Angst, Furcht und ihre Bewältigung - oops - Carl von Ossietzky ...
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112 Viele der von den Geisteswissenschaften behandelten Erscheinungen konnten sich erst herausbilden, als Hirne miteinander in Wechselwirkung traten, ihre diesbezüglichen Leistungen gegenseitig abbildeten und thematisierten. Dieser Entwicklungsprozess hat Phänomene hervorgebracht, die als emergente Leistung zahlreicher, miteinander über Generationen hinweg interagierender Hirne verstanden werden können. Folglich entziehen sich diese der Analyse durch eine Wissenschaftsdisziplin wie der Neurobiologie, die sich lediglich mit Leistungen befasst, die von einzelnen Gehirnen oder gar nur von Teilsystemen derselben erbracht werden (Singer, 1994, S. 8). Eine ähnliche Argumentation findet sich im Streitgespräch zwischen Singer und dem Philosophen Wingert (2000, S. 44). Dort wird auch die entstellende Reduzierung kommunikativer Prozesse auf den Dialog von Gehirnen vermieden, wenn es heißt: „Die Hirnforschung kann nachvollziehen, wie sich nach der Geburt die kognitiven Strukturen eines Kindes an die reale Welt und an das kulturelle Umfeld anpassen und von ihr geformt werden. Am Ende kommt ein Wesen heraus, das ab einem Alter von drei bis vier Jahren ‚Ich‘ sagt, ein Bewusstsein und einen eigenen Willen entwickelt – Phänomene, die in der naturwissenschaftlichen Beschreibung eigentlich nicht mehr drin sind“ (Singer, 2000, S. 44, von mir hervorgehoben). Singers Argumente bringen den Hirnforscher mit dem Philosophen und den Psychoanalytiker unter ein Dach: Sobald nämlich der Naturwissenschaftler das Gehirn im menschlichen Lebenskreis betrachtet, verschieben sich die Abhängigkeitsverhältnisse zugunsten des Einflusses von Poppers seelisch-geistiger Welt Zwei und Welt Drei. Wolf Singer (1994, S. 50) und Alexander Mitscherlich (1983), der Hirnforscher und der Psychoanalytiker, zeigten unabhängig voneinander am Schicksal Kaspar Hausers, welche Folgen der Ausfall zwischenmenschlicher Interaktionen auf die Gehirnreifung hat. Unter dem Gesichtspunkt der psychosozialen Selbsterhaltung wird das Gehirn in einen Funktionskreis einbezogen, der Plastizität voraussetzt und die Frage der Korrelation aus der monadischen Isolation
113 befreit. Das gesunde Gehirn ist zwar Herr im eigenen Haus, und unser Ich-Gefühl ist in der abhängigen Position, aber zu neurobiologischer Selbstherrlichkeit besteht kein Grund: Das Gehirn steht im Dienste der Lösung phylogenetischer und ontogenetischer Lebensprobleme und wird seinerseits von psychosozialen Bedingungen geformt. Die Abhängigkeit zerebraler Funktionen von Lernprozessen wird besonders eindrucksvoll durch folgendes Beispiel bewiesen: Der Ophtalmologe von Senden (1932) hat schon vor langer Zeit nachgewiesen, dass früh erblindete oder aufgrund eines peripheren Defektes blind geborene Säuglinge bei voll funktionsfähiger Hirn-Sehrinde oft ihre Sehkraft nicht mehr erwerben können, wenn die lokale Ursache operativ zu spät das heißt etwa nach Schuleintritt beseitigt wurde. Die jahrelang funktionslose Hirnrinde ist sozusagen lernunfähig geworden (siehe hierzu Singer, 1994, S. 50). Spitz (1974) hat diesen Befund aus der Sicht der analytischen Entwicklungspsychologie ausführlich kommentiert. 5 Als Pionier der psychoanalytischen Kleinkindforschung hat Spitz am Syndrom des Hospitalismus die seelischen Auswirkungen von Defiziten der Kind-Mutter-Beziehung beschrieben. Die bahnbrechenden Untersuchungen von Spitz fielen noch in die Zeit verbreiteter Ablehnung psychoanalytischer Annahmen über die frühe Ätiologie seelischer Störungen. Umso bemerkenswerter ist es deshalb, wenn nun durch neurobiologische Forschungen der Einfluss frühkindlicher Erfahrungen auf die Reifung des Gehirns und auf die frühe Entstehung seelischer Störungen bestätigt wird. Braun und Bogerts (2000) fassen viele Befunde zusammen, die die Hypothese unterstützen, dass Erkrankungen wie neurotische Fehlentwicklungen, Persönlichkeitsstörungen, aber auch dissoziales Verhalten ihren Ausgangspunkt in einer Störung von frühkindlichen Erfahrungs- und Lernprozessen und der damit verbundenen synaptischen Reorganisationsprozesse haben. Dies stützt Beobachtungen, die bereits vor hundert Jahren von der Psychoanalyse und der Verhaltenstherapie auf psychodynamischer bzw. lerntheoretischer Betrachtungsebene formuliert wurden (S. 423). 5 Ich verdanke diesen Literaturhinweis Frau Dr. Lotte Köhler.
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