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folter - Schweizerisches Rotes Kreuz

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Nr. 2/06<br />

FOLTER<br />

INFORMATIONSZEITSCHRIFT DES AMBULATORIUMS FÜR FOLTER- UND KRIEGSOPFER<br />

Themen:<br />

Bildungs- und<br />

Informationsprojekte<br />

Die bewegende<br />

Geschichte von<br />

Ebru Dincer<br />

Vom professionellen<br />

Umgang mit Belastungen<br />

Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer SRK


inhalt<br />

Inhalt<br />

Editorial S. 03<br />

Bildungs- und Informationsprojekte S. 04<br />

Zurück ins Leben S. 06<br />

«Bei der Arbeit mit Folteropfern ist<br />

alles intensiv – auch die positiven<br />

Gefühle» S. 08<br />

Wie hält man es aus, ständig mit<br />

schrecklichen Geschichten konfrontiert<br />

zu sein? S. 10


Editorial<br />

Liebe Leserin, lieber Leser<br />

Menschen, die Folter und Krieg erfahren haben, leiden oft jahrelang<br />

unter dem Erlebten. Ihre Schicksale sind meist grauenvoll<br />

und übersteigen die Dimension des Vorstellbaren. So<br />

auch jenes von Ebru Dincer, das in der vorliegenden Ausgabe<br />

der FOLTER erzählt wird. Es scheint beinahe unvorstellbar,<br />

dass jemand derart Schreckliches überlebt und den<br />

Weg zurück ins Leben findet.<br />

© Nathalie Flubacher Fachpersonen wie Ärzte, Psychologinnen oder Sozialarbeitende,<br />

die in ihrem Arbeitsalltag mit Folter- und Kriegsopfern zu tun haben,<br />

werden mit den Erlebnissen der Betroffenen konfrontiert und müssen sich damit<br />

auseinandersetzen. Doch wie schaffen sie dies, ohne selber unter den schwierigen<br />

Schicksalen ihrer Patienten zu leiden? Wie gehen sie mit den Belastungen<br />

um?<br />

Antworten auf diese Fragen finden Sie in weiteren Artikeln der aktuellen<br />

FOLTER. So zeigt ein Hintergrundbericht, was es braucht, damit die<br />

Konfrontation mit solch schwierigen Schicksalen längerfristig überhaupt<br />

möglich ist. Zudem erzählen zwei Mitarbeitende des Ambulatoriums für<br />

Folter- und Kriegsopfer in Bern, wie sie ganz persönlich mit den Belastungen<br />

umgehen.<br />

Die ständige fachliche Weiterbildung ist für die professionelle<br />

Betreuung von Folter- und Kriegsopfern von grosser Bedeutung,<br />

insbesondere auch im Zusammenhang mit Belastungen: Sie<br />

hilft, Erschöpfungszuständen sowie Ausbrennen (Burnout)<br />

vorzubeugen. Lesen Sie, welche verschiedenen Bildungsund<br />

Informationsprojekte an den Ambulatorien in Bern<br />

und Zürich bestehen.<br />

Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und bedanke<br />

mich für Ihr Interesse und Ihre Unterstützung. Ohne<br />

Sie wäre unser Engagement für die Opfer von Folter<br />

und Krieg nicht möglich. Herzlichen Dank!<br />

Dr. med Conrad Frey<br />

Leiter Zentrum für Migration und<br />

Gesundheit SRK<br />

Impressum<br />

FOLTER Nr. 02/2006<br />

Jahrgang IX<br />

erscheint zweimal jährlich<br />

Herausgeber<br />

Ambulatorium für Folterund<br />

Kriegsopfer SRK<br />

Werkstrasse 16<br />

CH-3084 Wabern<br />

Telefon 031 960 77 77<br />

Telefax 031 960 77 88<br />

ambulatorium.miges@redcross.ch<br />

www.redcross.ch<br />

Redaktion dieser Ausgabe<br />

Heinz Heer, Regula Bättig<br />

Mitarbeit bei dieser Ausgabe<br />

Regula Bättig, Conrad Frey,<br />

Heinz Heer<br />

Titelbild<br />

Szenenbild aus dem Film «Erinnern»<br />

von Bruno Moll<br />

Grafik, Layout<br />

graphic-print SRK<br />

Druck<br />

Lüthi Druck, Herzogenbuchsee<br />

Zeitschrift FOLTER<br />

<strong>Schweizerisches</strong> <strong>Rotes</strong> <strong>Kreuz</strong><br />

Rainmattstrasse 10<br />

CH-3001 Bern<br />

Adressänderungen:<br />

Ambulatorium für Folterund<br />

Kriegsopfer SRK<br />

ambulatorium.miges@redcross.ch<br />

Telefon 031 960 77 77<br />

3


Aktuell<br />

Die Ambulatorien für Folter- und Kriegsopfer<br />

in Bern und Zürich haben derzeit verschiedene<br />

Informations- und Bildungsprojekte<br />

in Arbeit bzw. gerade abgeschlossen.<br />

Eine kurze Übersicht über die unterschiedlichen<br />

Vorhaben.<br />

ein Dokumentarfilm zu Schulungszwecken<br />

(siehe nachfolgenden Abschnitt).<br />

Dokumentarfilm «Tochter des Meeres»<br />

Während zwei Jahren begleitete der Regisseur<br />

Bruno Moll eine Patientin des Ambulatoriums<br />

Bildungs- und<br />

Informationsprojekte<br />

Hausarzt-Broschüre<br />

Die Hausarzt-Broschüre ist eine Informationsschrift<br />

über die Betreuung und Behandlung<br />

von traumatisierten Flüchtlingen. Sie richtet<br />

sich an medizinische Grundversorger wie<br />

Hausärztinnen und -ärzte sowie an andere<br />

Fachleute aus dem Sozial- und Gesundheitswesen.<br />

Die Broschüre vermittelt praxisnah<br />

und in knapper, einfacher Form grundlegende<br />

Informationen und nützliche Adressen zur<br />

Thematik: So findet man darin Basiswissen zu<br />

Folter, Trauma, Kriegstraumatisierung und<br />

Migrationskontext. Zudem werden die Folgen<br />

von Folter- und Kriegstraumatisierungen aufgezeigt<br />

sowie die Betreuung und Unterstützung<br />

der Opfer in der Hausarzt-Medizin thematisiert.<br />

Die Hausarzt-Broschüre ist Teil eines Informations-Sets,<br />

zu dem auch eine Broschüre für<br />

Angehörige von Traumatisierten und eine für<br />

Patienten geplant sind. Ebenfalls dazu gehört<br />

für Folter- und Kriegsopfer, die unter posttraumatischen<br />

Belastungsstörungen leidet. Der<br />

daraus entstandene Dokumentarfilm «Tochter<br />

des Meeres» zeigt die persönliche Entwicklung<br />

der jungen Frau in diesen zwei Jahren<br />

und beleuchtet gleichzeitig die wesentlichen<br />

Aspekte der posttraumatischen Belastungsstörung<br />

wie auch deren Bewältigung.<br />

«Tochter des Meeres» ist Teil eines Informations-Sets<br />

über die Betreuung und Behandlung<br />

von traumatisierten Flüchtlingen und wird zu<br />

Schulungs- bzw. Informationszwecken eingesetzt.<br />

Das Filmmaterial stammt aus den Dreharbeiten<br />

zum Film «Erinnern» von Bruno<br />

Moll, wobei für «Tochter des Meeres» das<br />

gesamte Rohmaterial neu gesichtet und<br />

zusammengestellt wurde. Der Dokumentarfilm<br />

kann beim Ambulatorium für Folter- und<br />

Kriegsopfer Bern zu Weiterbildungszwecken<br />

ausgeliehen werden.<br />

Erfahrungsbericht aus der Gruppenpsychotherapie<br />

für traumatisierte Flüchtlingskinder<br />

und -jugendliche<br />

Seit 2004 leiten Mitarbeitende des Ambulatoriums<br />

für Folter- und Kriegsopfer in Bern und<br />

der Kantonalen Erziehungsberatung Bern<br />

gemeinsam Gruppenpsychotherapien für Kinder<br />

und Jugendliche aus Flüchtlingsfamilien.<br />

Kürzlich erschien nun unter dem Titel «Wir<br />

leben weiter. Gruppenpsychotherapie für<br />

traumatisierte Flüchtlingskinder und -jugendliche»<br />

ein Erfahrungsbericht über die ersten<br />

beiden Praxisjahre. Darin werden das Berner<br />

Konzept der Gruppenpsychotherapie, Praxisanleitungen<br />

sowie Ergebnisse der Gruppen-<br />

4


psychotherapie vorgestellt und die Erfahrungen<br />

diskutiert. Verfasst wurde der Bericht von<br />

den Leitenden der Gruppenpsychotherapie<br />

Regula Bienlein, Anna Hirschi, Margrit Moser<br />

und Ueli Zingg. Der 28-seitige Bericht richtet<br />

sich an interessierte Fachpersonen und kann<br />

für SFr. 20.– bezogen werden beim<br />

Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer<br />

Bern (ambulatorium.miges@redcross.ch).<br />

Handbuch zur Psychotherapie mit<br />

Folter- und Kriegsopfern<br />

Zusammen mit Prof. Dr. Ulrich Schnyder gibt<br />

Dr. Thomas Maier, Psychotherapeut und Leiter<br />

des Ambulatoriums für Folter- und Kriegsopfer<br />

in Zürich, die Fachpublikation «Psychotherapie<br />

mit Folter- und Kriegsopfern. Ein<br />

praktisches Handbuch» heraus. Das Buch, zu<br />

dem Norman Sartorius ein Vorwort geschrieben<br />

hat, enthält Beiträge verschiedener Autorinnen<br />

und Autoren zu psychotherapeutischen<br />

Vorgehensweisen bei Folter- und Kriegsopfern.<br />

Weitere Kapitel widmen sich der<br />

Geschichte und Entwicklung der Psychotherapie<br />

mit Folter- und Kriegsopfern, der<br />

spezifischen Psychopathologie, dem Thema<br />

Sprache und Übersetzung, der Transkulturalität<br />

in der Therapie mit Folter- und Kriegsopfern<br />

und dem sekundären traumatischen<br />

Stress bei den Helfenden. Das Handbuch richtet<br />

sich an Fachpersonen, die mit Folter- und<br />

Kriegsopfern arbeiten (PsychiaterInnen,<br />

PsychotherapeutInnen, PsychologInnen, AllgemeinärztInnen,<br />

SozialarbeiterInnen, Pflegende,<br />

BetreuerInnen, Hilfswerkmitarbeitende)<br />

und wird voraussichtlich im Juni 2007<br />

im Hans Huber Verlag erscheinen.<br />

Regula Bättig<br />

Wie erkennt man ein Folteropfer?<br />

Nicht immer ist es einfach zu erkennen, dass<br />

jemand ge<strong>folter</strong>t worden ist. Und entsprechend<br />

schwierig kann es sein, den Nachweis dafür zu<br />

erbringen. Oft muss aber zuerst bewiesen werden,<br />

dass bei einem Menschen Folter angewendet<br />

wurde – z.B. wenn es darum geht, ob<br />

der Person Asyl gewährt wird oder nicht.<br />

Kürzlich erschienen: Erfahrungsbericht über die Gruppenpsychotherapie mit Flüchtlingskindern<br />

und -jugendlichen.<br />

© Natalie Flubacher<br />

Der Uno-Hochkommissar für Menschenrechte<br />

hat 1999 unter dem Titel «Istanbul Protocol»<br />

ein Handbuch für Fachleute herausgegeben.<br />

Dieses schildert detailliert, wie bei der Untersuchung<br />

und Dokumentation von Folter und<br />

anderen grausamen, unmenschlichen oder<br />

erniedrigenden Behandlungen oder Strafen<br />

vorgegangen werden muss. 2004 ist eine<br />

revidierte Ausgabe erschienen (www.ohcr.org/<br />

english/about/publications/docs/8rev1.pdf).<br />

Als Autorin und Koordinatorin beim «Istanbul<br />

Protocol» mitgewirkt hat die frühere Mitarbeiterin<br />

des Departements Migration des SRK<br />

Caroline Schlar. Die Psychologin und Psychotherapeutin<br />

arbeitet heute bei der Consultation<br />

pour victimes de torture et de guerre (ctg). Das<br />

Genfer Ambulatorium behandelt und betreut<br />

Folter- und Kriegsopfer und wird vom SRK<br />

unterstützt.<br />

Heinz Heer<br />

5


Ein Mensch erzählt<br />

Widerstand trotz Festnahme<br />

Eines Tages drang die Polizei ins Kulturzentrum<br />

ein. Ebru Dincer wurde zusammen mit<br />

anderen festgenommen und für drei Tage eingesperrt.<br />

Sie habe im Gefängnis schlechte<br />

Erfahrungen gemacht, erinnert sich die junge<br />

Frau. Es sollten nicht ihre letzten sein. Nach<br />

ihrer Freilassung engagierte sie sich weiter im<br />

Kulturzentrum. Schon bald wurde sie erneut<br />

von der Polizei verhaftet. Dieses Mal für längere<br />

Zeit: Insgesamt fünfeinhalb Jahre sei sie<br />

im Gefängnis gesessen. Doch die harten Bedingungen<br />

ihrer Gefangenschaft hielten Ebru<br />

Dincer nicht ab, sich weiter aufzulehnen und<br />

für ihre Ideale zu kämpfen. Mehrmals beteiligte<br />

sie sich an Hungerstreiks. Ihr letzter<br />

wurde durch eine militärische Operation jäh<br />

beendet.<br />

© SRK<br />

Sie wuchs in der Türkei auf, war begeistert<br />

vom Sozialismus und engagierte sich aktiv<br />

gegen den Kapitalismus. Nicht ohne Folgen.<br />

Die Geschichte von Ebru Dincer, einer<br />

jungen Frau, die trotz schrecklichen Erfahrungen<br />

ihren Lebenswillen und Optimismus<br />

bewahrt hat.<br />

Stark bis zum Letzten<br />

Ebru Dincer erzählt von jenem Tag, an dem sie<br />

zusammen mit anderen gefangenen Frauen<br />

abgeführt und in einen Raum im zweiten Stock<br />

eines Gebäudes gebracht wurde. Was danach<br />

folgte, war schrecklich. Sie erinnert sich nur<br />

bruchstückhaft daran, sucht nach Worten, um<br />

das Unfassbare fassbarer zu machen. Da waren<br />

die Granaten, welche die Polizisten ins<br />

Gebäude warfen und die den Raum mit beissenden<br />

Dämpfen erfüllten. Mit einem Tuch<br />

versuchte sie sich gegen die Giftwolken zu<br />

Zurück ins Leben<br />

Sie war jung, noch keine zwanzig, neugierig<br />

und angetan vom sozialistischen Gedankengut.<br />

Sie wollte sich einsetzen für eine bessere,<br />

gerechtere Welt und engagierte sich in einem<br />

Kulturzentrum in Istanbul, war begeistert von<br />

der Protestmusik und nahm an Demonstrationen<br />

gegen die türkische Regierung teil, die sie<br />

als anti-demokratisches und kapitalistisches<br />

Regime bezeichnet. Ebru Dincer erzählt ruhig<br />

und gefasst. «Es war damals Krieg in Kurdistan.<br />

Viele Menschen wurden ge<strong>folter</strong>t und<br />

getötet. Aber nicht nur dort. Auch in der Türkei<br />

erlitten Menschen Folter und wurden umgebracht.<br />

Ich wollte etwas dagegen machen.»<br />

schützen. Sie beschreibt jenen Moment, als sie<br />

glaubte, ihre Haare und ihr Rücken brennten.<br />

Doch nicht etwa Flammen bereiteten ihr die<br />

grauenvollen Schmerzen, es war die Wirkung<br />

chemischer Kampfstoffe, die Brandwunden<br />

auf ihrem Körper und ihrem Gesicht hinterliessen.<br />

Ebru Dincer erinnert sich aber auch an<br />

den Tanz: Zusammen mit anderen Gefangenen,<br />

die sich wie sie später aus dem verseuchten<br />

Raum retten konnten, hat sie im Hof des<br />

Gebäudes ein Volkslied gesungen und dazu<br />

getanzt, im Kreis, Hand in Hand mit den anderen.<br />

«Die Soldaten, die uns bewachten, staunten<br />

nur noch.»<br />

6


Flucht in die Schweiz<br />

Später wurde Ebru Dincer in ein Spital gebracht.<br />

Die Füsse ans Bett gekettet und rund<br />

um die Uhr von Soldaten bewacht, blieb sie für<br />

zwei Monate in Pflege. Danach wurde sie wieder<br />

in eine Gefängniszelle verlegt. Nach weiteren<br />

drei Monaten erfolgte eines Tages ihre vorläufige<br />

Freilassung. Ebru Dincer beschloss,<br />

vorerst in Istanbul zu bleiben und auf ihren<br />

Prozess zu warten. In dieser Zeit gab sie verschiedenen<br />

Zeitungen und Fernsehanstalten<br />

aus dem In- und Ausland Interviews und berichtete<br />

über die Ereignisse im Gefängnis.<br />

«Ich wollte, dass die Menschen erfahren, was<br />

an jenem Tag wirklich passiert ist. Die Regierung<br />

liess offiziell verlauten, dass wir uns selber<br />

angezündet hätten.» Ebru Dincer greift<br />

nach ihrer Handtasche und nimmt einen Artikel<br />

aus einer türkischen Zeitung hervor. In fetten<br />

Lettern ist ihr Name auf der Titelseite des<br />

Journals zu lesen. Ein Foto zeigt Soldaten in<br />

Kampfuniform und mit Gasmasken. Das sei<br />

aber das einzige, was sie in jener Zeit gemacht<br />

habe: den Medien Interviews geben und dadurch<br />

der Wahrheit zum Durchbruch verhelfen.<br />

Ansonsten lebte Ebru Dincer zurückgezogen<br />

und voller Angst. Dennoch und obwohl ihr<br />

Freunde und ihr Anwalt dazu rieten, wollte sie<br />

nicht weg von Istanbul. «Ich habe gewartet<br />

und gehofft, dass ich nicht verurteilt werde»,<br />

erzählt sie. Irgendwann entschied sie sich doch<br />

zur Flucht. Freunde von ihr waren bereits in<br />

die Schweiz geflüchtet und hatten dort Asyl<br />

erhalten. Sie folgte ihnen.<br />

nicht zerbrochen daran. Ich habe mir gesagt,<br />

ich muss leben und stark sein.» Neben der<br />

Therapie gibt ihr auch ihre Haltung Kraft, der<br />

Glaube an den Sozialismus – und ihr Freund.<br />

Ebru Dincer hat viele Pläne im Kopf, möchte<br />

in ihrem Leben noch vieles erreichen: einen<br />

Roman über die militärische Operation schreiben,<br />

vielleicht studieren und irgendwann eine<br />

Familie gründen. Die Willens- und Schaffenskraft<br />

der heute 29-Jährigen ist beeindruckend.<br />

Ebru Dincer hat zurück ins Leben gefunden.<br />

Regula Bättig<br />

Ihre Spende hilft,<br />

die seelische Not<br />

von Opfern<br />

systematischer<br />

Gewalt zu lindern.<br />

Dafür danken<br />

wir Ihnen.<br />

Das Spendenkonto<br />

PC 70-79907-1<br />

Vermerk:<br />

Ambulatorium für Folterund<br />

Kriegsopfer<br />

Leben? Leben!<br />

Ebru Dincer lebt seit drei Jahren als anerkannter<br />

Flüchtling in der Schweiz. In der ersten<br />

Zeit blieb sie oft zu Hause, wagte sich kaum<br />

unter Menschen. Es ging ihr nicht gut damals,<br />

ihre Vergangenheit holte sie immer wieder ein.<br />

Sie rang mit sich, ihrem Leben, ihrer Zukunft.<br />

«Im Gefängnis versuchte ich mir vorzustellen,<br />

wie es wäre, wenn keine Wände da wären und<br />

ich mich einfach frei bewegen könnte», erzählt<br />

Ebru Dincer. «Jetzt war ich frei, doch ich<br />

wollte nichts mehr.» Durch einen Freund kam<br />

sie schliesslich ins Ambulatorium für Folterund<br />

Kriegsopfer. Die Therapie und Beratungen<br />

hätten ihr geholfen, wieder nach draussen zu<br />

gehen, ihre Lern- und Wissbegierde wieder zu<br />

entdecken und vor allem, sich selber zu akzeptieren,<br />

mit all den Spuren im Gesicht und am<br />

Körper, welche die Folter hinterlassen hat.<br />

«Ich habe viel Furchtbares erlebt, aber ich bin<br />

Eine starke Frau: Ebru Dincer<br />

© SRK<br />

7


Im Gespräch<br />

Wie gehen Fachpersonen mit Belastungen um?<br />

Annelies Jordi und Hasim Sancar erzählen von<br />

ihren Erfahrungen und Strategien.<br />

© SRK<br />

Hasim Sancar (HS): Beim Zuhören komme<br />

ich immer wieder an meine Grenzen. Dann<br />

kann es schwierig werden, die nötige Balance<br />

zwischen Distanz und Nähe aufrechtzuerhalten.<br />

Die Grenze ist klar überschritten, wenn<br />

ich mich auch privat noch in Gedanken mit<br />

dem Fall beschäftige.<br />

AJ: In der Körpertherapie bin ich sehr nah<br />

«dran», die Distanz zum Patienten ist gering.<br />

Da muss ich immer wieder darauf achten,<br />

dass ich keine Symptome übernehme.<br />

“Bei der Arbeit mit Folteropfern<br />

ist alles intensiv –<br />

auch die positiven Gefühle”<br />

8<br />

Annelies Jordi arbeitet als Physio-,<br />

Körper- und Bewegungstherapeutin.<br />

Hasim Sancar ist Fachbereichsleiter<br />

Sozialberatung.<br />

Beide arbeiten im Ambulatorium<br />

für Folter- und Kriegsopfer in<br />

Wabern seit seiner Gründung vor<br />

elf Jahren.<br />

Fachpersonen, die in ihrem Arbeitsalltag<br />

mit Folter- und Kriegsopfern zu tun haben,<br />

werden mit den Erlebnissen der Betroffenen<br />

konfrontiert und müssen sich damit<br />

auseinandersetzen. Doch wie schaffen sie<br />

dies, ohne selber unter den schwierigen<br />

Schicksalen ihrer Patienten zu leiden? Die<br />

afk-Teammitglieder Annelies Jordi und<br />

Hasim Sancar berichten.<br />

Wie sehen die psychologischen Belastungen<br />

aus, denen Sie ausgesetzt sind?<br />

Annelies Jordi (AJ): Mir macht oft die<br />

Atmosphäre zu schaffen, die von einem Patienten<br />

ausgeht. Vor allem wenn ich sein Misstrauen<br />

spüre oder sein Gefühl von Ausweglosigkeit,<br />

seine schwere Müdigkeit. Dann<br />

werde ich selbst müde und fühle mich schwer.<br />

Zu schaffen macht mir auch der Druck von<br />

Patienten, der aus ihrer Unzufriedenheit mit<br />

ihrer schwierigen Situation herrührt.<br />

HS: Auch vor der Gefahr, in Mitleid zu versinken,<br />

muss man sich hüten. Wenn ich z.B. mit<br />

einer Patientin zu tun habe, die Mutter ist, und<br />

sehe, wie wenig die Familie sich leisten kann,<br />

habe ich als Angehöriger der Wohlstandsgesellschaft<br />

leicht ein schlechtes Gewissen.<br />

AJ: Umgekehrt kann es passieren, dass man,<br />

um sich zu schützen, sich zu stark abgrenzt<br />

und gefühllos wird.<br />

HS: Eine besondere Belastung stellt für mich<br />

Misserfolg dar. Wenn ich das Gefühl habe, ich<br />

komme nicht weiter, erreiche das Ziel nicht<br />

oder es dem Klienten chronisch schlecht geht,<br />

können sich Selbstzweifel einstellen. Ich bin<br />

dann plötzlich lust- und energielos.<br />

Herr Sancar, Sie haben selbst Migrationserfahrung.<br />

Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?<br />

HS: Die Erwartung von Migranten an andere<br />

Migranten ist besonders gross. Vor allem wenn<br />

beide die gleiche Sprache sprechen. Wenn die


Erwartungen nicht erfüllt werden, ist die Enttäuschung<br />

umso grösser. Ich riskiere dann,<br />

dass ich das Vertrauen meines Klienten verliere.<br />

Wir haben jetzt von Belastungen gesprochen,<br />

die Sie während und in der Arbeit mit Ihren<br />

Patientinnen oder Klienten erleben. Erfahren<br />

Sie auch Belastungen, die mit dem Team oder<br />

der Institution zusammenhängen?<br />

AJ: Ja, auch solche Belastungen gibt es. Die<br />

Stimmung, die die einzelnen Mitarbeitenden<br />

aus ihrer Arbeit mitnehmen, überträgt sich<br />

aufs Team. Die Reaktionen sind sehr individuell:<br />

Der eine zieht sich zurück, der andere reagiert<br />

heftig und sucht die Konfrontation.<br />

HS: Oder man verhält sich vorsichtig, schont<br />

ein involviertes Teammitglied. Die Dynamik<br />

im Team kann sehr schnell wechseln.<br />

AJ: Hin und wieder gibt es auch Meinungsunterschiede.<br />

Die Diskussion über einen Patienten,<br />

eine Patientin kann das Team spalten.<br />

Wie begegnen Sie der Gefahr eines Burnouts?<br />

HS: Es gibt institutionelle Massnahmen wie<br />

Fallbesprechungen und Supervision, die helfen,<br />

dieser Gefahr vorzubeugen. Zudem finden<br />

Gespräche in kleinen Gruppen der jeweils<br />

in einem Fall involvierten Fachpersonen statt.<br />

Diese Massnahmen geben uns das Gefühl,<br />

dass wir nicht allein gelassen werden. Es tut<br />

zudem gut zu wissen, dass wir eine starke<br />

Institution im Rücken haben, die öffentlichen<br />

Rückhalt geniesst. Misserfolge können so besser<br />

verkraftet werden.<br />

AJ: Es wird im Ambulatorium darauf geachtet,<br />

dass die einzelnen Mitarbeitenden nicht zu<br />

viele Fälle übernehmen müssen. Das finde ich<br />

ganz wichtig. Ich wünschte mir einzig etwas<br />

mehr Ferien. Ich schätze auch sehr, dass wir<br />

über grosszügige Räumlichkeiten verfügen.<br />

Es ist sehr schön, soviel Platz zu haben. Man<br />

kann so auch räumlich Abstand halten; das<br />

wirkt sich psychohygienisch günstig aus.<br />

Und welches sind Ihre persönlichen<br />

Strategien?<br />

AJ: Während meiner Arbeit versuche ich selber<br />

anzuwenden, was ich den Patienten lehre:<br />

darauf achten, dass ich meine Umgebung<br />

bewusst wahrnehme. Nach der Therapiesitzung<br />

bewege ich mich, öffne das Fenster,<br />

wechsle den Ort. Wenn es belastend war, spreche<br />

ich mit jemandem vom Team darüber.<br />

Mich gezielt zu informieren, hilft mir ebenfalls.<br />

Wichtig ist auch der Austausch mit Fachleuten<br />

ausserhalb des Teams und aus anderen<br />

Ländern.<br />

HS: Ich setze in meiner Freizeit bewusst einen<br />

Kontrast. Das Leben in der Familie bringt<br />

mich auf andere Gedanken. Ich bin politisch<br />

aktiv, interessiere mich für Kultur und treibe<br />

Sport. Ich gehe gerne in die Natur und treffe<br />

Freunde.<br />

AJ: Manchmal fühle ich mich ein bisschen<br />

einsam, weil ich kaum mit jemandem über das,<br />

was ich bei der Arbeit erlebe, sprechen kann.<br />

Aber dann sage ich mir, dass ich bei meiner<br />

Tätigkeit auch einen grossen Reichtum<br />

erfahre: Ich komme mit etwas Wesentlichem,<br />

Wichtigem in Berührung.<br />

HS: Wenn es bei der Arbeit nicht gut gelaufen<br />

ist, versuche ich mich bewusst an gute Erfahrungen<br />

und erfolgreiche Interventionen zu<br />

erinnern. Trotz Belastungen ist meine Arbeit<br />

sinnvoll.<br />

AJ: Bei der Arbeit mit Folteropfern ist alles<br />

intensiv: auch die positiven Gefühle. Daraus<br />

schöpfe ich Kraft.<br />

Interview: Heinz Heer<br />

© SRK<br />

9


Hintergrund<br />

Personen, die mit traumatisierten Opfern<br />

von Folter und Krieg arbeiten, sehen sich<br />

dem Risiko ausgesetzt, selbst indirekt traumatisiert<br />

zu werden. Bei der professionellen<br />

Bewältigung der Belastungen hängt viel<br />

vom guten Funktionieren des Teams ab.<br />

«Wie halten Sie das aus, ständig mit diesen<br />

schrecklichen Geschichten konfrontiert zu<br />

sein?» Diese Frage bekommen professionelle<br />

so Conrad Frey, «besteht die Gefahr, dass sie<br />

von den Geschichten und den Gefühlen ihrer<br />

traumatisierten Patienten oder Klienten überwältigt<br />

werden, nicht mehr genügend Abstand<br />

haben und selber Gefahr laufen, traumatisiert<br />

zu werden.» Man spricht in diesem Falle von<br />

sekundärer oder indirekter Traumatisierung.<br />

Noch verstärkt wird dieses Risiko, wenn Helfende<br />

selber traumatisierende Erfahrungen<br />

gemacht haben.<br />

Wie hält man es aus, ständig<br />

mit schrecklichen Geschichten<br />

konfrontiert zu sein?<br />

Helfer und Helferinnen, die mit Folteropfern<br />

arbeiten, oft zu hören. Folter ist ein Thema,<br />

dem die meisten Menschen am liebsten ausweichen<br />

oder mit dem sie sich zumindest nur<br />

kurz befassen möchten: Folter gehört zum<br />

Schrecklichsten, was man sich vorstellen kann,<br />

Folter ist Ausdruck schlimmster menschlicher<br />

Abgründe. Wie ist es, wenn man sich aufgrund<br />

seines Berufs tagtäglich mit diesen Abgründen<br />

beschäftigen muss? Kann man damit umgehen,<br />

ohne selbst an der Seele Schaden zu nehmen?<br />

Angst, Wut, Hass und Trauer, aber auch Liebe<br />

und Freude, wirken ansteckend. «Es ist so, als<br />

wären wir durch unterirdische Wasserläufe<br />

miteinander verbunden. Wer traumatisierten<br />

Menschen hilft, über ihr Leiden hinwegzukommen,<br />

lässt sich auf eine Veränderung seiner<br />

Persönlichkeit ein», erklärt Conrad Frey.<br />

Conrad Frey ist Leiter des Zentrums für<br />

Migration und Gesundheit des SRK und im<br />

dazugehörigen Ambulatorium für Folter- und<br />

Kriegsopfer seit dessen Gründung vor elf Jahren<br />

teilzeitlich als Psychiater und Psychotherapeut<br />

tätig. «Die Veränderung beinhaltet im<br />

positiven Sinne eine persönliche Weiterentwicklung,<br />

tiefere Verbundenheit mit anderen<br />

Menschen und vermehrte Achtsamkeit vielen<br />

Aspekten des Lebens gegenüber.» Dieser<br />

gleichsam schönen Seite des Helfens steht<br />

eine problematische Seite gegenüber. Die<br />

Konfrontation mit völlig fremden, «unbegreiflichen»<br />

Erfahrungen von Folteropfern kann<br />

bei Helfenden Gefühle von Ohnmacht, Wut<br />

und Sinnlosigkeit auslösen. «Für Helfende»,<br />

Die Helfenden arbeiten in einem<br />

schwierigen gesellschaftlichen Umfeld<br />

Es ist aber nicht nur die unmittelbare Arbeit<br />

mit Folter- und Kriegsopfern, die für Helfende<br />

zu einer schweren Belastung werden kann.<br />

Ärztinnen, Therapeuten, Sozialarbeiterinnen<br />

und andere Helfende, die in diesem Bereich<br />

arbeiten, nehmen sich oft als isoliert wahr. Sie<br />

können ihre Erfahrungen und damit verbundenen<br />

Gefühle kaum mit anderen Menschen<br />

teilen. Zudem wirken sie in einem Kontext –<br />

Asyl und Migration –, der emotional aufgeladen<br />

und gesellschaftlichen Spannungen ausgesetzt<br />

ist. Wer sich intensiv für Opfer von Menschenrechtsverletzungen<br />

und Vertreibung einsetzt,<br />

wird leicht in eine bestimmte Ecke<br />

gedrängt.<br />

Auch die ungünstigen äusseren Rahmenbedingungen<br />

– gesetzliche Barrieren und bürokratische<br />

Hemmnisse – stellen für Helfende eine<br />

oft zermürbende Belastung dar.<br />

Die zahlreichen und vielfältigen Schwierigkeiten,<br />

denen sich professionelle Helfende bei<br />

ihrer Arbeit gegenüber sehen, können dazu<br />

führen, dass bei ihnen ein Gefühl der Leere<br />

entsteht – ein deutliches Zeichen emotionaler<br />

Erschöpfung bzw. eines Burnouts. Die emotionale<br />

Erschöpfung drückt sich individuell<br />

unterschiedlich aus – etwa in Form von Traurigkeit,<br />

Depressionen, Schuldgefühlen, Zweifel<br />

an der beruflichen Befähigung, Gleichgültigkeit<br />

oder Aggressivität gegenüber Patienten<br />

und Teamangehörigen.<br />

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Schutz vor Burnout<br />

«Die sekundäre Traumatisierung sowie die allgemeine<br />

emotionale Erschöpfung sind hohe<br />

berufliche Risiken bei der multiprofessionellen<br />

Behandlung von ge<strong>folter</strong>ten und kriegstraumatisierten<br />

Flüchtlingen», sagt Conrad<br />

Frey und zitiert eine Studie, derzufolge mindestens<br />

ein Drittel der Helfenden entsprechende<br />

Symptome zeigen. Die Studie belegt ausserdem,<br />

dass mehr als die Hälfte nur eine geringe<br />

emotionale Befriedigung bei der Arbeit<br />

erfährt.<br />

Wie können sich die Helfenden vor den beschriebenen<br />

Risiken schützen? Wichtig sei die<br />

fachliche und emotionale gegenseitige Unterstützung<br />

der Teamangehörigen, betont Conrad<br />

Frey. Diese fördere nicht nur den Behandlungserfolg,<br />

sondern wirke als vorbeugende<br />

Massnahme zur Verhinderung einer sekundären<br />

Traumatisierung und eines Burnouts.<br />

«Bewährt hat sich eine Durchmischung von<br />

erfahrenen älteren mit jüngeren Mitarbeitenden,<br />

ebenso die Integration von Fachpersonal<br />

mit eigenem Migrationshintergrund.»<br />

Ausreichende Berufserfahrung und fachliche<br />

Weiterbildung, regelmässige Inter- und Supervision<br />

sowie sinnstiftende, entspannende und<br />

kreative Ausgleichstätigkeiten seien ebenfalls<br />

von grosser Bedeutung, sagt Conrad Frey.<br />

«Aber auch geeignete organisatorische Massnahmen<br />

und eine gute Teamführung, die mithelfen,<br />

die komplexen Aufgaben und Anforderungen<br />

zu versachlichen und die Arbeitsbelastungen<br />

der einzelnen Mitarbeitenden zu reduzieren,<br />

sind geeignet, den Stress von Helfenden<br />

zu reduzieren.»<br />

Heinz Heer<br />

Die gegenseitige fachliche und emotionale Unterstützung im Team schützt vor beruflichen Risiken<br />

wie Burnout.<br />

© SRK<br />

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