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14<br />

Bernhard Weisgerber<br />

Epochen der Sprachentwicklung vorgestellt und bis zu seinen späten Werken<br />

kontinuierlich ausgebaut und mit einer Fülle von Einzelforschungen – von den<br />

Indianersprachen Südamerikas bis zur Kawi-Sprache auf Java – untermauert.<br />

Die Grundidee lautet:<br />

Mehrere Sprachen sind nicht ebensoviele Bezeichnungen einer Sache; es sind<br />

verschiedene Ansichten derselben, und wenn die Sache kein Gegenstand der<br />

äusseren Sinne ist, sind es oft ebenso viele, von jedem anders gebildete Sachen. 36<br />

Die Verschiedenheit der Sprachen wird also von Humboldt nicht negativ gesehen,<br />

etwa als Erschwerung zwischenmenschlicher und „interkultureller“ Kommunikation,<br />

sondern positiv als Erweiterung der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten, als<br />

Eröffnung neuer Perspektiven und Horizonte. Denn die „Summe des Erkennbaren“ liegt<br />

– von keiner Sprache allein erreichbar – in der Mitte aller Sprachen, und eine jede von<br />

ihnen trägt ihren Anteil dazu bei, daß dieser Schatz gefunden, erweitert und gehütet<br />

werden kann. Nur durch die „Individualität“ der Einzelsprachen ist die Chance gegeben,<br />

daß die Idee der Sprache: die Verwandlung der Welt in Gedanken, im Hinblick auf ihre<br />

Totalität vorangebracht werden kann.<br />

In Humboldts Worten:<br />

Durch die Mannigfaltigkeit der Sprachen wächst unmittelbar für uns der<br />

Reichthum der Welt und die Mannigfaltigkeit dessen, was wir in ihr erkennen; es<br />

erweitert sich dadurch zugleich für uns der Umfang des Menschendaseyns, und<br />

neue Arten zu denken und empfinden stehen in bestimmten und wirklichen<br />

Charakteren vor uns da. 37<br />

Wie sich die Idee der Menschheit nur dadurch verwirklichen und bereichern läßt, daß<br />

jedes Einzelindividuum sie in seinem Leben zu realisieren trachtet, kann auch die Idee<br />

der menschlichen Sprache nur auf dem Weg über die Entwicklung, den Ausbau und die<br />

Reflexion der Einzelsprachen Wirklichkeit und Wirksamkeit gewinnen.<br />

Diese Gedanken Wilhelm von Humboldts erweisen sich noch heute als überraschend<br />

aktuell, nicht zuletzt im Hinblick auf die Diskussion um die sprachliche Zukunft<br />

Europas: Wer Sprache nur als Kommunikationsmittel betrachtet, mag die<br />

Verschiedenheit der Sprachen als unnötige Barriere betrachten. Wer aber die<br />

verschiedenen Sprachen als verschiedene „Weltansichten“ versteht, die sich gegenseitig<br />

ergänzen und bereichern, wird diese Vielfalt als Chance und Schatz begreifen. Nicht in<br />

sprachlicher Uniformität liegt die Zukunft Europas, sondern im Ausschöpfen der<br />

unterschiedlichen Leistungen und Aspekte der Einzelsprachen.<br />

Einheit in der Mannigfaltigkeit – das ist ein Zukunftsprogramm, das sich<br />

ideengeschichtlich schon auf Nikolaus von Kues wie auf Immanuel Kant berufen kann<br />

und das auch der Auffassung von Sinn und Ziel der Verschiedenheit der Sprachen bei<br />

Wilhelm von Humboldt entspricht. So gesehen ist die Vielfalt der Sprachen das größte<br />

und wichtigste geistige Zukunftspotential für ein sich einigendes Europa.<br />

Leo Weisgerber hat diese Auffassung bereits sieben Jahre nach dem Krieg in einem<br />

Vortrag über Die sprachliche Zukunft Europas vertreten, den er am 24. Mai 1952 auf der<br />

36 Wilhelm von Humboldt: Gesammelte Schriften, Bd. VII/2, S. 602<br />

37 Humboldt, ebda.

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