Angst, Furcht und ihre Bewältigung - oops - Carl von Ossietzky ...
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244 das heißt sich außerhalb der Eigenwelt befand, als weniger wohlgeformt und entwickelt, als weniger richtig, gut und schön aufgefasst werden musste – und zwar direkt proportional zum Maß der Deviation, und das hieß immer gleichzeitig auch: der trennenden Distanz. Traditionelle Gesellschaften wähnten sich im Herzen einer Kugelwelt. Ihre Anschauung entsprach einem Schalenmodell: Die endosphärische Eigenwelt, in der allein das Dasein optimal verwirklicht erschien, wurde rings von einer fremdweltlichen Exosphäre umschlossen, die proportional zur Entfernung zunehmend mehr ihr negatives Kontrastbild darstellte und demgemäß nur von unheilvollen, potentiell zerstörerischen Kräften beherrscht sein konnte. Wo beide miteinander in Berührung gerieten, musste ihnen Versehrung, in weicheren Fällen „Verunreinigung“, in härteren Krankheit, Unheil, ja Vernichtung drohen – wie etwa bei nächtlichen Geisterbegegnungen. Unvertrautes weckte Befürchtungen (Scherke, 1923, S. 187). Ein Hund, der ohne ersichtlichen Grund ununterbrochen bellte, ein Hahn, der nachts krähte, verletzten die Regel. Das konnte nichts Gutes bedeuten; man tötete sie daher (Beidelman, 1986, S. 99). Der Psychologe Erik Homburger Erikson (1902 bis 1994), der auch ethnographisch arbeitete, schildert, wie er „Fanny“, eine Yurok, die am Klamath nahe der pazifischen Küste leben, eines Tages „in einem Zustand düsterer Bedrückung“ antraf. Sie hatte kürzlich einen kleinen Wal in die Flussmündung schwimmen, sich dort ein wenig tummeln und dann wieder verschwinden gesehen. „Das erschreckte sie tief. Hatte nicht der Schöpfer bestimmt, dass nur Lachse, Störe und ähnliche Fische die Süßwassergrenze überqueren sollten?“ Es konnte sich nur um ein perniziöses Vorzeichen handeln. Salziges drang landeinwärts in Süßwasser vor. Die Ordnung wankte. Eine erneute Sintflut stand bevor (Erikson, 1971, S. 167f.). Weniger apokalyptisch Beängstigendes umlauerte die Menschen dagegen eigentlich immer, wenn auch mit Mühen abgedrängt aus der heimischen Binnenwelt. Bereits am Ende der Feldflur jedoch, wo das Kulturland in Wildnis überging, hatte man mit dem Schlimmsten zu rechnen. Universaler Anschauung nach sind „Busch“ und Wald, mehr
245 noch Wüsten, Einöden, karstige Bergregionen, undurchdringliches Dickicht und Sumpfland die Heimstatt bösartiger Geister. Ihr Wesen prägt ihre Erscheinung: Gnomen mit übergroßem Kopf, Einbeinige mit tellergroßen, feurigen Augen, Riesen mit Rettighaupt, schlohweiße, durchscheinende Wesen, Mischgestalten mit krallenbewehrten Füßen und langen, warzenüberzogenen Händen, die Augen am Hinterkopf oder den Schläfen, treten dem Menschen, wie dem unglücklichen Kiltgänger, plötzlich entgegen, jagen ihm einen lähmenden Schreck ein, so dass er keinen Widerstand mehr zu leisten vermag, wenn sie ihn mit sich in modrige Tümpel oder den breiigen Grund phosphoreszierend schimmernder Sümpfe ziehen (Müller, 1996, S. 139f., 146f.; vgl. beispielsweise Bleek, 1928, S. 26; Karsten, 1935, S. 245, 383f.; Douglas, 1965, S. 9; Beidelman, 1971, S. 40; Murphy und Murphy, 1974, S. 82; Thornton, 1980, S. 27). Ahnen- und häusliche Schutzgeister dagegen, die sich mit den Menschen die Binnenwelt teilten, fürchtete man nicht. Mit ihnen pflog man vertrauten Umgang, betete zu ihnen, bat sie um Beistand und speiste sie regelmäßig. Um sich von der Außenwelt abzuschirmen, sicherte man Siedlung und Gruppe durch sichtbare – Hecken, Palisaden, Lehmmauern – und unsichtbare, magische Kreiswehren, durch Heirats- und Kontakttabus ab. Die Zugänge schützten häufig massive Tore, die apotropäische Zeichen trugen und abends fest verschlossen wurden (Müller, 1987, S. 31). Erst recht während zentraler Kultfeierlichkeiten durfte kein Fremder die Schwelle zum Ort übertreten noch ein Einheimischer das Dorf verlassen (Müller, 1987, S. 29, und die dort angegebenen Belege). Man befand sich sozusagen in Seklusion der Sicherheitsstufe Eins. Dennoch war man auch auf die Außenwelt angewiesen. Aber es blieb ein allzeit wacher Argwohn. Kehrte jemand von einer Reise, etwa einem Marktbesuch, zurück, musste er sich und was er an neu Erworbenem mitbrachte vor Betreten des Dorfes einer gründlichen Reinigung unterziehen: Der Fremdkontakt hatte ihn kontaminiert, die Produkte und Gegenstände waren mit Schadenskräften geladen; beides konnte die Gruppe tödlich infizieren. Vor allem höhere Würden-
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Unvertrautes weckte Befürchtungen (Scherke, 1923, S. 187). Ein<br />
H<strong>und</strong>, der ohne ersichtlichen Gr<strong>und</strong> ununterbrochen bellte, ein Hahn,<br />
der nachts krähte, verletzten die Regel. Das konnte nichts Gutes<br />
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Erik Homburger Erikson (1902 bis 1994), der auch ethnographisch<br />
arbeitete, schildert, wie er „Fanny“, eine Yurok, die am<br />
Klamath nahe der pazifischen Küste leben, eines Tages „in einem<br />
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Wal in die Flussmündung schwimmen, sich dort ein wenig tummeln<br />
<strong>und</strong> dann wieder verschwinden gesehen. „Das erschreckte sie tief.<br />
Hatte nicht der Schöpfer bestimmt, dass nur Lachse, Störe <strong>und</strong> ähnliche<br />
Fische die Süßwassergrenze überqueren sollten?“ Es konnte sich<br />
nur um ein perniziöses Vorzeichen handeln. Salziges drang landeinwärts<br />
in Süßwasser vor. Die Ordnung wankte. Eine erneute Sintflut<br />
stand bevor (Erikson, 1971, S. 167f.).<br />
Weniger apokalyptisch Beängstigendes umlauerte die Menschen dagegen<br />
eigentlich immer, wenn auch mit Mühen abgedrängt aus der<br />
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Kulturland in Wildnis überging, hatte man mit dem Schlimmsten zu<br />
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