30.10.2013 Aufrufe

LINGUA TEDESCA 1 - Università degli Studi di Padova

LINGUA TEDESCA 1 - Università degli Studi di Padova

LINGUA TEDESCA 1 - Università degli Studi di Padova

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Università</strong> <strong>degli</strong> <strong>Stu<strong>di</strong></strong> <strong>di</strong> <strong>Padova</strong><br />

Anno accademico 2009/2010<br />

<strong>LINGUA</strong> <strong>TEDESCA</strong> 1<br />

(LMLLA)<br />

Secondo Modulo<br />

Traduzione dal Tedesco all‘Italiano<br />

Testi <strong>di</strong> Esercitazione


Ludwig Börne *<br />

da: Schilderungen aus Paris (1822-24)<br />

II.<br />

Lebensessenz<br />

Nicht einem Strome, einem Wasserfalle gleicht hier das Leben; es fließt nicht, es stürzt mit<br />

betäubendem Geräusch. Die Zeit wird nicht mit tausend Liebkosungen abgeschmeichelt, und der<br />

Hunger ist der einzige Zeiger, welcher <strong>di</strong>e Zahl der verbrauchten Stunden ehrlich angibt. Wer lange<br />

leben will, der bleibe in Deutschland, besuche im Sommer <strong>di</strong>e Bäder und lese im Winter <strong>di</strong>e<br />

Protokolle der Ständeversammlungen. Wer aber Herz genug hat, <strong>di</strong>e Breite des Lebens seiner Länge<br />

vorzuziehen, der komme nach Paris. Jeder Gedanke blühet hier schnell zur Empfindung hinauf, jede<br />

Empfindung reift schnell zum Genusse hinan; Geist, Herz und Sinn suchen und finden sich – keine<br />

Mauer einer traurigen Psychologie hält sie getrennt. Wenn man in Deutschland das Leben<br />

destillieren muß, um zu etwas Feurigem, Erquicklichem zu kommen, muß man es hier mit Wasser<br />

verdünnen, es für den täglichen Gebrauch trinkbar zu machen. Paris ist der Telegraph der<br />

Vergangenheit, das Mikroskop der Gegenwart und das Fernrohr der Zukunft. Es ist ein Register der<br />

Weltgeschichte, und man braucht bloß <strong>di</strong>e alphabetische Ordnung zu kennen, um alles aufzufinden.<br />

Es ist schwer hier, dumm zu bleiben, denn habe der Geist auch keine eigenen Flügel, er wird von<br />

andern emporgetragen. Doch verzweifle darum keiner, der Beharrlichkeit gelingt alles.<br />

III.<br />

Geldschwindsucht<br />

Paris ist ein teures Pflaster, und was <strong>di</strong>eses Übel noch größer macht, alle Landstraßen, <strong>di</strong>e zur<br />

Hauptstadt führen, sind vier Stunden im Umkreise auch gepflastert. Die liebe Natur, mit ihren<br />

Wiesen und Feldern, ihren säuselnden Bäumen, ihrer erquickenden Luft, ihrer Milch, ihren Eiern,<br />

ihren Kirchweihfesten, Weinlesen und ländlichen Tänzen, ist eine so feine Spitzbübin als ihre<br />

städtische Schwester, <strong>di</strong>e Kunst. Es ist leicht in Paris, nicht bloß sein Brot, sondern auch seinen<br />

Kuchen, seinen Wein, seine Austern zu ver<strong>di</strong>enen, und was sonst noch der arme geplagte Mensch<br />

an Zubereitungen gebraucht, um einst von den Würmern schmackhaft gefunden zu werden. Aber<br />

sein Geld in der Tasche zu behalten, das ist schwer – unmöglich, würde ich sagen, wenn das nicht<br />

ein Wort wäre, das dreißigjährige Sprachreinigung in dem Wörterbuche der Franzosen<br />

ausgestrichen hat. Sich gegen der Verbrauch von Hunderttausenden zu schützen, dafür gibt es ein<br />

sicheres Mittel – man braucht sie nur nicht zu haben; wie hält man aber wenige Tausende<br />

* Börne, Ludwig (eig. Löb Baruch), 6. 5. 1786 Frankfurt/M. - 12. 2. 1837 Paris, Stud. Me<strong>di</strong>zin Berlin (Verkehr in den<br />

Salons von Rahel Varnhagen und Henriette Herz) und Halle, dann Rechts- und Staatswissenschaft 1807 Heidelberg,<br />

1808 Gießen, 1811 Polizeiaktuar in Frankfurt, 1814 als Jude entlassen; 5.6. 1818 Übertritt zum Protestantismus als L.<br />

B.; seither Publizist und Journalist, 1818 Gründer der 1821 wegen Angriffen auf Metternich verbotenen Zs. ›Die<br />

Wage‹, 1819 Redakteur der ›Zeitschwingen‹, 1820 vorübergehend in Paris, März 1820 bei Demagogenjagd 14 Tage in<br />

Haft, dann freigesprochen; 1822/23 2. Pariser Reise, 1824 Rückkehr nach Frankfurt, Berlin und Hamburg; seit Sept.<br />

1830 dauernd als Publizist in Paris, s. ra<strong>di</strong>kalen ›Briefe aus Paris‹ wurden durch Verbot des Bundestags populär; Tod<br />

durch Schwindsucht. - Schriftsteller des Jungen Deutschland; in krit.-polem. Stellungnahmen zu aktuellen<br />

Tagesereignissen ra<strong>di</strong>kaler Vorkämpfer für <strong>di</strong>e geistige und soziale Freiheit, leidenschaftl. subjektiv bis zur<br />

Einseitigkeit, trotz stilist. Meisterschaft mehr Journalist, dem <strong>di</strong>e Kunst des Worts Mittel im polit. Kampf ist, als<br />

Dichter, mehr Politiker als Ästhet. Auch in Aufsätzen zu lit., dramaturg. und kulturellen Fragen, Theaterkritiken und<br />

Feuilletons stets polit. Agigator. S. als Zeitdokument wichtigen ›Briefe aus Paris‹ überpolit., wiss., kulturelle Fragen<br />

sind temperamentvolle Angriffe auf dt. Zustände und Persönlichkeiten. Daneben geistreiche Aphorismen und<br />

Plaudereien von Jean Paulschem Humor (Vgl. Wilpert, Lexikon der Weltliteratur, Autoren, S. 186 ff.)<br />

2


zusammen? Vergebens schnürt ihr den Beutel mit hundert gor<strong>di</strong>schen Knoten zu, durch zahllose<br />

Poren dünstet er unmerklich aus; sein hohes, blühendes Gold verwandelt sich in bleiches Silber; das<br />

arme Geschöpf schwindet dahin, es stirbt, wir trauren.<br />

Haben wir in unserer kleinen Heimat <strong>di</strong>e fünf Pforten der Sinnlichkeit verschlossen, dann können<br />

wir uns unbesorgt auf <strong>di</strong>e Polster der Tugend niederstrecken; in Paris aber erstürmen <strong>di</strong>e Lüste<br />

unser Herz, oder sie schleichen sich verkleidet ein, oder sie suchen sich neue Wege. Man lernt dort<br />

wenigstens etwas Psychologie für sein Geld, denn viele Zweige der Begehrlichkeit lernen wir erst<br />

kennen, wenn sich Vögel darauf setzen und sie schütteln. In den Mauern kleiner Städte bewahren<br />

uns oft Trägheit und Ungeduld vor großen Ausgaben. Möchtet ihr ein neues Kleid haben, müßt ihr<br />

dort erst zum Kaufmann gehen und um den Preis des Tuches streiten, dann zum Schneider, der,<br />

nachdem er eine Viertelstunde um euch herumgezappelt, um das Maß zu nehmen, euch vierzehn<br />

Tage auf den Rock warten läßt, und geht es auf Pfingsten, vier Wochen. Ihr bedenkt <strong>di</strong>ese<br />

Weitläufigkeit und unterlaßt den Kauf. Ein teures Buch zieht euch an, glücklicherweise ist es nicht<br />

gebunden, und der Buchbinder sagt, wenn es planiert werden solle, müßte er trockenes Wetter<br />

abwarten, und er könne nicht bestimmen, bis wann er mit der Arbeit fertig würde. Ihr kauft das<br />

Buch lieber nicht. In Paris aber sind Kleider und Stiefel fertig und zu bestimmten Preisen und <strong>di</strong>e<br />

Bücher in allen Straßen gebunden zu haben. Alles ist gekocht, gebraten, vorgeschnitten, sogar <strong>di</strong>e<br />

Nüsse werden geschält verkauft. Es hilft euch nichts, daß ihr <strong>di</strong>e größere Hälfte des Tages im<br />

Zimmer bleibt, es wird euch alles ins Haus gebracht, bis auf das warme Bad und <strong>di</strong>e Wanne dazu.<br />

Jetzt geht ihr aus, einen weit abwohnenden Bekannten zu besuchen. Den ersten Platz, wo<br />

Mietwagen stehen, seid ihr glücklich vorbeigekommen, auch den zweiten, aber <strong>di</strong>e dritte<br />

Gelegenheit findet euch müde zu gehen und zu entsagen, ihr setzt euch ein und bedauert nur, es<br />

nicht früher getan zu haben, denn der Preis für eine lange und kurze Fahrt ist der nämliche. Beim<br />

Einsteigen ist euch unaufgefordert ein <strong>di</strong>enstwilliger Mensch behilflich; ihr müßt ihn bezahlen.<br />

Beim Aussteigen öffnet euch ein anderer höflicher Mensch den Kutschenschlag, und den müßt ihr<br />

wieder bezahlen. Ihr seid in <strong>di</strong>e Nähe der großen Oper gekommen: <strong>di</strong>e Plätze sind teuer, ihr versagt<br />

euch <strong>di</strong>eses Vergnügen, spaziert <strong>di</strong>e Boulevards auf und ab und stellt philosophische Betrachtungen<br />

an, <strong>di</strong>e nichts kosten. Jetzt hält euch einer jener tausend Betriebsamen ein Theaterbillet für <strong>di</strong>e<br />

Hälfte des Preises unter <strong>di</strong>e Augen. Den letzten Akt der Oper und das Ballet könnt ihr sehen; ihr<br />

kauft es. Ihr kommt etwas weit hinten zu sitzen und bedauert, eine neue schöne Tänzerin nicht<br />

näher betrachten zu können. In dem Zwischenakte werden Ferngläser zum Verkaufe angeboten; gut,<br />

daß man fünfzehn Franken fordert, für weniger hättet ihr vielleicht eins gekauft. Aber da kommt ein<br />

anderer, der Gläser auf den Abend vermietet; <strong>di</strong>eser Ausgabe entgeht ihr nicht. Jetzt ist das<br />

Schauspiel geen<strong>di</strong>gt, ihr geht nach Hause, euer Weg führt am Café de Paris vorüber. Die<br />

Erfrischungen sind teuer, aber ihr wollt <strong>di</strong>e Abendzeitung lesen. Ihr seid begierig zu wissen, wie<br />

Bertons Urteil ausgefallen; ihr tretet hinein, Mitternacht ist da, und ihr seid glücklich, wenn das eure<br />

letzte Ausgabe war und ihr an <strong>di</strong>esem Tage nichts als Geld verschwendet.<br />

Sparsam zu leben fällt hier Menschen von jeder Gemütsart darum so schwer, weil Seele und Leib<br />

zu gleicher Zeit verführt werden. Keine sinnliche Lust findet sich so roh und niedrig, daß nicht ein<br />

Anhauch geistigen Lebens sie veredelte, und kein geistiger Genuß ist so rein abgezogen, daß nicht<br />

eine Beimischung körperlicher Reize seine Lockungen verstärkte. Der ärgste Lüstling, der sonst nie<br />

daran gedacht, seinem Geiste Nahrung anzubieten, wird hier ein Freund des Lesens, weil es<br />

Blumenwege sind, <strong>di</strong>e ihn zum Ernste führen. Da ist ein Werk tiefsinniger Untersuchungen von<br />

Benjamin Constant mit Bitterkeiten gegen <strong>di</strong>e Machthaber überzuckert, wie sie eines jeden Gaumen<br />

schmeicheln! Da ist ein neues Trauerspiel, worin erst gestern Talma gespielt! Da erscheint ein<br />

Ge<strong>di</strong>cht eines sechzehnjährigen Mädchens, welches <strong>di</strong>e Hingebung der barmherzigen Schwestern<br />

während der Pest von Barcelona besingt! Da ein anderes Buch, worin man euch <strong>di</strong>e Geheimnisse<br />

der Carbonari verrät, deren es, wie <strong>di</strong>e französische Regierung neulich erklärte, sechzigtausend in<br />

Frankreich gibt, alle mit Dolchen bewaffnet, <strong>di</strong>e in Deutschland verfertigt werden! Und dann <strong>di</strong>e<br />

zwanzig Blätter, <strong>di</strong>e täglich erscheinen und <strong>di</strong>e nicht gelesen zu haben lächerlich ist! ... Auf der<br />

andern Seite werden Menschen besserer Art mit geistiger Lockspeise in den Schlingen der Sinne<br />

3


gefangen. So könntet ihr für weniges Geld euch recht gut satt essen, auch seid ihr genügsam; aber<br />

ihr kehrt dennoch bei den teuersten Speisewirten ein, nicht um feinere Leckereien, aber um feine<br />

Gesellschaft zu finden. Man ergötzt sich an dem Gemische aller europäischen Völker, Sitten und<br />

Sprachen. Dort <strong>di</strong>e grämlichen Engländer, <strong>di</strong>e so verdrossen-emsig <strong>di</strong>e Kinnbacken bewegen, als<br />

würden sie mit der Peitsche dazu genötigt; hier <strong>di</strong>e verlegenen Deutschen, <strong>di</strong>e das Herz nicht haben,<br />

ein lautes Wort zu sprechen; hier <strong>di</strong>e neuangekommenen Frauenzimmer, <strong>di</strong>e mit Erstaunen <strong>di</strong>e<br />

Spiegel und das Silbergeschirr betrachten; hier das drollige Lächeln der Kleinstädter, <strong>di</strong>e zum ersten<br />

Male Austern essen! – –<br />

Es ist angenehm, sich in Paris Menschenkenntnis einzusammeln, aber es ist kostspielig. Doch<br />

lasse sich darum keiner von <strong>di</strong>eser Reise abhalten. Wir Männer sind ja darin so gut bedacht! Wo<br />

unser Geld aufhört, beginnt unsere Philosophie, und können wir in keinem Tilbury über <strong>di</strong>e Straßen<br />

fliegen, gehen wir zu Fuße und sind humoristisch. Aber <strong>di</strong>e Frauen – wer zum Herrschen geboren,<br />

entbehrt ungedul<strong>di</strong>g! Wenn ihnen das Glück nicht aufs freundlichste lächelt, sollen sie <strong>di</strong>e<br />

vaterlän<strong>di</strong>schen Freuden von Schwalbach und Kannstadt genießen und ja nicht nach Paris kommen.<br />

X.<br />

Die Lesekabinette<br />

Im Jahre 1789 hatte Paris nur ein einziges Lesekabinett; jetzt gibt es kaum eine Straße von<br />

Bedeutung, in der man nicht wenigstens eines fände. Gut, daß sie in den freien Tagen dafür gesorgt,<br />

der Volksbildung Brunnen genug zu graben; denn bei dem Belagerungszustande, worin sich <strong>di</strong>ese<br />

jetzt befindet, wäre sie verloren, wenn es nur eine Quelle abzuleiten gäbe. Das Lesen überhaupt,<br />

besonders das Lesen der politischen Zeitungen, hat in der Volkssitte tiefe Wurzeln geschlagen und<br />

man müßte den französischen Boden vom Grunde aufwühlen, wollte man <strong>di</strong>e allgemeine Teilnahme<br />

an bürgerlichen Angelegenheiten wieder ausrotten. Man maß es ihnen zum Ruhme nachsagen, daß<br />

es nicht bloß eitle Neugierde ist, <strong>di</strong>e sie zu den Zeitungen lockt; denn wenn es <strong>di</strong>eses wäre, könnten<br />

ihnen <strong>di</strong>e Blätter, <strong>di</strong>e öfterer Betrachtungen als Geschichten enthalten, wenig Befrie<strong>di</strong>gung geben.<br />

Alles liest, jeder liest. Der Mietkutscher auf seinem Bocke zieht ein Buch aus der Tasche, sobald<br />

sein Herr ausgestiegen ist; <strong>di</strong>e Obsthökerin läßt sich von ihrer Nachbarin den Constitutionnel<br />

vorlesen, und der Portier liest alle Blätter, <strong>di</strong>e im Hotel für <strong>di</strong>e Fremden abgegeben werden. Der<br />

Abonnent mag sich jeden Morgen <strong>di</strong>e Arme müde klingeln, der Portier bringt ihm nicht eher sein<br />

Blatt, als bis er es selbst gelesen. Für einen Sittenmaler gibt es keinen reichern Anblick als der<br />

Garten des Palais Royal in den Vormittagstunden. Tausend Menschen halten Zeitungen in der Hand<br />

und zeigen sich in den mannigfaltigsten Stellungen und Bewegungen. Der eine sitzt, der andere<br />

steht, der dritte geht, bald langsamern, bald schnellern Schrittes. Jetzt zieht eine Nachricht seine<br />

Aufmerksamkeit stärker an, er vergißt den zweiten Fuß hinzustellen, und steht einige Sekunden<br />

lang wie ein Säulenheiliger auf einem Beine. Andere stehen an Bäume gelehnt, andere an den<br />

Geländern, welche <strong>di</strong>e Blumenbeete einschließen, andere an den Pfeilern der Arkaden. Der<br />

Metzgerknecht wischt sich <strong>di</strong>e blutigen Hände ab, <strong>di</strong>e Zeitung nicht zu röten, und der ambulierende<br />

Pastetenbäcker läßt seine Kuchen kalt werden über dem Lesen. Wenn einst Paris auf gleiche Weise<br />

unterginge, wie Herkulanum und Pompeji untergegangen, und man deckte den Palais Royal und <strong>di</strong>e<br />

Menschen darin auf, und fände sie in derselben Stellung, worin sie der Tod überrascht – <strong>di</strong>e<br />

Papierblätter in den Händen wären zerstäubt – würden <strong>di</strong>e Altertumsforscher sich <strong>di</strong>e Köpfe<br />

zerbrechen, was alle <strong>di</strong>ese Menschen eigentlich gemacht hatten, als <strong>di</strong>e Lava über sie kam. Kein<br />

Markt, kein Theater war da, das zeigt <strong>di</strong>e Örtlichkeit. Kein sonstiges Schauspiel hatte <strong>di</strong>e<br />

Aufmerksamkeit angezogen, denn <strong>di</strong>e Köpfe sind nach verschiedenen Seiten gerichtet, und der<br />

Blick war zur Erde gesenkt. Was haben sie denn getan? wird man fragen, und keiner wird darauf<br />

antworten: sie haben Zeitungen gelesen.<br />

4


In den Lesekabinetten abonniert man sich monatlich, oder man bezahlt für jeden Besuch oder<br />

auch für jede einzelne Zeitung. Man findet dort alle Pariser, und in den bessern auch alle<br />

auslän<strong>di</strong>schen Blätter. In dem Kabinette, welches der Buchhändler Gagliani hält, das meistens von<br />

Engländern besucht wird, finden sich nicht bloß alle englischen, schottischen und irlän<strong>di</strong>schen<br />

Zeitungen, sondern auch <strong>di</strong>e aus den ost- und westin<strong>di</strong>schen Kolonien. Der lange Tisch, worauf <strong>di</strong>e<br />

englischen Zeitungen liegen, gleicht mit seinen Riesenblättern einer aufgehobenen Speisetafel, <strong>di</strong>e<br />

mit hingeworfenen Servietten in Unordnung bedeckt ist. An Größe übertreffen <strong>di</strong>e englischen<br />

Zeitungen alle übrigen europäischen; nach ihnen kommen <strong>di</strong>e spanischen, dann <strong>di</strong>e französischen,<br />

auf <strong>di</strong>ese folgen <strong>di</strong>e deutschen, und <strong>di</strong>e italienischen kommen zuletzt. Ich wollte schon den Satz<br />

aufstellen, daß man an dem Format der politischen Blätter den Umfang der bürgerlichen Freiheit<br />

jedes Landes abmessen könne, als mich <strong>di</strong>e Frankfurter Oberpostamtszeitung, <strong>di</strong>e in Folio erscheint,<br />

von <strong>di</strong>eser falschen Theorie noch zeitig abhielt. In mehrern Lesekabinetten fehlt es auch nicht an<br />

deutschen Blättern: man nimmt aber einiges daran wahr, was einen Deutschen nicht wenig<br />

schmerzt. Die Allgemeine Zeitung etwa ausgenommen, werden keine deutschen Blätter in den<br />

Lesekabinetten eigens gehalten, sondern sie werden von den Pariser Zeitungsredaktoren, nachdem<br />

sie ihren Gebrauch davon gemacht, den folgenden Tag dahin abgegeben. Alle andern auslän<strong>di</strong>schen<br />

Zeitungen werden den französischen gleich geachtet, jeden Morgen gefalzt, angenäht und gehörig<br />

aufgelegt. Die deutschen aber werden als verschmähte Aschenbrödels behandelt und in einen<br />

dunkeln Winkel oder packweise in eine Mappe gesteckt. Diese so gutmütigen, stillen und<br />

bescheidenen Zeitungen, <strong>di</strong>e ihr letztes Stückchen Brot jedem hingeben, der es fordert und lieber<br />

verhungern, als versagen – wird der Himmel gewiß noch einst für ihre Demut belohnen! Zieht man<br />

nun das deutsche Zeitungspack aus der Mappe hervor, so finden sich <strong>di</strong>e Blätter zerrissen,<br />

zerknittert, <strong>di</strong>e Nummern liegen nicht in Ordnung, viele fehlen, und <strong>di</strong>e Zeitungen der<br />

verschiedenen Staaten und Städte sind neben- und ineinander in der größten Verwirrung gelegt. In<br />

der Preußischen Staatszeitung findet man überrascht eine Beilage der Wiener Hofzeitung, in der<br />

Allgemeinen Zeitung steckt ein Kunstblatt, der Nürnberger Korrespondent schließt eine<br />

Bauernzeitung ein, der Österreichische Beobachter hält <strong>di</strong>e Neckarzeitung liebend umschlungen,<br />

und will man ein verlornes Stück des Literarischen Wochenblattes lesen, muß man ein Morgenblatt<br />

herumdrehen, worin jenes, Kopf unten, steckt. Das Journal de Francfort ist in seiner wahren und<br />

natürlichen Gestalt selten zu sehen. Es ist gewöhnlich ausgezackt wie ein Frisierkamm, weil <strong>di</strong>e<br />

Pariser Zeitungsredaktoren, aus deren Bureaus es kommt, <strong>di</strong>e deutschen Nachrichten abgeschnitten<br />

in <strong>di</strong>e Druckerei schicken und sich dadurch <strong>di</strong>e Mühe des Übersetzens ersparen.<br />

Es herrscht in <strong>di</strong>esen Lesekabinetten <strong>di</strong>e feierlichste Stille. Nicht das leiseste Wörtchen vernimmt<br />

man, obzwar dort nicht, wie in musterhaften deutschen Lesegesellschaften, der Paragraph der<br />

Statuten, der das Sprechen verbietet, an <strong>di</strong>e Wand genagelt ist, noch eine Schelle auf dem Tische<br />

steht, <strong>di</strong>e Störenden zu mahnen. Wenn Franzosen schweigen, so ist <strong>di</strong>eses ein unwiderleglicher<br />

Beweis, daß ihre Aufmerksamkeit eifrig und ernst beschäftigt ist; denn bei den anderen<br />

Gelegenheiten, wie an Speisetischen, machen vier Franzosen einen größern Lärm, als der ganze<br />

weiße Schwan in Frankfurt am Main während der zweiten Meßwoche mit allen seinen Gästen. Die<br />

Zeitungskabinette sind gewöhnlich mit Bibliotheken verbunden, <strong>di</strong>e von den Besuchenden mit<br />

wahrhaft jugendlichem Schulfleiße benutzt werden. Es ist <strong>di</strong>eses für unbemittelte <strong>Stu<strong>di</strong></strong>erende und<br />

Literaturfreunde oder für solche, denen es an Bequemlichkeit häuslicher Einrichtung fehlt, eine sehr<br />

wohltätige Anstalt. Man bezahlt monatlich sechs Franken, und für <strong>di</strong>ese geringe Summe kann man<br />

den ganzen Tag in einem solchen Kabinett arbeiten, hat im Winter Feuerung und Licht<br />

unentgeltlich und alle nötigen Bücher bei der Hand. Viele sind dort einheimisch und verlassen das<br />

Kabinett bloß, wenn sie zu Bette gehen. Auch sieht man da manche ehrwür<strong>di</strong>ge, narbenvolle<br />

Veteranen, <strong>di</strong>e ernst, stolz und wehmütig auf <strong>di</strong>e Erbärmlichkeit der Zeit herabsehen und, weil ihr<br />

Mund zu schmeicheln und ihr Arm zu drohen verschmäht, <strong>di</strong>e Waffen mit den Wissenschaften<br />

vertauschen und, sei es um Brot oder um Beschäftigung zu finden, den ganzen Tag emsig lesen,<br />

Auszüge machen und schreiben.<br />

5


XVIII.<br />

Gefrorenes<br />

Wie schade, daß <strong>di</strong>e heißen Tage vorüber sind, vielleicht hätte meine kleine Beschreibung von dem<br />

hiesigen künstlichen Winter der Einbildungskraft der deutschen Leser einige Kühlung gegeben, das<br />

ihnen erwünscht gewesen wäre. Denn wie man mir aus Deutschland geschrieben, hat es dort <strong>di</strong>esen<br />

Sommer sehr an Eis und Kälte gemangelt. In welchen Zeiten leben wir, was erlebt man nicht alles!<br />

Aber den Engländern ist es nicht besser gegangen; auch sie hatten Mangel an Eis. Zwar hatten sie<br />

Schiffsladungen davon aus Schottland herbeigeholt; während sie sich aber in den Häfen mit den<br />

Zöllnern herumgestritten, ob <strong>di</strong>ese Ware zu verzollen sei oder nicht, war der Gegenstand des<br />

Rechtsstreites zu Wasser geworden – ein Umstand, der bei Prozessen nicht selten eintritt. Noch<br />

größeres Mißgeschick hatten andere britische Handelsleute erfahren, welche Schiffe auf den<br />

Eisfang nach Island ausgeschickt. Zwei der Schiffe gingen mit Mannschaft und Ladung zugrunde.<br />

Diese Gefahren hatte der deutsche antipiratische Verein wahrscheinlich vorher berechnet, sonst<br />

hätte er sicher bei dem ihm eigenen Unternehmungsgeiste seine, durch den Schrecken der<br />

Raubstaaten müßig gewordenen Flotten benützt, dem deutschen Bunde heilsame Abkühlung zu<br />

verschaffen! ... Aber ich bin von meinem Wege abgekommen. In Paris hat man Eis in Überfluß, von<br />

wo man es herbekommt, mag der Himmel wissen. Das beste Gefrorne findet man bei Tortoni auf<br />

dem Boulevard des Italiens. Man hat dort jeden Abend <strong>di</strong>e süße Not, zwischen dreizehn Sorten zu<br />

wählen. Ich will sie nennen: Vanille, pistache, café blanc, fraise, groseille, framboise, citron, pèche,<br />

ananas, raisin, melon, pain d'Espagne, biscuit glacé à la fraise. Worin besteht das Wesen eines<br />

biscuit glacé? Ich habe es nicht herausgebracht, es ist eine Zuckerbäckerscharade. Ein Chemiker<br />

müßte ich sein, es nach seinen Bestandteilen, ein Dichter, es wür<strong>di</strong>g, ein Stoiker, es mit Gleichmut<br />

zu beschreiben. Anfänglich dachte ich: das wird wohl wieder eine französische Windbeutelei, <strong>di</strong>eser<br />

sogenannte Biscuit glacé wird nichts als gewöhnliches Eis nur mit der Form und Farbe eines Biscuit<br />

sein! Ich genoß und schämte mich meiner Übereilung. Es war wirklich Biskuit, aber ein<br />

durchfrorner. So mag Ambrosia munden. Aber Ambrosia ist auch nur ein Wort – man komme und<br />

schmecke. Was kann ich von genannter Eisart Rühmlicheres erzählen als folgendes? Ich habe mit<br />

meinen eigenen Augen gesehen, daß eine wunderschöne junge Frau, <strong>di</strong>e eifrig davon gegessen und<br />

ihr Glas schneller ausgeleert als ihr väterlicher Gatte das seinige, in <strong>di</strong>eses mit ihrem Löffel<br />

lächelnd Eingriffe getan, so daß der des Entzückens ungewohnte Ehemann sich triumphierend<br />

herumgesehen und allen anwesenden jungen Leuten zu verstehen gegeben, sie sollten daraus<br />

entnehmen, wie wenig für sie zu hoffen sei – so sehr liebte <strong>di</strong>e junge Frau gefrornen Biskuit. –<br />

Diejenigen meiner Leserinnen, <strong>di</strong>e je in Paris und währenddem schön oder jung oder reich gewesen<br />

(dem Reichtum verkauft man, der Schönheit bringt man, <strong>di</strong>e Jugend nimmt sich dort alles), <strong>di</strong>e<br />

lächelten gewiß voll seliger Erinnerung, da ich von Tortoni und den Boulevards des Italiens<br />

gesprochen. In schönen Sommernächten da sitzen ... säuselnde Bäume ... umgaukelnde Bewunderer<br />

... von tausend Lichtern zauberisch umflossen ... eine herrliche Zither tönt herüber ... drollige<br />

Savoyarden mit ihren tanzenden Affen betteln um ein Lächeln und einen Kupferpfennig ... und<br />

dabei den süßen Schnee herabzuschlürfen, wie das köstlich ist! Ach, es denkt keiner daran, wie<br />

teuer sich oft <strong>di</strong>e Natur ihre Schmeicheleien der menschlichen Lüsternheit bezahlen läßt!<br />

6


XX.<br />

Die Vendômesäule<br />

Man muß sehr lachen, wenn man der drolligen Verlegenheit einiger französischen Schriftsteller<br />

begegnet, welche Beschreibungen von Paris zum Gebrauche der Fremden verfaßt haben. Viele<br />

Bauwerke, in neuerer Zeit entstanden, erregen und ver<strong>di</strong>enen <strong>di</strong>e Bewunderung aller; aber wie<br />

davon sprechen? Napoleon hat sie geschaffen. Um <strong>di</strong>eser stechenden Wahrheit auszuweichen, sieht<br />

man jene armen Herren sich wie Raupen krümmen. Sie reden in mancherlei Windungen und stellen<br />

für schreibende Höflinge <strong>di</strong>e schönsten Stilmuster auf. Sie sagen: alle Bauwerke der kaiserlichen<br />

Regierung wären schon unter Ludwig XIV. beschlossen worden, Ludwig XV. habe wohl daran<br />

gedacht, <strong>di</strong>e Entwürfe seines Vorgängers auszuführen, habe aber, um das dazu nötige Geld zu<br />

holen, <strong>di</strong>e benachbarten Staaten nicht erobern wollen; Ludwig XVI. sei auf gleiches bedacht<br />

gewesen, habe es aber unterlassen, um seine Untertanen nicht mit Abgaben zu beschweren. Dann<br />

sagen sie: Napoleon habe nur aus Eitelkeit viel bauen lassen. Dann, um <strong>di</strong>e Schnelle, mit welcher<br />

unter ihm so viele und große Werke entstanden, der Bewunderung zu entziehen, sagen sie:<br />

Bonaparte habe zu Pferde der Unsterblichkeit zueilen wollen. Ferner: er habe wohl begriffen, daß<br />

ihm jene Kunstwerke größern Nachruhm bringen würden als seine verheerenden Schlachten.<br />

Ferner: es habe ihm geahnet, daß es mit seiner Herrlichkeit nicht lange dauern würde, und darum<br />

habe er sich beeilt, ein gefälliges Andenken zurückzulassen. Endlich, weil sie fürchten, noch nicht<br />

genug geschmeichelt, Napoleon noch nicht genug gelästert zu haben, sagen sie: Er habe <strong>di</strong>e<br />

Baukunst nicht geschätzt, <strong>di</strong>e Baukünstlern nicht aufgemuntert, nicht belohnt, sie vielmehr gehaßt,<br />

weil ihn, da er noch Lieutenant gewesen, ein Architekt wegen einer Schuld bei dem Friedensrichter<br />

verklagt hatte. Wenn <strong>di</strong>eses wahr ist, muß man sich wundern, daß Napoleon nicht auch <strong>di</strong>e Ammen<br />

und Kindermädchen verfolgt, weil ihm, als er noch Kind war, höchst wahrscheinlich eine <strong>di</strong>eser<br />

Personen irgend ein Pätschchen gegeben. Bei Gelegenheit der Vendômesäule sagen jene<br />

immergrünen Schmeichler: Napoleon hat <strong>di</strong>e Säule jener des Trajan zu Rom sklavisch nachbilden<br />

lassen, weil er den Künstlern nicht vergönnen mochte, eigenem Schöpfungsgeiste zu folgen. Daß er<br />

ein Taugenichts war, wissen wir auswen<strong>di</strong>g genug, aber mit der Vendômesäule hat er recht gehabt.<br />

Die Künstler unserer Tage haben nur gelernt, den Reichen und Mächtigen zu gefallen. Ein<br />

Bildchen, zwischen hölzernen Stäben eingesperrt, in der warmen Stube aufgehängt, von Gar<strong>di</strong>nen<br />

gegen <strong>di</strong>e Sonne, von Schloß und Riegel gegen freie Untersuchung geschützt – das ist ihr höchstes<br />

Tun. Aber ein Bauwerk unter freiem Himmel, auf den Markt des freien Urteils hinzustellen, allen<br />

verständlich, allen gefällig, und das groß in <strong>di</strong>e großen Augen des Volks einzieht – das vermögen<br />

sie nicht. Aber <strong>di</strong>e alten Römer vermochten es, und darum war es wohlgetan, eines ihrer Werke<br />

nachzuahmen. Die Vendômesäule ist das schönste unter allen Bauwerken Napoleons; unter solchen<br />

nämlich, <strong>di</strong>e eine sittliche Vorstellung ausdrücken. Denn was <strong>di</strong>e Gebäude betrifft, <strong>di</strong>e dem Vorteile<br />

des tierischen Menschen gewidmet sind: Märkte, Wein-, Getreidehallen, Schlachthäuser, <strong>di</strong>e der<br />

französische Kaiser aufführen ließ, so muß man gestehen, daß <strong>di</strong>e alte Welt nichts Ähnliches<br />

vorzuzeigen hatte.<br />

Die Säule auf dem Platze Vendôme soll, wie bekannt, <strong>di</strong>e Siege der Franzosen im Jahre 1805<br />

verherrlichen. Sie ist rundum bis zu ihrer Spitze mit Bildwerken halb erhabener Arbeiten bedeckt,<br />

wozu zwölfhundert eroberte Kanonen das Metall gegeben. Ein schönerer Baustoff, als den der<br />

türkische Kaiser zu verwenden gedenkt, welcher wie eine deutsche Zeitung schmunzelnd erzählt<br />

hat, bei seinem Barte geschworen, in Griechenland eine Moschee von Christenschädeln aufrichten<br />

zu lassen! Die Spitze der Säule krönt eine Kuppel, auf welcher bis zur Rückkehr der Bourbonen <strong>di</strong>e<br />

Statue Napoleons stand. Sie war, wie ihr Urbild, so fest auf den Beinen, daß man sie absägen<br />

mußte. Aus dem Leibe des Helden wurde später das Pferd gegossen, worauf Heinrich IV. auf dem<br />

Pont- Neuf sitzt. Eine finstere Treppe führt zur Galerie, welche <strong>di</strong>e Kuppel der Säule umgibt. Mit<br />

einer Laterne in der Hand steigt man den ängstlichen Weg hinauf, der so eng ist, daß man dem<br />

Herabkommenden zurufen muß, oben zu warten, denn zwei sich Begegnende könnten sich nicht<br />

ausweichen. So sind <strong>di</strong>e Wege des Ruhmes! Von der Höhe der Säule hat ein Held der alten Garde<br />

7


sich vor einigen Jahren herabgestürzt. Beargwohnt von der Schwäche, geneckt, verfolgt, ward ihm<br />

das Leben zur Last. In fünfzig Schlachten war er den Lanzen und Schwertern des Feindes kühn<br />

entgegengetreten – vor den Nadelstichen der Polizei nahm er feig <strong>di</strong>e Flucht. Von <strong>di</strong>eser Säule des<br />

Ruhms schaut man auf das heutige Paris hinab – ein Anblick, der einem Deutschen wohltun würde,<br />

wenn es <strong>di</strong>e Binse größer und stärker machte, daß der Sturm <strong>di</strong>e Eiche niederwarf. Auch haben sie,<br />

um der Weltgeschichte Höflichkeit zu lehren, <strong>di</strong>e Inschrift vertilgt, <strong>di</strong>e am Fuße der Säule deren<br />

Bestimmung ausdrückte. Die Inschrift war in lateinischer Sprache, und <strong>di</strong>e Wenigsten hatten sie<br />

verstanden: <strong>di</strong>e leere Tafel kann jetzt jeder dumme Bauer lesen.<br />

8


Peter Altenberg *<br />

da: Märchen des Lebens<br />

Die Glücklichsten<br />

Die Glücklichsten sind <strong>di</strong>e Schwäne am Gmundner See. Sie genießen alle Vorteile der Zivilisation,<br />

der noblen Protektion durch <strong>di</strong>e Menschen, und alle Vorteile der Freiheit, indem sie an den<br />

schilfbewachsenen Ufern eines zwölf Kilometer langen Sees wohnen! Im Winter wird ihnen von<br />

der Gemeinde aus Futter gestreut, im Herbste fliegen sie über den See mit tönendem singendem<br />

Flügelschlage, ihre Verstecke werden geschont und ihre Jungen mit Respekt behandelt. Sie gelten<br />

als Zierde der Landschaft und ohne irgend jemandem etwas Gutes zu erweisen, befinden sie sich<br />

von selbst in der Huld aller. Nie werden sie verfolgt, geschossen und gebraten und ein jeder sagt, sie<br />

hätten übrigens ein schrecklich zähes ungenießbares Fleisch. Auf <strong>di</strong>e Schwanendaunen wird sogar<br />

verzichtet im Interesse der landschaftlichen Staffage, der sie redlich <strong>di</strong>enen, von selber und ohne<br />

Ver<strong>di</strong>enst. Sie sind <strong>di</strong>e »Lieblinge des Publikums«, und ihre Daunen schwimmen wie<br />

Sommerschneeflocken unbenützt auf dem Seespiegel. Nur einmal wurde einer vom Jägerburschen<br />

erschossen, weil er schrecklich aggressiv gegen ein kleines Boot und seine zu Tode erschreckten<br />

Insassen, junge Damen, vorging, mit Flügelschlägen, weil man sein Weib und fünf hellgraue Junge<br />

gestört und angefahren hatte mit Kiel und Rudern, wenn auch unabsichtlich. Aber auch <strong>di</strong>eser starb<br />

damals in höchster leidenschaftlicher Erregung, für sein Geliebtestes kämpfend, den edlen,<br />

beneidenswerten Heldentod, während einer Ekstase, in der man keine körperlichen Schmerzen<br />

wahrscheinlich spürt!<br />

Ein Glücklichster ist noch der wunderbare riesige Schimmel »Ali Baba«, Deckhengst in dem<br />

berühmten Gestüt Kladrup. Alle seine Lebensenergien werden liebevollst gehegt und gepflegt, daß<br />

er sie bewahre für seine herrlichen Geliebten, <strong>di</strong>e berühmten Stuten.. Um ihn herum in der Welt<br />

werden täglich Milliarden von Tieren malträtiert, gefoltert, sei es zu <strong>di</strong>esem, sei es zu jenem<br />

Zwecke, geschlachtet, kastriert, <strong>di</strong>ckgefüttert auf Mästung zwangsweise, für Leberentartung<br />

künstlich präpariert! Aber er, der Schimmelhengst wird gepflegt und gehegt, und als Belohnung für<br />

Dienste, <strong>di</strong>e nur Freuden waren, erhält er ein reichliches Gnadenbrot in seinen schwachen Tagen.<br />

Ein anderer Glücklichster ist noch Beethoven. Taub für <strong>di</strong>e Niederträchtigkeiten seiner<br />

Nebenmenschen, ließ er <strong>di</strong>e »Symphonie der Welt« in sich ungestört ertönen.. Stundenlang fischte<br />

er leidenschaftlich in Nußdorf an der Donau, war glücklich, wenn ein ungenießbarer Fisch endlich<br />

nach Stunden anbiß. Alle hielten ihn für einen verrückten Dichter, grüßten ihn aber ehrfurchtsvoll.<br />

Niemand störte ihn, er klagte sich aus in Adagios, tobte sich aus in vierten Sätzen, lächelte<br />

wehmütig über sich selbst und <strong>di</strong>e Erde in Scherzos. Er fühlte sich als Geber und Spender, als<br />

Vermehrer und Entwickler, trotzdem er selbst davon nichts wußte <strong>di</strong>rekt und an <strong>di</strong>e Donau fischen<br />

ging.<br />

Dann sind noch zu den Glücklichsten zu zählen <strong>di</strong>e Otterhunde, welche in Rudeln reiche Züchter<br />

in England loslassen gegen <strong>di</strong>e Fischottern in Bächen und deren Erdhöhlen und Felsenhöhlen am<br />

Ufer. Sie hassen <strong>di</strong>e Fischotter pathologisch, fürchten nicht den Tod durch ihre Rasiermesserzähne.<br />

Sie haben einen krankhaften Haß gegen <strong>di</strong>e Fischottern, <strong>di</strong>e ihnen nie, nie etwas Böses angetan<br />

haben. Aber wenn man sie losläßt gegen sie, sind sie glücklich! Unter deren spitzigen unerbittlichen<br />

Zähnen verenden, ist Wollust! Wozu hat man denn seine Kräfte, als um sie im Fischotterhasse zu<br />

* Altenberg, Peter (eig. Richard Engländer), 9. 3. 1859 Wien - 8. 1. 1919 Wien. Stud. Jura u. Me<strong>di</strong>zin ebda.,<br />

Buchhändler, freier Schriftsteller, Kaffeehausliterat und Bohemien auf dem Semmering. - E. Hauptvertreter des Wiener<br />

Impressionismus, Meister der sprachl. und gedankl. gedrängten, aphorist. Prosaskizze mit Augenblickseindrücken aus<br />

dem Alltagsleben, der Stimmungsbilder aus der überfeinerten Nervosität der mod. Großstadt und kulturkrit. Aphoristik,<br />

anfangs genußfroh, später skept. und iron., z. T. manieriert. (vgl. Wilpert, Lexikon der Weltliteratu, Autoren, S. 38)<br />

9


verbrauchen?!? Die Fischotterhunde sind daher auch wirklich Glückliche! Sie kennen nur Haß und<br />

Leidenschaft. Und ein solcher Hund blickt ebenso traurig, wenn <strong>di</strong>e Fischotter entwischt ist, als ein<br />

Adagio Beethovens ertönt. Sie träumen Tag und Nacht vom Fischottertode. Sie sind groß, haben ein<br />

wüstes stichelhaariges Fell und Augen, in welchen eine unerbittliche mysteriöse grausame Mission<br />

funkelt, der Fischottertod! Auch <strong>di</strong>ese Organisationen sind wirklich Glückliche!<br />

Aber <strong>di</strong>ese anderen, auf dem Prokrustesbett des Lebens verkrüppelt zum Bedürfnis des Tages,<br />

sind nicht eine Stunde lang glücklich, sondern sterben dahin im Dienste, wehmütig wenn auch<br />

unbewußt trauernd um ihre zurückgedämmte Natur!<br />

Sommer 1906<br />

Eine junge Dame, für <strong>di</strong>e ich eine zärtliche Freundschaft empfand, hatte eine besondere Vorliebe<br />

für schönes edles Schuhwerk an Männerfüßen. Besonders ein sehr eleganter Mann hatte es ihr<br />

<strong>di</strong>esbezüglich angetan mit seiner idealen Chaussüre. Ich selbst trug Schuhe, <strong>di</strong>e ich seit drei Jahren<br />

täglich trug, dreimal bereits gesohlt und überhaupt schrecklich. Ich bemerkte an dem süßen Fräulein<br />

<strong>di</strong>e herbe Enttäuschung. Ein Dichter mit solchen Schuhen, pfui!<br />

Da arrangierte ich es eines heißen Nachmittags, daß alle nahe dem flachen Ufer in den lauen<br />

Seesand barfuß aus dem Boote stiegen. Ja, ich setzte mich eigentümlich eindringlich dafür ein. Das<br />

süße Fräulein blickte mich an.<br />

Spät abends, im Hotel, beim Abschiednehmen, sagte sie zu mir: »Verzeihen Sie es mir, P.A., Sie<br />

haben mir eine Lektion erteilt. Ich danke Ihnen.«<br />

Ich küßte ihr stumm <strong>di</strong>e Hand. Moral: Ein schöner Fuß ist schöner als ein schöner Schuh.<br />

Was ist ein Ge<strong>di</strong>cht?!<br />

Ein Ge<strong>di</strong>cht ist eine Sache, <strong>di</strong>e in dem Leser eine ähnliche Stimmung erzeugen soll, wie der sie<br />

gehabt hat, der es geschrieben hat – – –.<br />

Ge<strong>di</strong>cht: »Der Vorfrühling«.<br />

Morgentemperatur am Hochschneeberg plus ein Grad.<br />

Der Schnee fällt als Regen herab.<br />

Die weißgrauen Schneefelder schimmern feucht.<br />

Der Pegelstand an den Flüssen steigt und steigt.<br />

Milde stürmische Luft. Trübe Witterung im allgemeinen.<br />

In den nordalpinen Gegenden noch ungeheure Schneefälle.<br />

Vor dem Tunnel elf der Bergbahn Lawinenstürze.<br />

Die Hotels am Semmering sind überfüllt, Aristokratie und reiches Bürgertum gewinnen der Natur<br />

noch einige Rodelschlittentage ab. Die Sonne frißt den Schnee.<br />

Die Erde ist gesättigt, wasserdurchtränkt. Es rinnt alles in <strong>di</strong>e Flüsse ab deswegen.<br />

Der Bauer ist erwartungsvoll.<br />

Helga sucht weinend im Gelände nach Primeln.<br />

10


Erinnerung<br />

Ich verstehe das alles nicht von der Kindheit, von <strong>di</strong>esem Gegensatze nämlich der Kindertage und<br />

der späteren. Das verstehe ich nicht. Denn hierin habe ich doch eine Kontrolle, da ich 49 Jahre alt<br />

bin und mit 9 Jahren nach Vöslau kam im Sommer. Der Arzt hatte zu meiner wunderbar schönen<br />

überzarten Mama gesagt: »Da Sie also Ihren geliebten Gatten während der Sommermonate nicht in<br />

Wien für sich einsam arbeiten lassen wollen, andererseits aber Sie und Ihr Söhnchen sehr zart<br />

organisiert sind, so rate ich Ihnen dringend zu Vöslau. Es ist trockene staubfreie Luft, stundenlange<br />

Tannenwälder, ein Bad von 22 Grad Réaumur, und ihr geliebter Gatte kann jeden Abend<br />

hinausgelangen.« Ich lernte das grünbewachsene Geländer des kleinen Bahnhofes damals fanatisch<br />

lieben, <strong>di</strong>e lange eigentlich melancholische Bahnhofstraße mit dem braunen Bache, in welchem<br />

Wäsche gewaschen wurde oder Enten ein Bad nahmen, das nur <strong>di</strong>e letzte Vorbereitung war zum<br />

Abgestochenwerden. Rechts war <strong>di</strong>e riesige Spinnfabrik. Man wußte nichts von ihr, als daß der<br />

Direktor ein persönlicher Freund meines Vaters sei. Man war erstaunt, an einem Landaufenthalt<br />

eine große Spinnfabrik anzutreffen, mit Gärten und Blumenbeeten und stark vergittert und<br />

schweigsam. Man sah Rauch aus langen dünnen Schloten und dachte nicht weiter nach. Dann kam<br />

man zum Bade, wo es nach Linden roch und nach den sonngedörrten Planken, <strong>di</strong>e das Bad<br />

umfriedeten. Bänke waren da für <strong>di</strong>e Ausruhenden vom Bade, für <strong>di</strong>e Wartenden und Erwartenden.<br />

Die graublaue Quelle kam aus dem Innern der Erde und floß über Kieselgrund. Die Natur bot<br />

nirgends eine Pracht und Fülle, aber jede Eiche war bekannt und beliebt auf dem schütteren<br />

trockenen Wiesengrunde. Im Walde waren Büsche mit roten Beeren, mit schwarzen Beeren und mit<br />

hellgrünen Beeren, und Blumen waren nur zu zählen. Die Tannen würzten an heißen Stellen <strong>di</strong>e<br />

Luft. Dem Boden fehlte entschieden Wasser, und <strong>di</strong>e angeschnittenen Tannen gaben Harz von sich,<br />

ihren Lebensbalsam. »In drei Jahren müssen sie daran zugrunde gehen«, sagte unser Hofmeister,<br />

»aber der Herr Baron wird davon leben.« »Es tut ihnen aber wenigstens nicht weh«, erwiderte ich. –<br />

»Weißt du es?!« sagte mein geliebter Hofmeister. Bei der »Waldandacht« begann eigentlich erst für<br />

mich <strong>di</strong>e Wildnis. Diese Waldschlucht bis Merkenstein kam mir vor wie unentdeckte Wege zum<br />

Viktoria-Nyanza. Ich war erstaunt, daß man keine scharfen Beile benötigte, um sich durch<br />

undurchdringliches Gestrüppe einen Weg zu bahnen. Immerhin war es eine Waldschlucht, <strong>di</strong>e sich<br />

hinzog ins Unendliche. Der Name »Merkenstein«, dort, wo das Tal endete, war wie der Name<br />

»Ewigkeit«. In Vöslau selbst liebte ich alles, alles, jeden Gartenzaun, und <strong>di</strong>e Blicke in <strong>di</strong>e trostlose<br />

Ebene, wo das Bahngeleise war. Im Jahre 1866 wurden <strong>di</strong>e Sachsen in den Gartenhäusern<br />

einquartiert, und am Vormittage lagen sie auf der »Waldwiese« und sangen und rauchten. Meine<br />

liebe Mama wohnte damals in der Villa »Rademacher«, am Rande der Waldwiese, hatte mich, zwei<br />

Dienstboten und eine Kinderfrau, und wußte vom Kriege nur, daß <strong>di</strong>e Sachsen im Gartenhäuschen<br />

einquartiert waren und auf der Waldwiese vormittags sangen und rauchten! Das Wasser des Bades<br />

war graublau und sehr angenehm lau, aber sehr bald hatte man dennoch genug und legte sich in <strong>di</strong>e<br />

Sonne. Der Lindenduft kam von allen Seiten und man war sehr glücklich. Besonders Mama liebte<br />

man fanatisch. Nichts liebte man so wie Mama. Eigentlich krankhaft. Nun, und siehe, mit 49 Jahren<br />

besuchte ich eine teuere Freun<strong>di</strong>n, <strong>di</strong>e dort zur Erholung weilte, im Sommer 1906. Und alle meine<br />

Kindheitsgefühle kamen wiederauferstehend zum Vorschein, wie Eingesargtes, das leben<strong>di</strong>g wird.<br />

Nichts, nichts nichts, hatte sich verändert, nichts war verblaßt, alles wirkte wie einst! 39 Jahre<br />

waren spurlos an meiner Seele vorübergegangen und sämtliche Impressionen des Knaben erstanden<br />

in ungeschwächter Kraft. Mama, du bist im Grabe, Dienstboten und Bonnen sind verheiratet oder<br />

gestorben. Mein Vater ist verarmt, und <strong>di</strong>e Spinnfabrik gehört irgend jemand, wahrscheinlich einer<br />

Aktiengesellschaft. Im Bade duftet es nach Lindenblüten, wenn <strong>di</strong>e Zeit kommt. Und was sonst an<br />

Neuerungen ist, meldet <strong>di</strong>e Kurkommission in ihren Broschüren! Ich aber spüre es nicht in meiner<br />

Seele, daß 39 Jahre vergangen sind, da ich Vöslau lieb hatte und alles, was drum und dran war.<br />

Kindheit, in mir bist du also nicht gestorben und verdorben!<br />

11


Vorstadtzimmer<br />

Sie hatte das bequeme Elternhaus verlassen, um frei zu sein. Dort hatte sie ein Zimmerchen gehabt,<br />

das auf den Fluß hinausging. Am Gartenufer lag ihre Segeljacht »Wohin?!« Sie hatte in Wien,<br />

Florianigasse 10, ein Zimmerchen gemietet für 40 Kronen. Sie konnte kommen und gehen, wann<br />

und wie sie es wünschte. Sie war ihre eigene Herrin. Niemand von ihrer Familie hätte es acht Tage<br />

lang in <strong>di</strong>esem einsamen altväterisch eingerichteten Vorstadtzimmer ausgehalten. Es ging nicht auf<br />

einen glitzernden Strom hinaus und nirgends waren Gärten mit Weidenbüschen und kleinen<br />

Holzstegen zum Anlegen. Aber für sie war es eine »Rast«. Eine Rast! Niemand durfte ihr gebieten:<br />

»So und so – – –!« Sie konnte den Ofen, ihren Ofen, einheizen lassen, wann und wie sie es<br />

wünschte. Manchmal stundenlang nur mit Holz, wie <strong>di</strong>e Prinzessinnen – – –. »Ich wünsche heute<br />

nur mit Holz zu heizen – – –«, fühlte sie. »Und wenn es das Dreifache kostet!«<br />

Die alte Vermieterin lebte von ihr. Sie sagte einmal bei einer Komplikation: »Wo werde ich<br />

wieder eine solche Mieterin finden, Fräulein – –?!?«<br />

Das Fräulein erwiderte: »Es ist eigentlich das beste Kompliment, das wahrhaftigste, das man mir<br />

je im Leben gemacht hat – – –.«<br />

Endlich mußte sie das Zimmerchen aufgeben. Sie war kränklich und man wollte sie verheiraten<br />

an einen ausgezeichneten verständnisvollen reichen Menschen, der sie betreuen würde wie ein<br />

Baby.<br />

Da nahm sie denn Abschied von ihrem Zimmer.<br />

Sie legte sich einfach auf den Fußboden hin und weinte – – –.<br />

Und sie sagte zu der verzweifelten alten Vermieterin: »Vermieten Sie es aber nur an einen, der es<br />

ebenso lieb haben könnte wie ich – – –.«<br />

»Dös gibt's nicht auf der ganzen Welt«, sagte <strong>di</strong>e alte Vermieterin.<br />

12


Arthur Schnitzler *<br />

Amerika<br />

Das Schiff landet; ich setze meinen Fuß auf den neuen Weltteil ...<br />

Der graue Herbstmorgen überschattet Meer und Land; noch schwankt alles unter mir; noch<br />

immer fühle ich den unruhigen Gang der Wogen ... Aus dem Nebel erhebt sich <strong>di</strong>e Stadt ... Neben<br />

mir, mit offenen Augen, leben<strong>di</strong>g, hastet <strong>di</strong>e Menge. Nicht das Fremde empfinden sie; nur das<br />

Neue. Ich höre, wie der oder jener vor sich hinflüstert: Amerika – als wenn er sich's nur recht<br />

einprägen wollte, daß er jetzt wirklich hier sei, so weit! ...<br />

Ich stehe allein am Ufer. Nicht an das neue Amerika denk' ich, von dem ich das Glück zu fordern<br />

habe, das mir <strong>di</strong>e Heimat schul<strong>di</strong>g geblieben – ich denke an ein anderes.<br />

Ich sehe jenes kleine Zimmer, so deutlich sehe ich es, als hätt' ich es gestern verlassen, nicht vor<br />

so vielen Jahren. Auf dem Tisch <strong>di</strong>e Lampe mit dem grünen Schirm, der gestickte Lehnsessel in der<br />

Ecke. Kupferstiche hängen an der Wand; <strong>di</strong>e Bilder verschwimmen im Schatten. Anna ist bei mir.<br />

Sie liegt mir zu Füßen, den Lockenkopf an mein Knie gelehnt; ich muß mich niederbeugen, um in<br />

ihre Augen zu sehen.<br />

Wir haben aufgehört zu plaudern; der Abend schreitet weiter, und stille ist's im Gemach. Draußen<br />

beginnt es zu regnen, wir hören <strong>di</strong>e Tropfen an <strong>di</strong>e Fensterscheiben schlagen, langsam, schwer. Sie<br />

lächelt, und ich beuge mich zu ihrem Munde. Ich küsse ihre Lippen, ihre Stirn, ihre Augen, <strong>di</strong>e sie<br />

geschlossen hat. Meine Finger spielen mit den feinen goldenen Haaren, <strong>di</strong>e sich hinter ihrem Ohre<br />

kräuseln. Ich schiebe sie zurück und küsse sie auf <strong>di</strong>ese süße, weiße Hautstelle hinter dem Ohre. Sie<br />

schaut wieder auf und lacht. »Was Neues«, flüstert sie, wie erstaunt. Ich halte meine Lippen fest<br />

hinter das Ohr gepreßt. Dann sage ich lächelnd: »Ja, was Neues haben wir entdeckt!« Sie lacht auf,<br />

und wie ein Kind fröhlich ruft sie aus: »Amerika!«<br />

Wie drollig war das damals! So toll und dumm! Ich sehe ihr Gesicht vor mir, wie es zu mir<br />

aufschaute mit den Schelmenaugen, und wie von ihren roten Lippen der Ruf erschallte: »Amerika!«<br />

Wie haben wir damals gelacht, und wie hat mich der Duft berauscht, der aus ihren Locken heraus<br />

über unser Amerika strömte ...<br />

Und bei <strong>di</strong>eser großartigen Benennung blieb es auch. Zuerst riefen wir es immer aus, wenn von<br />

den unzähligen Küssen einer sich hinters Ohr verirrte; dann flüsterten wir es – dann dachten wir es<br />

uns nur mehr; aber immer kam es zum Bewußtsein.<br />

Eine Fülle von Erinnerungen steigt in mir auf. Wie wir einmal auf einer Anschlagsäule ein großes<br />

Schiff abgebildet sahen und, nähertretend, lasen: »Ab Liverpool – An New York – Ab Bremen – An<br />

* Schnitzler, Arthur, 15. 5. 1862 Wien - 21. 10. 1931 Wien; Sohn des Kehlkopfspezialisten u. Prof. Johann S., Stud.<br />

Me<strong>di</strong>zin Wien, 1885 Dr. med., ab 1886 Arzt am k. k. Allg. Krankenhaus und Assistent an der Poliklinik, dann prakt.<br />

Arzt; Bekanntschaft mit S. Freud. Widmete sich zunehmend lit. Arbeiten und lebte als freier Schriftsteller in Wien. -<br />

Als Dramatiker und Erzähler typ. Repräsentant des Wiener Impressionismus, der <strong>di</strong>e dekadente großbürgerl.<br />

Gesellschaft des Wiener fin de siècle mit ihrer müden Resignation und abgeklärten Melancholie, der graziösen<br />

Leichtigkeit, e. zwischen Traum und Wirklichkeit wechselnden, verschwimmenden Konturlosigkeit und e. oft<br />

bedrückenden Lebensüberdruß und Todessehnsucht in entscheidenden Situationen mit glänzender psycholog., z. T.<br />

psychoanalyt. Beobachtung, iron. Skepsis und eth. Relativismus darstellt. Neigung zum Episodenhaften und<br />

Bevorzugung kleinerer Formen (szen. Einakter, stimmungshafte Novellen); in größeren Formen versagt z. T. <strong>di</strong>e<br />

Gestaltungskraft. Vorliebe für psycholog. Durchleuchtung spielerischer erot. Situationen ohne echtes gefühlsmäßiges<br />

Engagement (Liebelei, Verführung) aus der Auffassung von der Vergänglichkeit des Gefühls und Überwiegen der<br />

meisterhaft in allen Nuancen und Zwischentönen geschilderten Stimmung über <strong>di</strong>e Handlung. Nur im Frühwerk und<br />

nach dem 1. Weltkrieg auch gelegentl. Einbeziehung sozialer Probleme; zuletzt eth. Engagement in der Forderung nach<br />

Überwindung des gleichgültigen Ästhetentums zugunsten verantwortungsbewußter, illusionsfreier Lebensführung. In s.<br />

kultivierten Stil an franz. Lit. (Flaubert, Maupassant) geschult; in ›Leutnant Gustl‹ und ›Fräulein Else‹ frühe<br />

Anwendung des inneren Monologs. Skandalerfolg mit der zyn. Diagnose des Trieblebens in den satir. Dialogen des<br />

›Reigen‹. E. der meistgespielten dt. Dramatiker in der Zeit vor dem 1. Weltkrieg. (vgl. Wilpert, Lexikon der<br />

Weltliteratur, Autoren, S. 1359<br />

13


New York« ... Wir lachten auf, mitten auf der Straße, und sie behauptete ganz laut, während Leute<br />

herumstanden: »Du, wir reisen heute noch nach Amerika!« Die Leute schauten sie ganz verwundert<br />

an; besonders ein junger Mann mit einem blonden Schnurrbart, der noch dazu lächelte. Mich ärgerte<br />

das sehr, und ich dachte: Ja, der möchte wohl mitreisen ...<br />

Dann saßen wir einmal im Theater, ich weiß nicht mehr, bei welchem Stück, da sprach<br />

irgendeiner auf der Bühne von Kolumbus. Es war ein Stück in Jamben, und ich entsinne mich des<br />

Verses: »– und da Kolumbus auf <strong>di</strong>e Brücke trat ...« Anna stieß mit ihrem Arm leicht an den<br />

meinen; ich sah sie an und verstand ihren geringschätzigen Blick. Der arme Kolumbus ... als wenn<br />

der das wahre Amerika entdeckt hätte! Als wir nach dem Theater in einem Weinhause saßen, da<br />

sprachen wir viel von dem guten Manne, der sich so viel eingebildet hatte auf sein armseliges<br />

Amerika. Eigentlich bedauerten wir ihn. Ich konnte mir ihn lange Zeit hindurch nicht anders<br />

vorstellen, als mit trauervollem Blicke an der Küste seines neuen Weltteiles stehend,<br />

sonderbarerweise mit einem Zylinder und einem ganz modernen Überzieher, und enttäuscht den<br />

Kopf schüttelnd. Einmal zeichneten wir ihn gemeinschaftlich auf der Marmorplatte eines<br />

Kaffeehaustisches und fanden immer neue Details. Sie bestand darauf, daß er eine Zigarre rauchen<br />

müsse; außerdem trug der große Entdecker auf unserem Gemälde einen Regenschirm, und sein<br />

Zylinder war eingedrückt – natürlich – wegen der Meuterer. So wurde Kolumbus für uns <strong>di</strong>e<br />

humoristischste Figur der ganzen Weltgeschichte. Wie toll! Wie dumm! ...<br />

Und nun stehe ich mitten in der großen, kalten Stadt. Ich bin in dem falschen Amerika und<br />

träume von meinem süßen, duftenden Amerika da drüben ... Und wie lange das schon her ist! Viele,<br />

viele Jahre. Ein Schmerz, ein Wahnsinn kommt über mich, daß so etwas unwiederbringlich verloren<br />

ist. Daß ich nicht einmal weiß, wo eine Kunde von mir, wo ein Brief sie treffen könnte – daß ich<br />

nichts, gar nichts mehr von ihr weiß ...<br />

Weiter hinein in <strong>di</strong>e Stadt führt mich mein Weg, und mein Gepäckträger folgt mir. Ich bleibe<br />

einen Augenblick stehen, schließe <strong>di</strong>e Augen, und durch ein seltsames trügerisches Spiel der Sinne<br />

umfängt mich derselbe Duft, wie er an jenem Abend von Annas Locken über mich wehte, da wir<br />

Amerika entdeckten ...<br />

14


Klabund *<br />

da: Kunterbuntergang des Abendlandes<br />

Der Kriegsberichterstatter<br />

Siegfried Silbermann, der schon den Buren- und den Balkankrieg als Kriegsberichterstatter der<br />

»Neuen Freien Trompete« mitgemacht hatte, wurde telegraphisch in das Hauptquartier von<br />

Exzellenz Eydtkuhnen, Oberbefehlshaber Nordost, berufen – jenes Feldherrn, der erst anläßlich<br />

<strong>di</strong>eses Krieges in so glänzende Erscheinung getreten ist.<br />

Schon ehe er das Auto des Pressestabes bestieg, wurden Siegfried Silbermann mit einem dunklen<br />

Tuch wie einem Parlamentär <strong>di</strong>e Augen verbunden, damit er auf der Fahrt nach der Front ja nichts<br />

zu sehen bekäme, was sich im geringsten als militärisches Geheimnis darstellen und von ihm<br />

vielleicht als Anlaß zu einer seiner hinlänglich bekannten Plaudereien benützt werden könne. Es<br />

gehörte zur seelischen und beruflichen Eigenschaft des Kriegsberichterstatters, daß er nichts, aber<br />

auch rein gar nichts vom Kriege sieht: hin und wieder nur wird ihm <strong>di</strong>e Binde abgenommen, und er<br />

fühlt sich erstaunt vor einem toten Pferd oder einem niedergebrannten Haus. Darüber darf er dann<br />

als »Augenzeuge« berichten. Wendet er seinen Blick von dem toten Pferd oder dem<br />

niedergebrannten Haus ein wenig empor und in <strong>di</strong>e Weite, so sieht er nichts als ein graues, ödes,<br />

endloses Feld, das sich viele Meilen bis an den Horizont erstreckt. Das nennt er dann <strong>di</strong>e »Leere des<br />

modernen Schlachtfeldes«.<br />

Siegfried Silbermann schlug <strong>di</strong>e Augen auf und fand sich einem ältern, stattlichen Herrn<br />

gegenüber, dessen Brust mit Orden und Ehrenzeichen übersät war. Breite rote Feldmarschallsbiesen<br />

funkelten herrisch an seinen gestrafften Beinen. Er zwirbelte nachdenklich an seinem braunmelierten,<br />

altertümlichen Bart.<br />

Silbermann zog seinen Notizblock und notierte: martialisch.<br />

Exzellenz Eydtkuhnen, der große Feldherr – denn er war es in eigener Person – legte seine große,<br />

knochige Hand schwer auf Siegfried Silbermanns schwankende Schulter.<br />

Silbermann zitterte.<br />

Er feuchtete den Tintenstift leise an der Zunge an und notierte: leutselig.<br />

Silbermann wagte endlich, <strong>di</strong>e nähere Umgebung prüfend zu betrachten.<br />

Um ein riesiges rauchiges Lagerfeuer hockte malerisch gekrümmt eine Anzahl höherer und<br />

niederer Offiziere. Es war der Stab des Feldherrn. Sie rauchten eine Pfeife, <strong>di</strong>e reihum ging: <strong>di</strong>e<br />

sogenannte Friedenspfeife. Über dem Feuer wurde ein Ochse von mehreren Ordonnanzen am Spieß<br />

gedreht. Man traf Vorbereitungen zum Mittagsmahl.<br />

* Klabund, (eig. Alfred Henschke), 4.11. 1890 Crossen a. d. Oder - 14. 8. 1928 Davos; Apothekerssohn, Kindheit in<br />

Crossen und Frankfurt/ O., 16jähr. lungenkrank, seither häufig in Schweizer Sanatorien, Gymnas. Frankfurt/O., Stud.<br />

Lit. und Philos. München und Lausanne ohne Abschluß, dann freier Schriftsteller in München, Berlin und der Schweiz,<br />

Freundschaft mit G. Benn; moral. und polit. Skandale, Prozeß wegen Gotteslästerung; 1925 in 2. Ehe <strong>di</strong>e<br />

Schauspielerin C. Neher. Rastloses und z. T. flüchtiges Schaffen angesichts des Todes. - Lyriker, Dramatiker und<br />

Erzähler zwischen Impressionismus und Expressionismus, trotz vielseit. Formbegabung meist lockeroberflächl. im Stil,<br />

Nähe zu Heine und Wedekind; Vorliebe für erot. Themen. Ungemein stimmungs- u. formenreiche, farbige Lyrik von<br />

ekstat. und symbol. Versen bis zu volksliedhaften Ge<strong>di</strong>chten, Balladen, Chansons und Zeitge<strong>di</strong>chten von teils<br />

leidenschaftl., teils spieler. Haltung und profanen wie myst.-tiefgrün<strong>di</strong>gen Themen. Erzähler expressionist.<br />

lyr. Kurzromane mit teils autobiograph., teils hist. und meist stark erot. Stoffen, am erfolgreichsten der Eulenspiegel-<br />

Roman ›Bracke‹. Vf. zauberhaft leichter lyr. Komö<strong>di</strong>en; Virtuoser Nach<strong>di</strong>chter des chines. ›Kreidekreises‹ sowie<br />

chines., jap. und pers. Lyrik nach engl. und franz. Übss. (vgl. Wilpert, Lexikon der Weltliteratur, Autoren, S. 801).<br />

15


»Wollen Sie mit uns speisen?« sagte Exzellenz Eydtkuhnen. Des Feldherrn Stimme rollte in<br />

gutturalen Kehllauten.<br />

Silbermann notierte: nicht nur <strong>di</strong>e Tatze, nein, auch <strong>di</strong>e Stimme des Löwen...<br />

»Ich habe mit dem feindlichen Heerführer ausgemacht, daß <strong>di</strong>e Schlacht erst nach dem<br />

Mittagessen, sobald der Kaffee abserviert ist, beginnt.«<br />

Silbermann notierte: humane Kriegführung.<br />

Es war nur ein Feldstuhl vorhanden.<br />

Silbermann notierte: spartanische Lebensweise...<br />

»Wollen Sie sich nicht setzen?« lächelte Exzellenz Eydtkuhnen. »Das Schreiben und Denken im<br />

Stehen ermüdet.«<br />

»Bitte, nach Ihnen, Exzellenz«, verbog sich Silbermann devot.<br />

»Oh,« wehrte <strong>di</strong>e Exzellenz ab, »ich stehe schon so lange im Felde, daß ich ruhig noch ein wenig<br />

länger stehen kann.«<br />

Silbermann notierte: Beharrlichkeit... Ausdauer... germanische Zähigkeit... Oben in den Lüften<br />

begann es zu pfeifen und zu surren, zu schnauben und zu knallen.<br />

Exzellenz Eydtkuhnen murmelte erheitert: »Feindliche Aeroplane... sie haben es auf mein<br />

Hauptquartier abgesehen... aber beruhigen Sie sich, lieber Silbermann: sie treffen nie etwas.<br />

Höchstens, wenn man sich etwa auf neutralem Boden befände, könnten sie einem gefährlich<br />

werden.«<br />

Krrrrrrrtz... knautz... rum... eine Fliegerbombe platzte in fünfzig Schritt vor Silbermann.<br />

Silbermann konnte gerade noch: Kaltblütigkeit notieren, dann fiel er in Ohnmacht. Exzellenz<br />

Eydtkuhnen winkte, und Silbermann wurde von den Ordonnanzen, <strong>di</strong>e eben noch den Ochsen<br />

gebraten hatten, ins Auto des Pressestabes geschafft. Auf der Redaktion der »Neuen Freien<br />

Trompete« war es, wo er wieder zur Besinnung kam. Noch <strong>di</strong>e Abendausgabe der »Neuen Freien<br />

Trompete« brachte auf ihrer ersten Seite Silbermanns nachgerade so berühmt gewordenes Interview<br />

des Oberbefehlshabers Nordost Exzellenz Eydtkuhnen.<br />

Vier Wochen später erschien bei der Verlagsbuchhandlung Brösel & Co. »Die eiserne Mauer«,<br />

Eindrücke und Expressionen, Erlebtes und Erschautes von der Nordostfront, von Siegfried<br />

Silbermann – ein stattlicher Band in Lexikonformat.<br />

Der Absolutismus bricht an...<br />

Was, Sie schwören noch auf Einstein? Auf <strong>di</strong>e Relativitätstheorie? Junge, Junge: daß Sie aber auch<br />

immer eine Viertelstunde zu spät kommen! Einstein: is nicht mehr. Das wäre ja gelacht, von wegen<br />

Brechung der Sonnenstrahlen! Mensch, sind Sie dof! Lassen Sie sich mal schleunigst Ihr Weltbild<br />

und Ihren abgetragenen Cheviotsakko wenden. Der Relativismus hat abgewirtschaftet. Wir haben<br />

<strong>di</strong>e absolute Wahrheit mit Löffeln gefressen. Merken Sie nicht? Der Absolutismus bricht an.<br />

Das is mal absolut richtig, Sie da. Waren Sie neulich im Großen Schauspielhaus? Dufte Sache,<br />

<strong>di</strong>eser Danton. Es ist was Großes um eine Revolution... im Großen Schauspielhaus. Und wie da am<br />

Schluß <strong>di</strong>eser eine mieckrige Bursche kreischt: Die Republik wird erst dann rein sein – wenn <strong>di</strong>e<br />

Republik nicht mehr ist... da hätten Sie mal den Applaus des p.t. Publikums hören sollen. Der ganze<br />

Pölzig donnerte. Es war eine riesige Kundgebung gegen <strong>di</strong>e Republik, das heißt den Relativismus:<br />

und für den Absolutismus.<br />

Da weiß der Mensch doch wenigstens, woran er ist: er ist geborgen, er hat seinen Halt, es gibt<br />

absolute Wahrheiten, nach denen man sich zu richten hat, und damit gut. Zum Beispiel: »Rechts<br />

gehen!« »Das Betreten <strong>di</strong>eses Grundstückes ist verboten!« »Sprechstunde des Geheimen<br />

Regierungsrates von 5 bis 1/4 6.« »Heute frische Metzelsuppe!« »Herren – dort.« »Nach dem<br />

16


Bezirkskommando – hier.« Daran gibt es nischt zu tifteln und zu deuteln. Das absolute Prinzip<br />

denkt und lenkt. Der Mensch braucht überhaupt nicht zu denken.<br />

In sämtlichen Kiosken ist »Die absolute Wahrheit« vorrätig, ein Blatt in Kleinquart, Kostenpunkt<br />

15 Pfennig. Da stehen <strong>di</strong>e dreiunddreißig absoluten Wahrheiten gemeinverständlich drin<br />

verzeichnet. Alles andere, merken Sie wohl, ist Quatsch, Blödsinn, Humbug, Heckmeck. Wenn Sie<br />

uns nicht glauben, dann werden wir Ihnen <strong>di</strong>e absolute Wahrheit schon beibringen, Onkelchen.<br />

Beim Knüppel-Kunze sind tausend Gummiknüppel abgeladen. Einer wird ja auch für Ihre<br />

Schädelform passen, Sie Guter. Oder ziehen Sie es vor, mit Handgranate und Browning bekehrt zu<br />

werden? Allens da. Bei uns is nich wie bei arme Leute. Wir sind mit allen verfügbaren geistigen<br />

Waffen hervorragend ausgerüstet.<br />

Paula<br />

Paula, ein junges Mädchen von zweifelhaftem Berufe und lockeren Sitten, begab sich an den<br />

Wannsee und mietete sich dort ein Ruderboot, <strong>di</strong>e Stunde zu 85 Pfennig. Wie sie es so von ihrem<br />

Leben gewohnt war, ließ sie sich von der Strömung treiben. Plötzlich teilten sich <strong>di</strong>e Wogen vor ihr<br />

und ein junger Mann tauchte gleich einem Nix aus der grauen Flut und schwang sich mit nervigen<br />

Fäusten in das Boot. Er trug nicht einmal einen Badeanzug, was sie keineswegs verwunderte.<br />

»Sind Sie ein Wassergott?« fragte Paula, <strong>di</strong>e sich zuweilen mit Mythologie beschäftigte.<br />

Der junge Mann öffnete den verständnislosen Mund zu einem gewinnenden Lächeln.<br />

»Gewiß doch; ich bin Stadtreisender.«<br />

»Warum, wenn man fragen darf? Und was suchen Sie bei mir?«<br />

»Eben das«, sagte der junge Mann und deckte seine Blöße mit einem Schatten zu, der von seinem<br />

Haupte fiel.<br />

Darauf zog er einen Ring von seinem Finger und flüsterte: »Elli, meine süße Braut.«<br />

Paula, auf rechten Namen weniger als auf rechte Gesinnung bedacht, wagte es nicht, den<br />

Jüngling zu desillusionieren und ihm einen Korb zu geben, den er sich hätte höher hängen können,<br />

und sie waren sehr glücklich.<br />

Nach einer halben Stunde sah der Jüngling erschreckt zum Himmel und rief: »Es ist schon halb<br />

vier«, worauf er in den Wellen mit einem Hechtsprung verschwand, den ihm so leicht kein Hecht<br />

nachmachte. Paula winkte ihm, bis er im Freibad verfloß. Dann kam sie wieder zu sich und<br />

bemerkte den Ring an ihrem Finger. Sie küßte ihn und ruderte ans Ufer, bis sie Schwielen an den<br />

Händen bekam. Sie nahm in der Stadtbahn ein Billett zweiter Klasse, während sie sonst nur dritter<br />

fuhr.<br />

Sie ging zu einem Juwelier.<br />

Der Ring war falsch.<br />

Empört durchbohrte sie den Juwelier, der ihr <strong>di</strong>ese schnöde Auskunft gab, mit einer Hutnadel,<br />

welche trotz polizeilicher Vorschrift ungesichert war.<br />

Die Polizei sollte wirklich darauf achten, daß ihren Verordnungen besser entsprochen wird. Viele<br />

Verbrechen und Unglücksfälle ließen sich so auf <strong>di</strong>e einfachste Art vermeiden.<br />

Paula beschloß, Jünglingen ohne Badehose künftig aus dem Wege zu gehen.<br />

17


Der Mann mit der Maske<br />

Er saß jeden Nachmittag von vier bis sechs in einem bestimmten nischigen Winkel des Cafés und<br />

beobachtete aus dem Hinterhalt <strong>di</strong>e Menschen. Er sah den Frauen unter <strong>di</strong>e großen Hüte und in ihre<br />

Augen, ohne daß sie wußten, was er ihrer Seele gab oder nahm. Er verfolgte <strong>di</strong>e Mund- und<br />

Stirnlinien bei den Männern, ihre Bewegungen beim Rauchen, lauschte ihrer Sprechweise.<br />

Die Kellner kannten ihn und behandelten ihn mit scheuer Höflichkeit, der ein Anflug von Mitleid<br />

beiwohnte. Die meisten Gäste, unter denen ja viele Stammgäste waren, musterten ihn zuerst mit<br />

erstaunter Neugier, beruhigten sich aber, wenn sie sich ein paarmal umgesehen. Nur Fremde und<br />

Frauen bestaunten ihn offensichtlicher, als es der guten Sitte angemessen war.<br />

Er trug stets eine weiße seidengefütterte Maske vor dem Gesicht und an den Händen graue<br />

Handschuhe. Manche flüsterten, daß er an der Auszehrung litt und Maske und Handschuhe kranke<br />

zerfressene Glieder verheimlichten. Sein Gesicht hatte niemand gesehen, niemand konnte bei<br />

Erregung oder Gleichmut das Spiel der Muskeln beobachten. Seine Maske, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>e Aufmerksamkeit<br />

auf ihn lenkte, schützte ihn zugleich vor Überrumpelungen seines eigenen unbedachten Ich. In das<br />

Café verirrte sich durch Zufall an einem regnerischen Nachmittag <strong>di</strong>e jü<strong>di</strong>sche Frau Justizrat<br />

Ammer und ihre siebzehnjährige Tochter Mimi. Mimi sperrte <strong>di</strong>e braunen Tore ihrer Augen vor<br />

Verwunderung angelweit auf. Auch <strong>di</strong>e <strong>di</strong>cke Frau Justizrat wurde auf <strong>di</strong>e weiße Maske<br />

aufmerksam und fragte prustend und schwerfällig in abgebrochenen Lauten, wie Asthmatiker zu<br />

reden pflegen, den Kellner nach jenem Herrn in der Nische. Der Kellner gab <strong>di</strong>skrete und<br />

durchsichtige Auskunft.<br />

»Du, Mama, was ist?« fragte Mimi. Sie knöpfte sich <strong>di</strong>e Überjacke auf. Es wurde ihr heiß.<br />

»Nichts für kleine Mädchen,« stöhnte Frau Justizrat, etwas laut, denn <strong>di</strong>e Maske hörte es, »nur<br />

so... Er ist krank.« »O nein, das ist aber traurig.« Mimi wandte sich um, mit der hastigen eckigen<br />

Bewegung junger Mädchen von siebzehn Jahren, <strong>di</strong>e ihren Körper noch nicht in der Gewalt haben.<br />

Die Maske lächelte. – Niemand sah es.<br />

Mimi wurde rot und rückte verlegen an dem Mokkatäßchen. In ihrer Verlegenheit nahm sie von<br />

der Kuchenschale ein Zitronentörtchen, was sie gar nicht gern aß. Sie aß es schluckend und eifrig,<br />

scheinbar mit nichts anderem beschäftigt. Frau Justizrat winkte dem Kellner und zahlte. Sie gab<br />

fünfzig Pfennig Trinkgeld. »Wir wollen gehen, Mimi.«<br />

Der Kellner verbeugte sich.<br />

Mimi wollte so gern, aber sie wagte es nicht, sich umzusehen.<br />

Am übernächsten Tag erschien Mimi Ammer in Begleitung ihres Bruders, des stud. jur. Julius<br />

Ammer, eines korpulenten jovialen Jünglings, im Café. Die weiße Maske saß schon da und suchte<br />

in dem schmalen gebräunten Gesicht und dem länglichen blaßroten Munde nach der Besonderheit<br />

<strong>di</strong>eses Mädchens. Mimi wagte nur einmal zu ihm hinzusehen.<br />

»Du, wer das bloß ist?« Sie brannte vor Neugierde. Der Bruder brummte unverständlich. Er las<br />

im »Simplicissimus« und hatte den Herrn in der Maske nicht bemerkt.<br />

Noch ein paar Tage später kam sie allein. Wie sie sich schämte! Für was man sie halten würde!<br />

Die Maske schickte ihr durch den Kellner seine Karte. Ganz vergeblich wird <strong>di</strong>e Bekanntschaft<br />

wohl nicht sein. Vielleicht ein Stoff für eine Novelle... oder einen Vierzeiler. Seitdem ich langsam<br />

sterbe, bin ich Dichter geworden. Man muß mitnehmen, was sich am Wege bietet. Unsereiner, der<br />

vor lauter Abenteuerlichkeiten zu keinem Abenteuer kommt. Sie las den Namen. Sie genas plötzlich<br />

von ihrer Unruhe und wurde froh. Der Name schien ihr bekannt. Sie barg das Kärtchen in ihrer<br />

Tasche und war am anderen Tage pünktlich zum Rendezvous. Er lernte einen Backfisch kennen,<br />

kapriziös und hausbacken, toll und sehr verstän<strong>di</strong>g, sehr anstän<strong>di</strong>g und sehr pikant. Wenn sie sich in<br />

mich verliebt, d.h. in meine Maske..., wird es gefährlich, sagte er sich, lud sie aber in seine<br />

Wohnung zum Tee.<br />

Sie freute sich ihrer Heimlichkeiten und kam eines Nachmittags nach der Klavierstunde.<br />

18


Es wird ein wenig langweilig, sagte sich <strong>di</strong>e Maske, wie kann ich sie noch verwerten, in welcher<br />

Situation?<br />

Er brauchte nicht lange zu warten. Sie fiel vor ihm nieder und sagte, während sie nach seinen<br />

behandschuhten Händen griff, <strong>di</strong>e er ihr entzog:<br />

»Ich liebe Sie, bitte,« (und <strong>di</strong>eses »bitte« war inbrünstig herausgestöhnt) »tun Sie <strong>di</strong>e Maske ab.<br />

Einmal nur will ich Ihr wahres Gesicht sehen.«<br />

Die Maske hinter der Maske lächelte.<br />

»Es ist häßlich und belei<strong>di</strong>gt Ihre Schönheit.« Nie habe ich mir so weh getan, dachte er. Aber er<br />

verlor nicht <strong>di</strong>e Geistesgegenwart und Kraft, seine Regungen bis in ihre feinsten Enden und<br />

Verzweigungen zu beobachten.<br />

Sie ist nur neugierig, dachte er.<br />

Sie schluchzte und lag auf dem Teppich. Ihre kleinen, unentwickelten Brüste schlugen taktmäßig<br />

auf den Boden. Er wollte sie aufheben.<br />

»Sie werden sich erkälten«, sagte er.<br />

Sie blickte auf.<br />

»Bitte, bitte. Ihr Gesicht!«<br />

Da nahm er <strong>di</strong>e Maske ab. – Langsam wie eine Schlange wuchs ihr schlanker Leib aus dem<br />

Boden zu ihm empor.<br />

Unnatürlich groß lagen seine blauen Augen in den tiefen Höhlungen: er hatte keine Wimpern<br />

mehr. Und der Nasenknochen glänzte, vollstän<strong>di</strong>g fleischlos, als hätte ihn ein Tier abgenagt.<br />

Sie stand <strong>di</strong>cht vor ihm, daß er ihren klaren Atem fühlte. Ihre Blicke bohrten sich grausam<br />

verzückt in seine häßlichen klaren Augen.<br />

Ehe er es hindern konnte, hatte sie ihn geküßt.<br />

Er erschrak und trat einen Schritt zurück. Dann band er sich <strong>di</strong>e Maske wieder vor. »Ist Ihre<br />

liebenswür<strong>di</strong>ge Neugier nun – befrie<strong>di</strong>gt?« sagte er leise.<br />

Sie atmete tief, gab ihm <strong>di</strong>e Hand und ging.<br />

Eine Woche später las er im Café in der Zeitung, daß <strong>di</strong>e junge schöne Tochter des Justizrats<br />

Ammer in plötzlicher geistiger Umnachtung einem Anfalle von Selbstverstümmelung zum Opfer<br />

gefallen sei. Sie habe sich mit einer Nadel beide Augen ausgestoßen. Man fürchte für ihr Leben.<br />

Die Zeitung fiel zur Erde. Seine zitternde behandschuhte Rechte glitt tastend über <strong>di</strong>e kalte<br />

Marmorfläche des Tisches. Mit der Linken rückte er <strong>di</strong>e Gesichtsmaske zurecht. Sie hatte sich<br />

verschoben.<br />

19


Kurt Tucholsky *<br />

Märchen<br />

Es war einmal ein Kaiser, der über ein unermeßlich großes, reiches und schönes Land herrschte.<br />

Und er besaß wie jeder andere Kaiser auch eine Schatzkammer, in der inmitten all der glänzenden<br />

und glitzernden Juwelen auch eine Flöte lag. Das war aber ein merkwür<strong>di</strong>ges Instrument. Wenn<br />

man nämlich durch eins der vier Löcher in <strong>di</strong>e Flöte hineinsah – oh! was gab es da alles zu sehen!<br />

Da war eine Landschaft darin, klein, aber voll Leben: Eine Thomasche Landschaft mit<br />

Böcklinschen Wolken und Leistikowschen Seen. Rezniceksche Dämchen rümpften <strong>di</strong>e Nasen über<br />

Zillesche Gestalten, und eine Bauern<strong>di</strong>rne Meuniers trug einen Arm voll Blumen Orliks – kurz, <strong>di</strong>e<br />

ganze moderne Richtung war in der Flöte.<br />

Und was machte der Kaiser damit? Er pfiff drauf.<br />

Dorf Berlin<br />

»Eine Großstadt?« sagte meine greise Freun<strong>di</strong>n Lisa, als sie aus Paris zurückkam, »eine Großstadt?<br />

Kinder, auf dem Potsdamer Platz gackern ja <strong>di</strong>e Hühner –!« Das könnte wohl sein.<br />

Frühmorgens, beim ersten Hahnenschrei, erhebt sich der Großbauer Wresczynski von seinem<br />

kargen Strohlager. Die Mistforke in der nervigten Faust, ruft er Weib und Kind zu: »Auf! Auf! Die<br />

Sonne vergoldet schon den Synagogenknopf!« und geräuschvoll poltert er durchs einfache<br />

Bauernhäusel, das sich, mit Stroh gedeckt, an der Leibnizstraße erhebt. Draußen gluckert der<br />

freundliche Bach, umwogen <strong>di</strong>e Bananenfelder und jungen Gemüsebeete den stolzen Besitz, <strong>di</strong>e<br />

mächtigen bologneser Wachthunde bellen, nationale Ochsen brüllen, und demokratische Schafe<br />

wandeln gesenkten Hauptes auf <strong>di</strong>e magere Geschäftsweide. Die Bäuerin tritt auf <strong>di</strong>e Schwelle und<br />

sieht frohgemut in <strong>di</strong>e weite Landschaft: vom Lunapark bis zum Nelsonberg eine einzige üppige<br />

und fruchtbare Gegend. Der Hafer blüht 354 fob, <strong>di</strong>e milde Kuh blickt verächtlich in ein Faß mit<br />

Margarine, und <strong>di</strong>e Schweine wühlen behaglich in der weichen Streu, <strong>di</strong>e man ihnen aus den<br />

Blättern der ›Deutschen Tageszeitung‹ bereitet hat. Wo sind <strong>di</strong>e Hühner? War der Fuchs im<br />

Hühnerstall? Aber Fuchs ist doch in Marienbad – nein, <strong>di</strong>e Hühner sind schon frühmorgens auf den<br />

Geflügelmarkt gegangen, <strong>di</strong>e guten Tiere, und haben sich da im Preis etwas heraufsetzen lassen.<br />

Erleichtert atmet <strong>di</strong>e Großbäuerin auf.<br />

Die Dorfkinder eilen in <strong>di</strong>e Schule, und bald hört man <strong>di</strong>e kleinen Stimmchen aus dem<br />

Schulfenster singen:<br />

* Tucholsky, Kurt (Ps. Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel), 9. 1. 1890 Berlin - 21. 12. 1935<br />

Hindås b. Göteborg/Schweden. Kaufmannssohn, Gymnas. Berlin; Stud. Jura Berlin, Jena, Genf. Seit 1913 Mitarbeiter<br />

der ›Schaubühne‹ (später ›Weltbühne‹); im 1. Weltkrieg im Schipper-Bataillon. 1923 kurz Bankvolontär in Berlin. 1924<br />

Korrespondent in Paris. 1926 nach S. Jacobsohns Tod Hrsg. der ›Weltbühne‹, Mitarbeiter von C. v. Ossietzky. 1929<br />

Emigration nach Schweden. 1933 Ausbürgerung und Bücherverbrennung in Dtl. Beging aus Verzweiflung über <strong>di</strong>e<br />

Erfolge der Nazis Selbstmord. – Humorvoller und geistreich-iron. Moralist und Zeitkritiker der Weimarer Republik,<br />

Vertreter e. linksorientierten, pazifist. Humanismus im Kampf gegen jede Art von Spießertum, Reaktion, bürgerl.<br />

Lethargie, Justiz, Militarismus und Nationalismus u. schärfster Polemiker gegen den Nationalsozialismus. Typisch<br />

Berliner Humor mit aggressiven, treffsicheren Pointen, in satir.-kabarettist. Kleinlyrik, Chansons, Szenen und satir.<br />

Prosa mit bes. Vorliebe für Wortwitze in der Umgangssprache (Nähe zu Heine). Erzähler von liebenswür<strong>di</strong>gem Humor,<br />

Idylliker, Feuilletonist und Kritiker. (Wilpert, Lexikon der Weltliteratur, Autoren, S. 153<br />

20


»Siegreich wolln wir Frankreich schlagen<br />

als ein tapfrer Heheheld ... !«<br />

»Herr Lehrer«, sagt der kleine Gothein, »ich muß mal rausgehn – mir ist mein Kompromiß<br />

geplatzt!« Und dann singen sie wieder.<br />

Das Leben im Dorf hat sich unterdessen mächtig entwickelt. Die wackern Knechte verladen <strong>di</strong>e<br />

Saisonarbeiter auf große ratternde Wagen, <strong>di</strong>e tragen vorn eine Nummer, oben eine Stange und<br />

hinten einen Mann, der schimpft. Manchmal fahren sie. Die Frömmern werden in den<br />

Aboackerwagen geladen, und bald ist das ganze Volk rüstig bei der Arbeit. Emil Jannings geht<br />

hinter dem Pfluge einher und singt ein gar fröhlich Liedlein. In den Zeitungsredaktionen dreschen<br />

sie leeres Stroh. Die Großkopfeten lassen ein goldenes Haus am Brandenburger Tor schwarzweißrot<br />

anstreichen, von oben bis unten, und daß <strong>di</strong>e Farbe auch regenfest ist, dafür sorgt schon der<br />

Obermeister aus Ludendorf; er trägt eine blaue Brille gegen <strong>di</strong>e Sonne und hinkt etwas: er hat sich<br />

einmal vor Jahren das Ehrenwort gebrochen, aber es ist schon beinahe wieder zugeheilt. In einer<br />

Ecke hat Schlächtermeister Wulle eine kleine Judenschlächterei aufgetan und steht, mit<br />

aufgekrempelten Hemdsärmeln, vor der Tür. Dampfend raucht er aus einer ungeheuren Pfeife und<br />

liest <strong>di</strong>e Memoiren des Herrn Tirpitz. Das ist ein starker Toback.<br />

Zwei Büttel mit dem feierlichen Dreispitz und langen Obrigkeitsstock mit goldenem Knopf<br />

führen einen Mann einher, der lacht und wirft mit vollen Händen Geld unter <strong>di</strong>e bettelnden<br />

Bankiers, <strong>di</strong>e am Wege kauern. Nei<strong>di</strong>sch zischelts hinter ihm: »Ja, der Müller! Der kann sich das<br />

leisten! Der steht unter Geschäftsaufsicht –!« Zwei dralle Mägde kommen mit weiten Netzen aus<br />

der Au – man sieht ihnen <strong>di</strong>e fünfundvierzig gar nicht an, wie sie so elastisch einherschreiten in<br />

dem putzigen Bubenkopf und dem guten Büstenformer! Sie kommen vom Tauentzien-Fluß, da<br />

haben sie nachts dem Fischfang obgelegen, und sie müssen gute Beute gemacht haben, denn <strong>di</strong>e<br />

eine sagt zur andern, in ihrem bäuerischen Dialekt: »Det kann ich da sahrn, Else, ich hab den ollen<br />

Seeje <strong>di</strong>e ganze Marie aus de Brusttasche jeklaut –! Wat heißt hier!« Muntere Dirnen.<br />

Schwerbeladene Wagen mit Dung schwanken unter den Torbogen, sie karren den Mist fort,<br />

kommen sie doch von einem sozialdemokratischen Parteitag. Halt! geht da nicht der schöne Ru<strong>di</strong>?<br />

Ja, er ists; das grüne Hütl keck auf einem Ohr, ein breites Scheit an der Seite, <strong>di</strong>e Flinte auf der<br />

Schulter, so kommt Deutschlands beliebtester Sozialist durch <strong>di</strong>e schmalen Dorfgassen, und strahlt,<br />

der Jägersmann: er hat wieder einmal einen fetten Bock geschossen. Im Dorfwirtshaus nehmen sie<br />

das Mittagsmahl; nach dem guten Essen sitzen sie an einem großen runden Tisch: Erich Koch, der<br />

Zentrumsschreiber Schreiber und Hugenberg, und spielen Skat. Man hört ein mächtiges Geschrei,<br />

sie scheinen also ganz gut miteinander auszukommen. Hugenberg, wie immer, mogelt.<br />

Gewichtige Amtspersonen gehen durch <strong>di</strong>e Wilhelmstraße: der Dorfschulze und <strong>di</strong>e Mitglieder<br />

der Gemeindeversammlung. Viele haben ein blaues Auge, mit dem sind sie gerade<br />

davongekommen, und sie haben soeben beschlossen, mit dem Nachbardorf nur bei schönem Wetter<br />

Krieg anzufangen. Und eine neue Fahne wollen sie auch. Sonst haben sie keine Sorgen. Der<br />

Dorfschneider Haferl hütet seinen Laden, der alte Ladenhüter; er setzt den Mädchen alte Obstkörbe<br />

auf den Kopf und redet ihnen ein, das seien <strong>di</strong>e neuen Modelle aus Paris. Mitten in der Gesellschaft<br />

sitzt ein armes Bäuerlein, das hat schon manches Anwesen ruiniert; während andre ackern, rechnet<br />

er und malt große Tabellen, da steht es alles drin. Aber obgleich er noch nie auf einen grünen Zweig<br />

gekommen ist, so wartet er doch und ist fein gedul<strong>di</strong>g. Gut Hilfer<strong>di</strong>ng will Weile haben.<br />

Jetzt leuchtet <strong>di</strong>e goldene Abendsonne über das Panketal, <strong>di</strong>e Bäuerinnen treiben müd <strong>di</strong>e Gänse<br />

heim, ihr Brusttuch steht, Gott behüte, offen, man hört das tiefe Muh der Rinder und:<br />

»Achtuhrabendblattachtuhrabendblatt!« schnattern <strong>di</strong>e Enten. Die Stalltüren öffnen sich langsam<br />

und weit.<br />

Alt und jung hat sich auf dem Dorfplatz unter der grünen Linde versammelt. Da steht<br />

herumfahrendes Gauklervolk und zeigt seine Künste. Einer kann eine ganze deutsche Grammatik<br />

verschlucken und gibt sie nur stückweise wieder von sich, der heißt Sternheim. Ein Alter ist da in<br />

würdevollem weißem Bahr, der ist katholisch und dreht sich herum und – husch! – ist er ein<br />

21


Freigeist, und wieder herum und – husch! – ist er ein Hitlermann. Keine Verpackung, nur<br />

Ausstattung! Und einer dreht auf der Laterna magica schöne Bilder; da kann man einen berliner<br />

Schauspieler sehen, tiefe Schmink- und Sorgenfalten durchfurchen sein Gesicht, und alles Volk<br />

schreit: Hurra! Denn <strong>di</strong>e dummen Bauern glauben, das sei Fridericus Rex mit der Königin Luise,<br />

und nur der Gaukler an der Laterne weiß es besser. Aber er sagt nichts und schmunzelt und streicht<br />

das Eintrittsgeld ein. Und in einer Ecke haben sie ein Theater aufgeschlagen, aber das ist ganz leer,<br />

nur ein Mann sitzt darin, der hat sein Billett bezahlt. Es ist der Dorftrottel.<br />

Nun ruhen alle Wälder, und der gute Mond scheint seins durch <strong>di</strong>e silberblassen Wolken. Alt und<br />

jung ... ach, das hatten wir schon. Normal und Andersrum ist zur Ruh gegangen, allein, zu zweit<br />

und assortiert. Vor dem Haus eines Weingroßhändlers rauscht zauberhaft und familiär ein Brunnen.<br />

Die Schenken haben geschlossen. Der letzte Fiedelton erstarb.<br />

Klappt da ein Fenster –? Auf schwanker Leiter steht ein junger Bauer mit nackten Knien in der<br />

krachledernen Hos auf der obersten Sprosse und busselt sein Mädel ab, <strong>di</strong>e da vollbusig zum<br />

Fenster heraushängt. Es ist der Graf Keyserling, der voll Weisheit, wie er es in der Schule gelernt<br />

hat, einer drallen Bauern<strong>di</strong>rn den Hof macht. »O Katharina –!« flüstert er heiß. Der Mond versinkt<br />

hinter dem Pallenberg, der Graf rutscht von der Leiter, ein leiser Abendlandwind gespenstert durchs<br />

Gras... Das Dorf schläft.<br />

Persönlich<br />

»Ich möchte Herrn Regierungsrat persönlich sprechen!« – »Herr Professor Gustav Roethe war<br />

persönlich anwesend.« – »Der Chef des Stabes der Reichswehr ist <strong>di</strong>esen Beschwerden persönlich<br />

nachgegangen«<br />

Was ist denn das? Haben alle <strong>di</strong>ese zwei Persönlichkeiten: eine einfache und eine persönliche?<br />

Was bedeutet das?<br />

Das bedeutet eine Wichtigmacherei, <strong>di</strong>e auf derselben Etage wie das deutsche Vorzimmer wohnt<br />

(am Telefon: »Hier Vorzimmer von Herrn Portier Knetschke!«); wie der Apparat, ohne den es<br />

keiner mehr tut (»Ich werde das mit meinen Herren besprechen!« – hat aber nur einen); wie das<br />

ganze mißverstandene Brimborium des so gern kopierten überorganisierten Militärbetriebes, der es<br />

allen Deutschen zum erstenmal vor <strong>di</strong>e Augen geführt hat, wie man auf möglichst geräuschvolle<br />

und kostspielige Weise nichts tun kann. Der Divisionskommandeur arbeitete nicht allzuviel. Aber<br />

das Wenige, was er tat, tat er durch seinen Adjutanten, durch seine Unterorgane, und nur Orden und<br />

Rotwein nahm er persönlich in Empfang. Die privaten Gruppen aller Sorten ahmen ihn selig nach.<br />

Der Chef des Betriebes hat den soziologisch umstrittenen Gedanken der Delegierung auf <strong>di</strong>e Spitze<br />

getrieben und seine Machtvollkommenheiten so aufgeteilt, daß man ihn schon manchmal, wenns<br />

unten gar zu dumm wird, ›persönlich‹ in Anspruch nehmen muß. Die Männer der Öffentlichkeit<br />

kopieren es überglücklich. Sie kommen nicht selbst, sie telefonieren nicht selbst, sie unterschreiben<br />

nicht selbst. Daher denn keiner mehr sagt: Ich möchte den Herrn Reichstagsabgeordneten sprechen!<br />

– sondern: Ich möchte ihn persönlich sprechen! Immer voller Angst, daß sonst seine Waschfrau<br />

käme. Mit der sicherlich oft besser zu verhandeln wäre.<br />

Diese aufgeblasene Eitelkeit, <strong>di</strong>e immer und immer mehr bei uns einreißt, <strong>di</strong>ese Sucht, dem<br />

gemeinen Haufen nur ja den Aspekt eines zu geben, der über den Wolken schwebt – wie dumm,<br />

wie hohl und vor allem: wie unpraktisch ist <strong>di</strong>es Theater! In Amerika hat jeder für jeden Zeit,<br />

solange sich der kurz faßt; in Frankreich ist es nicht gar so schwer, zu den maßgebenden Männern<br />

Zutritt zu bekommen; in England denken <strong>di</strong>e Leute an ihre Sache und nicht immer an ihre Person<br />

und bestimmt nicht an eine Hahnenwürde; bei uns zu Lande ist es wunder was für eine Geschichte,<br />

mit einem besser bezahlten Mann ›persönlich‹ zu sprechen. Ist <strong>di</strong>e Au<strong>di</strong>enz beendet, so bleibt ein<br />

Abglanz des Unerhörten auf dem Empfangenen haften, der strahlend nach Hause stelzt. »Ich habe<br />

22


heute früh mit dem Oberbürgermeister persönlich gesprochen ...« (Du armer Hund hast natürlich<br />

nur seinen Sekretär sprechen dürfen oder seinen Portier – ich aber habe ihn persönlich zu fassen<br />

bekommen!) Tief wurzelt der Knecht im Deutschen – leise kitzelt es im Rücken und tiefer: Kommt<br />

der Fußtritt? kommt er nicht? Er kommt nicht! Heil! Er hat mit mir persönlich gesprochen und nicht<br />

durch einen alten Trichter aus dem Nebenzimmer! Ich bin erhöht.<br />

Es gibt Menschen, mit denen möchte ich um keinen Preis sprechen, <strong>di</strong>enstlich nicht und privat<br />

nicht und persönlich schon gar nicht: mit Strafkammervorsitzenden, alten<br />

Bataillonskommandeuren, Kriegsgerichtsräten und ähnlichen persönlichen Persönlichkeiten.<br />

Lieber Gott! Nimm doch den deutschen Kaufleuten und Beamten <strong>di</strong>ese dumme Sucht, sich als<br />

gar so kostbar hinzustellen und sich mit etwas <strong>di</strong>cke zu tun, was meist gar nicht da ist: mit einer<br />

Persönlichkeit! Den Soldaten kannst du es lassen, sie haben ja selten etwas anderes! Tu es doch,<br />

lieber Gott, ja –?<br />

Dieses Gebet werde ich mal dem lieben Gott persönlich unterbreiten.<br />

Koffer auspacken<br />

In der Fremde den Koffer auspacken, der etwas später gekommen ist, weil er sich unterwegs mit<br />

andern Koffern noch unterhalten mußte: das ist recht eigentümlich.<br />

Du hast <strong>di</strong>ch schon ein bißchen eingelebt, der Türgriff wird leise Freund in deiner Hand, unten<br />

das Café fängt schon an, dein Café zu sein, schon sind kleine Gewohnheiten entstanden ... da<br />

kommt der Koffer. Du schließt auf –<br />

Eine Woge von Heimat fährt <strong>di</strong>r entgegen.<br />

Zeitungspapier raschelt, und auf einmal ist alles wieder da, dem du entrinnen wolltest. Man kann<br />

nicht entrinnen. Ein Stiefel guckt hervor, Taschentücher, sie bringen alles mit, fast peinlich vertraut<br />

sind sie <strong>di</strong>r, schämst du <strong>di</strong>ch ihrer? Wie zu nahe Verwandte, denen du in einer fremden Gesellschaft<br />

begegnest; alle siezen <strong>di</strong>ch, sie aber sagen <strong>di</strong>r: Du –! und drohen am Ende noch, sprichst du mit<br />

einer Frau, schelmisch mit dem Finger. Das mag man nicht.<br />

Wer hat den Koffer gepackt? Sie? Eine warme Welle steigt <strong>di</strong>r zum Herzen empor. So viel Liebe,<br />

so viel Sorge, so viel Mühe und Arbeit! Hast du ihr das gedankt? Wenn sie jetzt da wäre ... Sie ist<br />

aber nicht da. Und wenn sie da sein wird, wirst du es ihr nicht danken.<br />

Die Sachen im Koffer sprechen nicht <strong>di</strong>e Sprache des Landes, nicht <strong>di</strong>e Sprache der Stadt, in der<br />

du <strong>di</strong>ch befindest. Ihre stumme Ordnung, ihre sachliche Sauberkeit im engen Raum sind noch von<br />

da drüben. Da liegen sie und sprechen schweigend. Mit etwas abwesenden Augen stehst du im<br />

Hotelzimmer und erinnerst <strong>di</strong>ch nicht ... nein, du bist gar nicht da – du bist da, wo sie herkommen,<br />

atmest <strong>di</strong>e alte Luft und hörst <strong>di</strong>e alten, vertrauten Geräusche ... Zwei Leben lebst du in <strong>di</strong>esem<br />

Augenblick: eines körperlich, hier, das ist unwahrhaftig; ein andres seelisch, das ist ganz wahr.<br />

Ein Mann, der sich lyrisch Hosen in den Schrank hängt! Schämen solltest du <strong>di</strong>ch was! Tuts ein<br />

Junggeselle, dann geht es noch an; mit sachlich geübten Händen baut er auf und packt fort, glättet<br />

hier und bürstet da ... Ein Verheirateter, das ist immer ein bißchen lächerlich; wie ein plötzlich<br />

selbstän<strong>di</strong>ges Wickelkind ist er, ohne Muttern, etwas allein gelassen in der weiten Welt.<br />

Der Bademantel erinnert nicht nur; in seinen Falten liegen Stücke jener andern Welt, aus der du<br />

kamst. Das ist schon so. Aber faltest du ihn auseinander, dann fallen <strong>di</strong>e Stücke heraus,<br />

verflüchtigen sich, auf einmal hängt er vertraut und doch fremd da, ein gleichgültiger Bademantel,<br />

den das Ganze nicht so sehr viel angeht ... Und da ist etwas praktisch zusammengerollt, hier ist ein<br />

besonderer Trick des Packens zu sehn, hast du <strong>di</strong>e Krawatten gestreichelt, alter Junge? Als ob du<br />

noch nie gereist wärst!<br />

23


Leicht irr stehst du im Zimmer, in der einen Hand einen Leisten, in der andern zwei Paar Socken,<br />

und stierst vor <strong>di</strong>ch hin. Gut, daß <strong>di</strong>ch keiner sieht. Um <strong>di</strong>ch ist Bäumerauschen, ein Klang,<br />

Schmettern dreier Kanarienvögel und eine Intensität des fremden Lebens, <strong>di</strong>e du dort niemals<br />

gefühlt hast. Tropfen quillen aus einem Schwamm, den du nie, nie richtig ausgepreßt hast. So saftig<br />

war er? Hast du das nicht gewußt? Zu selbstverständlich war es, du warst undankbar – das weißt du<br />

jetzt, wo es zu spät ist.<br />

Eine Parfumflasche ist zerbrochen, das gute Laken hat einen grünlichen Fleck, ein Geruch steigt<br />

auf, und jetzt erinnert sich <strong>di</strong>e Nase. Die hat das beste Gedächtnis von allen! Sie bewahrt Tage auf<br />

und ganze Lebenszeiten; Personen, Strandbilder, Lieder, Verse, an <strong>di</strong>e du nie mehr gedacht hast,<br />

sind auf einmal da, sind ganz leben<strong>di</strong>g, guten Tag! Guten Tag, sagst du überrascht, ziehst den alten<br />

Geruch noch einmal ein, aber nach dem ersten Aufblitzen der Erinnerung kommt dann nicht mehr<br />

viel, denn was nicht gleich wieder da ist, kommt nie mehr. Schade um das Parfum, übrigens. Die<br />

Flasche hat unten ein häßlich gezacktes Loch, es sieht fast so aus, wie etwas, daraus das Leben<br />

entwichen ist ... Also das ist dummer Aberglaube, es ist ganz einfach eine zerbrochene Flasche.<br />

Unten, auf dem Boden des Koffers, liegen noch ein paar Krümel, Reisekrümel, Meteorstaub<br />

fremder Länder. Jetzt ist der Koffer leer.<br />

Und da liegen deine Siebensachen auf den Stühlen und auf dem Bett, und nun räumst du sie<br />

endgültig ein. Jetzt ist das Zimmer satt und voll, fast schon ein kleines Zuhause, und alle<br />

Erinnerungen sind zerweht, verteilt und dahin. Noch ein kleines – und du wirst <strong>di</strong>ch auf deiner<br />

nächsten Station zurücksehnen: nach <strong>di</strong>esem Zimmer, nach <strong>di</strong>esem dummen Hotelzimmer.<br />

24


Wolfgang Borchert *<br />

Das Brot<br />

Plötzlich wachte sie auf. Es war halb drei. Sie überlegte, warum sie aufgewacht war. Ach so! in der<br />

Küche hatte jemand gegen einen Stuhl gestoßen. Sie horchte nach der Küche. Es war still Es war zu<br />

still, und als sie inh der Hand über das Bett neben sich fuhr, fand sie es leer. Das war es, was es so<br />

besonders still gemacht hatte: sein Atem fehlte. Sie stand auf und tappte durch <strong>di</strong>e dunkle Wohnung<br />

zur Küche. In der Küche trafen sie sich. Die Uhr war halb drei. Sie sah etwas Weisses am<br />

Küchenschrank stehen. Sie machte Licht. Sie standen sich im Hemd gegenüber. Nachts um halb<br />

drei. In der Küche.<br />

Auf dem Küchentisch stand der Brotteller. Sie sah, daß er sich Brot abgeschnitten hatte. Das Messer<br />

lag noch neben dem Teller. Und auf der Decke lagen Brotkrümel. Wenn sie abends zu Bett gingen,<br />

machte sie immer das Tischtuch sauber. Jeden Abend. Aber nun lagen Krümel auf dem Tuch. Und<br />

das Messer lag da. Sie fühlte, wie <strong>di</strong>e Kälte der Fliesen langsam an ihr hoch kroch, Und sie sah von<br />

dem Teller weg.<br />

«Ich dachte, hier wäre was», sagte er und sah in der Küche umher.<br />

«Ich habe auch was gehört», antwortete sie, und dabei fand sie, daß er nachts im Hemd doch schon<br />

recht alt aussah. So alt wie er war. Dreiundsechzig. Tagsüber sah er manchmal jünger aus. Sie sieht<br />

doch schon alt aus, dachte er, im Hemd sieht sie doch ziemlich alt aus. Aber das liegt vielleicht an<br />

den Haaren. Bei den Frauen liegt das nachts immer an den Haaren. Die machen dann auf einmal so<br />

alt.<br />

«Du hättest Schuhe anziehen sollen. So barfuß auf den kalten Fliesen. Du erkältest <strong>di</strong>ch noch.»<br />

Sie sah ihn nicht an, weil sie nicht ertragen konnte, daß er log. Daß er log, nachdem sie<br />

neununddreißig Jahre verheiratet waren.<br />

«Ich dachte, hier wäre was», sagte er noch einmal und sah wieder so sinnlos von einer Ecke in <strong>di</strong>e<br />

andere, «ich hörte hier was. Da dachte ich, hier wäre was.»<br />

«Ich, hab auch was gehört. Aber es war wohl nichts,» Sie stellte den Teller vom Tisch und<br />

schnippte <strong>di</strong>e Krümel von der Decke.<br />

«Nein es war wohl nichts», echote er unsicher.<br />

Sie kam ihm zu Hilfe: «Komm man. Das war wohl draußen. Komm man zu Bett Du erkältest <strong>di</strong>ch<br />

noch. Auf den kalten Fliesen. »<br />

Er sah zum Fenster hin. «Ja, das muß wohl draußen gewesen sein. Ich dachte, es wäre hier. »<br />

Sie hob <strong>di</strong>e Hand zum Lichtschalter. Ich muss das Licht jetzt ausmachen, sonst muß ich nach dem<br />

Teller sehen, dachte sie. Ich darf doch nicht nach dem Teller sehen. «Komm man», sagte sie und<br />

machte das Licht aus, «das war wohl draußen. Die Dachrinne schlägt immer bei Wind gegen <strong>di</strong>e<br />

Wand. Es war sicher <strong>di</strong>e Dachrinne. Bei Wind klappert sie immer.»<br />

Sie tappten sich beide über den dunklen Korridor zum Schlafzimmer. Ihre nackten Füße platschten<br />

auf den Fussboden.<br />

«Wind ist ja», meinte er, «Wind war schon <strong>di</strong>e ganze Nacht.»<br />

* Borchert, Wolfgang, 20. 5. 1921 Hamburg - 20. 11.1947 Basel, Buchhandelslehrling, Schauspieler in Lüneburg,<br />

1941 Soldat, 1942 schwer verwundet, 1942 und 1944 wegen unbedachter Äußerungen im Gefängnis; Todesurteil,<br />

Bewährung an Ostfront, wegen Krankheit 1943 entlassen, Kabarettist in Hamburg; erneut wegen Wehrkraftzersetzung<br />

verhaftet und verurteilt, 1945 Regieassistent am Hamburger Schauspielhaus, Kabarettleiter, Regisseur in Westerland;<br />

starb während e. von Freunden ermöglichten Kuraufenthalts in der Schweiz. - Frühvollendeter Dichter der entwurzelten<br />

und bindungslosen, betrogenen und um alles beraubten jungen Kriegsgeneration, <strong>di</strong>e zu Ruinen heimkehrt.<br />

Schwermütiger Lyriker, dynam. Erzähler. S. im Stil expressionist., zwischen Sachlichkeit und Symbolvorgängen und<br />

Sinnbildfiguren wechselndes Drama ist ekstat. Aufschrei und Anklage e. verratenen Jugend zugleich; Erfolgsstück fast<br />

aller dt. Bühnen. (vgl. Wilpert, Lexikon der Weltliteratur, Autoren, S. 194)<br />

25


Als sie im Bett lagen, sagte sie: «Ja. Wind war schon <strong>di</strong>e ganze Nacht. Es war wohl <strong>di</strong>e Dachrinne.»<br />

«Ja, ich, dachte, es wäre in der Küche. Es war wohl <strong>di</strong>e Dachrinne.» Er sagte das, als ob er schon<br />

halb im Schlaf wäre.<br />

Aber sie merkte, wie unecht seine Stimme klang, wenn er log. «Es ist kalt», sagte sie und gähnte<br />

leise, «ich krieche unter <strong>di</strong>e Decke, Gute Nacht, »<br />

«Nacht», antwortete er und noch: ja, kalt ist es schon ganz schön.» Dann war es still. Nach vielen<br />

Minuten hörte sie, dass er leise und vorsichtig kaute. Sie atmete absichtlich tief und gleichmäßig,<br />

damit er nicht merken sollte, daß sie noch wach war. Aber sein Kauen war so regelmäßig, daß sie<br />

davon langsam einschlief.<br />

Als er am nächsten Abend nach Hause kam, schob sie ihm vier Scheiben Brot hin. Sonst hatte er<br />

immer nur drei essen können.<br />

«Du kannst ruhig vier essen», sagte sie und ging von der Lampe weg. «Ich kann <strong>di</strong>eses Brot nicht so<br />

recht vertragen. Iß du man eine mehr. Ich vertrage es nicht so gut.»<br />

Sie sah, wie er sich tief über den Teller beugte. Er sah nicht auf. In <strong>di</strong>esem Augenblick tat er ihr<br />

leid.<br />

«Du kannst doch nicht nur zwei Scheiben essen, sagte er auf seinen Teller.<br />

«Doch. Abends vertrag ich das Brot nicht gut. Iß man. lß man.»<br />

Erst nach einer Weile setzte sie sich unter <strong>di</strong>e Lampe an den Tisch.<br />

Nachts schlafen <strong>di</strong>e Ratten doch<br />

Das hohle Fenster in der vereinsamten Mauer gähnte blaurot voll früher Abendsonne. Staubgewölke<br />

flimmerten zwischen den steilgereckten Schornsteinresten. Die Schuttwüste döste.<br />

Er hatte <strong>di</strong>e Augen zu. Mit einmal wurde es noch dunkler. Er merkte, dass jemand gekommen war<br />

und nun vor ihm stand, dunkel, leise. „Jetzt haben sie mich!“, dachte er. Aber als er ein bisschen<br />

blinzelte, sah er nur zwei etwas ärmlich behoste Beine. Die standen ziemlich krumm vor ihm, dass<br />

er zwischen ihnen hindurchsehen konnte. Er riskierte ein kleines Geblinzel an den Hosenbeinen<br />

hoch und erkannte einen älteren Mann. Der hatte ein Messer und einen Korb in der Hand. Und<br />

etwas Erde an den Fingerspitzen.<br />

„Du schläfst hier wohl, was?“, fragte der Mann und sah von oben auf das Haargestrüpp herunter.<br />

Jürgen blinzelte zwischen den Beinen des Mannes hindurch in <strong>di</strong>e Sonne und sagte: „Nein, ich<br />

schlafe nicht. Ich muss hier aufpassen.“ Der Mann nickte: „So, dafür hast du wohl den großen Stock<br />

da?“<br />

„Ja“, antwortete Jürgen mutig und hielt den Stock fest.<br />

„Worauf passt du denn auf?“<br />

„Das kann ich nicht sagen.“ Er hielt <strong>di</strong>e Hände fest um den Stock.<br />

„Wohl auf Geld, was?“ Der Mann setzte den Korb ab und wischte das Messer an seinen<br />

Hosenbeinen hin und her.<br />

„Nein, auf Geld überhaupt nicht“, sagte Jürgen verächtlich. „Auf ganz etwas anderes.“ „Na, was<br />

denn?“<br />

„Ich kann es nicht sagen. Was anderes eben.“<br />

„Na, denn nicht. Dann sage ich <strong>di</strong>r natürlich auch nicht, was ich hier im Korb habe.“ Der Mann<br />

stieß mit dem Fuß an den Korb und klappte das Messer zu.<br />

„Pah, kann mir denken, was in dem Korb ist“, meinte Jürgen geringschätzig, „Kaninchenfutter.“<br />

„Donnerwetter, ja!“, sagte der Mann verwundert, “bist ja ein fixer Kerl. Wie alt bist du denn?“<br />

v „Neun.“ „Oha, denk mal an, neun also. Dann weißt du ja auch, wie viel drei mal neun sind, wie?“<br />

„Klar“, sagte Jürgen, und um Zeit zu gewinnen, sagte er noch: „Das ist ja ganz leicht.“ Und er sah<br />

durch <strong>di</strong>e Beine des Mannes hindurch. „Dreimal neun, nicht?“, fragte er noch einmal,<br />

26


„siebenundzwanzig. Das wusste ich gleich.“<br />

„Stimmt“, sagte der Mann, „und genau soviel Kaninchen habe ich.“ Jürgen machte einen runden<br />

Mund: „Siebenundzwanzig?“<br />

„Du kannst sie sehen. Viele sind noch ganz jung. Willst du?“<br />

„Ich kann doch nicht. Ich muss doch aufpassen“, sagte Jürgen unsicher. “Immerzu?“, fragte der<br />

Mann, „nachts auch?“<br />

„Nachts auch. Immerzu. Immer.“ Jürgen sah an den krummen Beinen hoch. „Seit Sonnabend<br />

schon“, flüsterte er.<br />

„Aber gehst du denn gar nicht nach Hause? Du musst doch essen.“<br />

Jürgen hob einen Stein hoch. Da lagen ein halbes Brot und eine Blechschachtel. „Du rauchst?“,<br />

fragte der Mann, „hast du denn eine Pfeife?“<br />

Jürgen fasste seinen Stock fest an und sagte zaghaft: „Ich drehe. Pfeife mag ich nicht.“<br />

„Schade“, der Mann bückte sich zu seinem Korb, „<strong>di</strong>e Kaninchen hättest du ruhig mal ansehen<br />

können. Vor allem <strong>di</strong>e Jungen. Vielleicht hättest du <strong>di</strong>r eines ausgesucht. Aber du kannst hier ja<br />

nicht weg.“<br />

„Nein“, sagte Jürgen traurig, „nein, nein.“<br />

Der Mann nahm den Korb hoch und richtete sich auf. „Na ja, wenn du hierbleiben musst - schade.“<br />

Und er drehte sich um.<br />

„Wenn du mich nicht verrätst“, sagte Jürgen da schnell, „es ist wegen den Ratten.“ Die krummen<br />

Beine kamen einen Schritt zurück: „Wegen den Ratten?“<br />

„Ja, <strong>di</strong>e essen doch von Toten. Von Menschen. Da leben sie doch von.“<br />

„Wer sagt das?“<br />

„Unser Lehrer.“<br />

„Und du passt nun auf <strong>di</strong>e Ratten auf?“ fragte der Mann.<br />

„Auf <strong>di</strong>e doch nicht!“ Und dann sagte er ganz leise: „Mein Bruder, der liegt nämlich da unten. Da.“<br />

Jürgen zeigte mit dem Stock auf <strong>di</strong>e zusammengesackten Mauern. „Unser Haus kriegte eine<br />

Bombe. Mit einmal war das Licht weg im Keller. Und er auch. Wir haben noch gerufen. Er war viel<br />

kleiner als ich. Erst vier. Er muss hier ja noch sein. Er ist doch viel kleiner als ich.“<br />

Der Mann sah von oben auf das Haargestrüpp. Aber dann sagte er plötzlich: „Ja, hat euer Lehrer<br />

euch denn nicht gesagt, dass <strong>di</strong>e Ratten nachts schlafen?“<br />

„Nein“, flüsterte Jürgen und sah mit einmal ganz müde aus, „das hat er nicht gesagt.“ „Na“, sagte<br />

der Mann, „das ist aber ein Lehrer, wenn er das nicht mal weiß. Nachts schlafen <strong>di</strong>e Ratten doch.<br />

Nachts kannst du ruhig nach Hause gehen. Nachts schlafen sie immer. Wenn es dunkel wird,<br />

schon.“<br />

Jürgen machte mit seinem Stock kleine Kuhlen in den Schutt. „Lauter kleine Betten sind das“,<br />

dachte er, „alles kleine Betten.“<br />

Da sagte der Mann (und seine krummen Beine waren ganz unruhig dabei): „Weißt du was? Jetzt<br />

füttere ich schnell meine Kaninchen und wenn es dunkel wird, hole ich <strong>di</strong>ch ab. Vielleicht kann ich<br />

eins mitbringen. Ein kleines oder, was meinst du?“ Jürgen machte kleine Kuhlen in den Schutt.<br />

„Lauter kleine Kaninchen. Weiße, graue, weißgraue.“ „Ich weiß nicht“, sagte er leise und sah auf<br />

<strong>di</strong>e krummen Beine, „wenn sie wirklich nachts schlafen.“<br />

Der Mann stieg über <strong>di</strong>e Mauerreste weg auf <strong>di</strong>e Straße. „Natürlich“, sagte er von da, „euer Lehrer<br />

soll einpacken, wenn er das nicht mal weiß.“<br />

Da stand Jürgen auf und fragte: „Wenn ich eins kriegen kann? Ein weißes vielleicht?“<br />

„Ich will mal versuchen“, rief der Mann schon im Weggehen, „aber du musst hier solange warten.<br />

Ich gehe dann mit <strong>di</strong>r nach Hause, weißt du? Ich muss deinem Vater doch sagen, wie so ein<br />

Kaninchenstall gebaut wird. Denn das müsst ihr ja wissen.“ „Ja“, rief Jürgen, „ich warte. Ich muss<br />

ja noch aufpassen, bis es dunkel wird. Ich warte bestimmt.“ Und er rief: „Wir haben auch noch<br />

Bretter zu Hause. Kistenbretter“, rief er.<br />

Aber das hörte der Mann schon nicht mehr. Er lief mit seinen krummen Beinen auf <strong>di</strong>e Sonne zu.<br />

Die war schon rot vom Abend, und Jürgen konnte sehen, wie sie durch <strong>di</strong>e Beine hindurch schien,<br />

27


so krumm waren sie. Und der Korb schwenkte aufgeregt hin und her. Kaninchenfutter war da drin.<br />

Grünes Kaninchenfutter, das war etwas grau vom Schutt.<br />

Die drei dunklen Könige<br />

Er tappte durch <strong>di</strong>e dunkle Vorstadt. Die Häuser standen abgebrochen gegen den Himmel. Der<br />

Mond fehlte, und das Pflaster war erschrocken über den späten Schritt. Dann fand er eine alte<br />

Planke. Da trat er mit dem Fuß gegen, bis eine Latte morsch aufseufzte und losbrach. Das Holz roch<br />

mürbe und süß. Durch <strong>di</strong>e dunkle Vorstadt tappte er zurück. Sterne waren nicht da.<br />

Als er <strong>di</strong>e Tür aufmachte (sie weinte dabei, <strong>di</strong>e Tür), sahen ihm <strong>di</strong>e blassblauen Augen seiner Frau<br />

entgegen. Sie kamen aus einem müden Gesicht. Ihr Atem hing weiß im Zimmer, so kalt war es. Er<br />

beugte sein knochiges Knie und brach das Holz. Das Holz seufzte. Dann roch es mürbe und süß<br />

ringsum. Er hielt sich ein Stück davon unter <strong>di</strong>e Nase. Riecht beinahe wie Kuchen, lachte er leise.<br />

Nicht, sagten <strong>di</strong>e Augen seiner Frau, nicht lachen. Er schläft.<br />

Der Mann legte das süße, mürbe Holz in den kleinen Blechofen. Da glomm es auf und warf eine<br />

Handvoll warmes Licht durch das Zimmer. Die fiel hell auf ein winziges, rundes Gesicht und blieb<br />

einen Augenblick. Das Gesicht war erst eine Stunde alt, aber es hatte schon alles, was dazu gehört:<br />

Ohren, Nase, Mund und Augen. Die Augen mussten groß sein, das konnte man sehen, obgleich sie<br />

zu waren. Aber der Mund war offen, und es pustete leise daraus. Nase und Ohren waren rot. Er lebt,<br />

dachte <strong>di</strong>e Mutter. Und das kleine Gesicht schlief.<br />

Da sind noch Haferflocken, sagte der Mann. Ja, antwortete <strong>di</strong>e Frau, das ist gut. Es ist kalt. Der<br />

Mann nahm noch von dem süßen, weichen Holz. Nun hat sie ihr Kind gekriegt und muß frieren,<br />

dachte er. Aber er hatte keinen, dem er dafür <strong>di</strong>e Fäuste ins Gesicht schlagen konnte. Als er <strong>di</strong>e<br />

Ofentür aufmachte, fiel wieder eine Handvoll Licht über das schlafende Gesicht. Die Frau sagte<br />

leise: Guck, wie ein Heiligenschein, siehst du? Heiligenschein! dachte er, und er hatte keinen, dem<br />

er <strong>di</strong>e Fäuste ins Gesicht schlagen konnte.<br />

Dann waren welche an der Tür. Wir sahen das Licht, sagten sie, vom Fenster. Wir wollen uns zehn<br />

Minuten hinsetzen. Aber wir haben ein Kind, sagte der Mann zu ihnen. Da sagten sie nichts weiter,<br />

aber sie kamen doch ins Zimmer, stießen Nebel aus den Nasen und hoben <strong>di</strong>e Füße hoch. Dann fiel<br />

das Licht auf sie.<br />

Drei waren es. In drei alten Uniformen. Einer hatte einen Pappkarton, einer einen Sack. Und der<br />

dritte hatte keine Hände. Erfroren, sagte er, und hielt <strong>di</strong>e Stümpe hoch. Dann drehte er dem Mann<br />

<strong>di</strong>e Manteltaschen hin. Tabak war darin und dünnes Papier. Sie drehten Zigaretten. Aber <strong>di</strong>e Frau<br />

sagte: Nicht, das Kind. Da gingen <strong>di</strong>e vier vor <strong>di</strong>e Tür, und ihre Zigaretten waren vier Punkte in der<br />

Nacht. Der eine hatte <strong>di</strong>ck umwickelte Füße. Er nahm ein Stück Holz aus einem Sack. Ein Esel,<br />

sagte er, ich habe sieben Monate daran geschnitzt. Für das Kind. Das sagte er und gab es dem<br />

Mann. Was ist mit den Füßen? fragte der Mann. Wasser, sagte der Eselschnitzer, vom Hunger. Und<br />

der andere, der dritte? fragte der Mann und befühlte im Dunkeln den Esel. Der dritte zitterte in<br />

seiner Uniform: Oh, nichts, wisperte er, das sind nur <strong>di</strong>e Nerven. Man hat eben zuviel Angst gehabt.<br />

Dann traten sie <strong>di</strong>e Zigaretten aus und gingen wieder hinein.<br />

Sie hoben <strong>di</strong>e Füße hoch und sahen auf das kleine schlafende Gesicht. Der Zitternde nahm aus<br />

seinem Pappkarton zwei gelbe Bonbons und sagte dazu: Für <strong>di</strong>e Frau sind <strong>di</strong>e.<br />

Die Frau machte <strong>di</strong>e blassen Augen weit auf, als sie <strong>di</strong>e drei Dunklen über das Kind gebeugt sah.<br />

Sie fürchtete sich. Aber da stemmte das Kind <strong>di</strong>e Beine gegen ihre Brust und schrie so kräftig, dass<br />

<strong>di</strong>e drei Dunklen <strong>di</strong>e Füße aufhoben und und zur Tür schlichen. Hier nickten sie nochmal, dann<br />

stiegen sie in <strong>di</strong>e Nacht hinein.<br />

Der Mann sah ihnen nach. Sonderbare Heilige, sagte er zu seiner Frau. Dann machte er <strong>di</strong>e Tür zu.<br />

28


Schöne Heilige sind das, brummte er, und sah nach den Haferflocken. Aber er hatte kein Gesicht für<br />

seine Fäuste.<br />

Aber das Kind hat geschrien, flüsterte <strong>di</strong>e Frau, ganz stark hat es geschrien. Da sind sie gegangen.<br />

Guck mal, wie leben<strong>di</strong>g es ist, sagte sie stolz. Das Gesicht machte den Mund auf und schrie.<br />

Weint er? fragte der Mann.<br />

Nein, ich glaube, er lacht, antwortete <strong>di</strong>e Frau.<br />

Beinahe wie Kuchen, sagte der Mann und roch an dem Holz, wie Kuchen. Ganz süß.<br />

Heute ist ja auch Weihnachten, sagte <strong>di</strong>e Frau.<br />

Heute ist ja auch Weihnachten, brummte er, und vom Ofen her fiel eine Handvoll Licht hell auf das<br />

kleine schlafende Gesicht.<br />

29


Eva Menasse *<br />

Im Bann der Sternzeichen<br />

»Stier hoch drei«, sagte Tante Judy, wenn sie jemandem vorgestellt wurde, und sie sagte das so oft,<br />

dass wir nicht einmal mehr <strong>di</strong>e Augen verdrehten. »Und das ist unsere Tante Judy«, sagte zum<br />

Beispiel meine Mutter, <strong>di</strong>e einen neuen Tennispartner angeschleppt hatte – weiß Gott, wo sie <strong>di</strong>e<br />

immer auftrieb. »Habe <strong>di</strong>e Ehre«, sagte der Mann, meistens Rechtsanwalt, Arzt oder Steuerberater,<br />

und Tante Judy quiekte ein bisschen, wenn sie ihm <strong>di</strong>e Hand gab, und sagte dann: »Stier hoch<br />

drei!«<br />

Doch <strong>di</strong>e soignierten älteren Herren, <strong>di</strong>e meine Mutter zum Tennisspielen warb, waren auf <strong>di</strong>esem<br />

Ohr taub. Ich erinnere mich an keinen, der nachgefragt hätte. Sie nickten freundlich-abwesend.<br />

Meine Schwester meint, sie alle hätten wenig soziale Intelligenz besessen, <strong>di</strong>ese Herren. Ich<br />

dagegen glaube, es lag daran, dass sie Männer waren. Frauen reagierten immer, wenn Tante Judy<br />

»Stier hoch drei« sagte. Die Mehrzahl war irritiert, weil sie es auf Anhieb nicht verstand, was Tante<br />

Judy <strong>di</strong>e ersehnte Gelegenheit schenkte, ihren unerträglichen Witz zum x-ten Mal zu erklären<br />

(Sternzeichen Stier, Aszendent Stier, stän<strong>di</strong>g pleite, auf Wienerisch »stier«). Doch einmal<br />

antwortete eine Rothaarige: »Doppelter Skorpion und zum Glück gut geerbt.«<br />

Da verfinsterte sich Tante Judys Miene. Sie hasste Skorpion-Frauen, wie wir alle wussten, <strong>di</strong>e wir ja<br />

auch ihren Stier-Spruch zum Erbrechen oft gehört hatten. Sie protestierte wütend, wenn wir ihre<br />

Abneigung dahingehend vereinfachten, dass sie alle Skorpione ablehne. »Um Himmels willen, ein<br />

Zwölftel der Menschheit«, zeterte sie, »nein, nein, nur <strong>di</strong>e Frauen.« – »Also nur ein<br />

Vierundzwanzigstel der Menschheit«, stellte meine Schwester messerscharf fest, »und was ist mit<br />

den Löwen, Aszendent Schütze?« – »Bei denen bin ich vorsichtig«, gab Tante Judy zurück, »das<br />

hat nichts mit nicht mögen zu tun.« Das war Tante Judy, klein, <strong>di</strong>ck, alterslos, immer in wild<br />

gemusterten so genannten Hängerkleidern. Geflochtene Ledergürtel dort, wo früher ihre Taille war,<br />

woran sich aber kein lebender Mensch erinnern konnte. Unverheiratet, vermutlich unberührt, bis auf<br />

eine geheimnisvolle, unglückliche Episode vor unvordenklichen Zeiten, ich vermute, mit einem<br />

Löwen, Aszendent Schütze. Seit je besessen von Astrologie, Summa: »A pain in the ass«, wie Tante<br />

Lia sagte, <strong>di</strong>e ebenso unverheiratet, dafür aber stu<strong>di</strong>erte Physikerin war.<br />

Bekamen wir schlechte Noten, lag es am Sternzeichen des Lehrers<br />

In unserer Kindheit setzte Tante Judy alles daran, uns mit ihrem Wahn zu infizieren. Kam ich aus<br />

der Schule, verprügelt, mit zerschundenen Knien, und heulte: »Der Franzi und der Wolfi haben<br />

mich…«, dann nickte sie verständnisvoll und sagte: »Ein Pech, <strong>di</strong>e Klasse. Zu viele Widder und<br />

Löwen für jemanden wie <strong>di</strong>ch.« Hatte meine Schwester zum wiederholten Mal eine Fünf in Latein,<br />

stritten meine Eltern und Tante Judy. »Ein Antisemit«, sagte mein Vater über den Lehrer. »Ein<br />

Steinbock«, konterte Tante Judy. »Sie ist ein faules Stück«, fand meine Mutter.<br />

Deshalb habe ich schon als Kind nicht reagiert, wenn ich nach meinem Sternzeichen gefragt wurde.<br />

»Weiß ich nicht«, murmelte ich mürrisch, und wenn es mir jemand triumphierend sagte – es sind<br />

fast immer Frauen, <strong>di</strong>e zu allen Monaten <strong>di</strong>e Tierkreiszeichen wissen –, dann sagte ich<br />

unfreundlich: »Bei uns zu Hause glauben wir an so was nicht.« Das, aus Kindermund, bringt <strong>di</strong>e<br />

Leute meistens zum Schweigen.<br />

Doch in Wahrheit wurde in meiner Familie ein wahrer Krieg der Sterne geführt, ein erbitterter<br />

Kampf der Aufklärung gegen den Aberglauben. Das führte unvermeidlich dazu, dass wir mehr über<br />

Astrologie wussten als alle meine Freun<strong>di</strong>nnen, <strong>di</strong>e einander im Schulbus kichernd ihre Horoskope<br />

vorlasen. Zeitungshoroskope verachtete Tante Judy übrigens. Sie vertraute nur den komplizierten<br />

* Eva Menasse, 1970 in Wien geboren, lebt in Berlin. 2005 erschien ihr Debütroman »Vienna«, der <strong>di</strong>e Geschichte ihrer<br />

katholischen und jü<strong>di</strong>schen Verwandtschaft wiederspiegelt<br />

30


in<strong>di</strong>viduellen Berechnungen ihrer persönlichen Sterndeuterin, <strong>di</strong>e sich doch tatsächlich Madame<br />

Bernadette nannte, obwohl sie zivil Hertha Blaha hieß.<br />

Würde ich mich an Tante Judy nicht so genau erinnern, vor allem daran, wie sie am Schluss<br />

gerochen hat, dann könnte es fast scheinen, als sei sie eine Art übersinnliche Erscheinung gewesen,<br />

ein Mephisto in kugeliger Tantenform, der unseren Verstand auf <strong>di</strong>e Probe stellte. Denn was haben<br />

wir uns angestrengt, sie zu widerlegen, zu verunsichern, zu bekehren! Das begann bei der Frage des<br />

Zeitpunkts. Die Geburt meiner Schwester war eingeleitet worden, wegen Beckenendlage. »Hätten<br />

<strong>di</strong>e mich kommen lassen, wie ich wollte, wäre ich Krebs«, giftete meine Schwester, »ein ganz<br />

anderer Mensch, deiner Meinung nach!«<br />

»Leider wissen wir nicht, wie du dann gewesen wärst«, antwortete Tante Judy milde. »Wenn –<br />

dann, nicht wahr?«<br />

»Aber man ist doch schon im Bauch ein Mensch«, versuchte ich es aufs Neue, »wenn schon, müsste<br />

man doch <strong>di</strong>e Zeugung…«<br />

»Zeugungshoroskope fändest du plausibler?«, fragte Tante Judy und sah mich pfiffig an. »Nein«,<br />

schrie ich, »aber warum fragst du?«<br />

Und dann hatte sie mich wieder einmal, <strong>di</strong>ese Meisterin einer Logik, von der ich wusste, dass sie<br />

irrsinnig war, was ich ihr aber nie beweisen konnte. In ihrem sanften Singsang erläuterte sie, dass<br />

wohl <strong>di</strong>e meisten Waagen im Steinbock, <strong>di</strong>e Schützen im Fisch, <strong>di</strong>e, sie räusperte sich, Skorpione<br />

im Wassermann gezeugt worden wären. Und so weiter. Dass man den Zeugungszeitpunkt nie genau<br />

feststellen könne, sei also ein Beleg für ihre These, nicht für meine. »Vielleicht führen bestimmte<br />

kosmische Aspekte während der Zeugung eher zu Beckenendlagen oder Frühgeburten«, grübelte<br />

sie, »wer kann das schon sagen?« Meine Schwester verließ wortlos den Raum.<br />

Tante Judy fragte dauernd fremde Leute nach deren Geburtstag<br />

Tante Judy war völlig frei von der koketten Scham, mit der »normale« Horoskopliebhaberinnen ihre<br />

Sucht bemänteln. »Ich weiß, ein bissel kin<strong>di</strong>sch«, kichern sie oder: »Nur beim Friseur, in den<br />

Zeitschriften«, oder: »Ist doch ganz lustig, als Gesellschaftsspiel.« Nur sehr junge Frauen, solche,<br />

<strong>di</strong>e ihre astrologische Erstinfektion gerade durchgemacht haben, sind annähernd so übergriffig wie<br />

Tante Judy. Diese jungen, meist sehr schönen und selbstbewussten Frauen laufen dann mit großen<br />

Büchern und Tabellen herum, inzwischen auch mit Taschencomputern, und horoskopieren<br />

überfallartig jeden, der ihnen begegnet. Doch selbst sie lassen ihren Opfern meist einen Ausweg,<br />

mit der typischen Herablassung der Jugend, bei der man nie weiß, ob sie Pose oder Ernst ist: »Dann<br />

glaub’s halt nicht, aber schau mir trotzdem bis morgen deine Geburtsstunde nach!«<br />

Tante Judy dagegen, und das machte sie als Propagan<strong>di</strong>stin der Sterndeutung so einzigartig und<br />

gefährlich, behandelte Astrologie als Frage des gesunden Menschenverstands. Sie wurde nicht<br />

müde, uns nachzuweisen, nach welchen »zufälligen, ungerechten Kriterien« wir unsere<br />

Mitmenschen beurteilten. »Fette Haare, Dialekt?«, sagte sie. »So jemanden schreibt’s ihr doch<br />

gleich ab!« Sie hingegen fragte zu unserer fortgesetzten Peinlichkeit dauernd fremde Leute nach<br />

deren Geburtstag. Das gebe ihr, behauptete sie, doch einen viel objektiveren Eindruck, als wenn der<br />

Mensch zum Beispiel zwei verschiedene Socken anhabe.<br />

»Aszendent Zwilling«, murmelte meine Mutter.<br />

»Was sagst?«, fragte Tante Judy erfreut.<br />

»Nix«, versetzte meine Mutter, »du hörst Stimmen!« Sie hätte niemals zugegeben, dass uns allen<br />

Tante Judys Ordnungssystem längst in Fleisch und Blut übergegangen war. Und zerstreute,<br />

unordentliche Menschen hatten eben meistens irgendwo einen dominanten Zwilling.<br />

Meine Schwester war klug genug, sich auf <strong>di</strong>e Abgründe der Vorurteils-Diskussion nicht<br />

einzulassen. Mich dagegen quält bis heute <strong>di</strong>e Erinnerung an ein Gespräch, in dem Tante Judy mit<br />

einem Wassermann im sechsten Haus argumentierte, während ich versuchte, all <strong>di</strong>e entsetzlichen<br />

Eigenschaften meines Klassenkameraden Wolfi, seine unreine Haut, seinen Mundgeruch und seine<br />

fortgesetzten Brutalitäten, auf »schlechte Erbsubstanz« zurückzuführen. Ich war elf Jahre alt und<br />

stand stark unter dem Eindruck der Mendelschen Gesetze, <strong>di</strong>eser roten und weißen Erbsenblüten auf<br />

der Schautafel im Biologieunterricht. Nachdem ich einmal Wolfis Eltern gesehen hatte – sie<br />

31


esaßen <strong>di</strong>e Tierhandlung in unserer Straße –, glaubte ich alles zu verstehen. Doch Tante Judy<br />

schüttelte nur den Kopf. Sie zählte Künstler und Intellektuelle auf, <strong>di</strong>e aus zerrütteten Verhältnissen<br />

stammten, und Massenmörder, <strong>di</strong>e schon als Fünfjährige träumerisch zart Klavier spielten. »Die<br />

kosmische Geburtskonstellation ist das Gefäß des Charakters«, pre<strong>di</strong>gte sie unverdrossen, »aber<br />

was man im Leben daraus macht, ist variabel.« Wir hatten das so oft gehört, dass wir <strong>di</strong>esen Ersten<br />

Lehrsatz der Tante Judy im Schlaf fortsetzen konnten: »Nur außerhalb des Gefäßes, da kann keiner<br />

sein Häuferl hinmachen!«<br />

So eine Kindheit prägt einen, genau so, wie <strong>di</strong>e meisten Menschen noch immer unübersichtliche<br />

Euro-Beträge in D-Mark oder Schilling umrechnen. Sobald ich den Geburtstag von jemandem<br />

erfahre, flüstert ein inneres Stimmchen: »Frühe Waage.« Oder: »Mittlere Jungfrau.« Und natürlich,<br />

sosehr ich dagegen ankämpfe, bedeutet das etwas für mich, so wie manche Menschen Zahlen als<br />

farbig empfinden. Mein erstes Horoskop habe ich dennoch erst viele Jahre später erstellen lassen,<br />

als Tante Judy schon lange nicht mehr lebte. Ich war schwanger, hatte gerade gelernt, zu einer<br />

Musik, <strong>di</strong>e ich früher als »in<strong>di</strong>sches Gejaule« bezeichnet hätte, laut schnaufend zu entspannen, und<br />

gelesen, dass mein Intellekt derzeit von der Emotionalität lahm gelegt werde, rein hormonell<br />

gesehen. Ich war bereit für Tante Judys Erbe. In <strong>di</strong>esem Horoskop steht unter anderem, dass<br />

»Merkur im zehnten Haus« mir »erhebliche sprachliche Fähigkeiten« schenkt, <strong>di</strong>e ich beruflich<br />

nützen sollte.<br />

Meiner Meinung nach haben <strong>di</strong>e Sterne Tante Judy umgebracht, obwohl sie das noch auf dem<br />

Totenbett bestritt. Sie hatte es ihr Leben lang »am Unterleib«, so lautete ihre verschämte<br />

Formulierung. Anders als man annehmen würde, waren damit aber nicht ihre ohnehin ungenützt<br />

gebliebenen Fortpflanzungsorgane gemeint, nein, sie litt unter einer schwachen und oft entzündeten<br />

Blase. Sie hatte stets ein flauschiges Sitzkissen dabei, in das man eine kleine Wärmflasche stecken<br />

konnte. In ihrem Kaffeehaus hän<strong>di</strong>gte sie <strong>di</strong>ese Wärmflasche von Zeit zu Zeit <strong>di</strong>skret dem Kellner<br />

aus, der sie in der Küche nachwärmen ließ. Da sich Madame Bernadette seit den späten siebziger<br />

Jahren auch der klassischen Homöopathie verschrieben hatte, warf Tante Judy eines Tages ihre<br />

Antibiotika weg und nahm fortan Globuli. Ich glaube, es war kurz bevor alle Frauen in Judys und<br />

Madame Bernadettes Alter <strong>di</strong>e Aluminiumkochtöpfe aus ihren Küchen verbannten, <strong>di</strong>e gerade noch<br />

als letzter Schrei in Sachen »Wärmeleitfähigkeit« gegolten hatten. Oder war es kurz danach?<br />

Tante Judy jedenfalls wurde unter dem Einfluss Madame Bernadettes, ihrer Globuli, wahrscheinlich<br />

aber vor allem aufgrund anhaltender Schmerzen nervös und wunderlich. Sie ging ein paar Jahre<br />

lang überhaupt nicht mehr zum Arzt, weil sie angeblich keinen fand, der ihr »zusagte«. In<br />

Wirklichkeit biss sie sich an den Sprechstundenhilfen <strong>di</strong>e Zähne aus, <strong>di</strong>e sich weigerten, Patienten<br />

<strong>di</strong>e genauen Geburtstage und -stunden ihrer Ärzte mitzuteilen. Doch nachdem meine Mutter eines<br />

Tages entdeckt hatte, dass Tante Judys Sitzkissen voller eingetrockneter Blutflecke war, waren wir<br />

alarmiert. Man empfahl uns einen Urologen. Mein Vater nahm es auf sich, ihn anzurufen und ihm<br />

<strong>di</strong>e Lage zu erklären. Dieser überaus verständnisvolle Herr Doktor instruierte daraufhin seine<br />

Or<strong>di</strong>nationshilfe, Tante Judys telefonische Anfrage umstandslos mit »Wassermann, Aszendent<br />

Fisch« zu beantworten, einer Kombination, <strong>di</strong>e Judy für Urologen besonders bevorzugte. Meine<br />

Schwester hatte zur Sicherheit sogar eine passende Geburtsstunde für den Arzt nachgeschlagen.<br />

Doch es war natürlich zu spät. Als wir sie zum ersten Mal im Krankenhaus besuchten, empfing uns<br />

Tante Judy mit einem neuen Witz, genauso unerträglich wie der alte: »Krebs im alten Haus!« Ihre<br />

Blase musste entfernt und durch irgendeine künstliche Konstruktion samt Katheder ersetzt werden –<br />

sie nannte das tapfer ihre »Wasser-Konjunktion«. Um den Operationstermin gab es einen<br />

unerfreulichen Kampf, weil Madame Bernadette astrologisch günstige Vorschläge gemacht hatte,<br />

<strong>di</strong>e sich nicht mit den Arbeitszeiten des Chirurgen deckten. Schließlich roch Tante Judy nicht mehr<br />

zart nach Urin, sondern beißend nach Desinfektionsmitteln. Ihre fatale Verirrung sah sie noch<br />

immer nicht ein. »Der Mensch stirbt, wenn seine Zeit gekommen ist«, sagte sie und beharrte darauf,<br />

dass Madame Bernadette viel Gutes für sie getan habe, denn »mit meinen problematischen Anlagen<br />

könnte ich schon längst hinüber sein«.<br />

32


Eines Tages, kurz nach Weihnachten, eröffnete sie uns, dass sie wahrscheinlich rund um den 11.<br />

Mai sterben würde, »eher etwas später als früher«. Meine Mutter begann zu weinen. »Geh,<br />

Kinderl«, murmelte Tante Judy gerührt und streichelte ihren Unterarm. Meine Mutter zog ihn<br />

abrupt weg. »Du hast schon wieder mit <strong>di</strong>eser Blaha telefoniert«, zischte sie, »das verzeih ich <strong>di</strong>r<br />

nie!«<br />

»Ich wünsch mir jedenfalls für den Stein…«, fuhr Tante Judy fort.<br />

»Stier hoch drei?«, fragte mein Vater.<br />

»Nein, Goethe«, sagte Tante Judy.<br />

»Goethe?«, fragte mein Vater erstaunt.<br />

»Wie an dem Tag, der <strong>di</strong>ch der Welt verliehen…«, begann Tante Judy. Meine Schwester und ich<br />

nickten und fuhren leise fort: »…<strong>di</strong>e Sonne stand zum Gruße der Planeten, bist also bald und fort<br />

und fort ge<strong>di</strong>ehen, nach dem Gesetz, wonach du angetreten.«<br />

Und so geschah es. Tante Judy starb friedlich bei Sonnenuntergang, und zwar am 19. Mai. Die<br />

Frage, ob der 19. noch als »rund um den 11.« zu betrachten sei oder ob sich <strong>di</strong>e Blaha <strong>di</strong>esmal<br />

»nachweislich« geirrt hätte, wurde in meiner Familie noch jahrelang debattiert. Meine Schwester<br />

und ich waren davon überzeugt, dass <strong>di</strong>eser Todeszeitpunkt ein Lehrbeispiel für <strong>di</strong>e Macht der<br />

Psyche war – bis zum 11. eisern durchgehalten und danach einfach aufgegeben. »Scheint zu<br />

funktionieren wie ein Placebo«, mutmaßte meine Schwester, <strong>di</strong>e im Herbst darauf mit dem <strong>Stu<strong>di</strong></strong>um<br />

der Psychologie beginnen wollte.<br />

Mein Vater schüttelte nur den Kopf. Er glaubte an Psychologie genauso wenig wie an Astrologie,<br />

und von Placebo hatte er noch nie gehört. Mein Vater glaubte an den Antifaschismus, aber das ist<br />

wirklich eine ganz andere Geschichte.<br />

Copyright DIE ZEIT, 20.12.2006 Nr. 52<br />

Adresse http://www.zeit.de/2006/52/Sterne-Menasse<br />

33

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!