Angst, Furcht und ihre Bewältigung - oops - Carl von Ossietzky ...

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252 res mehr), Kasteiungen und Büßübungen unterziehen, um zuletzt, umgewandelt und schuldlos gleich Neugeborenen, wieder Aufnahme in der Gesellschaft zu finden. Das Vergehen wurde rückgängig gemacht; der Bruch war geschlossen, die Ordnung restituiert. Drittens. Räumliche Grenzüberschreitungen, wie sie die Brautwerbung etwa, Handelsbeziehungen oder diplomatische Missionen erfordern. Wieder rüsten die Scheidenden sich, als gälte es, dem Tod ins Auge zu sehen, verhalten sich auf dem Weg auf eine bestimmte, ritualisierte Weise und werden bei der Ankunft nicht minder zeremoniell empfangen: Formalisierte Grußadressen, der Austausch von Geschenken, das Gastritual und schließlich ein gemeinsames Mahl – „wie unter Verwandten“ – gehören vor allem dazu. Die zeitliche Dehnung der Annäherung entschärft ihre latente Bedrohlichkeit (Müller, 1996, S. 217ff.; Gennep, 1960, S. 32ff.; Eibl-Eibesfeldt, 1973, S. 59, 155ff., 162ff., 180ff., 237f.). Anders verhielt es sich mit fahrendem Volk, mit Musikanten, Schmieden, Gauklern und Flüchtlingen, mit Marginalisierten wie etwa Verarmten, Geistes- und Verhaltensgestörten, Krüppeln und Aussätzigen oder notorischen Grenzgängern wie Schäfern, Jägern und Kräutersammlerinnen, die an die Peripherie verwiesen blieben, viel in Bewegung, schwer dingfest zu machen und kaum kalkulierbar waren, ihrer Natur nach zwielichtige Wesen, halb dem Busch zugewandt und verdächtig, mit den Geistern dort im Bunde zu stehen. Allesamt besaßen den Bösen Blick und waren, der Instabilität ihres Zustands entsprechend, von laxer Moral (Müller, 1987, S. 27f., 89, 224, 229; 1996, S. 123f.). Man fürchtete sie und mied den Kontakt mit ihnen. Leicht hätte man sich infizieren können. Doch es geschah. Manche suchten sich ihrer magischen Macht zu versichern, kauften ihnen einen Zauber oder gar Gift ab. Aber wer diesen Weg ging, war gebrandmarkt. Er trug Missgunst, Neid und Hass im Herzen und säte das Böse, dem er sich verschrieben hatte, in der Gesellschaft aus. Gelang es nicht, derartige Neider, Streitsüchtige, Bösartige und Schadensmagier zu resozialisieren, griffen eines Tages die Ahnen ein und überantworteten sie dem „Schlimmen Tod“: Sie

253 starben auf eine irgendwie ungewöhnliche Weise, zum Beispiel durch Ertrinken oder Blitzschlag. Das bedeutete, dass sie nicht ordentlich beigesetzt, sondern lediglich im Busch verscharrt oder einfach abgelegt wurden. Ihre Seelen fanden so nicht ins Totenreich. Fortan irrten sie ruhelos im Grenzbereich zwischen Diesseits und Jenseits umher, hasserfüllt darauf aus, sich an den Menschen zu rächen. Auch dies ein Grund, die Wildnis, nachts vor allem, zu meiden. Grenzgänger wurden noch aus einem weiteren Grund gefürchtet. Sie konnten die Gesellschaft mit neuen Ideen infizieren. Innovationen mussten das traditionelle Ordnungsgefüge verletzen; sie wurden als Abweichungen vom rechten Weg, nicht als Chance begriffen (Middleton, 1960, S. 265). Noch in den ersten Dezennien des vergangenen Jahrhunderts fürchteten polnische Bauern, dass Eisenpflüge zu Ernteeinbußen, metallene statt der alten hölzernen Melkgefäße bei den Haustieren zu geringeren Milchabgaben führen würden (Dobrowolski, 1984, S. 289; vgl. Foster, 1979, S. 250). Fassten Neuerungen in der Gesellschaft Fuß, war mit dem Schlimmsten, zum Beispiel verheerenden Naturkatastrophen zu rechnen; die Ahnen setzten ein letztes, drohendes Zeichen (Müller, 1997a, S. 166; Batchelor, 1892, S. 243f.; Smith, 1925, S. 8; Petrullo, 1939, S. 264; Lee, 1949, S. 413; Sinha, 1966, S. 24; Lukesch, 1968, S. 148; Endicott, 1979, S. 78f.). Kam aber Neuartiges abrupt und massiv über eine Gesellschaft, wie oftmals beim Erstkontakt mit den Weißen, brach Panik, dann lähmendes Entsetzen aus; denn nunmehr fürchtete man um den Bestand der Welt. Die Alten sahen sich außerstande, die Entwicklung zu wenden. Die Fäden entglitten ihnen. Die Weißen, so die Ansicht der Lovedu in Transvaal, verdarben das Land. Man betrachtete sie als „Teil einer unbegreiflichen Gegenwelt mit ebenso zerstörerischen [...] lebensbedrohlichen wie unberechenbaren Kräften, denen daher mit keiner bekannten magischen Technik beizukommen war“ (Krige und Krige, 1947, S. 293f.). Die Moral brach zusammen. Jeder dachte nur mehr an sich. „Alle“, beschrieben Safwa im Süden Tansanias Alan Harwood eine derartige apokalyptische Situation, „gehen ihre eigenen Wege, verbreiten Lügen wider einander, bestehlen sich, kümmern sich nicht

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starben auf eine irgendwie ungewöhnliche Weise, zum Beispiel durch<br />

Ertrinken oder Blitzschlag. Das bedeutete, dass sie nicht ordentlich<br />

beigesetzt, sondern lediglich im Busch verscharrt oder einfach abgelegt<br />

wurden. Ihre Seelen fanden so nicht ins Totenreich. Fortan irrten<br />

sie ruhelos im Grenzbereich zwischen Diesseits <strong>und</strong> Jenseits umher,<br />

hasserfüllt darauf aus, sich an den Menschen zu rächen. Auch dies ein<br />

Gr<strong>und</strong>, die Wildnis, nachts vor allem, zu meiden.<br />

Grenzgänger wurden noch aus einem weiteren Gr<strong>und</strong> gefürchtet. Sie<br />

konnten die Gesellschaft mit neuen Ideen infizieren. Innovationen<br />

mussten das traditionelle Ordnungsgefüge verletzen; sie wurden als<br />

Abweichungen vom rechten Weg, nicht als Chance begriffen (Middleton,<br />

1960, S. 265). Noch in den ersten Dezennien des vergangenen<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts fürchteten polnische Bauern, dass Eisenpflüge zu Ernteeinbußen,<br />

metallene statt der alten hölzernen Melkgefäße bei den<br />

Haustieren zu geringeren Milchabgaben führen würden (Dobrowolski,<br />

1984, S. 289; vgl. Foster, 1979, S. 250). Fassten Neuerungen<br />

in der Gesellschaft Fuß, war mit dem Schlimmsten, zum Beispiel verheerenden<br />

Naturkatastrophen zu rechnen; die Ahnen setzten ein letztes,<br />

drohendes Zeichen (Müller, 1997a, S. 166; Batchelor, 1892,<br />

S. 243f.; Smith, 1925, S. 8; Petrullo, 1939, S. 264; Lee, 1949, S. 413;<br />

Sinha, 1966, S. 24; Lukesch, 1968, S. 148; Endicott, 1979, S. 78f.).<br />

Kam aber Neuartiges abrupt <strong>und</strong> massiv über eine Gesellschaft, wie<br />

oftmals beim Erstkontakt mit den Weißen, brach Panik, dann lähmendes<br />

Entsetzen aus; denn nunmehr fürchtete man um den Bestand der<br />

Welt. Die Alten sahen sich außerstande, die Entwicklung zu wenden.<br />

Die Fäden entglitten ihnen. Die Weißen, so die Ansicht der Lovedu in<br />

Transvaal, verdarben das Land. Man betrachtete sie als „Teil einer<br />

unbegreiflichen Gegenwelt mit ebenso zerstörerischen [...] lebensbedrohlichen<br />

wie unberechenbaren Kräften, denen daher mit keiner<br />

bekannten magischen Technik beizukommen war“ (Krige <strong>und</strong> Krige,<br />

1947, S. 293f.). Die Moral brach zusammen. Jeder dachte nur mehr an<br />

sich. „Alle“, beschrieben Safwa im Süden Tansanias Alan Harwood<br />

eine derartige apokalyptische Situation, „gehen <strong>ihre</strong> eigenen Wege,<br />

verbreiten Lügen wider einander, bestehlen sich, kümmern sich nicht

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