Angst, Furcht und ihre Bewältigung - oops - Carl von Ossietzky ...

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22 Primatenkinder allerdings zeigen regelmäßig „fear, avoidance, and/or ambivalence towards new males“ (Gomendio und Colmenares, 1989, S. 238; siehe aber auch Hrdy, 2000, für einige gegenteilige Befunde) – und sie haben allen Grund dafür: Infantizid (das Töten von Jungtieren der eigenen Art) ist ein Phänomen, das für sämtliche größeren Taxa der Primaten (Halbaffen, Neuweltaffen, Altweltaffen, Menschenaffen) belegt ist. Die Ursachen dieses lange umstrittenen Phänomens brauchen hier nicht im Einzelnen zu interessieren (siehe dazu Paul, 1998; van Schaik und Janson, 2000); wichtig im gegenwärtigen Zusammenhang ist, dass • die Opfer fast ausschließlich noch nicht entwöhnte Jungtiere sind; • die Täter fast ausschließlich adulte, mit dem Opfer nicht verwandte und in den meisten Fällen fremde (neu in die Gruppe eingewanderte) Männchen sind; • und der Anteil der durch Infantizid umgekommenen Jungtiere in manchen gut untersuchten Populationen erheblich (bis über 40 Prozent) ist, es sich also nicht um statistisch irrelevante „Ausrutscher“ handelt, sondern um ein selektionsrelevantes Phänomen. Die Hypothese, dass das Fremdeln seinen evolutionären Ursprung im Infantizidrisiko hat, dem Primatenkinder ausgesetzt sind (vgl. auch Hrdy, 2000; Marks, 1987), erklärt drei – bislang eher rätselhafte – Phänomene: (a) dass fremde Personen Angst auslösen (und nicht etwa nur Indifferenz); (b) dass Männer stärker angstauslösend wirken als Frauen oder Kinder (und dass dies für maskulin aussehende Männer ganz besonders gilt); (c) und dass die Angst vor Fremden just in dem Alter verschwindet, in dem Kinder in traditionellen Gesellschaften entwöhnt werden (in diesen Gesellschaften liegt das Entwöhnungsalter bei drei bis vier Jahren). Weiteren Rückhalt erhält die Hypothese durch die Beobachtung, dass Infantizid nicht nur bei nichtmenschlichen Primaten, sondern auch in

menschlichen Gesellschaften verbreitet ist (Daly und Wilson, 1988). Zwar haben menschliche Kinder ein weitaus höheres Risiko als die Kinder anderer Primaten, durch die Hand der eigenen Mutter ums Leben zu kommen (vgl. Hrdy, 2000; Paul, im Druck), aber sowohl in traditionellen wie auch in modernen menschlichen Gesellschaften können nichtverwandte Männer zum Risikofaktor für Kinder werden (Daly und Wilson, 1988, 1994; Daly et al., 1993; Hrdy, 2000; siehe aber Temrin et al., 2000, für Befunde aus Schweden). Gestützt wird die Hypothese schließlich auch noch durch ein weiteres, scheinbar nebensächliches Detail: Säuglinge und Kleinkinder im Alter bis zu vier Jahren haben ein wesentlich höheres Risiko, von einem Stiefvater misshandelt oder getötet zu werden, als ältere Kinder (Daly und Wilson, 1988). Dieser Befund stimmt nicht nur mit jenen über Infantizid durch Männchen bei nichtmenschlichen Primaten überein, sondern passt auch auffällig zu dem Zeitpunkt, an dem das Fremdeln sang- und klanglos verschwindet. 5 Sexuelle Selektion: die erweiterte Perspektive Aus evolutionsbiologischer Perspektive, so könnte das bisherige – wenig positive – Fazit lauten, haben Kleinkinder allen Grund, beim Anblick (und der Annäherung) eines fremden Mannes in Panik zu geraten. Viele andere Ängste scheinen aus derselben Perspektive aber unverständlich. An „Lampenfieber“ zu leiden, dürfte auch in Bowlbys Umwelt der evolutionären Angepasstheit kaum als „Lebensschutzinstinkt“ interpretierbar sein. Dass Ängste, bei denen es nicht um Leben oder Tod geht, aus evolutionsbiologischer Perspektive keinen Sinn ergäben, beruht freilich auf einem Missverständnis. Darwin selbst beförderte es, als er Herbert Spencers Schlagwort vom „survival of the fittest“ übernahm und als er den zweiten Evolutionsmechanismus, den er postulierte – die sexuelle Selektion –, als „weniger streng“ („less rigorous“) als die natürliche Selektion bezeichnete (Darwin, 1859 [1999]). Was die Begriffe „Evolution“ und „Selektion“ tatsächlich bedeuten, bedarf also einer kurzen Erläuterung. 23

menschlichen Gesellschaften verbreitet ist (Daly <strong>und</strong> Wilson, 1988).<br />

Zwar haben menschliche Kinder ein weitaus höheres Risiko als die<br />

Kinder anderer Primaten, durch die Hand der eigenen Mutter ums<br />

Leben zu kommen (vgl. Hrdy, 2000; Paul, im Druck), aber sowohl in<br />

traditionellen wie auch in modernen menschlichen Gesellschaften<br />

können nichtverwandte Männer zum Risikofaktor für Kinder werden<br />

(Daly <strong>und</strong> Wilson, 1988, 1994; Daly et al., 1993; Hrdy, 2000; siehe<br />

aber Temrin et al., 2000, für Bef<strong>und</strong>e aus Schweden). Gestützt wird<br />

die Hypothese schließlich auch noch durch ein weiteres, scheinbar<br />

nebensächliches Detail: Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder im Alter bis zu<br />

vier Jahren haben ein wesentlich höheres Risiko, <strong>von</strong> einem Stiefvater<br />

misshandelt oder getötet zu werden, als ältere Kinder (Daly <strong>und</strong> Wilson,<br />

1988). Dieser Bef<strong>und</strong> stimmt nicht nur mit jenen über Infantizid<br />

durch Männchen bei nichtmenschlichen Primaten überein, sondern<br />

passt auch auffällig zu dem Zeitpunkt, an dem das Fremdeln sang-<br />

<strong>und</strong> klanglos verschwindet.<br />

5 Sexuelle Selektion: die erweiterte Perspektive<br />

Aus evolutionsbiologischer Perspektive, so könnte das bisherige<br />

– wenig positive – Fazit lauten, haben Kleinkinder allen Gr<strong>und</strong>, beim<br />

Anblick (<strong>und</strong> der Annäherung) eines fremden Mannes in Panik zu<br />

geraten. Viele andere Ängste scheinen aus derselben Perspektive aber<br />

unverständlich. An „Lampenfieber“ zu leiden, dürfte auch in Bowlbys<br />

Umwelt der evolutionären Angepasstheit kaum als „Lebensschutzinstinkt“<br />

interpretierbar sein. Dass Ängste, bei denen es nicht um<br />

Leben oder Tod geht, aus evolutionsbiologischer Perspektive keinen<br />

Sinn ergäben, beruht freilich auf einem Missverständnis. Darwin<br />

selbst beförderte es, als er Herbert Spencers Schlagwort vom „survival<br />

of the fittest“ übernahm <strong>und</strong> als er den zweiten Evolutionsmechanismus,<br />

den er postulierte – die sexuelle Selektion –, als „weniger<br />

streng“ („less rigorous“) als die natürliche Selektion bezeichnete<br />

(Darwin, 1859 [1999]). Was die Begriffe „Evolution“ <strong>und</strong> „Selektion“<br />

tatsächlich bedeuten, bedarf also einer kurzen Erläuterung.<br />

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