Förderung von früher Literalität im Kindergarten - Leseforum.ch
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<strong>Förderung</strong> <strong>von</strong> <strong>früher</strong> <strong>Literalität</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindergarten</strong> <br />
Dieter Isler und Sibylle Künzli <br />
Abstract des <br />
Im Zusammenhang mit dem Umbau der S<strong>ch</strong>uleingangsstufe in der Deuts<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>weiz gewinnen <br />
fa<strong>ch</strong>didaktis<strong>ch</strong>e Zugänge zur Bildung 4-‐ bis 6-‐jähriger Kinder an Bedeutung. In diesem Kontext haben si<strong>ch</strong> <br />
Programme zur <strong>Förderung</strong> so genannter Vorläuferfähigkeiten des Lesens und S<strong>ch</strong>reibens ras<strong>ch</strong> und weit <br />
verbreitet. Mit sol<strong>ch</strong>en Massnahmen werden aber vorwiegend te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>e, isoliert vermittelbare <br />
Fertigkeiten trainiert, die den Aufbau einer komplexen s<strong>ch</strong>riftspra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Handlungsfähigkeit langfristig <br />
kaum beeinflussen. In diesem Beitrag werden zunä<strong>ch</strong>st die Konzepte "<strong>Literalität</strong>" und "Textfähigkeiten" <br />
erläutert, die für ein umfassendes Verständnis <strong>früher</strong> Lese-‐ und S<strong>ch</strong>reibfähigkeiten notwendig sind. <br />
Ans<strong>ch</strong>liessend wird ein fors<strong>ch</strong>ungsbasiertes Modell <strong>von</strong> <strong>Literalität</strong> als sozialer Praxis vorgestellt, das <br />
spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e, alltagskulturelle und soziale Aspekten integriert und spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Lehr-‐Lernprozesse als <br />
situiertes Handeln verständli<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>t. Auf dieser Grundlage skizzieren die AutorInnen drei Ansätze zur <br />
<strong>Förderung</strong> <strong>früher</strong> <strong>Literalität</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindergarten</strong>: den Ans<strong>ch</strong>luss an literale Ressourcen, den Aufbau einer <br />
literalen Alltagskultur und die gezielte Vermittlung literaler Handlungsformate und Textfähigkeiten. <br />
S<strong>ch</strong>lüsselwörter <br />
<strong>Literalität</strong>, Spra<strong>ch</strong>förderung, <strong>Kindergarten</strong>, Unterri<strong>ch</strong>t, Bildungsunglei<strong>ch</strong>heit <br />
AutorInnen <br />
Dieter Isler ist Dozent an der Pädagogis<strong>ch</strong>en Ho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ule der Fa<strong>ch</strong>ho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ule Nordwests<strong>ch</strong>weiz FHNW. Er <br />
arbeitet am Zentrum Lesen zu den Themen frühe <strong>Literalität</strong> und Bildungsunglei<strong>ch</strong>heit sowie Lesedidaktik. <br />
Kontakt: dieter.isler@fhnw.<strong>ch</strong> <br />
Sibylle Künzli ist wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Mitarbeiterin an der Pädagogis<strong>ch</strong>en Ho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ule Züri<strong>ch</strong>. Sie ist Mitglied <br />
der Fors<strong>ch</strong>ungsgruppe S<strong>ch</strong>ule <strong>im</strong> gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Kontext und befasst si<strong>ch</strong> mit den Themen <br />
Bildungsunglei<strong>ch</strong>heit und politis<strong>ch</strong>e Bildung. Kontakt: sibylle.kuenzli@phzh.<strong>ch</strong> <br />
Dieser Beitrag wurde in der Zeits<strong>ch</strong>rift "Bu<strong>ch</strong> und Maus" Nr. 2/2009 erstmals publiziert. Wir danken der Redaktion für <br />
Genehmigung der Zweitpublikation auf leseforum.<strong>ch</strong>. <br />
www.leseforum.<strong>ch</strong> | www.forumlecture.<strong>ch</strong> <br />
1
<strong>Förderung</strong> <strong>von</strong> <strong>früher</strong> <strong>Literalität</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindergarten</strong> <br />
Leseförderung und vors<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>e Bildung stehen seit einigen Jahren <strong>im</strong> Fokus der Bildungspolitik. <br />
Glei<strong>ch</strong>zeitig wird in der Deuts<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>weiz der <strong>Kindergarten</strong> zu einer s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>en Institution umgebaut. Für <br />
die Spra<strong>ch</strong>förderung <strong>im</strong> <strong>Kindergarten</strong> – traditionellerweise auf Mündli<strong>ch</strong>keit ausgeri<strong>ch</strong>tet und in eine <br />
allgemeine Stufendidaktik eingebunden – stellen si<strong>ch</strong> damit zwei grundlegende Fragen: <br />
1. Wie soll frühe <strong>Literalität</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindergarten</strong> gefördert werden? <br />
2. Soll die Spra<strong>ch</strong>-‐ und <strong>Literalität</strong>sförderung <strong>im</strong> <strong>Kindergarten</strong> stärker fa<strong>ch</strong>didaktis<strong>ch</strong> ausgeri<strong>ch</strong>tet werden? <br />
Obwohl die Grundlagen zur Beantwortung dieser Fragen no<strong>ch</strong> weitgehend fehlen, drängen heute <br />
vers<strong>ch</strong>iedene kommerzielle Programme auf den neuen Markt, die zumeist einseitig auf eine stoff-‐ und <br />
instruktionsorientierte Vermittlung isolierter Fertigkeiten ausgeri<strong>ch</strong>tet sind, viel Unterri<strong>ch</strong>tszeit <br />
beanspru<strong>ch</strong>en und damit die traditionellen Formen der Spra<strong>ch</strong>förderung <strong>im</strong> <strong>Kindergarten</strong> <br />
konkurrenzieren. In diesem Beitrag sollen alternative Ansätze zur <strong>Förderung</strong> <strong>von</strong> <strong>früher</strong> <strong>Literalität</strong> <strong>im</strong> <br />
<strong>Kindergarten</strong> skizziert werden, die auf den Stärken der traditionellen <strong>Kindergarten</strong>-‐Lernkultur aufbauen. <br />
Dazu wird ein Konzept <strong>von</strong> <strong>Literalität</strong> als sozialer Praxis vorgestellt, das auf der Grundlage <strong>von</strong> <br />
Beoba<strong>ch</strong>tungen und Mikroanalysen literaler Aktivitäten in Familien und Kindergärten entwickelt wurde <br />
(vgl. Isler & Künzli 2008, Isler & Künzli 2010 und Künzli, Isler & Leemann <strong>im</strong> Druck). <br />
1. Was ist <strong>Literalität</strong>? <br />
Der Begriff "<strong>Literalität</strong>" (englis<strong>ch</strong>: literacy) gewinnt in den letzten Jahren au<strong>ch</strong> <strong>im</strong> deuts<strong>ch</strong>spra<strong>ch</strong>igen <br />
Raum zunehmend an Bedeutung. In Anlehnung an den Lesekompetenz-‐Begriff <strong>von</strong> PISA 2000 definieren <br />
wir <strong>Literalität</strong> als "Fähigkeit, s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong>e Texte rezeptiv, produktiv und reflexiv zu nutzen, um eigene Ziele <br />
zu errei<strong>ch</strong>en, das eigene Wissen und Potential weiter zu entwickeln und aktiv am gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Leben <br />
teilzunehmen." <strong>Literalität</strong> umfasst also Lesen und S<strong>ch</strong>reiben und ist auf eine umfassende <br />
Handlungsfähigkeit in allen Lebensberei<strong>ch</strong>en ausgeri<strong>ch</strong>tet. Wel<strong>ch</strong>e Bedeutung hat ein sol<strong>ch</strong>es Verständnis <br />
für die <strong>Förderung</strong> <strong>von</strong> Vors<strong>ch</strong>ulkindern? <br />
Aktuelle Modelle der Lesekompetenz unters<strong>ch</strong>eiden zwis<strong>ch</strong>en kognitiven, emotional-‐motivationalen und <br />
sozialen D<strong>im</strong>ensionen. Zur kognitiven D<strong>im</strong>ension zählen basale S<strong>ch</strong>riftfertigkeiten (z.B. Worterkennung, <br />
lokales Wort-‐ und Satzverstehen) und komplexere Textfähigkeiten (z.B. globales Textverstehen, <br />
Textstrukturierung oder Steuerung des Leseprozesses). S<strong>ch</strong>riftfertigkeiten lassen si<strong>ch</strong> zunehmend <br />
automatisieren, so dass geübte Leserinnen und Leser den Kopf frei haben für die Prozesse des <br />
Textverstehens. Aus der Lesefors<strong>ch</strong>ung ist bekannt, dass si<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>riftfertigkeiten und Textfähigkeiten <br />
relativ unabhängig <strong>von</strong>einander entwickeln. Massnahmen zur frühen <strong>Förderung</strong> <strong>von</strong> S<strong>ch</strong>riftfertigkeiten <br />
(z.B. Trainingsprogramme zur phonologis<strong>ch</strong>en Bewusstheit) begünstigen zwar den te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en <br />
S<strong>ch</strong>riftspra<strong>ch</strong>erwerb <strong>im</strong> ersten und zweiten S<strong>ch</strong>uljahr, wirken si<strong>ch</strong> aber ni<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong>weisli<strong>ch</strong> auf <br />
anspru<strong>ch</strong>svollere Textfähigkeiten aus, die ab dem dritten S<strong>ch</strong>uljahr für das Lernen in allen Fä<strong>ch</strong>ern <strong>im</strong>mer <br />
wi<strong>ch</strong>tiger werden und letztli<strong>ch</strong> über den Bildungserfolg der S<strong>ch</strong>ülerinnen und S<strong>ch</strong>üler ents<strong>ch</strong>eiden. Die <br />
<strong>Förderung</strong> <strong>von</strong> <strong>früher</strong> <strong>Literalität</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindergarten</strong> darf si<strong>ch</strong> deshalb ni<strong>ch</strong>t auf S<strong>ch</strong>riftfertigkeiten <br />
bes<strong>ch</strong>ränken, sondern muss au<strong>ch</strong> und vor allem auf Textfähigkeiten ausgeri<strong>ch</strong>tet sein. <br />
2. Was sind frühe Textfähigkeiten? <br />
S<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong>e Texte unters<strong>ch</strong>eiden si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t nur medial (dur<strong>ch</strong> ihre Spei<strong>ch</strong>erung als S<strong>ch</strong>rift), sondern au<strong>ch</strong> <br />
konzeptionell (dur<strong>ch</strong> ihre kommunikativen Funktionen und deren spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Formen) <strong>von</strong> der <br />
mündli<strong>ch</strong>en Alltagsspra<strong>ch</strong>e: S<strong>ch</strong>riftspra<strong>ch</strong>e ist typis<strong>ch</strong>erweise monologis<strong>ch</strong>, kontextunabhängig, explizit, <br />
syntaktis<strong>ch</strong> komplex und stark normiert. Die Fähigkeit, konzeptionell s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e zu verstehen <br />
und zunehmend selber zu produzieren, erwerben viele Kinder s<strong>ch</strong>on ab dem ersten Lebensjahr: be<strong>im</strong> <br />
Erzählen <strong>von</strong> Erlebnissen, Erfinden <strong>von</strong> Fantasieges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten, Hören <strong>von</strong> Audiotexten und <br />
Gutena<strong>ch</strong>tges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten, Betra<strong>ch</strong>ten <strong>von</strong> Bilderbü<strong>ch</strong>ern oder Vers<strong>ch</strong>icken <strong>von</strong> Postkarten, Briefen und <br />
Dieter Isler, Sibylle Künzli <br />
2
Emails (vgl. Feilke 2001). Dabei lernen die Kinder zum Beispiel, in längeren Spre<strong>ch</strong>beiträgen distante oder <br />
fantasierte Situationen spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> so (explizit, strukturiert, korrekt) darzustellen, dass sie <strong>von</strong> den <br />
Zuhörenden verstanden werden. Oder sie rekonstruieren <strong>im</strong> Bilderbu<strong>ch</strong>gesprä<strong>ch</strong> die Vorstellungen der <br />
Autorin bzw. des Illustrators und lernen allmähli<strong>ch</strong>, ni<strong>ch</strong>t nur S<strong>ch</strong>auplätze und Handlungen, sondern au<strong>ch</strong> <br />
Gedanken der Figuren oder literaris<strong>ch</strong>e Stilmittel zu verstehen. Bei unseren Beoba<strong>ch</strong>tungen und Analysen <br />
haben si<strong>ch</strong> insbesondere die spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Bezugnahme auf einen anderen Kontext (Dekontextualisierung), <br />
die Vollständigkeit und Verbindli<strong>ch</strong>keit spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Äusserungen (Explizitheit) sowie deren <br />
Ausprägungen als längere Redebeiträge (Monologizität) als häufige und bedeutsame Aspekte <strong>früher</strong> <br />
Textfähigkeit herausgestellt. Sie lassen si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t isoliert trainieren, sondern müssen <strong>im</strong> Rahmen <br />
kommunikativer Handlungssituationen erworben werden. <br />
3. <strong>Literalität</strong> als soziale Praxis <br />
Fors<strong>ch</strong>ungsergebnisse weisen <strong>im</strong>mer wieder darauf hin, dass ökonomis<strong>ch</strong>es, kulturelles und symbolis<strong>ch</strong>es <br />
Kapital der Familien (gemessen mit Indikatoren wie z.B. Einkommen, Anzahl Bü<strong>ch</strong>er oder <br />
Bildungsabs<strong>ch</strong>lüsse der Eltern) nur indirekt mit den literalen Leistungen der Kinder zusammenhängen. <br />
Ents<strong>ch</strong>eidend sind die spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en und literalen Praktiken <strong>im</strong> familiären (und s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>en) Alltag (vgl. <br />
Heath 1983). In unseren eigenen Analysen haben si<strong>ch</strong> die D<strong>im</strong>ensionen der sozialen Situationen und der <br />
Handlungsformate als besonders bedeutsam erwiesen: <br />
Literale Praktiken ereignen si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t <strong>im</strong> luftleeren Raum, sondern sind <strong>im</strong>mer eingebettet in soziale <br />
Situationen. Kinder, die zuhause eine ausgeprägte literale Handlungsfähigkeit beweisen (und z.B. virtuose <br />
erzählen, in ihrer persönli<strong>ch</strong>en Gehe<strong>im</strong>s<strong>ch</strong>rift ganze Hefte füllen oder si<strong>ch</strong> selbständig in der Bibliothek <br />
bewegen), können sol<strong>ch</strong>e Ressourcen ni<strong>ch</strong>t ohne Weiteres in andere Kontexte übertragen: Ihr <br />
Fähigkeiten bleiben wirkungslos, wenn ihnen die Zugehörigkeit zu einer Gruppe verweigert wird. <br />
Umgekehrt haben wir oft beoba<strong>ch</strong>tet, dass Kinder ihre literalen Fähigkeiten für soziale Ziele verwenden: <br />
Sie setzen si<strong>ch</strong> mit einem Bu<strong>ch</strong> in der Hand in die Nähe einer Kindergruppe, der sie si<strong>ch</strong> ans<strong>ch</strong>liessen <br />
mö<strong>ch</strong>ten, s<strong>ch</strong>reiben Warns<strong>ch</strong>ilder, um ältere Ges<strong>ch</strong>wister wirksam vom eigenen Z<strong>im</strong>mer fernzuhalten, <br />
oder klappen ihr Bilderbu<strong>ch</strong> zu, wenn si<strong>ch</strong> ein anderes Kind ungefragt zu ihnen setzt. Literales Handeln ist <br />
<strong>im</strong>mer au<strong>ch</strong> soziales Handeln, es geht um Zugehörigkeit und Auss<strong>ch</strong>luss, um Definitionsma<strong>ch</strong>t und <br />
Anerkennung. <br />
Literale Praktiken werden s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> Handlungsformate best<strong>im</strong>mt. Bruner bezei<strong>ch</strong>net mit <br />
dem Begriff "Format" ein typis<strong>ch</strong>es Interaktionsmuster, das si<strong>ch</strong> in ähnli<strong>ch</strong>en Situationen anhand <br />
we<strong>ch</strong>selnder Inhalte wiederholt und allmähli<strong>ch</strong> verinnerli<strong>ch</strong>t bzw. habitualisiert wird (vgl. Bruner 2002). Es <br />
bietet vers<strong>ch</strong>iedene Rollen und Aktivitäten an, die <strong>von</strong> den Kindern mit zunehmender Si<strong>ch</strong>erheit <br />
übernommen, variiert und erweitert werden. Zum Beispiel können Kinder be<strong>im</strong> gemeinsamen Betra<strong>ch</strong>ten <br />
eines Bilderbu<strong>ch</strong>s einfa<strong>ch</strong> nur zuhören, mit dem Finger auf Bilder zeigen, auf Fragen nonverbal oder <br />
verbal antworten, selber Fragen stellen, eigenes Wissen einbringen, anderen Kinder etwas erklären oder <br />
das Bu<strong>ch</strong> selber erzählen. Im <strong>Kindergarten</strong> sind viele Beispiele dafür zu beoba<strong>ch</strong>ten: Erlebnisse erzählen, <br />
Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten erfinden, Bilderbü<strong>ch</strong>er betra<strong>ch</strong>ten, Briefe diktieren, Kalendereinträge lesen, Einkaufslisten <br />
zei<strong>ch</strong>nen, na<strong>ch</strong> Rezept ko<strong>ch</strong>en, <strong>im</strong> Bildlexikon na<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>lagen ... sol<strong>ch</strong>e Praktiken passen gut zur Lernkultur <br />
des <strong>Kindergarten</strong>s. <br />
<strong>Literalität</strong> umfasst na<strong>ch</strong> diesem Verständnis die drei D<strong>im</strong>ensionen der sozialen Situationen, der <br />
Handlungsformate und der Spra<strong>ch</strong>e sowie – innerhalb der spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en D<strong>im</strong>ension – die Aspekte <br />
S<strong>ch</strong>riftfertigkeiten und Textfähigkeiten. Diese D<strong>im</strong>ensionen und Aspekte sind in der Praxis <strong>im</strong>mer eng <br />
verwoben. Nur wenn die soziale Situation geklärt und das Handlungsformat vertraut ist, können Kinder <br />
ihre Aufmerksamkeit auf Inhalte und Formen <strong>von</strong> Spra<strong>ch</strong>e und <strong>Literalität</strong> ri<strong>ch</strong>ten. Umgekehrt können sie <br />
bereits erworbene spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e und literale Fähigkeiten nutzen, um neue Handlungsformate (bzw. Rollen) <br />
zu erwerben oder ihre sozialen Positionen auszuhandeln. <br />
4. Ansätze zur <strong>Förderung</strong> <strong>von</strong> <strong>früher</strong> <strong>Literalität</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindergarten</strong> <br />
Wenn es darum geht, dass alle Kinder die spezifis<strong>ch</strong>en spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en und literalen Praktiken des <br />
<strong>Kindergarten</strong>s (und später der S<strong>ch</strong>ule) erwerben können, dann muss für die <strong>Förderung</strong> zusätzli<strong>ch</strong> die <br />
Passung <strong>von</strong> lebensweltli<strong>ch</strong>en und s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>en Praktiken berücksi<strong>ch</strong>tigt werden. Viele Kinder sammeln <br />
Dieter Isler, Sibylle Künzli <br />
3
s<strong>ch</strong>on in ihren Familien s<strong>ch</strong>ulnahe S<strong>ch</strong>rifterfahrungen, für andere gibt es kaum Berührungspunkte <br />
zwis<strong>ch</strong>en den familiären und s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>en Praktiken: Sie müssen die benötigten Formatkenntnisse, <br />
S<strong>ch</strong>riftfertigkeiten und Textfähigkeiten weitgehend neu aufbauen. Für <strong>Kindergarten</strong>-‐Lehrpersonen <br />
ergeben si<strong>ch</strong> aus dieser Situation drei unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Handlungsansätze: <br />
a) Ans<strong>ch</strong>luss an die unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Ressourcen der Kinder. Kindergärtner/innen können si<strong>ch</strong> systematis<strong>ch</strong> <br />
über die Lebenswelten ihrer Kinder informieren (z.B. bei Gesprä<strong>ch</strong>en mit dem Kind und/oder mit den <br />
Eltern, evtl. au<strong>ch</strong> bei Hausbesu<strong>ch</strong>en) und versu<strong>ch</strong>en, für jedes Kind mindestens eine spezifis<strong>ch</strong>e <br />
Ressource zu kennen, die es bei passender Gelegenheit als Experte oder Expertin in den <strong>Kindergarten</strong> <br />
einbringen kann (z.B. eine eigene Spra<strong>ch</strong>e, ein spezielles Hobby, eine besondere Bezugsperson, <br />
te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>e Kenntnisse). <br />
b) Ausgestaltung einer literalen Alltagskultur <strong>im</strong> <strong>Kindergarten</strong>. <strong>Kindergarten</strong> und S<strong>ch</strong>ule bestehen ni<strong>ch</strong>t nur <br />
aus Unterri<strong>ch</strong>t: Klassen (und S<strong>ch</strong>ulen) sind au<strong>ch</strong> Lebenswelten, und das Zusammenleben bietet vielfältige <br />
Mögli<strong>ch</strong>keiten zur Integration <strong>von</strong> S<strong>ch</strong>rift und Medien (z.B. Geburtstagskarten s<strong>ch</strong>reiben, Kalender und <br />
Wo<strong>ch</strong>enplan lesen, Freunds<strong>ch</strong>aftsbü<strong>ch</strong>er austaus<strong>ch</strong>en, ein Klassenwo<strong>ch</strong>enbu<strong>ch</strong> führen, Elterninfos <br />
gemeinsam formulieren, eine Bü<strong>ch</strong>ertaus<strong>ch</strong>börse organisieren usw.; vgl. Näger 2005). <br />
c) Vermittlung <strong>von</strong> literalen Handlungsformaten und Textfähigkeiten. Im Unterri<strong>ch</strong>t werden zu wi<strong>ch</strong>tigen <br />
literalen Praktiken regelmässig Lernsituationen angeboten, die den Kindern die Übernahme zunehmend <br />
initiativer Rollen und den Erwerb <strong>von</strong> Textfähigkeiten ermögli<strong>ch</strong>en. Dazu gehören Erlebniserzählungen, <br />
Bilderbu<strong>ch</strong>betra<strong>ch</strong>tungen, erfundene Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten, Rezepte und Anleitungen, Memos und Einkaufszettel, <br />
Briefe, Hörtexte und mündli<strong>ch</strong>es S<strong>ch</strong>reiben (Kinder diktieren der Lehrperson; vgl. Näger 2005 und <br />
Sörensen 2005). <br />
Die hier skizzierten Ansätze der frühen literalen <strong>Förderung</strong> sind gut mit der situations-‐ und <br />
handlungsorientierten Lernkultur des <strong>Kindergarten</strong>s vereinbar. Im Unters<strong>ch</strong>ied zu vielen neuen <br />
Spra<strong>ch</strong>förderprogrammen wird Spra<strong>ch</strong>e ni<strong>ch</strong>t isoliert, sondern als sozial und alltagskulturell bedingte <br />
Praxis verstanden und gefördert. Ents<strong>ch</strong>eidend ist, dass be<strong>im</strong> Eintritt in das Bildungssystem alle Kinder <br />
eine Chance erhalten, mit den spezifis<strong>ch</strong> spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en und literalen Praktiken der S<strong>ch</strong>ule vertraut zu <br />
werden. <br />
Literaturhinweise <br />
Bruner, J. (2002). Wie das Kind spre<strong>ch</strong>en lernt. Bern: Hans Huber <br />
Feilke, H. (2001). Was ist und wie entsteht <strong>Literalität</strong>? Pädagogik 6/2001, S. 34–38. <br />
Heath, S. (1983): Ways with words: Language, life and work in communities and classrooms. Cambridge: Cambridge <br />
University Press. <br />
Isler, D. & Künzli, S. (2008). Lernwelten – Literacies. <strong>Förderung</strong> konzeptioneller <strong>Literalität</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindergarten</strong>. In B. Hofmann & <br />
R. Valtin (Hg.), Checkpoint Literacy (S. 77–88). Berlin: Deuts<strong>ch</strong>e Gesells<strong>ch</strong>aft für Lesen und S<strong>ch</strong>reiben. <br />
Isler, D. & Künzli, S. (2010). S<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>e Praktiken in der Vors<strong>ch</strong>ule. Angebote zum Einüben eines s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>en Habitus in <br />
einem deuts<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>weizer <strong>Kindergarten</strong> am Beispiel der <strong>Förderung</strong> <strong>von</strong> Spra<strong>ch</strong>e und <strong>Literalität</strong>. In: Brake, A.; Bremer, H. <br />
(Hrsg.) Alltagswelt S<strong>ch</strong>ule. Die soziale Herstellung s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>er Wirkli<strong>ch</strong>keiten. Weinhe<strong>im</strong>: Juventa. <br />
Künzli, S.; Isler, D. & Leemann, R. (<strong>im</strong> Druck). Frühe <strong>Literalität</strong> als soziale Praxis – Analyse <strong>von</strong> Mikroprozessen der <br />
Reproduktion <strong>von</strong> Bildungsunglei<strong>ch</strong>heit. Zeits<strong>ch</strong>rift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation. <br />
Näger, S. (2005). Literacy -‐ Kinder entdecken Bu<strong>ch</strong>-‐, Erzähl-‐ und S<strong>ch</strong>riftkultur. Freiburg <strong>im</strong> Breisgau: Herder. <br />
Sörensen, B. (2005). Kinder erfors<strong>ch</strong>en die S<strong>ch</strong>riftkultur. Verlag KgCH (Verband KindergärtnerInnen S<strong>ch</strong>weiz). <br />
Dieter Isler, Sibylle Künzli <br />
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