistische<br />
Sowjetrepublik“ (MASSR) an<br />
das alte Fürstentum Bessarabien andockte,<br />
um dort allem Nicht-Russischen<br />
systematisch den Garaus zu<br />
machen, ist das Land auf der Suche<br />
nach seiner Identität. Über Jahrhunderte<br />
galten die weiten Ebenen als<br />
Durchzugsgebiet vielerlei Armeen<br />
und als Heimat einfacher Bauern.<br />
Das permanente Gezerre zwischen<br />
dem zaristischen Russland und der<br />
Sowjetunion auf der einen sowie Rumänien<br />
auf der anderen Seite, die<br />
Bessarabien abwechselnd für sich<br />
beanspruchten und versuchten, der<br />
Bevölkerung ihre jeweiligen Sprachen<br />
und Schriften aufs Auge zu<br />
drücken, trugen maßgeblich zur heutigen<br />
Situation bei.<br />
Misstrauen und Abneigung<br />
Da wäre zum Beispiel der Transnistrien-Konflikt:<br />
Als Bessarabien,<br />
das sich zwischen den beiden Flüssen<br />
bis hinunter ans Schwarze Meer<br />
erstreckte, 1940 von den Sowjets annektiert<br />
wurde, verschmolz die<br />
MASSR, die bis ans östliche Ufer<br />
des Dnjestr reichte, mit dem Kernland<br />
zur Moldauischen Sozialistischen<br />
Sowjetrepublik (MSSR). Als<br />
das Riesenreich 1989 in seine Bestandteile<br />
zerfiel, begann es zu brodeln.<br />
Das russisch dominierte Transnistrien<br />
und das geschrumpfte ehemalige<br />
Bessarabien sollten plötzlich<br />
einen unabhängigen Staat bilden.<br />
Auf der einen Seite slawische<br />
Schwerindustrie, auf der anderen romanophone<br />
Agrikultur. Dazwischen:<br />
Misstrauen und Abneigung.<br />
Mehr noch: Im Sommer 1991 eskalierte<br />
die Situation, bei Schießereien,<br />
die man durchaus als Bürgerkrieg<br />
bezeichnen darf, starben Hunderte<br />
Soldaten, Polizisten und bewaffnete<br />
Arbeiter dies- und jenseits des Dnjestr.<br />
Eine politische Lösung<br />
scheint in weiter Ferne<br />
Nach Ende der Auseinandersetzungen<br />
wurde es ruhig um „Moldawien“,<br />
wie es in Europa gerne genannt<br />
wird. Wirtschaftlich abhängig<br />
von Russland, steuerten die Regierungen<br />
einen nach außen hin prowestlichen<br />
Kurs, ohne jedoch schlagkräftige<br />
Verbündete im Boot zu haben.<br />
Niemand interessierte sich für<br />
die Republik Moldau, schon gar<br />
nicht die Europäische Union. Erst in<br />
den vergangenen zwei Jahren wurde<br />
eine <strong>international</strong>e Mission installiert,<br />
die Zoll und Polizei bei der Bekämpfung<br />
von Schmuggel und Korruption<br />
mit Rat und Tat zur Seite stehen<br />
soll. Die „Schulung“ wird wohl<br />
noch einige Jahre andauern müssen.<br />
Was mit dem „abtrünnigen“ Transnistrien,<br />
dem punkto illegalen Warenumschlags<br />
meist als „schwarzes<br />
Loch“ titulierten Landstreifens in<br />
Form und Größe des Burgenlands,<br />
geschehen soll, bleibt unklar. Eine<br />
politische Lösung scheint in weiter<br />
Ferne.<br />
Trostlosigkeit<br />
so weit das Auge reicht<br />
Selbst unverbesserliche Sozialromantiker<br />
kommen in der Republica<br />
Moldova nicht auf ihre Rechnung.<br />
Denn hier ist nichts sozial und schon<br />
gar nicht romantisch. An jeder der<br />
Ortseinfahrten liegen die Gebeine<br />
der Sowjetunion: Eingestürzte Stallungen<br />
und Lagerhallen der ehemaligen<br />
Kolch- und Sowchosen, verrottete<br />
Fabriken und Wassertürme,<br />
windschiefe Gewächshäuser, in denen<br />
nur noch Unkraut gedeiht. Entlang<br />
der staubigen, nicht asphaltierten<br />
Pfade gibt es keine Geschäfte,<br />
keine Gasthäuser, kein gesellschaftliches<br />
Leben. Baufällige Häuser<br />
werden von ausgemergelten Bauern<br />
bewohnt, die die bleischwere Trostlosigkeit<br />
oft nur mit Alkohol bekämpfen<br />
können. Wer die Kraft hat,<br />
um seinen Acker zu bestellen, der tut<br />
das mit einem Pferd, einem Esel oder<br />
presst den Pflug eigenhändig durch<br />
die Schollen. Die verrosteten Landmaschinen-Riesen<br />
der „goldenen<br />
Ära“ schauen dabei zu.<br />
Zurück bleiben<br />
die Alten und die Kleinen<br />
Die aussichtslose Situation mündete<br />
in einen beispiellosen Exodus:<br />
Von den knapp viereinhalb Millionen<br />
Moldauern suchte rund ein Viertel<br />
das Weite bzw. sein Glück im<br />
Ausland. Das wiederum führt nicht<br />
nur zum sogenannten Braindrain,<br />
<strong>amnesty</strong> <strong>international</strong> – Kogruppe Weißrussland – Ukraine – Republik Moldau · Rundbrief 16 / 2007 55
Pressespiegel<br />
also zur Abwanderung potenzieller<br />
oder ausgebildeter Facharbeiter und<br />
sonstiger Spezialisten, sondern auch<br />
zu organisierter Ausbeutung,<br />
Zwangsprostitution, Menschenhandel.<br />
Zurück bleiben die Alten und<br />
die Kleinsten. Hilflosigkeit hat sich<br />
wie ein mit Äther getränktes Tuch<br />
über das ganze Land gebreitet. Es<br />
hat den Anschein, als seien die Moldauer<br />
immer noch betäubt und paralysiert<br />
vom Untergang der UdSSR.<br />
Man wartet auf Hilfe, die nicht<br />
kommt, und ergibt sich widerstandslos<br />
seinem Schicksal. Eine Vielzahl<br />
an <strong>international</strong>en NGOs haben sich<br />
dauerhaft niedergelassen. Ihr Einsatz<br />
lindert die ärgste Not, kann aber<br />
freilich nicht dem ganzen Staat auf<br />
die Beine helfen.<br />
Selbst die medizinische Versorgung<br />
wird blockiert<br />
Arbeitsplätze, so heißt es, seien verfügbar.<br />
Nicht in Hülle und Fülle,<br />
aber doch. Nur, wer will schon Jobs,<br />
bei denen man dermaßen wenig verdient,<br />
dass es wesentlich lohnender<br />
ist, den eigenen Garten in einen Lebensmittelversorgungsposten<br />
umzufunktionieren?<br />
Dort graben selbst<br />
ehemalige Universitätsprofessoren,<br />
deren Wissen längst nicht mehr gefragt<br />
ist, die fette schwarze Erde um,<br />
die einst das halbe Sowjetreich mit<br />
bestem Obst und Gemüse ernährt<br />
hat. Wer dazu noch das Pech hat<br />
krank zu werden, der hat ein Problem.<br />
Denn der Zugang zu medizinischer<br />
Versorgung ist blockiert von<br />
Medikamentenpreisen und Behandlungskosten,<br />
die sich niemand leisten<br />
kann. Die staatliche Krankenversicherung<br />
ist das Papier nicht<br />
wert, auf der sie gedruckt ist.<br />
Alles könnte besser sein, wenn...<br />
Dabei könnte alles so viel besser<br />
sein. Moldaus landschaftlicher<br />
Reichtum, die lange Winzertradition,<br />
die die größten Weinkeller der<br />
Welt hervorgebracht hat; die fast<br />
schon beschämende Gastfreundlichkeit<br />
der Menschen; eine Küche, deren<br />
deftiger Köstlichkeit sogar Diätfreaks<br />
und Kalorienzähler nicht widerstehen<br />
könnten; sanfte Hügel und<br />
weite Täler, fruchtbare Böden, die<br />
großartiges Gemüse hervorzubringen<br />
vermögen; Nussbaumalleen, die<br />
sich über Dutzende Kilometer erstrecken;<br />
sprachliche und kulturelle<br />
Vielfalt. Auch das ist Moldau. Doch<br />
diese erhaltens- und fördernswerten<br />
Kleinodien versickern im von Korruption,<br />
Misswirtschaft und Konzeptlosigkeit<br />
ausgedörrten Boden.<br />
Kühne Optimisten werden sagen:<br />
Moldau wird seine Chance bekommen.<br />
Die Frage ist nur, wann.<br />
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