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Birgit Bauer Der Objektivitätsbegriff in der feministischen Debatte um die Naturwissenschaften Philosophisches Seminar Universität Hamburg Erstgutachter: Prof. Dr. Werner Diederich Zweitgutachterin: Prof. Dr. Marianne Pieper 3. Juli 2000

Birgit Bauer<br />

<strong>Der</strong> <strong>Objektivitätsbegriff</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

fem<strong>in</strong>istischen <strong>Debatte</strong><br />

<strong>um</strong> <strong>die</strong><br />

Naturwissenschaften<br />

Philosophisches Sem<strong>in</strong>ar<br />

Universität Hamburg<br />

Erstgutachter: Prof. Dr. Werner Die<strong>der</strong>ich<br />

Zweitgutachter<strong>in</strong>: Prof. Dr. Marianne Pieper<br />

3. Juli 2000


Inhaltsverzeichnis<br />

E<strong>in</strong>leitung 1<br />

Gibt es e<strong>in</strong>e explizit fem<strong>in</strong>istische Erkenntnistheorie? 2<br />

Fem<strong>in</strong>ismus und Objektivität 3<br />

Objektivität als gesellschaftlich ausgehandeltes<br />

Wissen bei Helen Long<strong>in</strong>o 4<br />

Deskription und Präskription bei <strong>der</strong> Analyse von Methodologien 5<br />

Die Rolle von H<strong>in</strong>tergrundannahmen bei <strong>der</strong> Beweisführung 7<br />

Das Verhältnis von Werten und Objektivität<br />

im Lichte gesellschaftlicher Verhältnisse 9<br />

Kontextuelle Werte und Naturwissenschaft 14<br />

<strong>Der</strong> Gegenstand <strong>der</strong> Untersuchung 14<br />

Erklärungsmodelle als Beispiel für H<strong>in</strong>tergrundannahmen 16<br />

Die offensive Integration kontextueller Werte <strong>in</strong> <strong>die</strong> Wissenschaften:<br />

Long<strong>in</strong>os Konzept des Kontextualismus 17<br />

Ideologie als notwendiger Bestandteil von Naturwissenschaft 18<br />

Das problematische Verhältnis von Wissen und Erfahrung 20<br />

Objektivität als gesellschaftliches Wissen 21<br />

Sandra Hard<strong>in</strong>gs Konzept e<strong>in</strong>er „Starken Objektivität“:<br />

Die systematische Untersuchung gesellschaftlicher Werte als<br />

Teil <strong>der</strong> Naturwissenschaften 21<br />

Das Verhältnis von Fem<strong>in</strong>ismus und Naturwissenschaften 21<br />

Wissenschaft als gesellschaftliche Praxis 23<br />

Fem<strong>in</strong>istische Erkenntnistheorien 24<br />

Das schwache Objektivitätskonzept des Objektivismus 27<br />

Starke Objektivität und Reflexivität 29<br />

S<strong>in</strong>d Standpunkttheorien ethnozentristisch? 30<br />

Z<strong>um</strong> Subjekt des Wissens 31<br />

Das schwierige Verhältnis von Wissen und Erfahrung <strong>in</strong> den<br />

Standpunkttheorien: Hard<strong>in</strong>gs Neuerf<strong>in</strong>den unserer Selbst als An<strong>der</strong>e 32<br />

Was ist fem<strong>in</strong>istische Wissenschaft? 34<br />

Partialität als Voraussetzung für Objektivität –<br />

Donna Haraways Konzept „Situierter Wissen“ 36<br />

Z<strong>um</strong> Wissenschaftsverständnis:<br />

Naturwissenschaft als westlicher Mythos 37<br />

Objektivität als Situierte Wissen 37<br />

Das Subjekt des Wissens 40<br />

Objekte als AkteurInnen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wissensproduktion 42<br />

„Natur“ als verschlüsselt reden<strong>der</strong> Trickster 46<br />

Primatologie ist Politik mit an<strong>der</strong>en Mitteln 48<br />

Wissenschaft als fem<strong>in</strong>istische Politik 50<br />

Aff<strong>in</strong>itäten statt Identitäten als Basis politischen Handelns 51<br />

Lieber Cyborg als Gött<strong>in</strong> – Haraways Plädoyer für Unabgeschlossenheit 53<br />

Fem<strong>in</strong>istische Naturwissenschaften? 54<br />

Literaturverzeichnis 66


E<strong>in</strong>leitung<br />

Die fem<strong>in</strong>istische Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit den Naturwissenschaften begann mit <strong>der</strong><br />

Frage nach dem Verhältnis von Frauen und Naturwissenschaften. Dabei g<strong>in</strong>g es<br />

zunächst dar<strong>um</strong>, den Anteil von Frauen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte und Gegenwart von<br />

Naturwissenschaften und ihre strukturelle Benachteiligung <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen zu beleuchten. 1<br />

Diese Beschäftigung mit <strong>der</strong> verme<strong>in</strong>tlich re<strong>in</strong> praktischen Frage <strong>der</strong> Benachteiligung<br />

von Frauen <strong>in</strong> den Wissenschaften wirft bereits e<strong>in</strong>e grundlegende theoretische Frage<br />

auf: Wie lässt sich <strong>der</strong> Anspruch <strong>der</strong> westlichen Wissenschaften auf Universalismus<br />

angesichts <strong>der</strong> erwiesenen Diskrim<strong>in</strong>ierung von Frauen <strong>in</strong> den Wissenschaften<br />

halten? So weist Sandra Hard<strong>in</strong>g darauf h<strong>in</strong>, dass e<strong>in</strong>e fem<strong>in</strong>istische Perspektive<br />

bereits an den Grundmauern <strong>der</strong> Wissenschaften rüttelt, bevor sie sich überhaupt auf<br />

e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche o<strong>der</strong> wissenschaftsphilosophische Ebene begibt. 2<br />

E<strong>in</strong> weiterer zentraler Themenkomplex <strong>der</strong> Analyse <strong>der</strong> westlichen<br />

Naturwissenschaften ist <strong>die</strong> Kritik an sexistischem und androzentrischem 3<br />

Missbrauch von Wissenschaften und Technologien. Hier zeigt sich, dass<br />

Wissenschaft und Gesellschaft untrennbar verbunden s<strong>in</strong>d, und daher spiegelt <strong>die</strong><br />

Wissenschaft auch gesellschaftliche Privilegien und Diskrim<strong>in</strong>ierungen wi<strong>der</strong>. Denn<br />

soziale Wünsche werden als technologische Bedürfnisse def<strong>in</strong>iert und <strong>in</strong>itiieren so<br />

Forschung. Gleichsam schaffen <strong>die</strong> Wissenschaften Informationen, <strong>die</strong> benutzt<br />

werden, <strong>um</strong> Technologien und Anwendungen zu produzieren, <strong>die</strong> nicht moralisch<br />

und politisch neutral s<strong>in</strong>d. Daraus folgt, dass es e<strong>in</strong>e „re<strong>in</strong>e Wissenschaft“ nicht<br />

geben kann.<br />

Die fem<strong>in</strong>istische Forschung konnte nachweisen, dass androzentrische Verzerrungen<br />

auf je<strong>der</strong> Stufe <strong>in</strong> den Forschungsprozess E<strong>in</strong>gang f<strong>in</strong>den können. Daher ersche<strong>in</strong>t<br />

<strong>die</strong> Unterscheidung zwischen dem „Kontext <strong>der</strong> Entdeckung“ und dem „Kontext <strong>der</strong><br />

Rechtfertigung“ nicht haltbar. Was überhaupt als Fragestellung o<strong>der</strong> zu<br />

1 <strong>Der</strong> Beitrag, den Frauen zur Entwicklung <strong>der</strong> Naturwissenschaften geleistet haben, erschöpft sich<br />

nicht nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Arbeit <strong>der</strong> wenigen Frauen, <strong>die</strong> es geschafft haben, trotz aller H<strong>in</strong><strong>der</strong>nisse e<strong>in</strong>e<br />

wissenschaftliche Karierre zu verfolgen, son<strong>der</strong>n besteht auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> aus hegemonialer Sicht z<strong>um</strong>eist<br />

unsichtbaren Arbeit, <strong>die</strong> sie als Mütter, Ehefrauen, Dienstmädchen o<strong>der</strong> Hilfsarbeiter<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> Labors<br />

geleistet haben. Ohne <strong>die</strong>se Arbeit von Frauen hätten <strong>die</strong> männlichen Wissenschaftler ihre Aktivitäten<br />

so nicht ausführen können.<br />

2 Vgl. den Abschnitt zu Fem<strong>in</strong>istischem Empirismus bei Hard<strong>in</strong>g <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Arbeit.<br />

3 Ich verwende <strong>die</strong> Begriffe <strong>in</strong> folgendem S<strong>in</strong>ne: Sexismus zeichnet sich durch <strong>die</strong> direkte Abwertung<br />

von Frauen o<strong>der</strong> „Weiblichem“ aus, Androzentrismus zeichnet sich durch e<strong>in</strong>e solche Fokussierung<br />

auf Männer o<strong>der</strong> „das Männliche“ aus, dass Frauen o<strong>der</strong> „das Weibliche“ dadurch praktisch<br />

unsichtbar und somit <strong>in</strong>direkt abgewertet werden.


eforschendes Problem gilt, hängt mit den Zwecken zusammen, für <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Forschung betrieben wird, o<strong>der</strong> z<strong>um</strong><strong>in</strong>dest damit, wofür sie bezahlt wird.<br />

Die Wissenschaften produzieren nicht nur Informationen, son<strong>der</strong>n auch immer<br />

Bedeutungen von <strong>der</strong> „Natur“ 4 und den eigenen wissenschaftlichen Aktivitäten.<br />

Metaphern spielen dabei e<strong>in</strong>e wichtige Rolle, z.B. <strong>die</strong> mechanistischen, aber auch<br />

sexuelle Metaphern wie bei Francis Bacon. 5 Maskul<strong>in</strong>e Stereotypen haben den<br />

Effekt, dass Wissenschaftler(Innen) bestimmte Aspekte <strong>der</strong> „Natur“ nicht mehr<br />

wahrnehmen können, beispielsweise nicht-hierarchische Strukturen. Durch<br />

Metaphorik können abstrakte Gedanken, <strong>die</strong> sich überhaupt nicht auf Menschen<br />

beziehen, sexistisch o<strong>der</strong> androzentrisch gefärbt se<strong>in</strong>. Somit ist abstraktes Denken<br />

nicht ganz so abstrakt wie angenommen werden könnte.<br />

Versuche, Frauen <strong>in</strong> den Wissenschaftsbetrieb zu <strong>in</strong>tegrieren, haben also dazu<br />

geführt, dass weitreichende Fragestellungen aufgeworfen wurden.<br />

Gibt es e<strong>in</strong>e explizit fem<strong>in</strong>istische Erkenntnistheorie ?<br />

Seit den 1970er Jahren s<strong>in</strong>d daher e<strong>in</strong>e Reihe fem<strong>in</strong>istischer Theorien über Wissen<br />

entwickelt worden. E<strong>in</strong> Ergebnis <strong>die</strong>ser Bemühungen war <strong>die</strong> Erkenntnis, dass <strong>die</strong><br />

Konzepte von „Frau“ und „Wissen“ (im S<strong>in</strong>ne von gesellschaftlich legitimiertem<br />

Wissen) <strong>in</strong> den mo<strong>der</strong>nen westlichen Gesellschaften als Gegensatz konstruiert<br />

worden waren. Diese Tatsache führte zu Brüchen mit präfem<strong>in</strong>istischen Ansätzen zur<br />

Epistemologie. Allerd<strong>in</strong>gs ist <strong>der</strong> Versuch <strong>der</strong> Entwicklung e<strong>in</strong>er spezifisch<br />

fem<strong>in</strong>istischen Erkenntnistheorie – wie je<strong>der</strong> Versuch <strong>der</strong> Entwicklung von neuen<br />

theoretischen Ansätzen – ebenso durch Kont<strong>in</strong>uitäten wie Brüche mit bereits<br />

existierenden Theorien gekennzeichnet.<br />

Kann es e<strong>in</strong>e fem<strong>in</strong>istische Erkenntnistheorie geben o<strong>der</strong> s<strong>in</strong>d fem<strong>in</strong>istische Theorien<br />

auf Fel<strong>der</strong> wie Psychologie und Soziologie beschränkt? Sicherlich nicht, denn <strong>die</strong><br />

Fragen, <strong>die</strong> <strong>der</strong> Fem<strong>in</strong>ismus aufwirft, s<strong>in</strong>d tatsächlich epistemologischer Art: Wer<br />

kann Subjekt von gesellschaftlich legitimiertem Wissen se<strong>in</strong>? Wie ist <strong>die</strong><br />

Beschaffenheit <strong>der</strong> Objekte des naturwissenschaftlichen Wissens aufzufassen? Wie<br />

hängen naturwissenschaftliche Theorien mit dem gesellschaftlichen Kontext<br />

4 Hierzu ist zu bemerken, dass <strong>der</strong> Gegenstand <strong>der</strong> Naturwissenschaften sich nicht <strong>in</strong> Bestandteilen <strong>der</strong><br />

„natürlichen“ Welt erschöpft, son<strong>der</strong>n auch technologisch erzeugte, also „künstliche“ Entitäten<br />

<strong>um</strong>fasst. Darüber h<strong>in</strong>aus ist „Natur“ als e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Abgrenzung zu „Kultur“ konstruierte Kategorie zu<br />

verstehen und kann daher nur relational und vorläufig def<strong>in</strong>iert werden. Vgl. hierzu auch den<br />

Abschnitt zu Donna Haraway <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Arbeit.<br />

5 Vgl. Evelyn Fox Keller: Liebe, Macht und Erkenntnis – Männliche o<strong>der</strong> weibliche Wissenschaft?,<br />

Fischer, Frankfurt/Ma<strong>in</strong>, 1998, bes. S. 43-53.


zusammen? Was ist das Wesen von Objektivität? Diese Fragestellungen sollen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

vorliegenden Arbeit aus fem<strong>in</strong>istischer Sicht beleuchtet werden.<br />

Fem<strong>in</strong>ismus und Objektivität<br />

Die drei hier behandelten Theoretiker<strong>in</strong>nen Helen Long<strong>in</strong>o, Sandra Hard<strong>in</strong>g und<br />

Donna Haraway s<strong>in</strong>d sich dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ig, dass <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Objektivität von se<strong>in</strong>er<br />

sexistischen und generell herrschaftsstabilisierenden Geschichte getrennt werden<br />

kann und sollte. Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen können es sich nicht leisten, das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong><br />

Objektivität ersatzlos zu verwerfen, dafür ist <strong>die</strong>ses Konzept <strong>in</strong> den<br />

Naturwissenschaften zu mächtig. Darüber h<strong>in</strong>aus kann das Berufen auf Objektivität<br />

nicht nur zwischen fem<strong>in</strong>istischen und präfem<strong>in</strong>istischen Wissenschaften, son<strong>der</strong>n<br />

auch zwischen verschiedenen fem<strong>in</strong>istischen Positionen als Instanz gelten. Diese<br />

pragmatisch orientierte Haltung gegenüber dem Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Objektivität und den<br />

Naturwissenschaften ist unter Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen ke<strong>in</strong>esfalls immer Konsens gewesen,<br />

son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> <strong>Debatte</strong> war oft durch e<strong>in</strong>e pauschale Technikfe<strong>in</strong>dlichkeit bestimmt.<br />

Weil Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> wertneutralen Objektivität als e<strong>in</strong>e ideologische<br />

Stütze <strong>der</strong> frauenfe<strong>in</strong>dlichen Naturwissenschaften und Technik entlarvten, wurde<br />

jeglicher positiver Bezug auf Objektivität abgelehnt. TheoretikerInnen wie Haraway,<br />

Hard<strong>in</strong>g und Long<strong>in</strong>o versuchen <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Kontext, differenziertere Positionen zu<br />

Naturwissenschaft und Objektivität zu entwickeln, vor allem auch Positionen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong><br />

politisches E<strong>in</strong>greifen und Verän<strong>der</strong>n <strong>der</strong> bestehenden Naturwissenschaften und<br />

somit auch gesamtgesellschaftlich relevanter Prozesse ermöglichen. Daher möchte<br />

ich <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Arbeit ihre Vorschläge für alternative, fem<strong>in</strong>istische Konzepte von<br />

Objektivität vorstellen und auf ihre Tauglichkeit für <strong>die</strong> naturwissenschaftliche<br />

Praxis h<strong>in</strong> untersuchen. Me<strong>in</strong>e leitende Frage lautet also, wie Fem<strong>in</strong>ismen <strong>die</strong><br />

Naturwissenschaften verän<strong>der</strong>n können. 6<br />

Obwohl ich zu dem Schluss kommen werde, dass Long<strong>in</strong>o und Hard<strong>in</strong>g zur<br />

Beantwortung <strong>die</strong>ser Frage wenig Anhaltspunkte beitragen können, möchte ich<br />

dennoch zur stärkeren Rezeption <strong>die</strong>ser beiden Theoretiker<strong>in</strong>nen beitragen. Denn<br />

Long<strong>in</strong>o liefert e<strong>in</strong>e grundlegende Analyse <strong>der</strong> Prozesse naturwissenschaftlicher<br />

Beweisführung und stellt den gesellschaftlichen Charakter <strong>der</strong> Naturwissenschaft als<br />

Praxis heraus. Hard<strong>in</strong>g entwickelt <strong>die</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> fem<strong>in</strong>istischen <strong>Debatte</strong> <strong>um</strong> <strong>die</strong><br />

6 Mit <strong>der</strong> Frage, ob <strong>der</strong> Fem<strong>in</strong>ismus <strong>die</strong> Wissenschaften bereits verän<strong>der</strong>t hat, befasst sich <strong>die</strong><br />

Wissenschaftshistoriker<strong>in</strong> Londa Schieb<strong>in</strong>ger <strong>in</strong> ihrem Buch „Has Fem<strong>in</strong>ism Changed Science?“,<br />

Harvard University Press, Cambridge und London, 1999.


Naturwissenschaften so bedeutenden fem<strong>in</strong>istischen Standpunkttheorien weiter.<br />

Haraway schließlich entwickelt e<strong>in</strong>e eigene Variante naturwissenschaftlicher<br />

Objektivität unter E<strong>in</strong>bezug postmo<strong>der</strong>ner Theorien.<br />

Objektivität als gesellschaftlich ausgehandeltes Wissen bei Helen<br />

Long<strong>in</strong>o<br />

Die Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftssoziologie haben den E<strong>in</strong>fluss von<br />

gesellschaftlichen und politischen Interessen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Herstellung wissenschaftlichen<br />

Wissens nachweisen können. Die Wissenschaftsphilosophie dagegen hat bisher ka<strong>um</strong><br />

<strong>die</strong> Beziehungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft unter <strong>die</strong>ser Prämisse<br />

analysiert. Die US-amerikanische Philosophieprofessor<strong>in</strong> Helen Long<strong>in</strong>o fragt daher<br />

<strong>in</strong> ihrer Arbeit „Science as Social Knowledge – Values and Objectivity <strong>in</strong> Scientific<br />

Inquiry“ 7 : „How should these demonstrations and allegations of the <strong>in</strong>teraction of<br />

science and social values affect our conception of scientific knowledge?“ 8 Long<strong>in</strong>o<br />

zeigt, wie gesellschaftliche Werte e<strong>in</strong>e Rolle <strong>in</strong> naturwissenschaftlicher Forschung<br />

spielen. Dazu analysiert sie Aspekte <strong>der</strong> naturwissenschaftlichen Beweisführung.<br />

Long<strong>in</strong>o unterscheidet zwischen konstitutiven und kontextuellen Werten:<br />

Konstitutive Werte s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>jenigen Werte, <strong>die</strong> aufgrund e<strong>in</strong>es bestimmten<br />

Verständnisses <strong>der</strong> Ziele <strong>der</strong> Wissenschaft entstehen. Sie stellen <strong>die</strong> Regeln bereit,<br />

<strong>die</strong> bestimmen, was als akzeptable wissenschaftliche Praxis o<strong>der</strong> Methode gilt.<br />

Kontextuelle Werte dagegen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>dividuelle, gesellschaftliche, kulturelle Werte.<br />

Sie gehören zur gesellschaftlichen und kulturellen Umgebung, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wissenschaft<br />

ausgeübt wird. Long<strong>in</strong>o h<strong>in</strong>terfragt zugleich, ob <strong>die</strong>se Unterscheidung s<strong>in</strong>nvoll ist.<br />

Sie formuliert <strong>die</strong>se Problematik durch zwei Fragen: In welchem Ausmaß formen<br />

wissenschaftliche Theorien unsere moralischen und gesellschaftlichen<br />

Wertvorstellungen o<strong>der</strong> sollten sie <strong>die</strong>se formen? In welchem Ausmaß formen<br />

gesellschaftliche und moralische Werte wissenschaftliche Theorien?<br />

Long<strong>in</strong>o vertritt <strong>die</strong> These, dass <strong>die</strong> Entwicklung von Wissen notwendigerweise e<strong>in</strong>e<br />

gesellschaftliche und nicht lediglich e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelle Aktivität ist. Weiter versucht<br />

sie nachzuweisen, dass <strong>der</strong> gesellschaftliche Charakter des wissenschaftlichen<br />

7 Helen E. Long<strong>in</strong>o: Science as Social Knowledge, Pr<strong>in</strong>ceton University Press, Pr<strong>in</strong>ceton, 1990.<br />

8 Long<strong>in</strong>o: Science as Social Knowledge, S. 3.


Wissens es zugleich vor gesellschaftlichen und politischen Interessen und Werten<br />

beschützen kann und für ihren E<strong>in</strong>fluss anfällig macht.<br />

Long<strong>in</strong>o untersucht das dynamische Zusammenspiel von wissenschaftlichen<br />

Untersuchungen sowie ihren historischen, gesellschaftlichen und politischen<br />

Kontexten. Long<strong>in</strong>o betrachtet wissenschaftliche Untersuchungen als e<strong>in</strong>e<br />

gesellschaftlich komplexe Forschungspraxis, <strong>die</strong> aus vielen verschiedenen<br />

Aktivitäten besteht, <strong>die</strong> von vielen verschiedenen Personen ausgeführt werden.<br />

Im Gegensatz zu e<strong>in</strong>igen Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen, <strong>die</strong> sich selbst nicht als Vertreter<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>es<br />

fem<strong>in</strong>istischen Empirismus verstehen würden, aber von Hard<strong>in</strong>g unter <strong>die</strong>ser<br />

Kategorie zusammengefasst werden, bezeichnet Long<strong>in</strong>o sich selbst explizit als<br />

fem<strong>in</strong>istische Empirist<strong>in</strong>. Ihre Form bewussten fem<strong>in</strong>istischen Empirismus‘ darf<br />

daher nicht mit <strong>der</strong> Def<strong>in</strong>ition von Hard<strong>in</strong>g verwechselt werden. 9<br />

Deskription und Präskription bei <strong>der</strong> Analyse von Methodologien<br />

E<strong>in</strong>e Methodologie beschreibt und analysiert Methoden, <strong>um</strong> e<strong>in</strong> bestimmtes Ziel zu<br />

erreichen. Long<strong>in</strong>o weist auf <strong>die</strong> Zweideutigkeit h<strong>in</strong>sichtlich Präskription und<br />

Deskription h<strong>in</strong>, <strong>die</strong> sich <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Def<strong>in</strong>ition versteckt. Die meisten<br />

WissenschaftsphilosophInnen hätten sich an e<strong>in</strong>er Verwischung <strong>der</strong> Grenzen<br />

zwischen beiden Kategorien beteiligt. Auch <strong>um</strong> <strong>die</strong> <strong>Debatte</strong> zwischen Positivismus<br />

und Wholismus richtig zu verstehen, sei <strong>die</strong> Unterscheidung zwischen Deskription<br />

und Präskription grundlegend: <strong>Der</strong> Streit <strong>um</strong> Positivismus und Wholismus handelte<br />

Long<strong>in</strong>o zufolge weniger von Konzepten wissenschaftlichen Wissens, son<strong>der</strong>n<br />

tatsächlich von den Beziehungen, <strong>die</strong> historisch aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong>folgende Theorien auf<br />

demselben Gebiet zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> haben, bzw. thematisierte <strong>die</strong> Frage, wie<br />

wissenschaftliche Verän<strong>der</strong>ung stattf<strong>in</strong>det.<br />

<strong>Der</strong> logische Positivismus vertritt e<strong>in</strong>e Form von Empirismus, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wissen etwas<br />

ist, dessen Inhalt wahr ist und das aus bekannten experimentellen (beobachteten o<strong>der</strong><br />

theoretisch erwiesenen) Aussagen regelhaft abgeleitet wird. E<strong>in</strong>e wichtige Annahme<br />

<strong>der</strong> PositivistInnen ist dabei, dass sie nicht nur <strong>die</strong> korrekten Methoden vorschreiben,<br />

son<strong>der</strong>n auch beschreiben, wie Wissenschaft ausgeübt wird. <strong>Der</strong> Positivismus vertritt<br />

9 Vergleiche den Abschnitt zu Fem<strong>in</strong>istischem Empirismus nach Hard<strong>in</strong>g <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Arbeit. Hard<strong>in</strong>g<br />

unterscheidet daher <strong>in</strong> späteren Schriften zwischen e<strong>in</strong>em ursprünglichen „spontanen“ und e<strong>in</strong>em<br />

später entstandenen philosophischen fem<strong>in</strong>istischen Empirismus. Long<strong>in</strong>o ist letzterem zuzuordnen.<br />

Vgl. hierzu Sandra Hard<strong>in</strong>gs Aufsatz „Reth<strong>in</strong>k<strong>in</strong>g Standpo<strong>in</strong>t Epistemology: ‚What Is Strong<br />

Objectivity‘?“ <strong>in</strong> L<strong>in</strong>da Alcoff und Elizabeth Potter (Hg.): Fem<strong>in</strong>ist Epistemologies, Routledge, New<br />

York und London, 1993, S. 51.


e<strong>in</strong> akk<strong>um</strong>ulatives Modell h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Wissenschaftsgeschichte: Aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

folgende Theorien <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gebiet unterscheiden sich lediglich dar<strong>in</strong>, dass sie e<strong>in</strong><br />

breiteres Spektr<strong>um</strong> von Phänomenen berücksichtigen. Sie s<strong>in</strong>d konsistent mit<br />

früheren Theorien, <strong>die</strong> sich auf <strong>die</strong>selben Daten beziehen. 10<br />

Die Wissenschaftsgeschichte zeigt aber wie<strong>der</strong>holt, dass offensichtlich <strong>in</strong>konsistente<br />

Theorien nichtsdestotrotz adäquat von den Daten untermauert zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>en, <strong>die</strong><br />

sie erklären wollen. Daraus folgt, dass das akk<strong>um</strong>ulative Modell wissenschaftlichen<br />

Wachst<strong>um</strong>s wissenschaftliche Verän<strong>der</strong>ungen nicht angemessen erklären kann. Die<br />

Kritik des Wholismus am Positivismus konzentriert sich daher auf <strong>die</strong><br />

Charakterisierung dessen, was <strong>der</strong> Positivismus als Beweis ausgibt. Die<br />

positivistische Annahme von <strong>der</strong> Unabhängigkeit experimenteller Beobachtung von<br />

<strong>der</strong> Theoriebildung wird vom Wholismus zurückgewiesen. Stattdessen postulieren<br />

<strong>die</strong> WholistInnen <strong>die</strong> Theorielastigkeit jeglicher Beobachtung und <strong>die</strong><br />

Inkommensurabilität von Theorien. Die Theorielastigkeit besagt, dass <strong>die</strong> Elemente<br />

e<strong>in</strong>er Theorie, <strong>in</strong>klusive <strong>der</strong> sie stützenden Daten, nur im Gesamtkontext verstanden<br />

werden können (daher <strong>die</strong> Bezeichnung Wholismus). Die Konsequenz <strong>der</strong><br />

Theorielastigkeit ist <strong>die</strong> Inkommensurabilität: zwei o<strong>der</strong> mehr konkurrierende<br />

Theorien, <strong>die</strong> sich auf <strong>die</strong>selben Phänomene beziehen, können <strong>in</strong> Bezug auf <strong>die</strong><br />

„Fakten“ nicht so mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verglichen werden, dass wir über ihre Wahrheit<br />

entscheiden könnten. Weil Beobachtung und Bedeutung theoriegeleitet s<strong>in</strong>d, gibt es<br />

e<strong>in</strong>erseits ke<strong>in</strong>e neutrale o<strong>der</strong> unabhängige Sammlung von Daten, <strong>die</strong> als<br />

Bezugspunkt für beide Theorien gelten kann. An<strong>der</strong>erseits werden Theorien auf e<strong>in</strong>e<br />

Weise formuliert, dass <strong>die</strong> jeweils verwendeten Sprachen nicht <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

übersetzbar s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>e Theorie wird demnach nicht aufgrund rationaler<br />

Überlegungen akzeptiert o<strong>der</strong> abgelehnt, son<strong>der</strong>n wird zu e<strong>in</strong>er Glaubensfrage. Die<br />

WholistInnen zeigen somit, dass <strong>die</strong> Präskriptionen <strong>der</strong> PositivistInnen nicht als<br />

Deskriptionen <strong>der</strong> wissenschaftlichen Praxis fungieren können. Daraus folgt<br />

allerd<strong>in</strong>gs nicht zw<strong>in</strong>gend, dass <strong>die</strong>se Präskriptionen nicht dennoch <strong>die</strong> besten<br />

Methoden darstellen können, <strong>um</strong> bestimmte Ziele wissenschaftlicher Praxis zu<br />

erreichen. 11<br />

Long<strong>in</strong>o grenzt sich von Positivismus und Wholismus ab und entwickelt e<strong>in</strong>e eigene<br />

Analyse des E<strong>in</strong>flusses von gesellschaftlichen und <strong>in</strong>dividuellen Werten auf <strong>die</strong><br />

Produktion naturwissenschaftlichen Wissens.<br />

10 Vgl. Carl Gustav Hempel: Aspekte wissenschaftlicher Erklärung, Berl<strong>in</strong> 1977.<br />

11 Vgl. Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/Ma<strong>in</strong>, 1967


Die Rolle von H<strong>in</strong>tergrundannahmen bei <strong>der</strong> Beweisführung<br />

Long<strong>in</strong>o untersucht <strong>die</strong> Akzeptanz von Hypothesen, <strong>in</strong>dem sie sich mit <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong><br />

Folgerung beschäftigt, also mit <strong>der</strong> <strong>in</strong>tellektuellen Praxis <strong>der</strong> Urteilskraft. Urteilskraft<br />

me<strong>in</strong>t hier e<strong>in</strong>e Bestimmung <strong>der</strong> logischen Beziehungen, <strong>die</strong> zwischen Gruppen von<br />

Aussagen bestehen. Das Resultat kann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Urteil o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Enthaltung von<br />

e<strong>in</strong>em Urteil bestehen. <strong>Der</strong> Beweis und <strong>die</strong> Beziehungen zwischen Beweisen stehen<br />

im Mittelpunkt <strong>der</strong> Schlussfolgerung und <strong>der</strong> Urteilskraft über empirisches Material.<br />

Long<strong>in</strong>o fragt, was es bedeutet, wenn wir sagen, dass e<strong>in</strong> realer o<strong>der</strong> imag<strong>in</strong>ärer<br />

Sachverhalt als Beweis für e<strong>in</strong>e Hypothese gilt. Ihre im Folgenden dargestellten<br />

Ausführungen s<strong>in</strong>d als deskriptiv zu verstehen.<br />

Long<strong>in</strong>o stellt dar, dass es ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zigartige o<strong>der</strong> direkte Beziehung zwischen<br />

Sachverhalten und denjenigen Hypothesen gibt, für <strong>die</strong> sie als Beweis gelten. Die<br />

Sachverhalte würden angesichts von Regelmäßigkeiten, <strong>die</strong> entdeckt, geglaubt o<strong>der</strong><br />

angenommen werden, als Beweis akzeptiert. Es gebe für jeden Gegenstand mehrere<br />

mögliche Beschreibungen, nicht e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige, <strong>der</strong> alle zustimmen würden: „...how<br />

one determ<strong>in</strong>es evidential relevance, why one takes some state of affairs as evidence<br />

for one hypothesis rather than for another, depends on one’s other beliefs, which we<br />

can call background beliefs or ass<strong>um</strong>ptions.“ 12 E<strong>in</strong> Sachverhalt werde nur dann als<br />

Beweis für etwas an<strong>der</strong>es gelten, wenn irgende<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>tergrundannahme e<strong>in</strong>e<br />

Verb<strong>in</strong>dung zwischen den beiden herstelle. Daher könnten H<strong>in</strong>tergrundannahmen<br />

nicht als vom Ablauf <strong>der</strong> Begründung für Hypothesen getrennt betrachtet werden. Im<br />

Gegenteil, bei Abwesenheit jeglicher H<strong>in</strong>tergrundannahmen werde ke<strong>in</strong> Sachverhalt<br />

als Beweis für irgende<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en gelten. H<strong>in</strong>tergrundüberzeugungen und –<br />

annahmen seien aber immer empfänglich für Verän<strong>der</strong>ungen. Daher sei <strong>die</strong><br />

Beweiskraft für Hypothesen relativ. Die Abhängigkeit von Beweisen von<br />

H<strong>in</strong>tergrundannahmen sei e<strong>in</strong>e herkömmliche Art, wissenschaftliche und<br />

nichtwissenschaftliche Aussagen vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu trennen. E<strong>in</strong> solches Vorgehen sei<br />

allerd<strong>in</strong>gs aufgrund <strong>der</strong> Ergebnisse <strong>der</strong> Wissenschaftsgeschichtsforschung nicht<br />

haltbar, da <strong>die</strong>se genügend Beispiele geliefert habe, <strong>in</strong> denen e<strong>in</strong> bestimmter<br />

Sachverhalt als Beweis für sich wi<strong>der</strong>sprechende Hypothesen hergehalten hat. Wenn<br />

e<strong>in</strong> Sachverhalt nur angesichts weiterer H<strong>in</strong>tergrundannahmen als Beweis für e<strong>in</strong>e<br />

12 Long<strong>in</strong>o: Science as Social Knowledge, S. 43.


Hypothese gelte, dann werde e<strong>in</strong>e Verän<strong>der</strong>ung <strong>die</strong>ser H<strong>in</strong>tergrundannahmen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Beweiskraft resultieren.<br />

Mary Hesse wi<strong>der</strong>spricht <strong>in</strong> ihrem Essay „Theory and Observation“ 13 <strong>der</strong> Idee, dass<br />

es e<strong>in</strong>e stabile und Theorie-neutrale Beobachtungssprache gibt. Nach ihrer Analyse<br />

<strong>der</strong> Rolle von Metaphern <strong>in</strong> den Wissenschaften gibt es ke<strong>in</strong>e Prädikate, <strong>die</strong> immun<br />

se<strong>in</strong> könnten gegen Verän<strong>der</strong>ung, ke<strong>in</strong>e Prädikate, <strong>die</strong> Teil e<strong>in</strong>er stabilen und<br />

Theorie-neutralen Beobachtungssprache wären. Aber Mary Hesses Analyse<br />

unterstützt nicht <strong>die</strong> These e<strong>in</strong>er radikalen Inkommensurabilität: Die VertreterInnen<br />

unterschiedlicher Theorien werden immer Überschneidungen f<strong>in</strong>den, Teilaspekte, <strong>in</strong><br />

denen sie Begriffe auf <strong>die</strong>selbe Art benutzen. Daher folgt aus <strong>der</strong> Theorielastigkeit<br />

nicht, dass Beobachtungen nicht als unabhängige Prüfste<strong>in</strong>e von Theorien verwendet<br />

werden können, son<strong>der</strong>n nur, dass sie nicht als solche Verwendung f<strong>in</strong>den können <strong>in</strong><br />

Verb<strong>in</strong>dung mit Theorien, <strong>die</strong> aufgrund <strong>der</strong> Beschreibungen jener Beobachtungen<br />

vorausgesetzt werden. Selbst wenn VertreterInnen <strong>in</strong>kompatibler Theorien<br />

h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Beschreibung dessen, was sie beobachten, übere<strong>in</strong>stimmen, folgt<br />

daraus nicht, dass wir ihre Beschreibung als Theorie-neutral bezeichnen können.<br />

Long<strong>in</strong>o bezieht sich auf Hesses Analyse, weil <strong>die</strong> Begrenzungen, <strong>die</strong> Hesse <strong>der</strong><br />

Inkommensurabilitäts-These setzt, <strong>die</strong> Bedeutung des Konzepts <strong>der</strong> Beweisführung<br />

erhalten, obwohl <strong>die</strong> Beziehungen zwischen Hypothese und Beweis h<strong>in</strong>sichtlich<br />

e<strong>in</strong>es Kontexts von Annahmen als relativ zu verstehen s<strong>in</strong>d.<br />

<strong>Der</strong> positivistische Ansatz kann für Long<strong>in</strong>o nicht als präskriptives Ideal gelten,<br />

son<strong>der</strong>n er muss abgelehnt werden. Nicht nur, weil (wie Thomas Kuhn und Paul<br />

Feyerabend me<strong>in</strong>en) <strong>die</strong> Launen <strong>der</strong> menschlichen Psychologie uns davon abhalten,<br />

<strong>die</strong>ses Ideal zu verwirklichen, son<strong>der</strong>n weil er e<strong>in</strong> Missverständnis des Verhältnisses<br />

von Hypothese und Beweis be<strong>in</strong>haltet: „In that [positivist] account hypotheses and<br />

evidence are abstracted from their dynamic context of <strong>in</strong>quiry, of observation and<br />

reason<strong>in</strong>g, and treated as elements <strong>in</strong> a static, unchang<strong>in</strong>g construction, as muse<strong>um</strong><br />

pieces.“ 14<br />

Long<strong>in</strong>o hält aber daran fest, dass Beobachtungsdaten immer dasjenige se<strong>in</strong> werden,<br />

was als Beweis für Hypothesen und Theorien gilt, wie auch immer wir <strong>die</strong>se Daten<br />

charakterisieren. Hypothesen seien Aussagen o<strong>der</strong> bestünden aus Aussagen, „whose<br />

content always exceeds that of the statements describ<strong>in</strong>g the observational data.<br />

13<br />

Mary Hesse: Revolutions and Reconstructions <strong>in</strong> the Philosophy of Science, Indiana University<br />

Press, Bloom<strong>in</strong>gton, 1980.<br />

14<br />

Long<strong>in</strong>o: Science as Social Knowledge, S. 58.


There ist, thus, a logical gap between data and hypotheses.“ 15 Das Konzept <strong>der</strong><br />

Rationalität, verstanden als <strong>die</strong> Akzeptanz o<strong>der</strong> Ablehnung von Theorien auf <strong>der</strong><br />

Grundlage von Beweisen, biete hier ke<strong>in</strong>en Ausweg, denn es könnte e<strong>in</strong>e „neutrale“<br />

Beschreibung e<strong>in</strong>es Sachverhaltes geben und ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>igung auf e<strong>in</strong>e Hypothese, für<br />

<strong>die</strong> er als Beweis gelte. Die VertreterInnen bei<strong>der</strong> Ansichten wären vollkommen<br />

rational, denn es ist rational, e<strong>in</strong>en Sachverhalt angesichts von<br />

H<strong>in</strong>tergrundannahmen, <strong>die</strong> akzeptabel s<strong>in</strong>d, als Beweis für e<strong>in</strong>e Hypothese zu<br />

nehmen.<br />

Long<strong>in</strong>os Herangehensweise an Beweise kann <strong>die</strong>ses Problem lösen: Die<br />

H<strong>in</strong>tergrundannahmen können <strong>die</strong> Kluft zwischen Daten und Hypothesen<br />

überbrücken, was <strong>der</strong> positivistische Ansatz nicht leisten kann. Diese<br />

H<strong>in</strong>tergrundannahmen mögen nicht immer explizit se<strong>in</strong>, aber sie s<strong>in</strong>d grundsätzlich<br />

formulierbar. Es wird allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Problem aufgeworfen: Die Akzeptanz<br />

von Hypothesen auf <strong>der</strong> Basis von Beweisen wird relativiert. Das führt Long<strong>in</strong>o z<strong>um</strong><br />

Problem des <strong>Objektivitätsbegriff</strong>s.<br />

Das Verhältnis von Werten und Objektivität im Lichte gesellschaftlicher<br />

Verhältnisse<br />

Long<strong>in</strong>o lehnt <strong>die</strong> gängigen Objektivitätskonzepte <strong>der</strong> Wertneutralität ab und setzt<br />

dagegen, dass <strong>die</strong> Objektivität <strong>der</strong> Naturwissenschaften durch den gesellschaftlichen<br />

Charakter <strong>der</strong> Forschungen gesichert werde. Diese Aussage Long<strong>in</strong>os ist wie<strong>der</strong><strong>um</strong><br />

deskriptiv zu verstehen.<br />

Von Objektivität werde <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel auf zwei verschiedene Arten gesprochen,<br />

erstens <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit naturwissenschaftlichem Realismus: „In this sense to<br />

attribute objectivity to science is to claim that the view provided by science is an<br />

accurate description of the facts of the natural world as they are; it is a correct view<br />

of the objects to be found <strong>in</strong> the world and of their relations with each other.“ 16<br />

Zweitens werde Objektivität auf <strong>die</strong> Modi <strong>der</strong> Untersuchungen, also auf <strong>die</strong><br />

naturwissenschaftlichen Methoden, bezogen. Dabei werde davon ausgegangen, dass<br />

<strong>die</strong> Naturwissenschaften im ersten S<strong>in</strong>ne objektiv s<strong>in</strong>d, weil sie es im zweiten S<strong>in</strong>ne<br />

s<strong>in</strong>d. Daher konzentriert sich Long<strong>in</strong>o <strong>in</strong> ihrer Analyse auf das<br />

Objektivitätsverständnis im zweiten S<strong>in</strong>ne. Sie entfernt sich dabei von <strong>der</strong><br />

Alternative Positivismus – e<strong>in</strong>e logische Analyse, <strong>die</strong> historisch unbefriedigend ist<br />

15 Long<strong>in</strong>o: Science as Social Knowledge, S. 58.<br />

16 Long<strong>in</strong>o: Science as Social Knowledge, S. 62.


o<strong>der</strong> Wholismus – e<strong>in</strong>e historische Analyse, <strong>die</strong> logisch nicht zufriedenstellend ist.<br />

Mit ihrem eigenen Ansatz erhebt Long<strong>in</strong>o dabei ke<strong>in</strong>en Anspruch auf Totalität o<strong>der</strong><br />

Abgeschlossenheit, son<strong>der</strong>n schlägt e<strong>in</strong>en Rahmen vor, <strong>der</strong> sowohl von<br />

EpistemologInnen als auch HistorikerInnen und SoziologInnen gefüllt und<br />

weiterentwickelt werden kann.<br />

<strong>Der</strong> Positivismus lässt e<strong>in</strong> subjektives, nicht-empirisches Moment <strong>in</strong><br />

naturwissenschaftlichen Untersuchungen zu, <strong>in</strong>dem er zwischen dem Kontext <strong>der</strong><br />

Entdeckung und dem Kontext <strong>der</strong> Rechtfertigung unterscheidet. Im Kontext <strong>der</strong><br />

Entdeckung hat dabei <strong>die</strong> WissenschaftlerIn als Individu<strong>um</strong> ihren/se<strong>in</strong>en Ra<strong>um</strong>;<br />

<strong>die</strong>ses nicht-empirische Moment wird als Merkmal <strong>der</strong> Psychologie e<strong>in</strong>es<br />

Individu<strong>um</strong>s aufgefasst. Dagegen werden im Kontext <strong>der</strong> Rechtfertigung <strong>die</strong>se<br />

produktiven Faktoren außer Acht gelassen. Long<strong>in</strong>o zeigt dagegen mit ihrer Analyse<br />

<strong>der</strong> Beweisführung, dass kontextuelle Werte auch auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Rechtfertigung<br />

e<strong>in</strong>e Rolle spielen.<br />

Long<strong>in</strong>o unterscheidet zwischen Objektivität als Charakteristik e<strong>in</strong>er<br />

wissenschaftlichen Methode und als e<strong>in</strong>er Eigenschaft, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>er/e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>dividuellen<br />

WissenschaftlerIn zukommt. In <strong>der</strong> positivistischen Sichtweise wird Objektivität<br />

<strong>der</strong>/dem praktizierenden WissenschaftlerIn <strong>in</strong> dem Maß zugestanden, <strong>in</strong>dem sie/er<br />

<strong>der</strong> vorgeschriebenen Methode gefolgt ist; dabei werden naturwissenschaftliche<br />

Methoden offensichtlich als etwas betrachtet, das von e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zelnen Individu<strong>um</strong><br />

ausgeübt werden kann.<br />

Long<strong>in</strong>o dagegen betrachtet Naturwissenschaft als e<strong>in</strong>e gesellschaftliche Praxis. Die<br />

naturwissenschaftlichen Methoden würden nicht <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie von Individuen,<br />

son<strong>der</strong>n von gesellschaftlichen Gruppen ausgeübt werden. Denn <strong>die</strong> <strong>in</strong>dividuellen<br />

Praktizierenden <strong>der</strong> Naturwissenschaften brauchen e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, das Erlernen<br />

naturwissenschaftlicher Untersuchungen bedarf e<strong>in</strong>er Ausbildung, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Interaktion zwischen verschiedenen Individuen darstellt und <strong>die</strong> Naturwissenschaften<br />

s<strong>in</strong>d abhängig von <strong>der</strong> Bestätigung ihres Tuns durch <strong>die</strong> Gesellschaft.<br />

Naturwissenschaftliche Untersuchungen s<strong>in</strong>d komplex, weil sie aus verschiedenen<br />

Arten von Aktivitäten bestehen, <strong>die</strong> von unterschiedlichen Individuen ausgeführt<br />

werden: „The <strong>in</strong>tegration and transformation of these activities <strong>in</strong>to a coherent<br />

un<strong>der</strong>stand<strong>in</strong>g of a given phenomenon are a matter of social negotiations.“ 17<br />

Naturwissenschaftliches Wissen wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Prozess kritischer Berichtigung und<br />

17 Long<strong>in</strong>o: Science as Social Knowledge, S. 67.


Modifikation <strong>der</strong> jeweiligen Produkte durch <strong>die</strong> Scientific Community hergestellt. So<br />

hat im ausgehenden 20. Jahrhun<strong>der</strong>t das peer review e<strong>in</strong> starkes Gewicht: Es<br />

bestimmt, welche Forschung f<strong>in</strong>anziert wird, was <strong>in</strong> den Zeitschriften veröffentlicht<br />

wird und damit was als Wissen zählt. Was als naturwissenschaftliches Wissen gilt,<br />

wird also von e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaft hergestellt und überschreitet <strong>die</strong> Beiträge e<strong>in</strong>es<br />

jeglichen Individu<strong>um</strong>s o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er jeglichen Untergruppe <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft.<br />

<strong>Der</strong> gesellschaftliche Charakter <strong>der</strong> Akzeptanz von Hypothesen verdeutliche <strong>die</strong><br />

Öffentlichkeit <strong>der</strong> Naturwissenschaften. Long<strong>in</strong>o setzt voraus, dass wir erstens e<strong>in</strong>e<br />

geme<strong>in</strong>same Sprache haben, <strong>die</strong> wir benutzen, <strong>um</strong> unsere Erfahrungen zu<br />

beschreiben und mit <strong>der</strong> wir arg<strong>um</strong>entieren und dass zweitens <strong>die</strong> Gegenstände <strong>der</strong><br />

Erfahrung, <strong>die</strong> wir beschreiben und über <strong>die</strong> wir diskutieren, unabhängig von uns und<br />

unserer Beschäftigung mit ihnen existieren. Diese Voraussetzungen seien für <strong>die</strong><br />

Öffentlichkeit von Naturwissenschaft von Bedeutung, da sie Möglichkeiten für<br />

Kritik eröffneten, <strong>die</strong> sie von an<strong>der</strong>en Arten von Beschreibungen (etwa von<br />

mystischen Erfahrungen o<strong>der</strong> Gefühlen) unterschieden. Z<strong>um</strong> e<strong>in</strong>en könnten wir<br />

aufgrund <strong>der</strong> geme<strong>in</strong>samen Sprache Hypothesen akzeptieren o<strong>der</strong> ablehnen,<br />

E<strong>in</strong>wände gegen sie formulieren und auf solche antworten. Z<strong>um</strong> an<strong>der</strong>en sei<br />

begrenzt, was wir s<strong>in</strong>nvollerweise über Gegenstände naturwissenschaftlichen<br />

Forschens sagen o<strong>der</strong> glauben könnten. Somit sei es möglich, <strong>in</strong>tersubjektiv über<br />

Gegenstände naturwissenschaftlichen Forschens zu kommunizieren: „...the logical<br />

publicity of scientific un<strong>der</strong>stand<strong>in</strong>g and subjekt matter (...) makes them and hence<br />

the authority to criticize their articulation accessible to all.“ 18 Die beiden genannten<br />

Voraussetzungen betrachtet Long<strong>in</strong>o allerd<strong>in</strong>gs als notwendige und nicht als<br />

h<strong>in</strong>reichende Bed<strong>in</strong>gungen für <strong>die</strong> Öffentlichkeit <strong>der</strong> Naturwissenschaften.<br />

Die möglichen Arten, e<strong>in</strong>e Hypothese <strong>in</strong> Frage zu stellen, unterteilt Long<strong>in</strong>o <strong>in</strong> Kritik<br />

an konkreten Beweisen und konzeptionelle Kritik. Letztere unterteilt Long<strong>in</strong>o <strong>in</strong> drei<br />

Typen: Sie kann sich erstens auf <strong>die</strong> konzeptionelle Solidität <strong>der</strong> Hypothese beziehen<br />

o<strong>der</strong> zweitens <strong>die</strong> Konsistenz zwischen e<strong>in</strong>er Hypothese und e<strong>in</strong>er akzeptierten<br />

Theorie anzweifeln o<strong>der</strong> drittens <strong>die</strong> Relevanz von Beweisen als Unterstützung e<strong>in</strong>er<br />

Hypothese <strong>in</strong> Frage stellen. Daher konzentriere sich <strong>der</strong> Großteil <strong>der</strong> <strong>Debatte</strong> nicht<br />

auf <strong>die</strong> Daten, son<strong>der</strong>n auf <strong>die</strong> H<strong>in</strong>tergrundannahmen, anhand <strong>der</strong>er <strong>die</strong> Daten<br />

<strong>in</strong>terpretiert werden. <strong>Der</strong> Kern des Problems <strong>der</strong> Objektivität werde durch den dritten<br />

Typ konzeptioneller Kritik berührt, <strong>der</strong> <strong>die</strong> Rolle von H<strong>in</strong>tergrundannahmen<br />

18 Long<strong>in</strong>o: Science as Social Knowledge, S. 70f.


etrachtet: „Objectivity <strong>in</strong> the sense un<strong>der</strong> discussion requires a way to block the<br />

<strong>in</strong>fluence of subjective preference at the level of background beliefs.“ 19<br />

Indem allgeme<strong>in</strong> zugängliche Produkte <strong>der</strong> Forschung so verstanden würden, dass<br />

kritische Diskussion sie formen, <strong>die</strong> unter e<strong>in</strong>er Vielzahl von Individuen stattf<strong>in</strong>den,<br />

könnten wir erkennen, wie Wissen, statt e<strong>in</strong>fach nur e<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung, entstehe.<br />

Objektivität ist dann e<strong>in</strong> Merkmal <strong>der</strong> Praxis von Naturwissenschaft <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Geme<strong>in</strong>schaft, nicht <strong>die</strong> e<strong>in</strong>es Individu<strong>um</strong>s, und e<strong>in</strong>e gesellschaftliche Aktivität. Den<br />

Aspekt, h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Naturwissenschaft objektiv ist, teilt sie daher mit an<strong>der</strong>en<br />

Wissenschaften wie Literaturwissenschaft o<strong>der</strong> Philosophie. Dass <strong>die</strong> Hypothesen<br />

<strong>der</strong> Naturwissenschaft auf <strong>der</strong> Grundlage von beobachteten, experimentellen Daten<br />

akzeptiert o<strong>der</strong> abgelehnt werden, ist e<strong>in</strong> Merkmal, das naturwissenschaftliche<br />

Untersuchungen empirisch macht, nicht objektiv. Weil <strong>die</strong> Beziehung zwischen<br />

Hypothesen und Beweisen durch H<strong>in</strong>tergrundannahmen vermittelt wird, wäre es e<strong>in</strong><br />

Fehler, <strong>die</strong> Objektivität naturwissenschaftlicher Methoden alle<strong>in</strong> über empirische<br />

Merkmale zu identifizieren: „The process that can expose such ass<strong>um</strong>ptions is what<br />

makes possible, even if it cannot guarantee, <strong>in</strong>dependence from subjective bias, and<br />

hence objectivity.“ 20 Daher betont Long<strong>in</strong>o <strong>die</strong> Bedeutung <strong>in</strong>tersubjektiver Kritik<br />

und weist darauf h<strong>in</strong>, dass naturwissenschaftliches Wissen als gesellschaftliches<br />

Wissen anzusehen ist, und zwar <strong>in</strong> zweierlei H<strong>in</strong>sicht: bezogen auf <strong>die</strong> Art und<br />

Weise, wie es erzeugt wird und h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Anwendungen, denen es <strong>die</strong>nt.<br />

Die Initiierung und Fortsetzung e<strong>in</strong>es Dialogs ist selbst e<strong>in</strong> gesellschaftlicher Prozess<br />

und kann mehr o<strong>der</strong> weniger vollständig realisiert werden. Daher entpuppt sich<br />

Objektivität bei Long<strong>in</strong>o als e<strong>in</strong>e relative Angelegenheit: E<strong>in</strong>e<br />

Untersuchungsmethode ist <strong>in</strong> dem Maß objektiv, <strong>in</strong> dem sie transformative Kritik<br />

zulässt. Mit transformativer Kritik me<strong>in</strong>t Long<strong>in</strong>o hier, dass nicht nur Kritik an den<br />

Daten geübt wird, son<strong>der</strong>n dass auch eventuelle Modifikationen von<br />

H<strong>in</strong>tergrundannahmen als Teil des Prozesses verstanden werden. Long<strong>in</strong>o führt vier<br />

Kriterien an, <strong>die</strong> notwendig s<strong>in</strong>d, <strong>um</strong> <strong>die</strong> transformative Dimension kritischer<br />

Diskurse zu erreichen: 21<br />

(1) Es muss anerkannte Wege für Kritik geben: Zeitschriften, Konferenzen usw.<br />

19 Long<strong>in</strong>o: Science as Social Knowledge, S. 73.<br />

20 Long<strong>in</strong>o: Science as Social Knowledge, S. 75.<br />

21 Diese Kriterien Long<strong>in</strong>os müssen s<strong>in</strong>nvollerweise als präskriptiv verstanden werden. Lei<strong>der</strong> gibt<br />

auch Long<strong>in</strong>o trotz ihrer zu Beg<strong>in</strong>n formulierten Kritik an <strong>der</strong> Verwischung <strong>der</strong> Grenzen zwischen<br />

Deskription und Präskription nicht immer an, welche ihrer Ausführungen deskriptiv und welche<br />

präskriptiv zu verstehen s<strong>in</strong>d.


(2) Es müssen von allen geteilte Standards existieren, auf <strong>die</strong> KritikerInnen sich<br />

beziehen können. Denn Kritik sei nur relevant, wenn sie an etwas appelliere, das von<br />

denjenigen akzeptiert wird, <strong>die</strong> kritisiert werden. Diese Standards können sowohl<br />

grundlegende Pr<strong>in</strong>zipien als auch epistemische und gesellschaftliche Werte<br />

<strong>um</strong>fassen. Obwohl solche Standards nicht <strong>die</strong> Wahl <strong>der</strong> Theorie determ<strong>in</strong>ierten, sei<br />

es doch ihre Existenz, <strong>die</strong> das e<strong>in</strong>zelne Mitglied gegenüber etwas an<strong>der</strong>em als dem<br />

eigenen Gewissen verantwortlich mache. Lei<strong>der</strong> geht Long<strong>in</strong>o hier nicht auf <strong>die</strong><br />

problematische Frage e<strong>in</strong>, wie <strong>die</strong>se Standards hergestellt werden, und welchen <strong>die</strong><br />

gesamte Geme<strong>in</strong>schaft zustimmen könnte.<br />

(3) Die gesamte naturwissenschaftliche Geme<strong>in</strong>schaft muss empfänglich für Kritik<br />

se<strong>in</strong> und sie auch äußern. Dieses Kriteri<strong>um</strong> verlange, dass <strong>die</strong> Überzeugungen <strong>der</strong><br />

Geme<strong>in</strong>schaft als Ganzes sich <strong>in</strong> Reaktion auf <strong>die</strong> kritischen Diskussionen, <strong>die</strong><br />

stattf<strong>in</strong>den, mit <strong>der</strong> Zeit verän<strong>der</strong>n. Bei Long<strong>in</strong>o bleibt unklar, welche<br />

Personengruppen zu <strong>die</strong>ser imag<strong>in</strong>ären Geme<strong>in</strong>schaft gehören; sie def<strong>in</strong>iert den<br />

Begriff <strong>der</strong> Scientific Community nicht näher. Das wird beson<strong>der</strong>s im<br />

Zusammenhang mit dem letzten Kriteri<strong>um</strong> problematisch:<br />

(4) Die <strong>in</strong>tellektuelle Autorität muss gleichermaßen unter allen qualifizierten<br />

Praktizierenden verteilt se<strong>in</strong>. <strong>Der</strong> Ausschluss (offen o<strong>der</strong> subtil) von Frauen und<br />

M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten aus <strong>der</strong> naturwissenschaftlichen Bildung und Berufen habe <strong>die</strong>ses<br />

Kriteri<strong>um</strong> empf<strong>in</strong>dlich verletzt. Hier ist nicht deutlich, was Long<strong>in</strong>o unter<br />

„qualifizierten“ Praktizierenden versteht und welche Instanz entscheiden soll, wer als<br />

qualifiziert gilt. Diese E<strong>in</strong>schränkung <strong>der</strong> Autorität auf bestimmte Personengruppen<br />

steht darüber h<strong>in</strong>aus im Wi<strong>der</strong>spruch zu ihren oben dargestellten Ausführungen zur<br />

Öffentlichkeit <strong>der</strong> Naturwissenschaften. Long<strong>in</strong>os Def<strong>in</strong>ition, wer zur<br />

naturwissenschaftlichen Geme<strong>in</strong>schaft gehört, behält <strong>die</strong> herkömmliche<br />

Unterscheidung <strong>in</strong> ExpertInnen und LaiInnen bei und bestätigt somit <strong>die</strong><br />

<strong>in</strong>stitutionelle Macht <strong>der</strong> Naturwissenschaften erneut, statt sie zu h<strong>in</strong>terfragen.<br />

Diese Kriterien beziehen sich auf <strong>die</strong> Objektivität e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaft. Die<br />

Objektivität e<strong>in</strong>er/s e<strong>in</strong>zelnen WissenschaftlerIn besteht nach Long<strong>in</strong>o <strong>in</strong> ihrer<br />

Beteiligung an den kollektiven Diskussionen.<br />

Dabei sei es wichtig, dass Objektivität nicht mit Wahrheit gleichzusetzen ist;<br />

Objektivität gibt vielmehr den kritisch erreichten Konsens <strong>der</strong><br />

naturwissenschaftlichen Geme<strong>in</strong>schaft wie<strong>der</strong>.


Long<strong>in</strong>o erwähnt drei mögliche Grenzen <strong>die</strong>ses Objektivitätsverständnisses: Erstens<br />

könne Kritik nicht endlos fortgeführt werden, wenn wir Wissen technologisch nutzen<br />

wollen. Zweitens würden kritische Aktivitäten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Kontext, <strong>der</strong> Neuerungen<br />

und Orig<strong>in</strong>alität belohnt, weniger betont werden. Drittens gebe es immer<br />

kritikwürdige H<strong>in</strong>tergrundannahmen, <strong>die</strong> von ke<strong>in</strong>em Mitglied <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft als<br />

solche wahrgenommen werden. Daher gelte: Je mehr verschiedene Sichtweisen <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er gegebenen naturwissenschaftlichen Geme<strong>in</strong>schaft enthalten s<strong>in</strong>d, desto<br />

wahrsche<strong>in</strong>licher sei es, dass <strong>die</strong> naturwissenschaftliche Praxis objektiv se<strong>in</strong> wird.<br />

E<strong>in</strong>e solche Diversität sei e<strong>in</strong>e notwendige, aber nicht h<strong>in</strong>reichende Bed<strong>in</strong>gung für<br />

Objektivität.<br />

Kontextuelle Werte und Naturwissenschaft<br />

Die Art und Weise, wie <strong>in</strong> den Naturwissenschaften Urteile gefällt und<br />

Schlussfolgerungen gezogen werden, ist <strong>der</strong> E<strong>in</strong>griffspunkt für E<strong>in</strong>flüsse des<br />

Kontextes. Wenn aber e<strong>in</strong>mal kontextuelle Betrachtungen jeglicher Art als relevant<br />

für naturwissenschaftliche Arg<strong>um</strong>entationen angesehen werden, können Werte und<br />

Interessen nicht länger a priori als irrelevant o<strong>der</strong> als Zeichen schlecht ausgeführter<br />

Wissenschaft ausgeschlossen werden. Kontextuelle Werte können <strong>die</strong> Praxis sowohl<br />

von re<strong>in</strong>er als auch von angewandter Naturwissenschaft auf verschiedene Arten<br />

bee<strong>in</strong>flussen: Sie können auf Praktiken wirken, bestimmen welche Forschungsfragen<br />

gestellt werden, auf <strong>die</strong> Beschreibung und Auswahl von Daten E<strong>in</strong>fluss haben und <strong>in</strong><br />

Form von H<strong>in</strong>tergrundannahmen <strong>in</strong> spezifischen Gebieten <strong>der</strong> Untersuchung o<strong>der</strong> auf<br />

e<strong>in</strong> gesamtes Forschungsfeld bezogen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Theorien e<strong>in</strong>fließen.<br />

Meist wird davor zurückgeschreckt, zu behaupten, dass auch <strong>die</strong> Chemie und <strong>die</strong><br />

Physik von Werten bee<strong>in</strong>flusst se<strong>in</strong> könnten, weil sie große <strong>in</strong>str<strong>um</strong>entelle Erfolge<br />

aufweisen können. Long<strong>in</strong>o weist aber darauf h<strong>in</strong>, dass „...accept<strong>in</strong>g a theory for<br />

practical or <strong>in</strong>str<strong>um</strong>ental purposes and assert<strong>in</strong>g it to be true are quite different acts.<br />

„Work<strong>in</strong>g“ is not an epistemological notion.“ 22 <strong>Der</strong> Erfolg e<strong>in</strong>er Naturwissenschaft<br />

kann ausreichend damit erklärt werden, dass sie auf empirische Adäquatheit abzielt,<br />

und dass ihr das gel<strong>in</strong>gt. „Funktionieren“ ist e<strong>in</strong>e praktische Vorstellung, <strong>die</strong> mit den<br />

praktischen Zielen, mehr Kontrolle über unsere Leben und unsere Umgebung zu<br />

22 Long<strong>in</strong>o: Science as Social Knowledge, S. 93.


erlangen, verbunden ist. Diese Ziele stehen für Werte, <strong>die</strong> dem Kontext, <strong>in</strong> dem<br />

Naturwissenschaft ausgeübt wird, angehören.<br />

<strong>Der</strong> Gegenstand <strong>der</strong> Untersuchung<br />

E<strong>in</strong>e komplette Ausformulierung <strong>der</strong> Ziele e<strong>in</strong>er naturwissenschaftlichen<br />

Untersuchung enthält e<strong>in</strong>e Beschreibung <strong>der</strong> Art von Erklärung o<strong>der</strong> Verständnis<br />

(z.B. mechanistisch), das e<strong>in</strong>e solche Untersuchung bereitstellen möchte. Long<strong>in</strong>o<br />

nennt <strong>die</strong>s <strong>die</strong> Spezifikation o<strong>der</strong> Konstitution des Gegenstands <strong>der</strong> Untersuchung.<br />

<strong>Der</strong> Gegenstand <strong>der</strong> Untersuchung sei niemals e<strong>in</strong>fach nur „Natur“ o<strong>der</strong> e<strong>in</strong><br />

bestimmter Teil <strong>der</strong> „natürlichen Welt“, son<strong>der</strong>n „Natur“ unter e<strong>in</strong>er bestimmten<br />

Beschreibung. Diese Charakterisierung des Gegenstands <strong>der</strong> Untersuchung hänge<br />

nicht davon ab, was <strong>die</strong> „Natur“ uns sagt, son<strong>der</strong>n was wir über sie wissen möchten:<br />

Die Naturwissenschaften suchten nicht e<strong>in</strong>fach nach Wahrheiten, son<strong>der</strong>n nach<br />

bestimmten Arten von Wahrheiten. Daher verb<strong>in</strong>de <strong>die</strong>se Beschreibung <strong>die</strong><br />

Untersuchung mit den Bedürfnissen und Interessen, <strong>die</strong> sie befriedigen soll. So<br />

werde <strong>die</strong> Konzeption des Untersuchungsgegenstands e<strong>in</strong> stabilisieren<strong>der</strong> Faktor, <strong>der</strong><br />

<strong>die</strong> Bandbreite von Hypothesen begrenze, <strong>die</strong> als Kandidaten <strong>in</strong> Betracht kommen.<br />

Über <strong>die</strong>sen Weg können kontextuelle zu konstitutiven Werten werden: „The k<strong>in</strong>d of<br />

knowledge sought and represented <strong>in</strong> a specification of the object of <strong>in</strong>quiry<br />

functions as a goal determ<strong>in</strong><strong>in</strong>g constitutive values.“ 23<br />

Nach Long<strong>in</strong>o ist es durch sorgfältige Untersuchung <strong>der</strong> Daten, <strong>die</strong> als Beweis<br />

zugelassen werden und <strong>der</strong> Hypothesen, <strong>die</strong> auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>die</strong>ser Daten gestützt<br />

werden, möglich, <strong>die</strong> Rolle von H<strong>in</strong>tergrundannahmen bei <strong>der</strong> Beweisführung zu<br />

sehen. Sie zeigt <strong>die</strong>s an Beispielen aus <strong>der</strong> Biologie, <strong>die</strong> sie mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> vergleicht.<br />

Als e<strong>in</strong> Beispiel diskutiert Long<strong>in</strong>o <strong>die</strong> Forschung über <strong>die</strong> Rolle von gonadalen<br />

Hormonen und ihre vermuteten Effekte auf geschlechtsspezifische Unterschiede <strong>in</strong><br />

Anatomie, Verhalten und Kognition. 24 Phänomene, <strong>die</strong> von <strong>die</strong>ser Forschung<br />

biologisch zu erklären versucht werden, <strong>um</strong>fassen Intersexualität, männliche<br />

Aggression, Homosexualität, Transsexualität und mathematische Fähigkeiten. E<strong>in</strong><br />

Großteil <strong>der</strong> Daten <strong>der</strong> Hormonforschung stammt aus Tierversuchen. Die dort<br />

erzielten Resultate werden dann generalisiert und auf Menschen übertragen. E<strong>in</strong><br />

weiterer Teil stammt aus Untersuchungen mit Menschengruppen, <strong>die</strong> <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er<br />

23 Long<strong>in</strong>o: Science as Social Knowledge, S. 100.<br />

24 Dabei ist es wichtig zu bedenken, dass männliche und weibliche Organismen sowohl Androgene als<br />

auch Östrogene produzieren, so dass <strong>der</strong> Begriff „Sexualhormone“ irreführend ist.


Form von <strong>der</strong> Norm abweichen, beson<strong>der</strong>s Intersexuelle. Die hier beobachteten<br />

Effekte werden wie<strong>der</strong><strong>um</strong> verallgeme<strong>in</strong>ert und auf alle Menschen übertragen. Bei<br />

solch e<strong>in</strong>em Vorgehen spielen e<strong>in</strong>e Reihe von H<strong>in</strong>tergrundannahmen e<strong>in</strong>e Rolle, <strong>die</strong><br />

Long<strong>in</strong>o aufdeckt, z.B., dass <strong>die</strong> Situation von Versuchstieren <strong>der</strong> von Menschen<br />

h<strong>in</strong>reichend ähnlich ist, <strong>um</strong> Ergebnisse zu übertragen. Aber auch bei Daten, <strong>die</strong> aus<br />

Untersuchungen mit Menschen stammen, hängen <strong>die</strong> Ergebnisse von diversen<br />

Annahmen ab: „The analogy between the h<strong>um</strong>an behaviors and the stereotyped nonh<strong>um</strong>an<br />

behavioral dimorphisms seems obvious if one expects sexual dimorphism and<br />

classifies behavior as mascul<strong>in</strong>e or fem<strong>in</strong><strong>in</strong>e. Without this expectation or the<br />

ass<strong>um</strong>ption that behavior is so gen<strong>der</strong>ed, however, the behaviors of the [<strong>in</strong>tersexed]<br />

children seem more various and classifiable un<strong>der</strong> different schemas.” 25 Die<br />

unh<strong>in</strong>terfragte Annahme e<strong>in</strong>es Pr<strong>in</strong>zips, das Long<strong>in</strong>o hier Dimorphismus 26 nennt, hat<br />

weitreichende Konsequenzen: Auf <strong>die</strong> Geschlechterfrage bezogen bewirkt sie, dass<br />

Intersexuelle als <strong>in</strong>adäquate Frauen o<strong>der</strong> Männer beschrieben werden, statt als<br />

Kategorien mit eigener Integrität o<strong>der</strong> als Punkte auf e<strong>in</strong>em Kont<strong>in</strong>u<strong>um</strong>. Long<strong>in</strong>o<br />

def<strong>in</strong>iert daher Heterosexismus etwas an<strong>der</strong>s als sonst gebräuchlich: <strong>die</strong> Annahme<br />

e<strong>in</strong>es durchgängigen Dimorphismus o<strong>der</strong> geschlechtlichen Essentialismus.<br />

Homophobie sei e<strong>in</strong> Aspekt des Heterosexismus. Heterosexismus bewirke e<strong>in</strong>e<br />

Auferlegung von komplementärer Dualität, was dazu führe, dass e<strong>in</strong>e ganze<br />

Bandbreite möglicher menschlicher Verschiedenheit negiert werde.<br />

Erklärungsmodelle als Beispiel für H<strong>in</strong>tergrundannahmen<br />

Die Anwendung von H<strong>in</strong>tergrundannahmen <strong>in</strong> den Stu<strong>die</strong>n menschlichen Verhaltens<br />

spiegelt nach Long<strong>in</strong>o e<strong>in</strong>e tiefsitzende ideologische Verpflichtung wie<strong>der</strong>. Um <strong>die</strong><br />

ideologische Dimension <strong>der</strong> Forschung zu verstehen, bedürfe es e<strong>in</strong>es genauen<br />

Blicks auf ihre logische Struktur. Stu<strong>die</strong>n stünden und fielen nicht e<strong>in</strong>fach aufgrund<br />

ihrer eigenen <strong>in</strong>neren Werte, son<strong>der</strong>n auch angesichts ihrer Beziehungen zu an<strong>der</strong>en<br />

Stu<strong>die</strong>n. E<strong>in</strong>e effektvolle Methode, den vore<strong>in</strong>genommenen Charakter bestimmter<br />

Modelle aufzudecken, sei, sie mit an<strong>der</strong>en möglichen Ansätzen zu demselben<br />

Datenmaterial zu vergleichen.<br />

25 Long<strong>in</strong>o: Science as Social Knowledge, S. 120.<br />

26 Üblicherweise werden für <strong>die</strong> Beschreibung <strong>die</strong>ser Sichtweise <strong>der</strong> Welt <strong>die</strong> Begriffe Dualismus o<strong>der</strong><br />

Dichotomie verwendet; ich nehme an, dass Long<strong>in</strong>o hier aufgrund des Kontextes <strong>die</strong> aus <strong>der</strong> Biologie<br />

entnommene Begrifflichkeit ‚Dimorphismus’ benutzt. Obwohl sich Dichotomien durch <strong>die</strong> gesamte<br />

westliche Philosophiegeschichte ziehen, ist <strong>der</strong> Geschlechterdimorphismus, wie wir ihn heute kennen,<br />

e<strong>in</strong> historisch spezifisches Phänomen. Vgl. hierzu Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben – Die<br />

Inszenierung <strong>der</strong> Geschlechter von <strong>der</strong> Antike bis Freud, dtv, München, 1996


E<strong>in</strong>e wichtige Klasse von H<strong>in</strong>tergrundannahmen seien „Erklärungsmodelle“: e<strong>in</strong>e<br />

normative und generelle Beschreibung <strong>der</strong> Art von Gegenständen, <strong>die</strong> als<br />

Erklärungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er gegebenen Art von Phänomen fungieren können und <strong>der</strong><br />

Beziehungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Gegenstände z<strong>um</strong> Phänomen halten können, das erklärt<br />

werden soll: „Explanatory models, then, embody hypotheses or ass<strong>um</strong>ptions about<br />

the sorts of entities and relationships relevant to the explanation of a given sort of<br />

phenomenon.“ 27<br />

Als Beispiel vergleicht Long<strong>in</strong>o das l<strong>in</strong>ear-hormonale Modell mit <strong>der</strong><br />

selektionistischen Theorie <strong>der</strong> höheren Gehirnfunktionen, <strong>um</strong> <strong>die</strong><br />

H<strong>in</strong>tergrundannahmen - beson<strong>der</strong>s <strong>die</strong> Erklärungsmodelle, <strong>die</strong> beiden Modellen<br />

zugrunde liegen, deutlich zu machen. In <strong>der</strong> Forschung, <strong>die</strong> unter Anwendung des<br />

l<strong>in</strong>ear-hormonalen Modells geführt wird, wird Verhalten als das Ergebnis<br />

festgeschriebener und irreversibler aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong>folgen<strong>der</strong> Prozesse behandelt, <strong>die</strong><br />

durch das Ausschütten prä- o<strong>der</strong> per<strong>in</strong>ataler gonadaler Hormone <strong>in</strong>itiiert werden.<br />

Dieses Modell kann das Ausmaß <strong>in</strong>dividueller Unterschiedlichkeit im Verhalten auch<br />

<strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er hormonellen Gruppe ka<strong>um</strong> erklären. E<strong>in</strong>e völlig an<strong>der</strong>e<br />

Herangehensweise an biologische Modelle stellt <strong>die</strong> selektionistische Theorie<br />

höherer Gehirnfunktionen dar. Dieses Modell wird nicht benutzt, <strong>um</strong> irgende<strong>in</strong>e<br />

bestimmte Kategorie von Verhalten zu erklären. Es wurde als Antwort auf das<br />

Problem des Bewusstse<strong>in</strong>s entwickelt: Was wäre e<strong>in</strong>e adäquate Biologie des<br />

menschlichen Geistes? Die daraufh<strong>in</strong> entwickelte Theorie ist relevant für das<br />

Verstehen von absichtlichem o<strong>der</strong> freiwilligem Verhalten, nicht für Reflexe.<br />

Erfahrung <strong>in</strong>klusive gesellschaftlicher Erfahrungen und das Selbstbild spielen e<strong>in</strong>e<br />

primäre Rolle <strong>in</strong> <strong>der</strong> biologischen Erklärung von Verhalten. Es gibt ke<strong>in</strong>e konstante<br />

Verb<strong>in</strong>dung zwischen e<strong>in</strong>em bestimmten Verhalten und e<strong>in</strong>em bestimmten<br />

Gehirnzustand, weil das Gehirn sich fortlaufend verän<strong>der</strong>t.<br />

E<strong>in</strong> Blick auf <strong>die</strong> Daten und möglichen Beweise zeigt wie<strong>der</strong><strong>um</strong> bei beiden<br />

Modellen, dass sie ohne <strong>die</strong> Anwesenheit e<strong>in</strong>es Erklärungsmodells - und somit von<br />

H<strong>in</strong>tergrundannahmen - für sich alle<strong>in</strong> genommen ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n ergeben würden.<br />

Beide Ansätze beziehen metaphysische Annahmen über Kausalität und menschliches<br />

Handeln e<strong>in</strong>.<br />

27 Long<strong>in</strong>o: Science as Social Knowledge, S. 135


Die offensive Integration kontextueller Werte <strong>in</strong> <strong>die</strong> Naturwissenschaften: Long<strong>in</strong>os<br />

Konzept des Kontextualismus<br />

<strong>Der</strong> von Long<strong>in</strong>o vertretene Ansatz des Kontextualismus versucht nicht, <strong>die</strong> Rolle<br />

<strong>der</strong> kontextuell basierten H<strong>in</strong>tergrundannahmen <strong>in</strong> naturwissenschaftlicher<br />

Urteilskraft zu elim<strong>in</strong>ieren, son<strong>der</strong>n zu verstehen. Die/<strong>der</strong> KontextualistIn muss<br />

daher fragen, welche Erklärungen für <strong>die</strong>se Annahmen angeboten werden können<br />

und welchen Interessen durch <strong>die</strong> unh<strong>in</strong>terfragte Beständigkeit <strong>die</strong>ser Annahmen<br />

ge<strong>die</strong>nt ist. Solche Interessen dirigieren <strong>die</strong> Forschung ka<strong>um</strong> auf e<strong>in</strong>e offene Art;<br />

eher kreieren sie e<strong>in</strong> Klima, <strong>in</strong> dem <strong>die</strong> H<strong>in</strong>tergrundannahmen als selbstverständlich<br />

h<strong>in</strong>genommen werden und somit immun gegen H<strong>in</strong>terfragung werden.<br />

<strong>Der</strong> Kontextualismus ist als Sichtweise von naturwissenschaftlicher Beweisführung<br />

recht konsistent mit e<strong>in</strong>em modifizierten Empirismus, verstanden als e<strong>in</strong>e<br />

präskriptive Theorie. Solch e<strong>in</strong> Empirismus würde e<strong>in</strong>schränken, was wir wissen<br />

können: „What we can know is what we can experience. The conclusions of<br />

<strong>in</strong>ferences from experience that must use additional substantive ass<strong>um</strong>ptions as<br />

premises cannot be known absolutely. We give the name ‘knowledge’ to the complex<br />

and more or less coherent sets of hypotheses, theories, and experimentalobservational<br />

data accepted by a culture at a given time because this body of ideas<br />

functions as a public fund of justification and legitimation for new hypotheses as<br />

well as for action and policy. This socially created knowledge which <strong>in</strong>tegrates<br />

experience and the needs and ass<strong>um</strong>ptions of a culture is true relative to those<br />

ass<strong>um</strong>ptions and, to the extent that those ass<strong>um</strong>ptions are context-dependent, is<br />

relative to that context.” 28 So werden Än<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> theoretischen Orientierungen<br />

und <strong>in</strong> <strong>der</strong> relativen Bedeutung von Beobachtungsdaten als Ausdruck von komplexen<br />

Interaktionen zwischen dem, was gewusst wird, was angenommen wird und<br />

gesellschaftlich-kognitiven Bedürfnissen verständlich: „In assess<strong>in</strong>g claims about the<br />

social and ethical implications of some current research, therefore, the contextualist<br />

looks both to its larger scientific context and to its cultural context, to the framework<br />

of theory and ass<strong>um</strong>ptions with<strong>in</strong> which it is embedded and to the needs and values<br />

they promise to satisfy.” 29<br />

Somit kann <strong>der</strong> Kontextualismus auch se<strong>in</strong> eigenes Entstehen als Theorie <strong>in</strong>nerhalb<br />

se<strong>in</strong>es Rahmenwerks erklären. Darüber h<strong>in</strong>aus stellt <strong>der</strong> Kontextualismus im<br />

Gegensatz z<strong>um</strong> Wholismus mit se<strong>in</strong>er stark relativistischen Tendenz e<strong>in</strong>e Alternative<br />

28 Long<strong>in</strong>o: Science as Social Knowledge, S. 185 f.<br />

29 Long<strong>in</strong>o: Science as Social Knowledge, S.186.


z<strong>um</strong> Positivismus dar, <strong>die</strong> auch e<strong>in</strong>en Geltungsanspruch erheben kann und somit<br />

erklären kann, war<strong>um</strong> wir ihre Analyse für akzeptabler halten sollten als <strong>die</strong> des<br />

Positivismus.<br />

Ideologie als notwendiger Bestandteil von Naturwissenschaft<br />

Long<strong>in</strong>o geht <strong>der</strong> Frage nach, ob es e<strong>in</strong>e fem<strong>in</strong>istische Naturwissenschaft gibt o<strong>der</strong><br />

geben kann. Sie lehnt e<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition fem<strong>in</strong>istischer Wissenschaft anhand von<br />

Inhalten ab, weil nicht unkritisch alles „Weibliche“ geför<strong>der</strong>t werden sollte. 30<br />

Fem<strong>in</strong>istischen Standpunkttheorien wirft sie denselben Fehler des Universalismus<br />

vor: Frauen seien <strong>in</strong> ihren Erfahrungen zu unterschiedlich, <strong>um</strong> e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges<br />

kognitives Rahmenwerk herzustellen.<br />

Indem Fem<strong>in</strong>istInnen 31 sich auf <strong>die</strong> Naturwissenschaften als Praxis konzentrierten<br />

anstatt auf <strong>die</strong> Inhalte, auf den Prozess statt auf das Produkt, könnten sie <strong>die</strong> Idee<br />

e<strong>in</strong>er fem<strong>in</strong>istischen Naturwissenschaft verwirklichen, <strong>in</strong>dem sie als Fem<strong>in</strong>istInnen<br />

Naturwissenschaft betreiben. Wenn sie darauf warteten, dass sich e<strong>in</strong> bestimmtes<br />

Rahmenwerk aus den Daten ergebe, liefen sie Gefahr (wenn <strong>der</strong> kontextualistische<br />

Ansatz zutreffe), unbewusst mit Annahmen zu arbeiten, <strong>die</strong> immer noch mit Werten<br />

aus Kontexten beladen s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> sie än<strong>der</strong>n wollen. Daher sollten sie ihre Fähigkeit,<br />

das Entstehen von Wissen zu bee<strong>in</strong>flussen, anerkennen und Forschungsprogramme<br />

för<strong>der</strong>n, <strong>die</strong> mit den Werten, <strong>die</strong> <strong>in</strong> ihren restlichen Leben von Bedeutung s<strong>in</strong>d,<br />

übere<strong>in</strong>stimmen. Würden sie erkennen, dass Wissen von den Annahmen, Werten und<br />

Interessen e<strong>in</strong>er Kultur geprägt sei, und dass sie zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad ihre eigene<br />

Kultur wählen können, dann würde deutlich, dass sie als WissenschaftlerInnen und<br />

TheoretikerInnen e<strong>in</strong>e Wahl haben. Dabei bezöge sich <strong>die</strong>/<strong>der</strong> fem<strong>in</strong>istische<br />

NaturwissenschaftlerIn sowohl auf <strong>die</strong> Ideale e<strong>in</strong>er politischen Geme<strong>in</strong>schaft als<br />

auch auf e<strong>in</strong>en Teil <strong>der</strong> Standards, <strong>die</strong> <strong>in</strong> ihrer/se<strong>in</strong>er wissenschaftlichen<br />

Geme<strong>in</strong>schaft gelten. Die politischen Überzeugungen hätten E<strong>in</strong>fluss auf den Inhalt<br />

<strong>der</strong> Theoriebildung: „…a fem<strong>in</strong>ist scientific practice admits political consi<strong>der</strong>ations<br />

as relevant constra<strong>in</strong>ts on reason<strong>in</strong>g, which through their <strong>in</strong>fluence on reason<strong>in</strong>g and<br />

30 Diese Haltung Long<strong>in</strong>os ist als Kritik an e<strong>in</strong>em bestimmten Fem<strong>in</strong>ismus zu verstehen, <strong>der</strong><br />

„fem<strong>in</strong>istisch“ mit „weiblich“ verwechselt. Es gibt genügend Fem<strong>in</strong>ismen, <strong>die</strong> nicht unkritisch alles<br />

„Weibliche“ för<strong>der</strong>n. Long<strong>in</strong>o selbst sieht als M<strong>in</strong>imalkonsens aller Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen <strong>die</strong> Ausweitung<br />

menschlicher Möglichkeiten an. Vgl. Long<strong>in</strong>o: Science as Social Knowledge, S. 190.<br />

31 Die Frage, ob auch Männer Fem<strong>in</strong>isten se<strong>in</strong> können, wird von <strong>der</strong> Mehrheit US-amerikanischer,<br />

akademischer Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>deutig bejaht, während <strong>die</strong>s im deutschsprachigen Ra<strong>um</strong> sehr<br />

<strong>um</strong>stritten ist. Hier legen viele Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen Wert darauf, dass Männer sich höchstens solidarisch mit<br />

Frauen o<strong>der</strong> Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen verhalten können, aber Männer per se ke<strong>in</strong>e Fem<strong>in</strong>isten se<strong>in</strong> können. Diese<br />

„Monsterfrage“ wird noch im Zusammenhang mit Hard<strong>in</strong>g behandelt.


<strong>in</strong>terpretation shape content.” 32 Aber <strong>die</strong>se fem<strong>in</strong>istischen Inhalte seien nicht<br />

vorbestimmt, son<strong>der</strong>n könnten kontextabhängig sehr unterschiedlich aussehen.<br />

Es sei möglich, Naturwissenschaft als Fem<strong>in</strong>istIn auszuüben, <strong>in</strong>dem (1) <strong>die</strong> Wege<br />

erkannt würden, auf denen <strong>die</strong> H<strong>in</strong>tergrundannahmen des Ma<strong>in</strong>stream bestimmte<br />

Schlüsse erleichtern und an<strong>der</strong>e ausschließen, und (2) <strong>die</strong> H<strong>in</strong>tergrundannahmen<br />

gezielt e<strong>in</strong>gesetzt würden, <strong>die</strong> <strong>die</strong>jenigen des Ma<strong>in</strong>stream ergänzen o<strong>der</strong> ausgleichen.<br />

Wenn wir das Konzept e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Wahrheit über Bord würfen, könnten wir<br />

immer noch Theorien nach ihrer Akzeptierbarkeit beurteilen, beson<strong>der</strong>s bezogen auf<br />

ihren Wert als Grundlagen für kollektive Handlungen <strong>um</strong> geme<strong>in</strong>same Probleme zu<br />

lösen. Das Problem <strong>der</strong> Entwicklung e<strong>in</strong>er neuen Naturwissenschaft sei das Problem<br />

<strong>der</strong> Herstellung e<strong>in</strong>er neuen gesellschaftlichen und politischen Realität. Somit s<strong>in</strong>d<br />

bei Long<strong>in</strong>o <strong>die</strong> Demokratisierung und (<strong>in</strong>haltliche) Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

Naturwissenschaften untrennbar mit gesamtgesellschaftlichen, politischen Prozessen<br />

verbunden. Da im Kontextualismus das Potential für Verän<strong>der</strong>ung bei den<br />

Praktizierenden von Naturwissenschaft steckt, wäre <strong>die</strong> Konsequenz, dass mehr<br />

Fem<strong>in</strong>istInnen am Wissenschaftsbetrieb teilhaben müssten. Somit unterstützt<br />

Long<strong>in</strong>os Ansatz Frauenför<strong>der</strong>ung, bzw. Gleichstellungspolitik. Sicherlich ist <strong>die</strong><br />

Erhöhung des Anteils von Fem<strong>in</strong>istInnen, Anti-RassistInnen usw. nur e<strong>in</strong>e<br />

notwendige Bed<strong>in</strong>gung <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Prozess.<br />

Das problematische Verhältnis von Wissen und Erfahrung<br />

Die Grenze zwischen <strong>der</strong> Beschreibung unserer Erfahrung und den kognitiven<br />

Strukturen, <strong>die</strong> wir entwickeln, <strong>um</strong> <strong>die</strong>se Erfahrung zu erklären und zu<br />

systematisieren, verän<strong>der</strong>t sich nach Long<strong>in</strong>o mit <strong>der</strong> Zeit. Was beobachtbar ist und<br />

was theoretisch ist, än<strong>der</strong>e sich je nachdem, was als <strong>um</strong>stritten und was als<br />

selbstverständlich gelte. Erfahrung selbst müsse neu gefasst werden als e<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>teraktiver statt e<strong>in</strong> passiver Prozess. Unsere Erfahrung sei e<strong>in</strong> Produkt des<br />

Zusammenwirkens unserer S<strong>in</strong>ne, unseres konzeptionellen Apparats und „<strong>der</strong> Welt<br />

da draußen“. Außerdem selektierten wir notwendigerweise e<strong>in</strong>ige Fakten <strong>der</strong> „Welt<br />

da draußen“, <strong>die</strong> wir wahrnehmen und an<strong>der</strong>e ignorierten wir, <strong>um</strong> unsere Erfahrung<br />

kohärent zu machen.<br />

Long<strong>in</strong>o geht davon aus, dass es immer e<strong>in</strong>en M<strong>in</strong>imalkonsens h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong><br />

Beschreibung <strong>der</strong> geme<strong>in</strong>samen Welt gibt, auf den wir uns zurückziehen können,<br />

32 Long<strong>in</strong>o: Science as Social Knowledge, S. 193.


wenn sich unsere spontanen Beschreibungen desselben Sachverhalts unterscheiden.<br />

Obwohl das <strong>in</strong> vielen Fällen sicherlich zutrifft, denke ich, dass wir dabei aber auch<br />

auf Grenzen stoßen. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang ist sicherlich auch <strong>die</strong><br />

Unterscheidung <strong>in</strong> den westlichen Mythos Wissenschaft und an<strong>der</strong>e Mythen<br />

entscheidend. Wo liegt <strong>der</strong> M<strong>in</strong>imalkonsens, wenn e<strong>in</strong> Angehöriger unserer Kultur<br />

etwas, was er nicht sieht, für Angehörige an<strong>der</strong>er Kulturen aber sehr wohl sichtbar<br />

ist, als „Ersche<strong>in</strong>ung“ o<strong>der</strong> „Aberglaube“ abtut und somit <strong>die</strong> Existenz von D<strong>in</strong>gen,<br />

<strong>die</strong> nicht <strong>in</strong> den Mythos Naturwissenschaft passen, negiert?<br />

Long<strong>in</strong>o vertritt e<strong>in</strong>e m<strong>in</strong>imalistische Form des Realismus: Es gebe e<strong>in</strong>e Welt, <strong>die</strong><br />

von unseren S<strong>in</strong>nen unabhängig sei, mit <strong>der</strong> unsere S<strong>in</strong>ne <strong>in</strong> Wechselwirkung treten,<br />

<strong>um</strong> unsere E<strong>in</strong>drücke und <strong>die</strong> Regelmäßigkeiten unserer Erfahrung zu produzieren.<br />

Die Arten von D<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong> wir messen, werden sich än<strong>der</strong>n, wenn sich unsere<br />

Bedürfnisse, Interessen und Verständnisse än<strong>der</strong>n; <strong>die</strong> Prozesse, <strong>die</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt<br />

stattf<strong>in</strong>den, werden sich unabhängig von Verän<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> unseren<br />

Beschreibungssystemen fortsetzen. Die Verlässlichkeit e<strong>in</strong>es solchen Systems liege<br />

nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Fähigkeit, <strong>die</strong> natürliche Welt transparent darzustellen, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Tatsache, dass <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> den Parametern des Systems Verän<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> natürlichen Welt entsprächen. Long<strong>in</strong>o sche<strong>in</strong>t also von e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Kultur<br />

vorgängigen materiellen Welt auszugehen, allerd<strong>in</strong>gs äußert sie sich zu <strong>die</strong>ser Frage<br />

auch wi<strong>der</strong>sprüchlich.<br />

Objektivität als gesellschaftliches Wissen<br />

Long<strong>in</strong>o schließt, dass es nicht <strong>die</strong> Unpersönlichkeit, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> kollaborative<br />

gesellschaftliche Prozess <strong>der</strong> transformativen Kritik sei, <strong>der</strong> <strong>die</strong> Naturwissenschaft<br />

objektiv mache. Während <strong>die</strong> Spuren des Individu<strong>um</strong>s <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Prozess entfernt<br />

würden, blieben <strong>die</strong> Spuren <strong>der</strong> Kultur; somit produzierten wir immer notwendig<br />

gesellschaftliches, und damit relatives, historisch und kulturell spezifisches Wissen:<br />

„A consequence of embrac<strong>in</strong>g the social character of knowledge is the abandonment<br />

of the ideals of certa<strong>in</strong>ty and of the permanence of knowledge. S<strong>in</strong>ce no<br />

epistemological theory has been able to guarantee the atta<strong>in</strong>ment of those ideals, this<br />

seems a m<strong>in</strong>or loss.” 33<br />

33 Long<strong>in</strong>o: Science as Social Knowledge, S. 232.


Sandra Hard<strong>in</strong>gs Konzept e<strong>in</strong>er „Starken Objektivität“: Die<br />

systematische Untersuchung gesellschaftlicher Werte als Teil <strong>der</strong><br />

Naturwissenschaften<br />

Die US-amerikanische Philosophieprofessor<strong>in</strong> Sandra Hard<strong>in</strong>g ist Vertreter<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

fem<strong>in</strong>istischen Standpunkttheorie. Sie grenzt sich von an<strong>der</strong>en Ansätzen ab, <strong>die</strong> sie<br />

als fem<strong>in</strong>istischen Empirismus bezeichnet. Ihre eigene epistemologische For<strong>der</strong>ung<br />

nach „starker Objektivität“ , <strong>die</strong> sie vor allem <strong>in</strong> ihrem Buch „Whose Science?<br />

Whose Knowledge? Th<strong>in</strong>k<strong>in</strong>g from Women’s Lives“ 34 entwickelt, enthält<br />

antiessentialistische und postmo<strong>der</strong>ne Tendenzen, obwohl sie sich von bestimmten<br />

postmo<strong>der</strong>nen Fem<strong>in</strong>ismen wie<strong>der</strong><strong>um</strong> distanziert.<br />

Das Verhältnis von Fem<strong>in</strong>ismus und Naturwissenschaften<br />

Hard<strong>in</strong>g betont <strong>die</strong> Verbesserungen, <strong>die</strong> Gleichstellungspolitik für <strong>die</strong><br />

Naturwissenschaften bewirkt hat, beson<strong>der</strong>s <strong>die</strong> Verän<strong>der</strong>ungen durch <strong>die</strong><br />

Frauenbewegung. Ihrer Ansicht nach stammen e<strong>in</strong>zigartige Beiträge <strong>der</strong><br />

Frauenbewegung, <strong>die</strong> das Wissen <strong>in</strong> den Naturwissenschaften vertiefen und<br />

erweitern, aus drei Quellen: von weiblichen Wissenschaftler<strong>in</strong>nen, durch<br />

fem<strong>in</strong>istische Politik und durch fem<strong>in</strong>istische Wissenschaftstheorien. Dabei kann<br />

sich <strong>die</strong> fem<strong>in</strong>istische Kritik entwe<strong>der</strong> gegen „schlechte Wissenschaft“ o<strong>der</strong> gegen<br />

„Wissenschaft als solche“ richten. Aus ersterem geht <strong>der</strong> fem<strong>in</strong>istische Empirismus<br />

hervor, <strong>der</strong>en Vertreter<strong>in</strong>nen das Problem nur <strong>in</strong> schlecht durchgeführter<br />

Wissenschaft sehen und daher weiterh<strong>in</strong> das Ziel Wert-neutraler Objektivität<br />

unterstützen. 35 Vertreter<strong>in</strong>nen des fem<strong>in</strong>istischen Empirismus glauben nicht, dass<br />

Wissenschaftler<strong>in</strong>nen als Frauen irgendetwas Beson<strong>der</strong>es zur Wissenschaft<br />

beizutragen haben, son<strong>der</strong>n nur, dass soziale Befreiungsbewegungen Menschen<br />

befähigen, <strong>die</strong> Welt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er erweiterten Perspektive zu sehen, da sie Aspekte<br />

sichtbar machen, <strong>die</strong> bisher durch Vorurteile verdeckt waren. Sie folgen <strong>der</strong><br />

weitverbreiteten Vorstellung, dass nur falsche wissenschaftliche Aussagen<br />

gesellschaftlicher Erklärung bedürfen, während wahre Aussagen das Ergebnis re<strong>in</strong><br />

34<br />

Sandra Hard<strong>in</strong>g: Whose Science? Whose Knowledge? Th<strong>in</strong>k<strong>in</strong>g from Women’s Lives, Cornell<br />

University Press, Ithaca, New York, 1991.<br />

35<br />

Es handelt sich bei <strong>die</strong>ser E<strong>in</strong>teilung <strong>um</strong> <strong>die</strong>jenige Hard<strong>in</strong>gs; <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen, <strong>die</strong><br />

Hard<strong>in</strong>g unter <strong>die</strong>ser Kategorie zusammenfasst, bezeichnen sich nicht unbed<strong>in</strong>gt selbst so.


natürlicher Prozesse seien. Dagegen verweist Hard<strong>in</strong>g auf das Strong Programme <strong>der</strong><br />

Ed<strong>in</strong>burgh School, das e<strong>in</strong>e kausale Symmetrie von Erklärungen für wahre und<br />

falsche Annahmen for<strong>der</strong>t: <strong>die</strong> gesamte Produktion wissenschaftlichen Wissens hat<br />

gesellschaftliche Ursachen. Dieselben Arten von Gründen, <strong>die</strong> angeführt werden, <strong>um</strong><br />

<strong>die</strong> Produktion und Akzeptanz falscher Ergebnisse zu erklären, müssen ebenso <strong>die</strong><br />

Produktion und Akzeptanz „richtiger“ Ergebnisse erklären. 36<br />

Hard<strong>in</strong>g kritisiert das Strong Programme, weil es wissenschaftliche Behauptungen<br />

auf Glauben zu reduzieren sche<strong>in</strong>t, <strong>der</strong> zufälligerweise gerade gesellschaftlich<br />

akzeptabel ist. Das Aufzeigen von gesellschaftlichen Gründen für <strong>die</strong> Akzeptanz<br />

e<strong>in</strong>er Theorie schließe aber nicht aus, dass <strong>die</strong>se besser auf <strong>die</strong> Welt zutreffe als ihre<br />

Konkurrenten. Hard<strong>in</strong>g verweist darauf, dass Überzeugungen gleichzeitig<br />

gesellschaftlich/historisch und rational begründet se<strong>in</strong> können. Sie kritisiert das<br />

Strong Programme weiterh<strong>in</strong> aufgrund se<strong>in</strong>er Unfähigkeit, den E<strong>in</strong>fluss<br />

gesellschaftlicher Phänomene auf <strong>die</strong> Entwicklung se<strong>in</strong>er eigenen E<strong>in</strong>sichten<br />

anzuwenden.<br />

Fem<strong>in</strong>istische Kritiker<strong>in</strong>nen <strong>der</strong> Wissenschaft als solche dagegen vertreten <strong>die</strong><br />

Ansicht, dass es eher schädlich sei, Frauen e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> <strong>die</strong> bestehenden<br />

Naturwissenschaften zu <strong>in</strong>tegrieren, weil dadurch e<strong>in</strong>e Institution gestärkt wird, <strong>die</strong><br />

aufgrund ihrer negativen Auswirkungen eigentlich geschwächt werden sollte. Frauen<br />

könnten <strong>in</strong> ihrer Eigenschaft als Frauen beson<strong>der</strong>e Beiträge zur Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

Wissenschaft leisten, aufgrund <strong>der</strong> Kluft zwischen ihren Erfahrungen als Frauen und<br />

den vorherrschenden konzeptionellen Schemata. Dabei sei <strong>der</strong> politische Kampf e<strong>in</strong><br />

notwendiger Teil, <strong>um</strong> <strong>die</strong>se Erfahrung artikulierbar zu machen. <strong>Der</strong> fem<strong>in</strong>istische<br />

Kampf hat demnach direkten wissenschaftlichen Wert. E<strong>in</strong>e gute<br />

Wissenschaftstheorie ist zentral, <strong>um</strong> gute Wissenschaft zu betreiben; fem<strong>in</strong>istische<br />

Theorien über <strong>die</strong> Naturwissenschaften müssen daher <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong><br />

wissenschaftlichen Vorgänge ihren Platz haben.<br />

Für Hard<strong>in</strong>g s<strong>in</strong>d beide Ansätze wichtig: Wir bräuchten <strong>in</strong>nerhalb und außerhalb des<br />

Wissenschaftsbetriebs Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen, <strong>die</strong> an e<strong>in</strong>em Strang ziehen sollten. Wir seien<br />

36 Vergl. David Bloor: Knowledge and Social Imagery, London, Routledge & Kegan Paul, 1977 und<br />

Barry Barnes: Interests and the Growth of Knowledge, Boston, Routledge & Kegan Paul, 1977. David<br />

Bloor formuliert das Konzept <strong>der</strong> Soziologie wissenschaftlichen Wissens anhand von vier<br />

Grundsätzen: (1) Die Bed<strong>in</strong>gungen , <strong>die</strong> Wissen, bzw. den Glauben an Wissen bed<strong>in</strong>gen, sollen<br />

unterschieden werden (Kausalität). (2) Es gilt zu berücksichtigen, dass Wahrheit o<strong>der</strong> Falschheit bloß<br />

als solche wahrgenommen werden und deshalb vorab nicht entschieden werden sollten<br />

(Unparteilichkeit). (3) “Wahres” und “falsches” Wissen müsste nach denselben Methoden untersucht<br />

werden (Symmetrie). (4) Die Erklärungsmuster <strong>der</strong> Sociology of Scientific Knowledge wären auf sich<br />

selbst anzuwenden (Reflexivität).


gezwungen, <strong>die</strong> Naturwissenschaften zu erneuern, aber <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gungen dafür<br />

könnten wir uns nicht selbst aussuchen. Sie geht an <strong>die</strong>ser Stelle allerd<strong>in</strong>gs nicht<br />

darauf e<strong>in</strong>, welche Frauen überhaupt Naturwissenschaftler<strong>in</strong>nen werden können und<br />

war<strong>um</strong> wir hoffen können, dass <strong>die</strong>se automatisch auch <strong>die</strong> Interessen <strong>der</strong> Frauen<br />

vertreten, denen <strong>der</strong> Zugang z<strong>um</strong> Wissenschaftsbetrieb weiterh<strong>in</strong> verwehrt ist.<br />

Wissenschaft als gesellschaftliche Praxis<br />

Die mo<strong>der</strong>ne Wissenschaft wurde durch und <strong>in</strong>nerhalb von Macht-Verhältnissen <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Gesellschaft geschaffen, nicht von ihnen getrennt. Daher stimmt Hard<strong>in</strong>g<br />

Haraway dar<strong>in</strong> zu, dass Wissenschaft Politik mit an<strong>der</strong>en Mitteln ist, aber sie sei<br />

mehr als das.<br />

Hard<strong>in</strong>g glaubt nicht an <strong>die</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Wertneutralität von Naturwissenschaft:<br />

Es wäre nicht wert-neutral, solche gesellschaftlichen Gegebenheiten wie Armut o<strong>der</strong><br />

Folter wert-neutral zu beschreiben; jede Äußerung zählt als dafür o<strong>der</strong> dagegen. Es<br />

gibt ke<strong>in</strong>en möglichen dritten Standpunkt, <strong>der</strong> das Recht beanspruchen könnte,<br />

neutral zu se<strong>in</strong>. Naturwissenschaftliche Fragestellungen s<strong>in</strong>d oft o<strong>der</strong> sogar immer<br />

Antworten auf gesellschaftliche Bedürfnisse, <strong>die</strong> als technologische def<strong>in</strong>iert wurden.<br />

Die Frage lautet, welche Funktion naturwissenschaftliche Forschung <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong><br />

zeitgenössischen gesellschaftlichen Ordnung erfüllt. Aus fem<strong>in</strong>istischer Sicht <strong>die</strong>nt<br />

<strong>die</strong> Trennung <strong>in</strong> re<strong>in</strong> wissenschaftliche Tätigkeiten und Technologien o<strong>der</strong><br />

angewandte Wissenschaften vor allem als Strategie, <strong>um</strong> <strong>die</strong> Übernahme von<br />

Verantwortung für das eigene Handeln zu vermeiden. „Re<strong>in</strong>e Wissenschaft“ wird<br />

außerdem oft auf <strong>der</strong> Grundlage gerechtfertigt, dass sie wahrsche<strong>in</strong>lich technologisch<br />

verwertbare Informationen produzieren wird.<br />

Hard<strong>in</strong>g plä<strong>die</strong>rt <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Zusammenhang dafür, <strong>die</strong> Naturwissenschaften als Teil<br />

<strong>der</strong> Sozialwissenschaften zu denken, da alles, was NaturwissenschaftlerInnen tun,<br />

Teil <strong>der</strong> sozialen Welt sei. Die mo<strong>der</strong>ne westliche Wissenschaft wurde <strong>in</strong>nerhalb und<br />

durch politische Programme konstruiert, <strong>die</strong> sowohl befreiende als auch<br />

unterdrückende Möglichkeiten be<strong>in</strong>halteten. Ebenso enthalte <strong>die</strong> heutige<br />

Wissenschaft beide <strong>die</strong>ser wi<strong>der</strong>streitenden Impulse.<br />

Fem<strong>in</strong>istische Erkenntnistheorien<br />

(1) Fem<strong>in</strong>istischer Empirismus


<strong>Der</strong> fem<strong>in</strong>istische Empirismus führt <strong>die</strong> androzentrischen und sexistischen<br />

Verzerrungen auf „schlecht durchgeführte Wissenschaft“ zurück, <strong>der</strong>en Ergebnisse<br />

aufgrund von Vorurteilen <strong>der</strong> Wissenschaftler zustande kommen. Diese<br />

Verzerrungen könnten durch strengere Befolgung <strong>der</strong> existierenden<br />

methodologischen Normen elim<strong>in</strong>iert werden. Dabei spielen Befreiungsbewegungen<br />

e<strong>in</strong>e wichtige Rolle, da sie <strong>die</strong> wissenschaftliche Geme<strong>in</strong>schaft befähigen, <strong>die</strong>se<br />

Verzerrungen wahrzunehmen.<br />

Diese Art von fem<strong>in</strong>istischer Epistemologie bezeichnet Hard<strong>in</strong>g <strong>in</strong> mehrfacher<br />

H<strong>in</strong>sicht als konservativ. Die Vorteile e<strong>in</strong>es solchen Konservatismus seien folgende:<br />

Erstens könnten Vertreter<strong>in</strong>nen <strong>die</strong>ses Konservatismus darauf bestehen, dass viele<br />

Behauptungen fem<strong>in</strong>istischer Forschung wahr s<strong>in</strong>d und ihnen so e<strong>in</strong>en<br />

schlagkräftigen Status verschaffen. Zweitens sche<strong>in</strong>t er viel vom herkömmlichen<br />

Verständnis <strong>der</strong> Pr<strong>in</strong>zipien von angemessener wissenschaftlich fun<strong>die</strong>rter Forschung<br />

<strong>in</strong>takt zu lassen. Daher könnten NaturwissenschaftlerInnen und konventionelle<br />

SozialwissenschaftlerInnen ihm eher offen gegenüber stehen als radikaleren<br />

Ansätzen. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang formuliert Hard<strong>in</strong>g als Ziel fem<strong>in</strong>istischer<br />

Bemühungen Plausibilität e<strong>in</strong>er Theorie für möglichst viele Menschen, nicht <strong>die</strong><br />

Entwicklung e<strong>in</strong>er perfekten Epistemologie. Drittens ist e<strong>in</strong>e konservative Strategie<br />

<strong>die</strong> beste, <strong>um</strong> Naturwissenschaftler<strong>in</strong>nen <strong>die</strong> Arbeit zu ermöglichen. Durch radikalere<br />

Strategien wären sie noch marg<strong>in</strong>alisierter. Viertens wird <strong>die</strong>se Strategie durch ihren<br />

Appell an <strong>die</strong> ursprünglichen Ziele <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissenschaft gestärkt: Die<br />

Frauenbewegung fungiert hier als e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> wissenschaftlichen Revolutionen, <strong>die</strong> uns<br />

den Zielen <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissenschaft näher br<strong>in</strong>gt. Hard<strong>in</strong>g bewertet<br />

hier also erkenntnistheoretische Fragestellungen explizit anhand ihres politischen<br />

Nutzens. Somit wird hier <strong>die</strong> Untrennbarkeit von wissenschaftsphilosophischen und<br />

ethischen Fragestellungen deutlich. Gestärkt wird Hard<strong>in</strong>gs offensives Umgehen mit<br />

<strong>die</strong>ser Erkenntnis durch Long<strong>in</strong>os Konzept vom Kontextualismus (s.o).<br />

Gleichzeitig unterläuft <strong>die</strong> fem<strong>in</strong>istische Komponente <strong>die</strong>ses ansonsten konservativen<br />

Ansatzes <strong>die</strong> Annahmen des traditionellen Empirismus auf drei Arten: Erstens weist<br />

sie darauf h<strong>in</strong>, dass <strong>der</strong> „Kontext <strong>der</strong> Entdeckung“ ebenso bedeutsam ist wie <strong>der</strong><br />

„Kontext <strong>der</strong> Rechtfertigung“. Zwar können <strong>in</strong>dividuelle Verzerrungen durch <strong>die</strong><br />

methodologische Rout<strong>in</strong>e identifiziert und elim<strong>in</strong>iert werden, aber <strong>die</strong> strukturellen<br />

bedürfen an<strong>der</strong>er (externer) Methoden <strong>der</strong> Aufdeckung, z.B. e<strong>in</strong>er<br />

Befreiungsbewegung. Zweitens besagt <strong>der</strong> fem<strong>in</strong>istische Empirismus, dass <strong>die</strong>


wissenschaftlichen Methoden nicht genügen, <strong>um</strong> bestimmte Arten von sozialen<br />

Verzerrungen zu beseitigen. Die traditionell empiristische Ansicht, dass <strong>die</strong><br />

Forschenden ihre wissenschaftlichen Projekte nicht auf <strong>der</strong>selben kritischen Ebene<br />

wie ihren Forschungsgegenstand lokalisieren müssen, wird so <strong>in</strong> Frage gestellt.<br />

Drittens zeigt <strong>der</strong> fem<strong>in</strong>istische Empirismus ironischerweise auf, dass genau das<br />

Befolgen <strong>der</strong> existierenden Normen für wissenschaftliches Arbeiten z<strong>um</strong> Entstehen<br />

androzentrischer und sexistischer Forschungsergebnisse beigetragen hat. Das weist<br />

daraufh<strong>in</strong>, dass <strong>die</strong> Normen z<strong>um</strong><strong>in</strong>dest teilweise selbst konstruiert wurden, <strong>um</strong> e<strong>in</strong>er<br />

androzentrischen Gesellschaft zu <strong>die</strong>nen.<br />

(2) Fem<strong>in</strong>istische Standpunkttheorie<br />

Standpunkttheorien gehen davon aus, dass nicht nur Me<strong>in</strong>ungen, son<strong>der</strong>n auch<br />

Wissen gesellschaftlich verortet ist. Dieser Ansatz geht zurück auf Georg W.F. Hegel<br />

und se<strong>in</strong>e Aussagen über das Verhältnis zwischen Herr und Sklave und auf den<br />

‚proletarischen Standpunkt‘, <strong>der</strong> von Karl Marx, Friedrich Engels und Georg Lukacs<br />

entwickelt wurde. Die Grundannahme lautet, dass das, was wir tun, formt und<br />

begrenzt, was wir wissen können. Die fem<strong>in</strong>istische Standpunkttheorie stützt sich auf<br />

<strong>die</strong>se Annahme und sieht als Basis für <strong>die</strong> fem<strong>in</strong>istische Wendung e<strong>in</strong>e wertvolle<br />

Ressource <strong>in</strong> den zahlreichen Unterschieden <strong>der</strong> Situationen von Männern und<br />

Frauen:<br />

1. Von den Lebenssituationen von Frauen auszugehen, <strong>um</strong> <strong>die</strong> hegemonialen<br />

Wissensansprüche zu kritisieren, kann <strong>die</strong> Partialitäten und Verzerrungen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

hegemonialen Sicht <strong>der</strong> Welt verr<strong>in</strong>gern. Jane Flax und an<strong>der</strong>e haben so<br />

arg<strong>um</strong>entiert, dass <strong>die</strong>s mit <strong>der</strong> Persönlichkeitsstruktur von Männern und Frauen zu<br />

tun hat; Männlichkeit sei etwas schwerer zu Erhaltendes als Weiblichkeit, daher<br />

müssten Männer ständig ihre Männlichkeit <strong>in</strong> gesellschaftlichen Zusammenhängen<br />

erkämpfen, während Weiblichkeit als etwas Natürliches aufgefasst werde 37 . E<strong>in</strong>e<br />

an<strong>der</strong>e Arg<strong>um</strong>entationsl<strong>in</strong>ie ist, dass aufgrund <strong>der</strong> unterschiedlichen Aktivitäten, <strong>die</strong><br />

Frauen und Männer ausüben, unterschiedliche Formen des Verstandes ausgeprägt<br />

wurden; z.B. „mütterliches Denken“. Hard<strong>in</strong>g betont an <strong>die</strong>ser Stelle zu Recht, dass<br />

37 Mit Judith Butlers Konzept <strong>der</strong> Performativität von Geschlecht ersche<strong>in</strong>t <strong>die</strong>se Arg<strong>um</strong>entation<br />

h<strong>in</strong>fällig o<strong>der</strong> z<strong>um</strong><strong>in</strong>dest <strong>in</strong> Frage gestellt. Wir alle müssen unser Geschlecht ständig herstellen. Die<br />

Diskrim<strong>in</strong>ierung von Frau-zu-Mann-Transgen<strong>der</strong>s zeigt, dass auch Weiblichkeit etwas schwer zu<br />

erhaltendes ist, wenn mensch nicht e<strong>in</strong>em bestimmten Normenkatalog entsprechen kann o<strong>der</strong> will. Die<br />

Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se These vertreten, sche<strong>in</strong>en mir dem Fakt<strong>um</strong> aufgesessen zu se<strong>in</strong>, dass Männer<br />

ihre Männlichkeit <strong>in</strong> unserer Kultur lautstarker beweisen müssen, während Frauen ihre Weiblichkeit<br />

subtiler herstellen müssen, <strong>die</strong>se Arbeit ist aber auch zu leisten. Vgl. Judith Butler: Gen<strong>der</strong> Trouble:<br />

Fem<strong>in</strong>ism and the Subversion of Identity, Routledge, New York, 1990.


<strong>die</strong> Basis für Wissensansprüche nicht Erfahrung von Frauen se<strong>in</strong> kann, da Erfahrung<br />

selbst von gesellschaftlichen Verhältnissen geformt wird. Stattdessen müsste auf<br />

e<strong>in</strong>em objektiven Ort – den Lebenssituationen von Frauen – bestanden werden, als<br />

dem Ort, von dem aus fem<strong>in</strong>istische Forschung beg<strong>in</strong>nen sollte. Was an Hard<strong>in</strong>gs<br />

Vorschlag problematisch ist, ist <strong>die</strong> traditionelle Betonung <strong>der</strong> Dichotomie<br />

objektiv/subjektiv: Die Erfahrungen von Frauen gelten als subjektiv, <strong>die</strong> „harten<br />

Fakten“ – ihre Lebenssituationen, ausgedrückt <strong>in</strong> Statistiken, Gesetzen usw. – als<br />

objektiv. Weiterh<strong>in</strong> bezweifle ich, dass <strong>die</strong> Probleme durch den Wechsel des<br />

Fokusses von Erfahrung auf Lebenssituation gelöst würden: Diese Kategorie bleibt<br />

bei Hard<strong>in</strong>g ebenso undeutlich wie <strong>die</strong> <strong>der</strong> Erfahrung: Wie z.B. s<strong>in</strong>d<br />

Diskrim<strong>in</strong>ierungssituationen „objektiv“ darstellbar?<br />

2. Die Perspektive von Frauen beg<strong>in</strong>nt im Alltagsleben 38 . Männer, <strong>die</strong> sich nicht<br />

<strong>um</strong> <strong>die</strong> Aufrechterhaltung ihrer alltäglichen Umgebung, ihrer eigenen Körper usw.<br />

kümmern müssen, sehen nur das als real an, was zu ihrer abstrakten mentalen Welt<br />

Bezug hat. Wenn wir daher bei <strong>der</strong> Alltäglichkeit von Frauenleben beg<strong>in</strong>nen, werden<br />

wir zu Verständnissen <strong>der</strong> Leben sowohl von Frauen als auch von Männern<br />

gelangen, <strong>die</strong> sich sehr unterscheiden von den Darstellungen, <strong>die</strong> <strong>in</strong> konventionellen<br />

Gesellschaftstheorien bevorzugt werden.<br />

3. Frauen s<strong>in</strong>d epistemologisch gesehen wertvolle „Fremde“ <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

gesellschaftlichen Ordnung. Die Fremde br<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> ihre Forschung gerade <strong>die</strong><br />

Komb<strong>in</strong>ation von Nähe und Distanz, Besorgnis und Gleichgültigkeit e<strong>in</strong>, <strong>die</strong> zentral<br />

ist, <strong>um</strong> Objektivität zu maximieren. Männer <strong>der</strong> dom<strong>in</strong>anten Gruppen s<strong>in</strong>d <strong>die</strong><br />

„E<strong>in</strong>geborenen“, <strong>der</strong>en Lebensstrukturen und Denkweisen zu gut <strong>in</strong> <strong>die</strong> dom<strong>in</strong>anten<br />

Institutionen und Konzepte passen, <strong>um</strong> bestimmte Phänomene noch wahrnehmen zu<br />

können. <strong>Der</strong> Fem<strong>in</strong>ismus dagegen lehrt Frauen (und Männer), wie <strong>die</strong><br />

gesellschaftliche Ordnung aus <strong>der</strong> Perspektive e<strong>in</strong>er Außenseiter<strong>in</strong> zu sehen ist. Die<br />

Unterdrückung, <strong>die</strong> Frauen erfahren, sorgt dafür, dass sie weniger Interesse an<br />

ignorantem Verhalten haben als Männer, da für sie hieraus weniger Vorteile<br />

resultieren. 39<br />

38 Alltag ist hier als Gegensatz z<strong>um</strong> „professionellen“ Leben von Männern zu verstehen. Dieses stellt<br />

für Männer selbstverständlich ihren Alltag dar.<br />

39 Hier wird bereits deutlich, dass privilegierte Frauen natürlich mehr Interesse an ignorantem<br />

Verhalten haben als weniger privilegierte Frauen. Daher ist <strong>die</strong>ses Arg<strong>um</strong>ent so pauschal nicht zu<br />

halten. Auch <strong>der</strong> Bezug von Frauen z<strong>um</strong> Alltagsleben ist klassen- und „rassen“spezifisch<br />

unterschiedlich.


4. Versuche, <strong>die</strong> Geschichte aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Leben <strong>der</strong>jenigen zu<br />

rekonstruieren, <strong>die</strong> sich gegen Unterdrückung wehren, führen zu weniger partiellen<br />

und verzerrten Darstellungen von <strong>der</strong> Natur und gesellschaftlichen Verhältnissen.<br />

Für <strong>die</strong> Unterdrückten entsteht Wissen durch ihre Kämpfe gegen <strong>die</strong> Unterdrücker.<br />

Daher ist fem<strong>in</strong>istische Politik e<strong>in</strong>e notwendige Bed<strong>in</strong>gung, <strong>um</strong> weniger partielle und<br />

verdrehte Beschreibungen und Erklärungen wissenschaftlicher Art herzustellen.<br />

Diese Notwendigkeit des politischen Kampfes betont, dass e<strong>in</strong> fem<strong>in</strong>istischer<br />

Standpunkt nichts ist, das irgendjemand e<strong>in</strong>fach haben kann, <strong>in</strong>dem sie/er ihn für sich<br />

beansprucht, son<strong>der</strong>n dass er e<strong>in</strong>e Errungenschaft darstellt.<br />

5. Frauen, beson<strong>der</strong>s Forscher<strong>in</strong>nen, s<strong>in</strong>d „outsi<strong>der</strong>s with<strong>in</strong>“. Es reicht nicht aus,<br />

e<strong>in</strong>fach Außenseiter<strong>in</strong> zu se<strong>in</strong>, denn <strong>die</strong> Beziehungen zwischen marg<strong>in</strong>alisierten und<br />

hegemonialen Tätigkeiten wird nur von e<strong>in</strong>er Seite aus betrachtet nicht deutlich:<br />

„Instead, it is when one works on both sides that there emerges the possibility of<br />

see<strong>in</strong>g the relation between dom<strong>in</strong>ant activities and beliefs and those that arise on the<br />

‚outside‘.“ 40<br />

6. Die Perspektive von Frauen hat ihren Ausgangspunkt im Vermitteln von<br />

ideologischen Dualismen, beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Natur-Kultur-Dichotomie. Frauen<br />

verrichten Arbeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sie „natürliche“ Substanzen <strong>in</strong> gesellschaftlich def<strong>in</strong>ierte<br />

Güter <strong>um</strong>wandeln, beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong> <strong>der</strong> Reproduktionsarbeit. Aufgrund <strong>der</strong><br />

geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ermöglicht uns <strong>der</strong> Standpunkt von Frauen so<br />

zu verstehen, wie gesellschaftliche und kulturelle Phänomene geformt werden.<br />

Männern bleiben <strong>die</strong>se Aktivitäten verborgen.<br />

Als Vorteile sieht Hard<strong>in</strong>g bei <strong>der</strong> Standpunkttheorie ebenso wie beim fem<strong>in</strong>istischen<br />

Empirismus, dass <strong>die</strong> Denkweise bereits bekannt ist, es gibt historische Vorbil<strong>der</strong>.<br />

Aber <strong>die</strong> fem<strong>in</strong>istische Variante grenzt sich von <strong>der</strong> marxistischen ab und entwickelt<br />

<strong>die</strong>se weiter, <strong>in</strong>dem sie Männer und Frauen gewissermaßen als Geschlechts-Klassen<br />

auffasst.<br />

Das schwache Objektivitätskonzept des Objektivismus 41<br />

Aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong>jenigen, <strong>die</strong> Objektivität im traditionellen S<strong>in</strong>n vertreten,<br />

sche<strong>in</strong>t <strong>der</strong> Werte-Relativismus <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zige Alternative zu wertneutraler Objektivität<br />

zu se<strong>in</strong>. Dies stellt aber e<strong>in</strong>e unnötige Dichotomie dar. Hard<strong>in</strong>g plä<strong>die</strong>rt stattdessen<br />

dafür, dass <strong>der</strong> Fem<strong>in</strong>ismus ke<strong>in</strong>e fem<strong>in</strong>istische Agenda ausschließen sollte: Diese<br />

40 Hard<strong>in</strong>g: Whose Science? Whose Knowledge, S. 131 f.<br />

41 Unter Objektivismus versteht Hard<strong>in</strong>g den traditionellen wertneutralen <strong>Objektivitätsbegriff</strong>.


Art von Denkverboten sei genau das, was Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen an <strong>der</strong> Autorität über den<br />

Kanon ihrer Diszipl<strong>in</strong>en kritisiert haben, <strong>in</strong>dem sie darauf h<strong>in</strong>gewiesen haben, dass<br />

<strong>die</strong>se Autorität den Effekt hatte, <strong>die</strong> Stimmen marg<strong>in</strong>alisierter Gruppen z<strong>um</strong><br />

Verst<strong>um</strong>men zu br<strong>in</strong>gen. Hard<strong>in</strong>g möchte sich weg von <strong>der</strong> fruchtlosen Wahl<br />

zwischen wertneutraler Objektivität und Werte-Relativismus, h<strong>in</strong> zu neuen, stärkeren<br />

Objektivitäts-Standards bewegen. Sie plä<strong>die</strong>rt dafür, e<strong>in</strong>en historischen,<br />

soziologischen, o<strong>der</strong> kulturellen Relativismus zu akzeptieren, aber e<strong>in</strong>en Werte- o<strong>der</strong><br />

epistemologischen Relativismus abzulehnen. Dies würde e<strong>in</strong>e wissenschaftliche<br />

Untersuchung des Verhältnisses zwischen historisch verorteten Überzeugungen und<br />

maximal objektiven Überzeugungen benötigen.<br />

Die Frage, ob <strong>der</strong> Fem<strong>in</strong>ismus gezwungen ist, e<strong>in</strong>e relativistische Position<br />

e<strong>in</strong>zunehmen, weil er nur e<strong>in</strong>e unter vielen gegenkulturellen Stimmen ist,<br />

beantwortet Hard<strong>in</strong>g damit, dass <strong>der</strong> Fem<strong>in</strong>ismus <strong>die</strong> Belange je<strong>der</strong><br />

Befreiungsbewegung <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Kern aufnehmen sollte und jede <strong>der</strong> Bewegungen<br />

ebenso fem<strong>in</strong>istische Belange.<br />

<strong>Der</strong> Objektivismus wurde nach Hard<strong>in</strong>g gleichzeitig zu eng und zu weit gefasst, <strong>um</strong><br />

<strong>die</strong> Ziele erreichen zu können, <strong>die</strong> er verteidigt. Er werde e<strong>in</strong>erseits zu eng<br />

verstanden, weil er so gestaltet wurde, dass nur <strong>die</strong> gesellschaftlichen Werte und<br />

Interessen identifiziert und elim<strong>in</strong>iert werden können, <strong>die</strong> unter den Forschenden und<br />

den KritikerInnen, <strong>die</strong> von <strong>der</strong> Wissenschaftsgeme<strong>in</strong>de als kompetent erachtet<br />

werden, Urteile zu fällen, verschieden s<strong>in</strong>d. Werte, <strong>die</strong> allen im Forschungsprozess<br />

Beteiligten geme<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d, fließen daher unbemerkt <strong>in</strong> <strong>die</strong> Ergebnisse e<strong>in</strong>. Diese Art<br />

von Bl<strong>in</strong>dheit werde noch durch den Glauben geför<strong>der</strong>t, dass <strong>der</strong> wahrhaft<br />

wissenschaftliche Teil des Wissensf<strong>in</strong>dungsprozesses nur im Kontext <strong>der</strong><br />

Rechtfertigung zu sehen ist. Die Wissenschaftsgeschichte dagegen hat gezeigt, dass<br />

viele weit verbreitete gesellschaftliche Vorurteile auch mit den besten bestehenden<br />

Forschungsprozeduren nicht aufgedeckt wurden.<br />

<strong>Der</strong> Objektivismus werde an<strong>der</strong>erseits <strong>in</strong>sofern zu breit aufgefasst, als nicht alle<br />

gesellschaftlichen Werte und Interessen <strong>die</strong>selben schlechten Effekte auf <strong>die</strong><br />

Ergebnisse von Forschung haben, wie er postuliert. Wissenschaftliche<br />

Überzeugungen, Praktiken, Institutionen, Geschichten und Problemstellungen<br />

würden seit jeher <strong>in</strong>nerhalb und durch zeitgenössische politische und<br />

gesellschaftliche Projekte etabliert. Zwar gelangen Menschen verschiedener<br />

Gesellschaften häufig zu vielen <strong>der</strong>selben empirischen Behauptungen, dennoch


egegne uns <strong>die</strong> „Natur“ als Objekt von menschlichem Wissen niemals „nackt“,<br />

son<strong>der</strong>n immer nur bereits <strong>in</strong> gesellschaftlichen Gedankenstrukturen geprägt.<br />

Die schwache Objektivität des Objektivismus sei somit e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> sich wi<strong>der</strong>sprüchliche<br />

Konstruktion, und genau <strong>die</strong>ser wi<strong>der</strong>sprüchliche Charakter sei <strong>in</strong> großen Teilen<br />

verantwortlich für se<strong>in</strong>e Nützlichkeit und se<strong>in</strong>e weitverbreitete Attraktivität für<br />

hegemoniale Gruppen. Das Ideal des <strong>in</strong>differenten rationalen Wissenschaftlers<br />

komme dem Selbst<strong>in</strong>teresse sowohl von gesellschaftlichen Eliten als auch von<br />

machthungrigen Wissenschaftlern zugute.<br />

Starke Objektivität und Reflexivität<br />

Unsere Kulturen haben Konzepte und machen Annahmen, <strong>die</strong> wir als Individuen<br />

nicht ohne weiteres aufdecken können. Wir können starke Objektivität nach Hard<strong>in</strong>g<br />

so auffassen, dass wir <strong>die</strong> Aufgaben wissenschaftlicher Forschung so ausweiten, dass<br />

wir <strong>die</strong> systematische Untersuchung solch mächtiger H<strong>in</strong>tergrundüberzeugungen<br />

mite<strong>in</strong>beziehen. Im Gegensatz z<strong>um</strong> Strong Programme erfor<strong>der</strong>n <strong>die</strong><br />

Standpunkttheorien kausale Analysen nicht nur <strong>der</strong> Mikroprozesse im Labor,<br />

son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Makrostrukturen <strong>in</strong> <strong>der</strong> gesellschaftlichen Ordnung, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

wissenschaftlichen Praktiken bee<strong>in</strong>flussen. Daher ist das Moment <strong>der</strong> Reflexivität<br />

von größter Bedeutung.<br />

Von <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Leben von Frauen auszugehen, lasse das seltsam ersche<strong>in</strong>en,<br />

was bisher vertraut erschien. E<strong>in</strong> solches Befremden stelle den Beg<strong>in</strong>n je<strong>der</strong><br />

wissenschaftlichen Untersuchung dar, weil es neue Fragen aufwerfe.<br />

<strong>Der</strong> Direktive <strong>der</strong> starken Objektivität zu folgen, bedeute, <strong>die</strong> Perspektive des/r<br />

An<strong>der</strong>en wertzuschätzen und sich gedanklich <strong>in</strong> den gesellschaftlichen Zustand zu<br />

bewegen, <strong>der</strong> sie herstellt. Nicht, <strong>um</strong> dort zu bleiben o<strong>der</strong> das Selbst mit dem<br />

An<strong>der</strong>en zu verschmelzen, son<strong>der</strong>n <strong>um</strong> zurück auf das Selbst <strong>in</strong> all se<strong>in</strong>er kulturellen<br />

Partialität von e<strong>in</strong>em distanzierteren, kritischen, objektifizierenden Ort aus zu<br />

blicken. Dafür müsse <strong>die</strong> Beziehung zwischen Subjekt und Objekt untersucht<br />

werden. Es solle versucht werden, e<strong>in</strong>e reziproke Beziehung zwischen dem Subjekt<br />

und dem Objekt von Wissen zu erreichen.<br />

Reflexivität wird <strong>in</strong> den Sozialwissenschaften als e<strong>in</strong> zentrales Thema angesehen, da<br />

<strong>die</strong> Beobachtung das Feld des Beobachteten verän<strong>der</strong>t. Reflexivität ist aber auch <strong>in</strong><br />

den Naturwissenschaften relevant, da hier ebenfalls <strong>die</strong> kulturellen Werte und<br />

Interessen <strong>der</strong> Forschenden e<strong>in</strong>en Teil <strong>der</strong> Beweise für <strong>die</strong> Ergebnisse <strong>der</strong> Forschung


ilden. Analog z<strong>um</strong> Konzept <strong>der</strong> starken Objektivität for<strong>der</strong>t Hard<strong>in</strong>g daher auch e<strong>in</strong><br />

Konzept e<strong>in</strong>er starken Reflexivität.<br />

Die Standpunkttheorie bestehe darauf, den/<strong>die</strong> BeobachterIn und <strong>die</strong> Institutionen <strong>der</strong><br />

Beobachtung, wie <strong>die</strong> Wissenschaft, <strong>der</strong>selben kritischen Betrachtung auszusetzen<br />

wie das Beobachtete: <strong>die</strong>selben Arten von gesellschaftlichen Kräften, <strong>die</strong> den Rest<br />

<strong>der</strong> Welt formen, formen auch unsere eigenen Erklärungen, <strong>in</strong>klusive<br />

wissenschaftliche Erklärungen. Das sei e<strong>in</strong> Grund, war<strong>um</strong> unsere<br />

Forschungsprozesse und Institutionen <strong>in</strong> solche gesellschaftlichen Kontexte<br />

e<strong>in</strong>gebettet se<strong>in</strong> sollten, <strong>die</strong> dazu ten<strong>die</strong>ren, weniger falsche Ergebnisse zu liefern.<br />

S<strong>in</strong>d Standpunkttheorien ethnozentristisch? 42<br />

In Hard<strong>in</strong>gs Verständnis erlaubt es <strong>die</strong> Logik <strong>der</strong> Standpunkttheorie je<strong>der</strong><br />

unterdrückten Gruppe, <strong>die</strong> Sicht <strong>der</strong> Welt aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Leben ihrer<br />

Mitglie<strong>der</strong> <strong>in</strong> den Mittelpunkt zu stellen. Die Standpunkttheorien hätten allerd<strong>in</strong>gs<br />

Tendenzen, gleichzeitig <strong>die</strong> Unterschiedlichkeiten <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Gruppe, auf <strong>die</strong> sie<br />

den Schwerpunkt legten, zu ignorieren. Dabei sei es als Gegenstrategie nicht<br />

ausreichend, e<strong>in</strong>fach nur den Plural zu verwenden („Frauen“). Dieselbe Problematik<br />

betreffe auch <strong>die</strong> Unterschiede <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> entgegensetzten dom<strong>in</strong>anten Gruppe,<br />

z.B. Männer: Wenn <strong>in</strong> fem<strong>in</strong>istischen Kontexten von „Männern“ <strong>die</strong> Rede sei,<br />

müsste es differenzierter eher „Männer <strong>der</strong> dom<strong>in</strong>anten ‚Rassen‘ 43 und Klassen“<br />

heißen. Die Privilegien an<strong>der</strong>er Männer gegenüber Frauen seien lediglich e<strong>in</strong><br />

„Abstaubeffekt“ von denen <strong>der</strong> Männer <strong>in</strong> den herrschenden Gruppen 44 . Hard<strong>in</strong>g<br />

rä<strong>um</strong>t e<strong>in</strong>, dass Standpunkttheorien daher reichhaltigere Konzeptionen und Analysen<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>greifenden Beziehungen zwischen Sexismus, Rassismus,<br />

Heterosexismus und Klassen-Unterdrückung bedürfen. Dabei sollte bedacht werden,<br />

dass jedes <strong>die</strong>ser Phänomene grundsätzlich als Beziehung, nicht als D<strong>in</strong>g, aufgefasst<br />

werden sollte. Jede <strong>die</strong>ser Beziehungen sei e<strong>in</strong>e dynamische, <strong>die</strong> ständig<br />

Verän<strong>der</strong>ungen durchläuft, teilweise, weil Verän<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Beziehungen stattf<strong>in</strong>den. Das habe auch Folgen für unser Verständnis davon, was<br />

42 Ethnozentrismus me<strong>in</strong>t hier <strong>die</strong> unverhältnismäßige Privilegierung <strong>der</strong> eigenen Position.<br />

43 <strong>Der</strong> Begriff „Rasse“ ist problematisch, da er im deutschsprachigen Ra<strong>um</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel als<br />

biologische Kategorie verstanden wird, obwohl „Rassen“ biologisch gesehen nicht existieren. Im USamerikanischen<br />

Diskurs dagegen wird race als soziale Kategorie verstanden, <strong>die</strong> Zugehörigkeit zu<br />

e<strong>in</strong>er „Rasse“ sagt etwas über <strong>die</strong> Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>er bestimmten sozialen Geme<strong>in</strong>schaft o<strong>der</strong><br />

Subkultur aus.<br />

44 Diese Behauptung Hard<strong>in</strong>gs ersche<strong>in</strong>t mir <strong>in</strong> ihrer Pauschalität nicht haltbar: Auch <strong>in</strong>nerhalb<br />

marg<strong>in</strong>alisierter Gruppen gibt es eigenständige sexistische Strukturen, <strong>die</strong> nicht nur <strong>die</strong> Privilegierung<br />

weißer Oberschichtsmänner wie<strong>der</strong>spiegeln.


Männer und Frauen s<strong>in</strong>d: „There are no such persons as women or men per se; there<br />

are only women and men <strong>in</strong> particular, historically located race and class and cultural<br />

relations. There are no gen<strong>der</strong> relations per se, but only gen<strong>der</strong> relations as<br />

constructed by and between classes, races and cultures.“ 45 Daraus folgt, dass wir<br />

noch mehr lernen können, wenn wir unser Denken nicht e<strong>in</strong>fach von den Leben<br />

weißer Frauen <strong>der</strong> westlichen Mittel- und Oberschichten aus beg<strong>in</strong>nen, son<strong>der</strong>n von<br />

Frauen <strong>in</strong> abgewerteten und unterdrückten „Rassen“, Klassen und Kulturen.<br />

Z<strong>um</strong> Subjekt des Wissens<br />

Hard<strong>in</strong>g bezieht sich auf Teresa de Lauretis, <strong>die</strong> vorschlägt, dass sich aus<br />

fem<strong>in</strong>istischen Analysen <strong>der</strong> Heterogenität von Frauen und ihrer multiplen<br />

Identitäten e<strong>in</strong>e neue Konzeption des Subjekts ergeben sollte, bei <strong>der</strong> <strong>die</strong> Differenzen<br />

zwischen den Frauen vielmehr als Differenzen <strong>in</strong>nerhalb von Frauen verstanden<br />

werden sollten. So konzipiert sie das weibliche Subjekt als e<strong>in</strong>en „Ort <strong>der</strong><br />

Differenzen“: „For if it is the case that the female subject is en-gen<strong>der</strong>ed across<br />

multiple representations of class, race, language, and social relations, it is also the<br />

case ... that gen<strong>der</strong> is a common denom<strong>in</strong>ator: the female subject is always<br />

constructed and def<strong>in</strong>ed <strong>in</strong> gen<strong>der</strong>, start<strong>in</strong>g from gen<strong>der</strong>. In this sense, therefore, if<br />

differences among women are also differences with<strong>in</strong> women, not only does<br />

fem<strong>in</strong>ism exist despite those differences, but, most important, as we are just now<br />

beg<strong>in</strong>n<strong>in</strong>g to realize, it cannot cont<strong>in</strong>ue to exist without them.“ 46<br />

Hard<strong>in</strong>g stellt fest, dass <strong>die</strong> Standpunkttheorie sowohl e<strong>in</strong>e essentialistische Tendenz<br />

als auch Ressourcen enthält, <strong>die</strong> <strong>die</strong>ser Tendenz etwas entgegenzusetzen haben.<br />

Denn folgen wir de Lauretis‘ Vorstellung vom (weiblichen) Subjekt, dann ist das<br />

Subjekt des fem<strong>in</strong>istischen Wissens multipel und <strong>in</strong> sich wi<strong>der</strong>sprüchlich, nicht<br />

e<strong>in</strong>heitlich und kohärent. Das Subjekt fem<strong>in</strong>istischen Wissens muss daher<br />

gleichzeitig das Subjekt <strong>der</strong> Wissensprojekte je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Befreiungsbewegung<br />

se<strong>in</strong>.<br />

Alle Fem<strong>in</strong>ismen seien h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Werte von Weiblichkeit und Frause<strong>in</strong><br />

ambivalent; <strong>die</strong>s sei Teil des wi<strong>der</strong>sprüchlichen Charakters des Fem<strong>in</strong>ismus:<br />

„Fem<strong>in</strong>ist thought does not try to substitute loyalty to fem<strong>in</strong><strong>in</strong>ity for the loyalty it<br />

45 Hard<strong>in</strong>g: Whose Science? Whose Knowledge?, S. 179.<br />

46 Teresa de Lauretis: „Fem<strong>in</strong>ist Stu<strong>die</strong>s/Critical Stu<strong>die</strong>s: Issues, Terms and Contexts,“ <strong>in</strong>: Fem<strong>in</strong>ist<br />

Stu<strong>die</strong>s/Critical Stu<strong>die</strong>s, hg. v. Teresa de Lauretis, Indiana University Press, Bloom<strong>in</strong>gton, 1986, S.<br />

14.


criticizes <strong>in</strong> conventional thought. Instead, it criticizes all gen<strong>der</strong> loyalties as capable<br />

of produc<strong>in</strong>g only partial and distorted results of research. However, it must do this<br />

while also argu<strong>in</strong>g that women’s lives have been <strong>in</strong>appropriately devalued. Fem<strong>in</strong>ist<br />

thought is forced to ‚speak as‘ and on behalf of the very notion it criticizes and tries<br />

to dismantle – women.“ 47 Daher sei <strong>die</strong> Behauptung, Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen würden e<strong>in</strong>fach<br />

nur alles Weibliche unh<strong>in</strong>terfragt för<strong>der</strong>n, e<strong>in</strong>e ungerechtfertigte Unterstellung.<br />

Vielmehr sei das langfristige Ziel des Fem<strong>in</strong>ismus <strong>die</strong> Aufhebung von Geschlechtern<br />

o<strong>der</strong> z<strong>um</strong><strong>in</strong>dest <strong>die</strong> Aufhebung <strong>der</strong> Bedeutung von Geschlechtern als Grundlage <strong>der</strong><br />

Geschlechterhierarchie. Darüber h<strong>in</strong>aus gebe es viele Fem<strong>in</strong>ismen; sie begännen <strong>in</strong><br />

den Leben verschiedener historischen Gruppen von Frauen. Auch <strong>die</strong><br />

Standpunkttheorien werden von Hard<strong>in</strong>g als historisch spezifische Epistemologien<br />

aufgefasst und erheben somit ke<strong>in</strong>en Anspruch auf absolute, ahistorische Gültigkeit.<br />

Die marg<strong>in</strong>alisierten Leben lieferten <strong>die</strong> wissenschaftlichen Probleme und <strong>die</strong><br />

Fragestellungen, nicht <strong>die</strong> Lösungen.<br />

Das Subjekt des Wissens <strong>in</strong> <strong>der</strong> fem<strong>in</strong>istischen Standpunkttheorie zeichne sich durch<br />

vier Charakteristika aus:<br />

1. Es ist körperlich und sichtbar.<br />

2. Es ist nicht grundlegend an<strong>der</strong>s als das Objekt des Wissens. Dies gilt auch für<br />

<strong>die</strong> Naturwissenschaften.<br />

3. Geme<strong>in</strong>schaften und nicht <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Individuen stellen Wissen her.<br />

4. Das Subjekt ist vielfach, heterogen und wi<strong>der</strong>sprüchlich o<strong>der</strong> <strong>in</strong>kohärent.<br />

Somit benennt Hard<strong>in</strong>g als postmo<strong>der</strong>ne Tendenzen <strong>der</strong> Standpunkttheorie<br />

antiessentialistische Tendenzen: <strong>die</strong> Absage an entkörperlichte Vorstellungen von<br />

Vernunft, stattdessen wird Vernunft als gesellschaftlich verortet aufgefasst; <strong>die</strong><br />

Vorstellung, dass es bessere o<strong>der</strong> schlechtere Beschreibungen <strong>der</strong> Welt gibt, ohne auf<br />

e<strong>in</strong>em aufklärerischen Wahrheitsbegriff zu beharren, da das Wissen immer als<br />

gesellschaftlich verortet verstanden wird; <strong>die</strong> Absage an e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>heitliches Subjekt, im<br />

Gegenteil, den epistemologischen Vorteil fem<strong>in</strong>istisch motivierten Denkens gerade<br />

<strong>in</strong> den Differenzen <strong>in</strong>nerhalb jedes fem<strong>in</strong>istischen Bewusstse<strong>in</strong>s zu sehen und endlich<br />

<strong>die</strong> Überzeugung, dass Wissenschaft und Vernunft sowohl progressive als auch<br />

regressive Impulse enthalten 48 , statt e<strong>in</strong>facher Wissenschaftshörigkeit.<br />

47<br />

Sandra Hard<strong>in</strong>g: Reth<strong>in</strong>k<strong>in</strong>g Standpo<strong>in</strong>t Epistemology: „What Is Strong Objectivity“?, <strong>in</strong> L<strong>in</strong>da<br />

Alcoff und Elizabeth Potter (Hg.): Fem<strong>in</strong>ist Epistemologies, Routledge, New York und London, 1993,<br />

S. 59.<br />

48<br />

Hard<strong>in</strong>gs Verwendung <strong>der</strong> Begriffe „progressiv“ und „regressiv“ deutet auf e<strong>in</strong>en<br />

Fortschrittsglauben h<strong>in</strong>, den ich nicht teile.


Das schwierige Verhältnis von Wissen und Erfahrung <strong>in</strong> den Standpunkttheorien:<br />

Hard<strong>in</strong>gs Neuerf<strong>in</strong>den unserer Selbst als An<strong>der</strong>e<br />

E<strong>in</strong> grundlegendes Problem <strong>der</strong> Standpunkttheorie ist <strong>die</strong> Frage <strong>der</strong> Beziehung<br />

zwischen Erfahrung und Wissen. Für Hard<strong>in</strong>g ist damit <strong>die</strong> Frage verwandt, wie wir<br />

aktiv etwas über unser Selbst und unsere Kultur e<strong>in</strong>er dom<strong>in</strong>anten Gruppe stu<strong>die</strong>ren<br />

und lernen können, ohne entwe<strong>der</strong> <strong>die</strong> konventionellen ethnozentrischen<br />

Perspektiven zu reproduzieren, <strong>die</strong> <strong>in</strong> unserem spontanen Bewusstse<strong>in</strong> gut zu den<br />

Erfahrungen unseres Lebens zu passen sche<strong>in</strong>en, o<strong>der</strong> uns unangemessenerweise <strong>die</strong><br />

Erfahrungen <strong>der</strong>jenigen An<strong>der</strong>en anzueignen, <strong>der</strong>en Stimmen uns dazu gebracht<br />

haben, zu erkennen, dass wir unsere Sicht von uns selbst überdenken müssen. Kann<br />

nur aus den Leben <strong>der</strong> Unterdrückten Wissen produziert werden? Diese letzte Frage<br />

führt Hard<strong>in</strong>g exemplarisch zur „Monsterfrage“: Was bedeutet es und was sollte es<br />

bedeuten, e<strong>in</strong> männlicher Fem<strong>in</strong>ist zu se<strong>in</strong>?<br />

Die fem<strong>in</strong>istische Standpunkttheorie konzentriert sich auf das wissenschaftliche und<br />

epistemologische Gewicht <strong>der</strong> Lücke zwischen dem Verständnis <strong>der</strong> Welt, das<br />

mensch erhält, wenn mensch bei den Leben <strong>der</strong> ausgebeuteten, unterdrückten und<br />

dom<strong>in</strong>ierten Gruppen beg<strong>in</strong>nt, und dem Verständnis <strong>der</strong> Welt, das von den<br />

hegemonialen Konzepten bereitgestellt wird. Dabei ist es wichtig zu bedenken, dass<br />

e<strong>in</strong> Standpunkt ke<strong>in</strong>e Perspektive ist, son<strong>der</strong>n es Wissenschaft und Politik bedarf, <strong>um</strong><br />

e<strong>in</strong>en Standpunkt zu erreichen. Standpunkte s<strong>in</strong>d gesellschaftlich vermittelt;<br />

Perspektiven dagegen s<strong>in</strong>d unvermittelt.<br />

Hard<strong>in</strong>g weist kritisch darauf h<strong>in</strong>, dass <strong>die</strong> meisten euro-amerikanischen<br />

Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen dazu neigen, ihre eigenen Fähigkeiten, anti-rassistisch zu denken zu<br />

überschätzen, während sie <strong>die</strong> Fähigkeiten von Männern, fem<strong>in</strong>istisch zu denken<br />

unterschätzen. Sie stellt <strong>die</strong> Frage, ob e<strong>in</strong>e „gesellschaftliche Situation“ genau und<br />

e<strong>in</strong>zig durch das Geschlecht, <strong>die</strong> „Rasse“, <strong>die</strong> Klasse o<strong>der</strong> <strong>die</strong> sexuelle Orientierung<br />

e<strong>in</strong>er Person bestimmt wird. Fem<strong>in</strong>istInnen werden gemacht, nicht geboren; nicht<br />

jede Frau denkt automatisch fem<strong>in</strong>istisch, also kann <strong>die</strong> Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>er<br />

Gruppe qua Geburt nicht das alle<strong>in</strong>ige Kriteri<strong>um</strong> se<strong>in</strong>, obwohl Frauen mit größerer<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit als Männer zu Fem<strong>in</strong>istInnen werden.<br />

Euro-amerikanische Leben zu verstehen, sei e<strong>in</strong> notwendiges Moment, <strong>um</strong> an<strong>der</strong>e<br />

Menschen und me<strong>in</strong>e Beziehungen zu ihnen zu verstehen, <strong>in</strong>dem ich verstehe, wie<br />

ich aus <strong>der</strong> Perspektive ihrer Leben <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Beziehungsgeflechten positioniert b<strong>in</strong>.


Ich müsse <strong>die</strong> Verantwortung für me<strong>in</strong>e Identität, me<strong>in</strong>e „rassische“ gesellschaftliche<br />

Position übernehmen, <strong>in</strong>dem ich lerne, <strong>in</strong> welchem Verhältnis zu an<strong>der</strong>en Weißen<br />

und zu Schwarzen ich mich bef<strong>in</strong>de; <strong>in</strong>dem ich lerne, was <strong>die</strong> Konsequenzen me<strong>in</strong>es<br />

Glaubens und me<strong>in</strong>es Verhaltens als euro-amerikanische (o<strong>der</strong> weiße europäische)<br />

Frau se<strong>in</strong> werden. Die Gültigkeit unserer Behauptungen müsse zwar weitgehend<br />

unabhängig davon se<strong>in</strong>, wer sie macht, aber es bedeute trotzdem etwas, wer was sagt,<br />

wann und zu wem.<br />

Um <strong>die</strong> E<strong>in</strong>sichten an<strong>der</strong>er zu nutzen, <strong>um</strong> eigene Analysen voranzubr<strong>in</strong>gen, bedarf es<br />

dabei <strong>in</strong>tellektueller und politischer Aktivität. Hard<strong>in</strong>g beabsichtigt, es gleichzeitig<br />

schwerer und leichter zu machen, e<strong>in</strong> männlicher Fem<strong>in</strong>ist, e<strong>in</strong>e weiße Antirassist<strong>in</strong><br />

usw. zu werden: Leichter, da Eigenschaften wie fem<strong>in</strong>istisch, anti-rassistisch usw.<br />

nicht an <strong>der</strong> Biologie o<strong>der</strong> <strong>der</strong> eigenen gesellschaftlichen Situation festgemacht<br />

werden, schwerer <strong>in</strong>sofern, als mensch <strong>die</strong>se Eigenschaften nicht e<strong>in</strong>fach für sich<br />

beanspruchen kann, son<strong>der</strong>n erarbeiten muss, eben durch politische Aktivitäten und<br />

gedankliche Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen. Wenn ich nicht lernen kann, kritisch aus<br />

„verräterischen Identitäten“ 49 heraus zu denken, werden me<strong>in</strong>e Arten, „Rasse“ und<br />

Klasse zu sehen, dazu ten<strong>die</strong>ren, sich eher auf <strong>die</strong> Unterdrückung an<strong>der</strong>er zu<br />

konzentrieren, anstatt auf me<strong>in</strong>e eigene Situation und <strong>die</strong> Perspektive, <strong>die</strong> sie<br />

ermöglicht. Lei<strong>der</strong> betont Hard<strong>in</strong>g zwar, dass solch e<strong>in</strong> verräterisches Denken<br />

politischer Arbeit und Reflexion bedarf, aber sie geht nicht darauf e<strong>in</strong>, woher <strong>die</strong><br />

Motivation für das Verraten <strong>der</strong> eigenen Privilegien stammen soll. Das verräterische<br />

Handeln stellt offensichtlich e<strong>in</strong>en Wi<strong>der</strong>spruch z<strong>um</strong> oben genannten Arg<strong>um</strong>ent dar,<br />

dass Privilegierte mehr Grund zu ignorantem Verhalten haben. War<strong>um</strong> Männer sich<br />

fem<strong>in</strong>istisch engagieren sollten, wird hier nicht beantwortet.<br />

Diejenigen von uns, <strong>die</strong> sich <strong>in</strong> privilegierten Gruppen bef<strong>in</strong>den, könnten unsere<br />

Privilegien letztendlich nicht aufgeben; <strong>die</strong> gesellschaftliche Ordnung bestehe darauf,<br />

uns damit zu belohnen. Diese Sichtweise Hard<strong>in</strong>gs kl<strong>in</strong>gt mir allerd<strong>in</strong>gs fast nach<br />

e<strong>in</strong>er Ausrede, <strong>um</strong> sich ihrer Privilegien nicht schämen zu müssen, <strong>um</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Schuldkomplex zu verdecken. Doch <strong>die</strong>ser schamhafte Umgang mit <strong>der</strong> eigenen<br />

privilegierten Position verstellt den Blick für Möglichkeiten, <strong>die</strong>se Privilegien z.B.<br />

strategisch zu nutzen o<strong>der</strong> Möglichkeiten zu entdecken, sie z<strong>um</strong><strong>in</strong>dest teilweise doch<br />

zurückzuweisen. 50<br />

49 Hier ist „verräterisch“ <strong>in</strong> Bezug auf <strong>die</strong> eigenen Privilegien geme<strong>in</strong>t.<br />

50 So gibt es bestimmte politische und soziale Subkulturen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>en Teil ihrer Privilegien verloren<br />

haben o<strong>der</strong> nicht wahrnehmen. Hier denke ich z.B. an bestimmte BauwagenbewohnerInnen.


Die Befreiungsbewegungen seien gezwungen, sich mit den zwei Seiten von<br />

Erfahrung zu befassen: z<strong>um</strong> e<strong>in</strong>en als hochgeachtete und schwer zu erreichende<br />

Vorbed<strong>in</strong>gung für <strong>die</strong> Möglichkeit, Wissen aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Leben<br />

marg<strong>in</strong>alisierter Menschen zu schaffen, z<strong>um</strong> an<strong>der</strong>en als Zufluchtsort, auf den sich<br />

„offensichtliche“, aber hochgradig verzerrte, gesamtgesellschaftlich verbreitete<br />

Überzeugungen berufen können.<br />

Was ist fem<strong>in</strong>istische Wissenschaft?<br />

E<strong>in</strong>ige Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen vertreten <strong>die</strong> Position, dass es ke<strong>in</strong>e fem<strong>in</strong>istische<br />

Wissenschaft geben kann. - Entwe<strong>der</strong> noch nicht zu <strong>die</strong>sem historischen Zeitpunkt,<br />

o<strong>der</strong> weil es nur schlechte o<strong>der</strong> gute Wissenschaft geben kann, aber ke<strong>in</strong>e explizit<br />

fem<strong>in</strong>istische. Dem hält Hard<strong>in</strong>g entgegen, dass es ke<strong>in</strong> Zufall ist, dass gerade<br />

Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen Verän<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> den Wissenschaften for<strong>der</strong>n, und dass <strong>die</strong> Chancen<br />

für gut durchgeführte Wissenschaften schlecht stehen, wenn wir nicht <strong>die</strong> Rolle<br />

anerkennen, <strong>die</strong> politische Verän<strong>der</strong>ungen bei <strong>der</strong> Weiterentwicklung von Wissen<br />

spielen. Hard<strong>in</strong>g ist <strong>der</strong> Auffassung, dass es bereits fem<strong>in</strong>istische Wissenschaft gibt,<br />

wenn auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen naturwissenschaftlichen Diszipl<strong>in</strong>en noch sehr <strong>in</strong> den<br />

Anfängen.<br />

Sie fasst zusammen, <strong>in</strong>wiefern sich unsere Sicht auf <strong>die</strong> Logik <strong>der</strong><br />

Naturwissenschaften durch fem<strong>in</strong>istische Wissenschaftsphilosophien geän<strong>der</strong>t hat:<br />

1. Wissenschaft ist Politik mit an<strong>der</strong>en Mitteln, aber sie kann gleichzeitig<br />

verlässliche empirische Informationen produzieren.<br />

2. Wissenschaft enthält sowohl progressive als auch regressive Tendenzen.<br />

3. <strong>Der</strong>/<strong>die</strong> BeobachterIn und das Beobachtete bef<strong>in</strong>den sich auf <strong>der</strong>selben<br />

kausalen Ebene.<br />

4. Allen Wissenschaften liegen Epistemologien zugrunde; und sowohl<br />

Wissenschaften als auch Epistemologien enthalten implizit Wissenssoziologien.<br />

Diese transformierte Logik von den Wissenschaften bricht entschieden mit <strong>der</strong><br />

Vorstellung <strong>der</strong> Autonomie <strong>der</strong> Naturwissenschaften von <strong>der</strong> Gesellschaft und von<br />

gesellschaftlichen Theorien. Da <strong>die</strong>se verän<strong>der</strong>ten Wissenschaftsauffassungen nach<br />

Hard<strong>in</strong>gs Me<strong>in</strong>ung bereits E<strong>in</strong>fluss auf <strong>die</strong> bestehenden Wissenschaften haben, ist sie<br />

auch <strong>der</strong> Auffassung, dass fem<strong>in</strong>istische Wissenschaften bereits existieren. Dass<br />

fem<strong>in</strong>istische E<strong>in</strong>flüsse <strong>in</strong> <strong>der</strong> Physik und <strong>der</strong> Chemie bisher ka<strong>um</strong> zu vermerken<br />

Allerd<strong>in</strong>gs ist ihnen das wie<strong>der</strong><strong>um</strong> auch nur möglich, weil sie bestimmte Privilegien haben o<strong>der</strong><br />

hatten, auf <strong>die</strong> sie ihre Lebensweise stützen können.


s<strong>in</strong>d, führt Hard<strong>in</strong>g darauf zurück, dass Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen vor allem auf lokaler Ebene<br />

Erfolge verzeichnen konnten, während <strong>die</strong>se beiden Wissenschaften auf e<strong>in</strong>er<br />

<strong>in</strong>ternationalen Ebene organisiert würden. Als Erklärung sche<strong>in</strong>t mir <strong>die</strong>s zu<br />

monokausal. Die Gründe hierfür s<strong>in</strong>d sicherlich komplexer; Long<strong>in</strong>o weist hier zu<br />

Recht auf das Image <strong>die</strong>ser Wissenschaften aufgrund ihrer <strong>in</strong>str<strong>um</strong>entellen Erfolge<br />

h<strong>in</strong>. Ferner dürfte es langwieriger se<strong>in</strong>, <strong>die</strong> Relevanz gesellschaftlichen E<strong>in</strong>flusses <strong>in</strong><br />

Diszipl<strong>in</strong>en wie Chemie, Physik, aber auch <strong>der</strong> Mathematik, <strong>die</strong> Menschen nicht o<strong>der</strong><br />

ka<strong>um</strong> als direkten Untersuchungsgegenstand haben, zu entdecken und aufzuzeigen.<br />

Hard<strong>in</strong>g stellt <strong>die</strong> Entstehung fem<strong>in</strong>istischer Wissenschaften und <strong>die</strong> dadurch<br />

möglicherweise <strong>in</strong>itiierte Verdrängung bisher bekannter Ausprägungen von<br />

Wissenschaft als Teil des üblichen Entwicklungsprozesses <strong>der</strong> Wissenschaften dar:<br />

Wenn neue Wissenschaften entstehen, werden an<strong>der</strong>e an den Rand gedrängt und<br />

verschw<strong>in</strong>den möglicherweise o<strong>der</strong> verän<strong>der</strong>n sich. Wir können nur hoffen, dass e<strong>in</strong>e<br />

postmo<strong>der</strong>ne Welt viele <strong>der</strong> Wissenschaften nicht mehr brauchen wird, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

westliche mo<strong>der</strong>ne Welt nützlich fand.<br />

Partialität und Verortung als Voraussetzung für Objektivität -<br />

Donna Haraways Konzept „Situierter Wissen“ 51<br />

„Ich b<strong>in</strong> ständig <strong>in</strong> Versuchung, fromm zu se<strong>in</strong>, pedantisch, moralisch, also wahrhaft<br />

unerträglich. Mit Ironie lässt sich das vermeiden.“ 52<br />

Das Werk <strong>der</strong> US-amerikanischen Professor<strong>in</strong> für Wissenschaftgeschichte Donna<br />

Haraway ist durchzogen von impliziten und teilweise auch expliziten Aussagen<br />

über das, was Naturwissenschaften s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> se<strong>in</strong> können, wor<strong>in</strong> <strong>die</strong> Objektivität<br />

<strong>die</strong>ser bestehen könnte, welcher Gestalt <strong>die</strong> Objekte des Wissens se<strong>in</strong> könnten und<br />

wie e<strong>in</strong> Subjekt des Wissens aussehen könnte; aber es gibt nur e<strong>in</strong>en Essay von<br />

ihr, <strong>der</strong> sich <strong>die</strong>sen wissenschaftsphilosophischen Fragestellungen direkt widmet.<br />

Dies hängt mit dem Selbstverständnis ihrer Arbeit zusammen: „Verspieltheit,<br />

Beweglichkeit, mehr zu se<strong>in</strong>, als wir zu se<strong>in</strong> glauben, diskursive Konstitution, <strong>die</strong><br />

Unerwartetheit von Sprache und Körper, das s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge, an denen mir liegt<br />

51<br />

Da Donna Haraway e<strong>in</strong>e sehr eigene Art zu schreiben hat, voll von Metaphern, Wortspielen (<strong>die</strong><br />

teilweise nicht übersetzbar s<strong>in</strong>d) und Bil<strong>der</strong>n, versuche ich im Folgenden, etwas von ihrem<br />

Sprachstil zu erhalten und beg<strong>in</strong>ne jeden Abschnitt mit e<strong>in</strong>em Zitat von ihr.<br />

52<br />

Donna Haraway: Die Neuerf<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Natur – Primaten, Cyborgs und Frauen, Campus Verlag,<br />

Frankfurt/Ma<strong>in</strong>, 1995, S. 115.


und <strong>um</strong> <strong>die</strong> es <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Arbeit geht.“ 53 Haraway lehnt dogmatische Haltungen<br />

und den Glauben an e<strong>in</strong>e kohärente Theorie ab, daher hat ihre Weigerung, e<strong>in</strong>e<br />

explizite Wissenschaftsphilosophie zu formulieren, <strong>in</strong>haltliche Gründe. Dass sie<br />

<strong>die</strong>s <strong>in</strong> dem Aufsatz „Situated Knowleges: The Science Question <strong>in</strong> Fem<strong>in</strong>ism and<br />

the Privilege of Partial Perspective“ 54 dennoch tut, liegt wie<strong>der</strong><strong>um</strong> an ihrer<br />

Überzeugung, dass Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen sich an <strong>der</strong> Gestaltung <strong>der</strong> Naturwissenschaften<br />

beteiligen müssen.<br />

Da es für Haraway von großer Bedeutung ist, sich selbst zu positionieren, möchte<br />

ich e<strong>in</strong>ige knappe Anmerkungen zu ihrer Biographie machen: Donna Haraway<br />

wuchs irisch-katholisch <strong>in</strong> den USA auf. Ihre Mutter starb früh. Haraway<br />

promovierte <strong>in</strong> Biologie <strong>in</strong> Yale. Sie heiratete dort e<strong>in</strong>en schwulen Freund und<br />

zog mit ihm nach Hawai. Später arbeitete sie immer <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>är. 1980 nahm<br />

sie den Ruf nach Santa Cruz an und besetzte den ersten Lehrstuhl für<br />

fem<strong>in</strong>istische Theorie, wo sie heute am „History of Consciousness Board“ lehrt.<br />

Seit ihr Ex-Mann und se<strong>in</strong> Freund an AIDS gestorben s<strong>in</strong>d, lebt Haraway mit<br />

ihrem Partner und zwei Hunden zusammen.<br />

Z<strong>um</strong> Wissenschaftsverständnis: Naturwissenschaft als westlicher Mythos<br />

„History is a story Western culture buffs tell each other; science is a contestable text and<br />

a power field; the content is the form. Period.“ 55<br />

Haraway bezieht sich <strong>in</strong> ihrem Wissenschaftsverständnis stark auf das Strong<br />

Programme, dessen Kernaussagen ich bereits oben beschrieben habe, beson<strong>der</strong>s<br />

auf Bruno Latour und se<strong>in</strong>e radikale Weiterentwicklung des Strong Programme<br />

zur Aktor-Netzwerk-Theorie 56 . Das, was NaturwissenschaftlerInnen zu tun<br />

glauben o<strong>der</strong> von ihrer Tätigkeit erzählen, stehe nur e<strong>in</strong>em losen Zusammenhang<br />

mit dem, was sie wirklich tun. Naturwissenschaft sei das Spiel, auf das es<br />

ankomme und das „wir“ spielen müssen. Es sei Rhetorik und <strong>die</strong> Kunst, <strong>die</strong><br />

maßgeblichen gesellschaftlichen AkteurInnen glauben zu machen, dass das<br />

53 Haraway, Die Neuerf<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Natur, S. 111.<br />

54 Veröffentlicht <strong>in</strong> Donna J. Haraway: Simians, Cyborgs, and Women – The Re<strong>in</strong>vention of<br />

Nature, Routledge, New York, 1991. Die deutsche Ausgabe “Die Neuerf<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Natur” enthält<br />

lediglich vier <strong>der</strong> Essays <strong>der</strong> englischen Ausgabe, außerdem e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>leitung <strong>der</strong> HerausgeberInnen<br />

und e<strong>in</strong> Interview mit Donna Haraway, das nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen Fassung erhältlich ist.<br />

55 Haraway: Simians, Cyborgs, and Women, S.185.<br />

56 Die Aktor-Netzwerk-Theorie versucht <strong>die</strong> Herstellung und Akzeptanz von wissenschaftlicher<br />

Erkenntnis zu beschreiben. Dieser antagonistische Ansatz behandelt menschliche und nichtmenschliche<br />

AkteurInnen symmetrisch. Damit geht e<strong>in</strong>e Aufhebung <strong>der</strong> Trennung <strong>in</strong> Natur (bzw.<br />

technische Artefakte) und Gesellschaft e<strong>in</strong>her. Vgl. Bruno Latour: Science <strong>in</strong> Action – How to<br />

follow Scientists and Eng<strong>in</strong>eers through Society, Harvard University Press, Cambridge, 1987.


fabrizierte Wissen e<strong>in</strong> Weg zu e<strong>in</strong>er begehrten Form sehr objektiver Macht sei.<br />

E<strong>in</strong>erseits macht Haraway den E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> Naturwissenschaften auf unser aller<br />

Leben deutlich und for<strong>der</strong>t uns auf, sich <strong>in</strong> <strong>der</strong>en Gestaltung e<strong>in</strong>z<strong>um</strong>ischen,<br />

gleichzeitig entmystifiziert sie <strong>die</strong> Naturwissenschaften und ihr verme<strong>in</strong>tlich<br />

objektiv produziertes Wissen. Das wird vor allem <strong>in</strong> ihrer erfrischend<br />

„respektlosen“ Art und Weise deutlich, mit <strong>der</strong> sie über <strong>die</strong> Naturwissenschaften<br />

schreibt: NaturwissenschaftlerInnen erzählen für Haraway e<strong>in</strong>fach Geschichten,<br />

<strong>die</strong> <strong>in</strong>teressant o<strong>der</strong> langweilig se<strong>in</strong> können. Dennoch verliert sie nicht aus dem<br />

Auge, dass <strong>die</strong>se Geschichten unser aller Leben bee<strong>in</strong>flussen können und das auch<br />

tun.<br />

Objektivität als Situierte Wissen<br />

„We unmasked the doctr<strong>in</strong>es of objectivity because they threatened our budd<strong>in</strong>g sense of<br />

collective historical subjectivity and agency and our ‚embo<strong>die</strong>d‘ accounts of the truth,<br />

and we ended up with one more excuse for not learn<strong>in</strong>g any post-Newtonian physics and<br />

one more reason to drop the old fem<strong>in</strong>ist self-help practices of repair<strong>in</strong>g our own cars.<br />

They’re just texts anyway, so let the boys have them back.“ 57<br />

Haraway ist <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung, Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen seien <strong>in</strong> <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Objektivität e<strong>in</strong>er<br />

verführerischen Dichotomie <strong>in</strong> <strong>die</strong> Falle gegangen, <strong>der</strong>en Polen sie sich be<strong>die</strong>nt<br />

haben: <strong>der</strong> zwischen wertneutraler Objektivität und Relativismus. Haraway und<br />

an<strong>der</strong>e begannen ihre Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit Naturwissenschaft und Technik <strong>in</strong><br />

den 1970er Jahren mit dem Wunsch nach e<strong>in</strong>em starken Instr<strong>um</strong>ent zur<br />

Dekonstruktion <strong>der</strong> Wahrheitsansprüche e<strong>in</strong>er (frauen-)fe<strong>in</strong>dlichen Wissenschaft,<br />

<strong>in</strong>dem sie <strong>die</strong> radikale historische Spezifität und damit <strong>die</strong> Anfechtbarkeit jener<br />

aufzeigten. Die daraus resultierende Technikfe<strong>in</strong>dlichkeit führte jedoch dazu, dass<br />

„we end up with a k<strong>in</strong>d of epistemological electro-shock therapy, which far from<br />

usher<strong>in</strong>g us <strong>in</strong>to the high stakes tables of the game of contest<strong>in</strong>g public truths, lays<br />

us out on the table with self-<strong>in</strong>duced multiple personality disor<strong>der</strong>.“ 58 Viele<br />

Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen wandten sich aufgrund des L<strong>in</strong>guistic Turn von dem Projekt <strong>der</strong><br />

Transformation <strong>der</strong> Naturwissenschaften ab. Manche versuchten, e<strong>in</strong>en klaren<br />

Kopf zu bewahren, <strong>in</strong>dem sie auf e<strong>in</strong>er fem<strong>in</strong>istischen Version von Objektivität<br />

bestanden. So entstanden Theorien wie fem<strong>in</strong>istische Versionen <strong>der</strong><br />

Standpunkttheorie und <strong>der</strong> fem<strong>in</strong>istische Empirismus. In traditionellen<br />

57 Haraway: Simians, Cyborgs, and Women, S. 186.<br />

58 Haraway: Simians, Cyborgs, and Women, S. 186.


philosophischen Kategorien formuliert, heiße das, dass es bei fem<strong>in</strong>istischer<br />

Erkenntnistheorie möglicherweise stärker <strong>um</strong> Ethik und Politik gehe als <strong>um</strong><br />

Epistemologie.<br />

Wissenschaft sei immer e<strong>in</strong>e Suche nach Übersetzung, Verwandlung und<br />

Beweglichkeit von Bewegungen und nach Universalität, <strong>die</strong> Haraway als<br />

Reduktionismus bezeichnet, wenn e<strong>in</strong>e Sprache als Maßstab für alle<br />

Übersetzungen und Verwandlungen aufgezwungen wird. Unsterblichkeit und<br />

Allmacht seien ke<strong>in</strong>e fem<strong>in</strong>istischen Ziele. Aber Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen können<br />

durchsetzbare, zuverlässige Darstellungen von D<strong>in</strong>gen gebrauchen, bei denen<br />

<strong>die</strong>se we<strong>der</strong> auf Machtstrategien und elitäre Rhetorikspiele noch auf<br />

wissenschaftliche, positivistische Arroganz reduzierbar wären.<br />

Haraway benutzt <strong>die</strong> Metapher <strong>der</strong> Vision, <strong>um</strong> Alternativen z<strong>um</strong> traditionellen<br />

<strong>Objektivitätsbegriff</strong> zu formulieren. Vision könne dazu <strong>die</strong>nen, b<strong>in</strong>äre<br />

Oppositionen zu vermeiden. Haraway betont <strong>die</strong> Körperlichkeit <strong>der</strong> Vision. <strong>Der</strong><br />

hegemoniale Blick schreibe sich auf mythische Weise <strong>in</strong> alle markierten Körper<br />

e<strong>in</strong> und verleihe <strong>der</strong> unmarkierten Kategorie <strong>die</strong> Macht zu sehen, ohne gesehen zu<br />

werden, sowie zu repräsentieren und zugleich <strong>der</strong> Repräsentation zu entgehen.<br />

Dieser Blick bezeichne <strong>die</strong> unmarkierte Position des weißen Mannes. Die Augen<br />

seien benutzt worden, <strong>um</strong> e<strong>in</strong>e „pervertierte Kapazität“ zu bezeichnen, nämlich,<br />

<strong>um</strong> das Subjekt des Wissens von allen und allem im Interesse ungebrochener<br />

Macht zu distanzieren. Die Visualisierungstechniken ersche<strong>in</strong>en grenzenlos,<br />

dadurch werde <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem technologischen Fest Vision zur Gefräßigkeit: „all<br />

perspective gives way to <strong>in</strong>f<strong>in</strong>itely mobile vision, which no longer seems just<br />

mythically about the god-trick of see<strong>in</strong>g everyth<strong>in</strong>g from nowhere, but to have put<br />

the myth <strong>in</strong>to ord<strong>in</strong>ary practice. And like the god-trick, this eye fucks the world to<br />

make techno-monsters.“ 59 Aber <strong>die</strong>se Sicht e<strong>in</strong>er unendlichen Vision sei<br />

selbstverständlich Illusion und e<strong>in</strong> Gottestrick. Bei traditioneller Objektivität<br />

wissen wir nicht, wo wir s<strong>in</strong>d und wo nicht.<br />

Haraway plä<strong>die</strong>rt dagegen für e<strong>in</strong>e Lehre verkörperter Objektivität, <strong>die</strong> paradoxen<br />

und kritisch-fem<strong>in</strong>istischen Wissenschaftsprojekten Ra<strong>um</strong> böte: Fem<strong>in</strong>istische<br />

Objektivität bedeutet dann ganz e<strong>in</strong>fach situierte Wissen. Objektivität habe dann<br />

mit partikularer und spezifischer Verkörperung zu tun und def<strong>in</strong>itiv nichts mit <strong>der</strong><br />

falschen Vision e<strong>in</strong>es Versprechens <strong>der</strong> Transzendenz aller Grenzen und<br />

59 Haraway: Simians, Cyborgs, and Women, S. 189.


Verantwortlichkeiten. Die Moral sei e<strong>in</strong>fach: nur e<strong>in</strong>e partiale Perspektive<br />

verspreche e<strong>in</strong>en objektiven Blick. Fem<strong>in</strong>istische Objektivität handele von<br />

begrenzter Verortung und situierten Wissen und nicht von Transzendenz und <strong>der</strong><br />

Spaltung <strong>in</strong> Subjekt und Objekt. Vielleicht gel<strong>in</strong>ge es Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen so, e<strong>in</strong>e<br />

Verantwortlichkeit dafür zu entwickeln, zu welchem Zweck wir zu sehen lernen.<br />

Die „Augen“ <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen technologischen Wissenschaften erschütterten jede<br />

Vorstellung e<strong>in</strong>er passiven Vision. Diese prothetischen Instr<strong>um</strong>ente führten uns<br />

vor, dass alle Augen, e<strong>in</strong>schließlich unserer organischen, aktive<br />

Wahrnehmungssysteme seien, <strong>die</strong> Übertragungen und spezifische Sichtweisen<br />

und damit Lebensweisen etablierten.<br />

Es gibt gute Gründe für <strong>die</strong> Überzeugung, dass <strong>die</strong> Sicht von unten besser ist als<br />

<strong>die</strong> von den strahlenden Weltra<strong>um</strong>plattformen <strong>der</strong> Mächtigen herab. Haraway teilt<br />

<strong>die</strong>se Annahme <strong>der</strong> Standpunkttheorie und arg<strong>um</strong>entiert für <strong>die</strong> Verortung und<br />

Verkörperung von Wissen und gegen verschiedene Formen nicht lokalisierbarer<br />

und damit verantwortungsloser Erkenntnisansprüche. Verantwortungslos bedeute<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Zusammenhang, nicht zur Rechenschaft gezogen werden zu können. Im<br />

Anspruch, e<strong>in</strong>e Perspektive aus <strong>der</strong> Position <strong>der</strong> weniger Mächtigen e<strong>in</strong>zunehmen,<br />

liege allerd<strong>in</strong>gs auch <strong>die</strong> Gefahr e<strong>in</strong>er Romantisierung und/o<strong>der</strong> Aneignung <strong>die</strong>ser<br />

Sichtweise: „To see from below ist neither easily learned nor unproblematic, even<br />

if ‚we‘ ‚naturally‘ <strong>in</strong>habit the great un<strong>der</strong>ground terra<strong>in</strong> of subjugated<br />

knowledges. The position<strong>in</strong>gs of the subjugated are not exempt from critical reexam<strong>in</strong>ation,<br />

decod<strong>in</strong>g, deconstruction, and <strong>in</strong>terpretations; that is, from both<br />

semiological and hermeneutic modes of critical enquiry.“ 60 Die Standpunkte <strong>der</strong><br />

Unterworfenen seien ke<strong>in</strong>e „unschuldigen“ Positionen. Sie würden gerade im<br />

Gegenteil deswegen bevorzugt, weil sie pr<strong>in</strong>zipiell weniger anfällig für e<strong>in</strong>e<br />

Leugnung des kritischen und <strong>in</strong>terpretativen Kerns allen Wissens seien. Diese<br />

bevorzugte Positionierung sei we<strong>der</strong> mit Relativismus noch mit totalisierenden<br />

Ansprüchen auf wissenschaftliche Autorität vere<strong>in</strong>bar. Die Alternative z<strong>um</strong><br />

Relativismus sei e<strong>in</strong>e Vielfalt von partialen, verortbaren, kritischen Wissen, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong> Möglichkeit von Netzwerken aufrechterhalten, <strong>die</strong> sowohl <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen<br />

Solidarität als auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Epistemologie Diskussionszusammenhänge genannt<br />

werden. Relativismus und Totalisierung s<strong>in</strong>d gleichermaßen Gottestricks, beide<br />

leugnen ihre Körperlichkeit und Positionierung.<br />

60 Haraway: Simians, Cyborgs, and Women, S. 191.


Haraway for<strong>der</strong>t dazu auf, Blickw<strong>in</strong>kel anzustreben, <strong>die</strong> niemals im voraus<br />

bekannt se<strong>in</strong> können und <strong>die</strong> etwas sehr Ungewöhnliches versprechen, nämlich<br />

e<strong>in</strong> Wissen, das <strong>die</strong> Konstruktion von Welten ermöglicht, <strong>die</strong> <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>gerem Maße<br />

durch Achsen <strong>der</strong> Herrschaft organisiert s<strong>in</strong>d. Aus <strong>die</strong>sem Blickw<strong>in</strong>kel<br />

verschwände <strong>die</strong> unmarkierte Kategorie. Wissenschaft sei von Anfang an auch<br />

utopisch und visionär gewesen, <strong>die</strong>s sei e<strong>in</strong> Grund, war<strong>um</strong> wir sie bräuchten.<br />

Das Subjekt des Wissens<br />

„No one ever accused the God of monotheism of objectivity, only of <strong>in</strong>difference. The<br />

god-trick is self-identical, and we have mistaken that for creativity and knowledge,<br />

omniscience even.“ 61<br />

Haraways Konzept von situierten Wissen ist untrennbar mit e<strong>in</strong>er<br />

Rekonzeptualisierung des Subjekt- und Identitätsbegriffs verbunden. Statt vom<br />

‚Tod des Subjekts’ zu sprechen, will Haraway lieber <strong>die</strong> Freigabe von<br />

nichtisomorphen Subjekten, AgentInnen und narrativen Bereichen erreichen, <strong>die</strong><br />

aus <strong>der</strong> Perspektive des zyklopischen, se<strong>in</strong>es selbst überdrüssigen Auges des<br />

Meistersubjekts nicht vorstellbar seien. Das gespaltene und wi<strong>der</strong>sprüchliche<br />

Selbst kann Positionierungen <strong>in</strong> Frage stellen und zur Rechenschaft gezogen<br />

werden. Spalten, nicht Se<strong>in</strong>, ist das bevorzugte Bild für fem<strong>in</strong>istische<br />

Epistemologien (natur-)wissenschaftlichen Wissens. Das gilt <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>zelner<br />

Subjekte und für Beziehungen zwischen Subjekten: „The know<strong>in</strong>g self is partial<br />

<strong>in</strong> all its guises, never f<strong>in</strong>ished, whole, simply there and orig<strong>in</strong>al; it is always<br />

constructed and stitched together imperfectly, and therefore able to jo<strong>in</strong> with<br />

another, to see together without claim<strong>in</strong>g to be another.“ 62 Das Versprechen <strong>der</strong><br />

Objektivität liegt dar<strong>in</strong>, dass wissenschaftlich Erkennende nicht <strong>die</strong><br />

Subjektposition <strong>der</strong> Identität suchen, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> <strong>der</strong> Objektivität, d.h. <strong>der</strong><br />

partialen Verb<strong>in</strong>dung. Haraway grenzt sich von <strong>der</strong> fem<strong>in</strong>istischen<br />

Standpunkttheorie ab, da Unterwerfung ke<strong>in</strong>e Grundlage für e<strong>in</strong>e Ontologie sei;<br />

sie könnte nicht mehr und nicht weniger als e<strong>in</strong> visueller Anhaltspunkt se<strong>in</strong>.<br />

Vision erfor<strong>der</strong>t Visualisierungs<strong>in</strong>str<strong>um</strong>ente; e<strong>in</strong>e Optik ist e<strong>in</strong>e Politik <strong>der</strong><br />

Positionierung. Es gibt ke<strong>in</strong>e unvermittelte Sicht vom Standpunkt <strong>der</strong><br />

Unterworfenen aus. Nur <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Positionen <strong>der</strong> Herrschenden<br />

e<strong>in</strong>nehmen, s<strong>in</strong>d selbstidentisch, unmarkiert, entkörpert, unvermittelt und<br />

61 Haraway: Simians, Cyborgs, and Women, S. 193.<br />

62 Haraway: Simians, Cyborgs, and Women, S. 193.


transzendent. Bedauerlicherweise können Unterworfene <strong>die</strong>se Subjektposition<br />

begehren und sogar zu ihr aufsteigen – <strong>um</strong> dann außer Sicht zu geraten. Die<br />

e<strong>in</strong>zige Position, von <strong>der</strong> aus Objektivität unmöglich praktiziert und gewürdigt<br />

werden kann, ist <strong>der</strong> Standpunkt des Herrn, des Mannes, des „E<strong>in</strong>en Gottes“,<br />

dessen Auge alle Differenz produziert, aneignet und lenkt. Positionierung dagegen<br />

impliziert Verantwortlichkeit für <strong>die</strong> Praktiken, <strong>die</strong> uns Macht verleihen; folglich<br />

s<strong>in</strong>d Ethik und Politik <strong>die</strong> Grundlage für Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen darüber, was als<br />

rationales Wissen gelten darf.<br />

Haraway arg<strong>um</strong>entiert für Politiken und Epistemologien <strong>der</strong> Lokalisierung,<br />

Positionierung und Situierung, bei denen Partialität und nicht Universalität <strong>die</strong><br />

Bed<strong>in</strong>gung dafür ist, rationale Ansprüche auf Wissen vernehmbar anz<strong>um</strong>elden.<br />

Dies s<strong>in</strong>d Ansprüche auf Aussagen über das Leben von Menschen: entwe<strong>der</strong> <strong>die</strong><br />

Sicht von e<strong>in</strong>em Körper aus, <strong>der</strong> immer e<strong>in</strong> komplexer, wi<strong>der</strong>sprüchlicher,<br />

strukturieren<strong>der</strong> und strukturierter Körper ist, o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Blick von oben, von<br />

nirgendwo, von E<strong>in</strong>fältigkeit aus; nur <strong>der</strong> Gottestrick ist verboten.<br />

<strong>Der</strong> Haraway’sche Fem<strong>in</strong>ismus liebt Wissenschaften und Politiken <strong>der</strong><br />

Interpretation, <strong>der</strong> Übersetzung, des Stotterns und des partiell Verstandenen. Im<br />

Fem<strong>in</strong>ismus geht es <strong>um</strong> <strong>die</strong> Wissenschaften des multiplen Subjekts mit<br />

(m<strong>in</strong>destens) doppelter Vision. Übersetzung ist immer <strong>in</strong>terpretativ, kritisch und<br />

partial. Das ist <strong>die</strong> Basis für Konversation, Rationalität und Objektivität – e<strong>in</strong>e<br />

Konversation, <strong>die</strong> sensibel für Machtverhältnisse und nicht pluralistisch ist.<br />

Verortung hat also etwas mit Verwundbarkeit zu tun; Verortung wi<strong>der</strong>steht e<strong>in</strong>er<br />

Politik <strong>der</strong> Abgeschlossenheit, <strong>der</strong> Endgültigkeit. Es kann ke<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen<br />

fem<strong>in</strong>istischen Standpunkt geben, weil unsere Landkarten zu viele Dimensionen<br />

benötigen, als dass <strong>die</strong>se Metapher <strong>die</strong> Grundlage für unsere Visionen darstellen<br />

könnte. Das Ziel s<strong>in</strong>d für Haraway bessere Darstellungen <strong>der</strong> Welt, also<br />

‚Wissenschaft’. Rationales Wissen sei e<strong>in</strong> Prozess fortlaufen<strong>der</strong> kritischer<br />

Interpretation zwischen Fel<strong>der</strong>n von Interpretierenden und Deko<strong>die</strong>renden;<br />

rationales Wissen sei machtempf<strong>in</strong>dliche Konversation. So wird Wissen z<strong>um</strong><br />

paradigmatischen Modell nicht für Abgeschlossenheit, son<strong>der</strong>n für das, was<br />

bestreitbar ist und bestritten wird. Partialität wird nicht <strong>um</strong> ihrer selbst willen<br />

begehrt, son<strong>der</strong>n <strong>um</strong> <strong>der</strong> Verb<strong>in</strong>dungen und unerwarteten Öffnungen wegen, <strong>die</strong><br />

situierte Wissen möglich machen. Objektivität könnte <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verknüpfung<br />

partialer Sichtweisen und <strong>in</strong>nehalten<strong>der</strong> Stimmen zu e<strong>in</strong>er kollektiven


Subjektposition bestehen. Diese Verknüpfung verspreche e<strong>in</strong>e Vision <strong>der</strong><br />

Möglichkeiten e<strong>in</strong>er fortgesetzten, endlichen Verkörperung und von e<strong>in</strong>em Leben<br />

<strong>in</strong>nerhalb von Grenzen und <strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>sprüchen, d.h. von Sichtweisen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>en Ort<br />

haben.<br />

Objekte als AkteurInnen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wissensproduktion<br />

„Perhaps the world resists be<strong>in</strong>g reduced to mere resource because it is – not<br />

mother/matter/mutter – but coyote, a figure for the always problematic, always potent tie<br />

of mean<strong>in</strong>g and bo<strong>die</strong>s.” 63<br />

Darstellungen von Objekten können entwe<strong>der</strong> als Aneignungen e<strong>in</strong>er fixierten und<br />

determ<strong>in</strong>ierten Welt ersche<strong>in</strong>en, <strong>die</strong> auf e<strong>in</strong>e Ressource für <strong>die</strong><br />

<strong>in</strong>str<strong>um</strong>entalistischen Projekte <strong>der</strong> destruktiven westlichen Gesellschaft reduziert<br />

wird, o<strong>der</strong> sie können als maskierte Interessen, <strong>die</strong> üblicherweise <strong>die</strong> herrschenden<br />

s<strong>in</strong>d, gesehen werden.<br />

Haraway warnt davor zuzulassen, den Körper nur als e<strong>in</strong> leeres Blatt für<br />

gesellschaftliche E<strong>in</strong>schreibungen, e<strong>in</strong>schließlich <strong>der</strong>jenigen des biologischen<br />

Diskurses zu verstehen. Solche Ansätze „<strong>der</strong>ive partly from the analytical<br />

tradition, deeply <strong>in</strong>debted to Aristotle and to the transformative history of ‚White<br />

Capitalist Patriarchy’ (how may we name this scandalous Th<strong>in</strong>g?) that turns<br />

everyth<strong>in</strong>g <strong>in</strong>to a resource for appropriation, <strong>in</strong> which an object of knowledge is<br />

f<strong>in</strong>ally itself only matter for the sem<strong>in</strong>al power, the act, of the knower.” 64 Dem<br />

Objekt wird hierbei jeglicher Status als Akteur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Produktion von Wissen<br />

abgesprochen. „Natur“ ist lediglich das Rohmaterial von Kultur: Sie wird<br />

angeeignet, bewahrt, versklavt, verherrlicht o<strong>der</strong> auf an<strong>der</strong>e Weise für <strong>die</strong><br />

Verfügung durch Kultur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Logik des kapitalistischen Kolonialismus flexibel<br />

gemacht. Ebenso ist das biologische Geschlecht <strong>in</strong> fem<strong>in</strong>istischen Diskursen<br />

häufig nur das Material für das Inszenieren vom sozio-kulturellen Geschlecht<br />

(Gen<strong>der</strong>). Diese Logik sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> den Traditionen westlicher Dualismen<br />

unausweichlich zu se<strong>in</strong>.<br />

Situierte Wissen dagegen erfor<strong>der</strong>n, dass das Wissensobjekt als AkteurIn und<br />

AgentIn und nicht als Le<strong>in</strong>wand o<strong>der</strong> Grundlage o<strong>der</strong> Ressource vorgestellt wird.<br />

Die Anerkennung <strong>der</strong> Handlungsfähigkeit <strong>der</strong> untersuchten ‚Objekte’ sei <strong>in</strong> allen<br />

Wissenschaften <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige Weg, <strong>um</strong> grobe Irrtümer und e<strong>in</strong> <strong>in</strong> vielerlei H<strong>in</strong>sicht<br />

63 Haraway: Simians, Cyborgs, and Women, S. 201.<br />

64 Haraway: Simians, Cyborgs, and Women, S. 197.


falsches ‚Wissen’ zu vermeiden. AkteurInnen gebe es <strong>in</strong> vielen und wun<strong>der</strong>vollen<br />

Formen. Darstellungen e<strong>in</strong>er ‚wirklichen’ Welt hängen folglich nicht von e<strong>in</strong>er<br />

Logik <strong>der</strong> ‚Entdeckung’ ab, son<strong>der</strong>n von e<strong>in</strong>er machtvollen sozialen Beziehung<br />

<strong>der</strong> ‚Konversation’: Die Welt spreche we<strong>der</strong> selbst, noch verschw<strong>in</strong>de sie<br />

zugunsten e<strong>in</strong>es Meister-Deko<strong>die</strong>rers. Die Ko<strong>die</strong>rungen <strong>der</strong> Welt stünden nicht<br />

still, sie warteten nicht etwa darauf, gelesen zu werden. Die Anerkennung <strong>der</strong><br />

Handlungsfähigkeit <strong>der</strong> Welt im Wissensprozess schafft Platz für irritierende<br />

Möglichkeiten, zu denen auch e<strong>in</strong> Gespür für den unabhängigen S<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Welt für<br />

H<strong>um</strong>or gehört. Haraway plä<strong>die</strong>rt für e<strong>in</strong>e fem<strong>in</strong>istische Sichtweise <strong>der</strong> Welt als<br />

gewitzte AgentIn und belebt alte Metaphern für <strong>die</strong>sen Zweck neu: „The Coyote<br />

or Trickster, embo<strong>die</strong>d <strong>in</strong> American Southwest Indian accounts, suggests our<br />

situation when we give up mastery but keep search<strong>in</strong>g for fidelity, know<strong>in</strong>g all the<br />

while we will be hoodw<strong>in</strong>ked.” 65 <strong>Der</strong> Körper, das Objekt des biologischen<br />

Diskurses, wird selbst e<strong>in</strong> höchst engagiertes Wesen. Behauptungen über<br />

biologischen Determ<strong>in</strong>ismus ersche<strong>in</strong>en dadurch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em völlig an<strong>der</strong>en Licht.<br />

Haraway rä<strong>um</strong>t allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>, dass <strong>der</strong> biologische Determ<strong>in</strong>ismus immer noch<br />

sehr mächtig und relevant ist. Die Biologie bleibt e<strong>in</strong> wichtiger Bereich des<br />

politischen Diskurses. Daher ist e<strong>in</strong>e fem<strong>in</strong>istische E<strong>in</strong>mischung <strong>in</strong> <strong>die</strong> Biologie<br />

notwendig. Biologie ist dann fem<strong>in</strong>istische Politik mit an<strong>der</strong>en Mitteln. 66<br />

Haraway bezieht sich auf <strong>die</strong> Analysen Katie K<strong>in</strong>gs zur Herstellung von<br />

Gedichten und spricht analog von Apparaten <strong>der</strong> körperlichen Produktion. Sie<br />

möchte <strong>die</strong> ideologischen Dimensionen von ‚Faktizität’ und dem ‚Organischen’ <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e sperrige Entität übersetzen, <strong>die</strong> sie e<strong>in</strong>e ‚materiell-semiotische AkteurIn’<br />

nennt. Körper seien als Wissensobjekte materiell-semiotische Erzeugungsknoten.<br />

Ihre Grenzen materialisierten sich <strong>in</strong> sozialen Interaktionen. Grenzen würden<br />

durch Kartierungspraktiken gezogen; ‚Objekte’ seien nicht als solche präexistent,<br />

son<strong>der</strong>n sie s<strong>in</strong>d Grenzprojekte. Aber Grenzen verschieben sich von selbst,<br />

Grenzen s<strong>in</strong>d äußerst trickreich. <strong>Der</strong> provisorische Inhalt von Grenzen bleibt<br />

produktiv <strong>in</strong> Bezug auf Bedeutungen und Körper. Grenzen ziehen o<strong>der</strong> sichten ist<br />

e<strong>in</strong>e riskante Praktik: „Scientific objectivity (the sit<strong>in</strong>g/sight<strong>in</strong>g of objects) is not<br />

about dis-engaged discovery, but about mutual and usually unequal structur<strong>in</strong>g,<br />

about tak<strong>in</strong>g risks.“ 67<br />

65 Haraway: Simians, Cyborgs, and Women, S. 199.<br />

66 Vergl. den Abschnitt <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Kapitel “Primatologie ist Politik mit an<strong>der</strong>en Mitteln”.<br />

67 Haraway: Simians, Cyborgs, and Women, S. 208.


Mit dem Bild <strong>der</strong> materiell-semiotischen AkteurIn drückt Haraway e<strong>in</strong> gewisses<br />

Unbehagen gegenüber <strong>der</strong> Metapher des Diskurses aus, weil sie <strong>die</strong> Sprache als<br />

Zentr<strong>um</strong> aller möglichen Instanzen privilegiert. Haraway möchte dagegen<br />

versuchen, <strong>die</strong> Werkzeugkiste offener zu halten: „Organismen s<strong>in</strong>d biologische<br />

Verkörperungen; als natürlich-technische Wesen s<strong>in</strong>d es ke<strong>in</strong>e je schon<br />

existierenden Pflanzen, Tiere, E<strong>in</strong>zeller usw., <strong>der</strong>en Grenzen bereits festgelegt<br />

s<strong>in</strong>d und <strong>die</strong> nur auf <strong>die</strong> richtigen Instr<strong>um</strong>ente zur korrekten Kategorisierung<br />

warten. Organismen gehen aus e<strong>in</strong>em diskursiven Prozess hervor. Die Biologie ist<br />

e<strong>in</strong> Diskurs, nicht aber <strong>die</strong> lebendige Welt selbst.“ 68 Haraway will herausf<strong>in</strong>den,<br />

wer und was auf dem Schauplatz des Konstitutionsprozesses aktiv ist. Diskursive<br />

Performativität ist weit verbreitet; sie ist nicht uns Menschen vorbehalten. Aus<br />

Haraways Sicht s<strong>in</strong>d Objekte Ablagerungen von Interaktionen und Beziehungen.<br />

Nichts existiert vor <strong>die</strong>ser Relationalität: „Die Zelle wartet nicht e<strong>in</strong>fach auf ihre<br />

angemessene Beschreibung. Sie ist extrem kont<strong>in</strong>gent und auf beson<strong>der</strong>e Weise<br />

e<strong>in</strong>gelassen <strong>in</strong> <strong>die</strong> spezifischen Beziehungen zwischen Instr<strong>um</strong>enten, sozialen,<br />

materiellen und literarischen Technologien. Und das sehr real. Die ‚Zelle’ hat e<strong>in</strong>e<br />

unbestreitbare Wirksamkeit. Das ist ke<strong>in</strong> Relativismus. Es heißt nur, dass <strong>die</strong><br />

D<strong>in</strong>ge an<strong>der</strong>s hätten se<strong>in</strong> können, aber sie s<strong>in</strong>d es nicht. Ich denke, das ist e<strong>in</strong>e<br />

wichtige, subtile Unterscheidung. Zu sagen, <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge hätten an<strong>der</strong>s se<strong>in</strong> können,<br />

ist nicht dasselbe wie zu sagen, sie seien beliebig.“ 69 Alle Entitäten erhalten ihre<br />

Grenzen durch diskursive Interaktionen im Feld diskursiver Materialität. Sie s<strong>in</strong>d<br />

Effekte <strong>der</strong> Relationalität. Es gibt ke<strong>in</strong> unabhängiges, dauerhaft konsoli<strong>die</strong>rtes<br />

Subjekt, und niemand ist <strong>der</strong>art konsoli<strong>die</strong>rt. In <strong>die</strong>sem Spiel verfügen wir über<br />

mehr als nur e<strong>in</strong>e Konstitution, und wir bef<strong>in</strong>den uns nicht nur an e<strong>in</strong>em Ort.<br />

Für Haraway bestehen AkteurInnen und AktantInnen aus menschlichen und nichtmenschlichen<br />

Entitäten, hier bezieht sie sich u.a. auf Bruno Latour. Haraway<br />

er<strong>in</strong>nert jedoch darüber h<strong>in</strong>aus daran, dass das, was als menschlich bzw. nichtmenschlich<br />

gilt, nicht „natürlich“, son<strong>der</strong>n nur relational gegeben ist, durch das<br />

Engagement <strong>in</strong> verorteten, <strong>in</strong>nerweltlichen Begegnungen, wo Grenzen sich<br />

herausbilden und Kategorien sich sedimentieren. Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen haben gelernt,<br />

dass sich nicht von selbst versteht, was als „menschlich“ gilt. Dies Pr<strong>in</strong>zip sollte<br />

auch auf Masch<strong>in</strong>en sowie auf nicht-masch<strong>in</strong>elle, nicht-menschliche Entitäten im<br />

68 Donna Haraway: Monströse Versprechen – Coyote-Geschichten zu Fem<strong>in</strong>ismus und<br />

Technowissenschaft, Arg<strong>um</strong>ent- Verlag, Hamburg, 1995, S.17.<br />

69 Haraway: Die Neuerf<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Natur, S. 109.


allgeme<strong>in</strong>en zutreffen. Haraway besteht darauf, dass sowohl <strong>die</strong>jenigen<br />

Menschenwesen, denen <strong>die</strong> Geschichte <strong>der</strong> westlichen Philosophie <strong>die</strong><br />

Handlungsfähigkeit abspricht, wie auch <strong>die</strong> ganze nicht-menschliche „Natur“ als<br />

lebendig, e<strong>in</strong>flussreich, handlungsfähig, als AkteurInnen und AktantInnen, also<br />

als Fe<strong>der</strong>- und Regieführende im Spiel <strong>der</strong> Erkenntnisproduktion, angesehen<br />

werden müssen. Lei<strong>der</strong> lässt sich bei Haraway nur grob herausarbeiten, was sie<br />

unter AkteurInnen und AktantInnen versteht, hier bedarf es noch e<strong>in</strong>er genaueren<br />

Ausarbeitung <strong>der</strong> Kategorien ihrerseits. AkteurIn bedeutet alles, was von e<strong>in</strong>er/m<br />

an<strong>der</strong>en AkteurIn zur Quelle e<strong>in</strong>er Handlung gemacht worden ist; das impliziert<br />

nicht das Vorhandense<strong>in</strong> von Stimme, Selbstbewusstse<strong>in</strong> usw. Obwohl es<br />

sicherlich schwierig ist, sich nicht-menschliche AkteurInnen nicht<br />

anthropomorphisiert vorzustellen. Die Eigenschaften <strong>der</strong> AkteurInnen s<strong>in</strong>d bei<br />

Haraway <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat den Merkmalen recht ähnlich, <strong>die</strong> traditionell <strong>die</strong><br />

Handlungsfähigkeit des Menschen def<strong>in</strong>ieren. Allerd<strong>in</strong>gs <strong>um</strong>fassen sie eben auch<br />

nicht-menschliche Entitäten, z.B. Tiere: „AkteurInnen s<strong>in</strong>d Wesen, <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge tun,<br />

Folgen zeitigen, Welten bauen, <strong>in</strong> Verknüpfung mit an<strong>der</strong>en unähnlichen<br />

Akteuren.“ 70 Aktanten dagegen s<strong>in</strong>d Bündel von Handlungsfunktionen, ke<strong>in</strong>e<br />

AkteurInnen: „Will man e<strong>in</strong>e Geschichte verstehen, so ist es fast niemals e<strong>in</strong><br />

Fehler, e<strong>in</strong>en Akteur zu anthropomorphisieren; e<strong>in</strong>en Aktanten zu<br />

anthropomorphisieren kann e<strong>in</strong> gewaltiger Fehlgriff se<strong>in</strong>.“ 71 AktantInnen s<strong>in</strong>d als<br />

Kollektive aus sehr verschiedenen Beteiligten vorstellbar, <strong>die</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

strukturierten und strukturierenden Handlungsfeld D<strong>in</strong>ge tun. So sieht Haraway<br />

<strong>die</strong> Welt als verschlüsselt redenden Trickster, mit dem wir erst lernen müssen, <strong>in</strong>s<br />

Gespräch zu kommen, das sie Konversation nennt.<br />

In <strong>die</strong>sem Zusammenhang kritisiert Haraway auch <strong>die</strong> gängige Praxis <strong>der</strong><br />

Repräsentation nicht-menschlicher AkteurInnen. Sie bezeichnet <strong>die</strong> Fragen „Wer<br />

spricht für den Jaguar?“ o<strong>der</strong> „Wer spricht für den Fötus?“ als falsch gestellt, weil<br />

sie auf e<strong>in</strong>er Vorstellung von Repräsentation beruhen, <strong>die</strong> stark von<br />

Distanzierungsmaßnahmen abhängig ist. Dies hat e<strong>in</strong>e Entmachtung <strong>der</strong>jenigen<br />

zufolge, <strong>die</strong> dem repräsentierten – verme<strong>in</strong>tlich „natürlichen“ – Objekt am<br />

nächsten s<strong>in</strong>d (hier <strong>die</strong> RegenwaldbewohnerInnen und <strong>die</strong> schwangere Frau):<br />

„Beide, Jaguar und Fötus, werden aus e<strong>in</strong>er kollektiven E<strong>in</strong>heit herausoperiert und<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e versetzt, wo sie als Objekte e<strong>in</strong>er beson<strong>der</strong>en Art neu konstituiert<br />

70 Haraway: Monströse Versprechen, S. 43.<br />

71 Haraway: Monströse Versprechen, S. 142.


werden, nämlich als Fundament e<strong>in</strong>er repräsentationalen Praxis, <strong>die</strong> den<br />

Bauchredner für immer zur Autorität erklärt. Die Vormundschaft höret nimmer<br />

auf. Das Repräsentierte ist dauerhaft auf den Status dessen reduziert, <strong>der</strong><br />

Handlungen entgegennimmt, nicht (und niemals) z<strong>um</strong> Ko-Akteur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

artikulierten Praxis e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> unähnlicher, aber mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verbundener sozialer<br />

Partner wird.“ 72 Dieser Mechanismus ist bei Haraway sowohl politisch als auch<br />

epistemologisch zu verstehen. Sie setzt <strong>die</strong>ser Art von Bauchrednerei <strong>die</strong><br />

Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Artikulation und Konversation entgegen. Die nicht-menschlichen<br />

AkteurInnen artikulieren sich, und <strong>die</strong> menschlichen AkteurInnen müssen lernen,<br />

mit ersteren <strong>in</strong> Konversationen zu treten, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Arten von Artikulationen<br />

berücksichtigen. Lei<strong>der</strong> bleibt noch undeutlich, wie solche Konversationen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Praxis aussehen könnten. Möglicherweise schwebt Haraway vor, e<strong>in</strong>e<br />

menschliche Fähigkeit, <strong>die</strong> <strong>der</strong> Empathie – <strong>die</strong> sie als den Zwill<strong>in</strong>g <strong>der</strong><br />

herkömmlich verstandenen Objektivität bezeichnet – verwandt se<strong>in</strong> könnte, zu<br />

stärken. Explizit äußerst sie sich allerd<strong>in</strong>gs nicht dazu.<br />

„Natur“ als verschlüsselt reden<strong>der</strong> Trickster<br />

„Wir müssen, jenseits von Verd<strong>in</strong>glichung, Besitz, Aneignung und Nostalgie, e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es<br />

Verhältnis zur Natur f<strong>in</strong>den. Da sie <strong>die</strong> Fiktion, entwe<strong>der</strong> Subjekte o<strong>der</strong> Objekte zu se<strong>in</strong>,<br />

nicht mehr aufrechterhalten können, müssen alle, <strong>die</strong> an den entscheidenden<br />

Konversationen teilnehmen, <strong>in</strong> denen Natur konstituiert wird, e<strong>in</strong>e neue Grundlage<br />

f<strong>in</strong>den, auf <strong>der</strong> sie geme<strong>in</strong>sam Bedeutungen produzieren.“ 73<br />

Im Gegensatz zu Long<strong>in</strong>o und Hard<strong>in</strong>g h<strong>in</strong>terfragt Haraway konsequenter, was<br />

das Untersuchungsobjekt <strong>der</strong> Naturwissenschaften, <strong>die</strong> belebte und unbelebte<br />

„Natur“, eigentlich se<strong>in</strong> kann. Sie bricht dabei mit gängigen Vorstellungen und<br />

greift <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>die</strong> Natur-Kultur-Dichotomie an. Das westliche<br />

Naturverständnis ist „tief durchdrungen von <strong>der</strong> Logik des Natur-Kultur-<br />

Gegensatzes, von <strong>der</strong> westlichen Suche nach dem Selbst im Spiegel e<strong>in</strong>es<br />

untergeordneten An<strong>der</strong>en, durch das ständige Wie<strong>der</strong>holen von<br />

Ursprungsgeschichten, <strong>die</strong> <strong>die</strong> westliche politische Kultur begründen.“ 74 Für<br />

Haraway wird <strong>die</strong> „Natur“ <strong>in</strong> den Geschichten des Kolonialismus, Rassismus,<br />

Sexismus und <strong>der</strong> Klassenherrschaft diskursiv als „das An<strong>der</strong>e“ konstituiert.<br />

72 Haraway: Monströse Versprechen, S. 45.<br />

73 Haraway: Monströse Versprechen, S. 82.<br />

74 Donna Haraway: Primatologie ist Politik mit an<strong>der</strong>en Mitteln, <strong>in</strong> Barbara Orland und Elvira<br />

Scheich (Hg.): Das Geschlecht <strong>der</strong> Natur, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Ma<strong>in</strong>, 1995, S. 140 f.


Somit <strong>die</strong>nt sie gewissermaßen als Spiegel für das, was als Kultur, als „wir“<br />

gelten kann. Aber <strong>die</strong> „Natur“ sei ke<strong>in</strong> physikalischer Ort, den man besuchen<br />

kann, auch ke<strong>in</strong> Schatz, <strong>der</strong> sich e<strong>in</strong>zäunen o<strong>der</strong> horten ließe, auch ke<strong>in</strong>e<br />

Wesenheit, <strong>die</strong> gerettet o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gewalt angetan würde. Die „Natur“ sei nicht<br />

verborgen und müsse daher auch nicht entschleiert werden. Die „Natur“ sei ke<strong>in</strong><br />

Text, <strong>der</strong> mit Hilfe mathematischer o<strong>der</strong> biomediz<strong>in</strong>ischer Codes lesbar ist. Sie sei<br />

nicht „das An<strong>der</strong>e“, das Ursprung, Ergänzung und Dienstleistung verspricht.<br />

Stattdessen sei „Natur“ e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>platz, dem wir uns zuwenden, <strong>um</strong> unseren<br />

Diskurs zu ordnen, unser Gedächtnis zu sortieren. Die „Natur“ ist „Figur,<br />

Konstruktion, Artefakt, Bewegung, Verschiebung. Die Natur kann nicht vor ihrer<br />

Konstruktion existieren.“ 75 In ihren wissenschaftlichen Verkörperungen ist <strong>die</strong><br />

„Natur“ etwas Gemachtes: Sie ist e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Konstruktion von<br />

menschlichen und nichtmenschlichen Wesen. Für Haraway ist <strong>die</strong> „Natur“ ke<strong>in</strong><br />

passiver Forschungsgegenstand: „Die Natur kann st<strong>um</strong>m se<strong>in</strong>, sprachlos im<br />

menschlichen S<strong>in</strong>ne, aber sie ist hochgradig artikuliert. <strong>Der</strong> Diskurs ist nur e<strong>in</strong>er<br />

unter vielen Artikulationsprozessen. E<strong>in</strong>e artikulierte Welt hat e<strong>in</strong>e<br />

unentscheidbare Anzahl von Orten und Weisen, Verb<strong>in</strong>dungen herzustellen.“ 76<br />

So wie Haraway <strong>die</strong> Natur-Kultur-Dichotomie verwirft, wendet sie sich auch<br />

gegen <strong>die</strong> unreflektiert verwendete Unterscheidung zwischen Sex als<br />

biologischem und Gen<strong>der</strong> als sozio-kulturellem Geschlecht. Es ist e<strong>in</strong> Fehler zu<br />

denken, Sex sei gegeben, „natürlich“, biologisch, und nur Gen<strong>der</strong> konstruiert und<br />

daher gesellschaftlich. Biologie ist e<strong>in</strong> analytischer Diskurs, er bietet ke<strong>in</strong>en<br />

unmittelbaren Zugriff auf den Körper. Das biologische Geschlecht ist e<strong>in</strong> für <strong>die</strong><br />

Macht <strong>in</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen westlichen Gesellschaft entscheidendes Objekt des<br />

Wissens und des Handelns. Haraway fragt, ob das Sex/Gen<strong>der</strong>-System e<strong>in</strong>e<br />

überragende Entdeckung für fem<strong>in</strong>istische Forschung ist, wie Hard<strong>in</strong>g feststellt,<br />

o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e überdeterm<strong>in</strong>ierte Position <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Logik von „Natur“ und Kultur,<br />

<strong>die</strong> dementsprechend mit den impliziten Problemen <strong>die</strong>ser Opposition behaftet ist.<br />

Für Haraway ist es offensichtlich beides. Sex als Rohmaterial von Gen<strong>der</strong> bleibt<br />

e<strong>in</strong>e Art generative Ressource: potentiell frei und befreiend, aber überall durch<br />

Geschlechterpolitik e<strong>in</strong>gegrenzt: „Daher wird ‚the end of gen<strong>der</strong>’, das Ende je<strong>der</strong><br />

kulturellen Bestimmung von Geschlecht, e<strong>in</strong> mögliches fem<strong>in</strong>istisches Ziel, e<strong>in</strong><br />

sehr verführerisches sogar. Die Kategorie ‚Frau’ selbst ist e<strong>in</strong> Skandal, <strong>der</strong> das<br />

75 Haraway: Monströse Versprechen, S. 14.<br />

76 Haraway: Monströse Versprechen, S. 71.


Ende <strong>der</strong> Bed<strong>in</strong>gungen, <strong>die</strong> sie hervorbr<strong>in</strong>gen, erfor<strong>der</strong>t. Aber wenn <strong>die</strong> kulturell<br />

bestimmte Geschlechterrepräsentation e<strong>in</strong> Ende hat, muss das auch für das<br />

biologische Geschlecht gelten, gerade so wie auch <strong>der</strong> ‚Westen’ ohne se<strong>in</strong>e<br />

‚An<strong>der</strong>en’ nicht bestehen kann und vice versa.“ 77<br />

Primatologie ist Politik mit an<strong>der</strong>en Mitteln 78<br />

„Primates are privileged objects <strong>in</strong> specific historical contests to name the unmarked<br />

h<strong>um</strong>an place <strong>in</strong> nature, as well as to describe the equally unmarked nature of h<strong>um</strong>an<br />

society.” 79<br />

Die Geschichte <strong>der</strong> Primatologie ist das Feld, das Haraway am <strong>in</strong>tensivsten<br />

untersucht hat. In <strong>die</strong>sen Stu<strong>die</strong>n zeigt sie, wie gesellschaftliche und politische<br />

Prozesse mit den Geschichten, <strong>die</strong> PrimatologInnen über ihren<br />

Forschungsgegenstand, <strong>die</strong> verschiedenen PrimatInnen, erzählen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Wechselwirkung zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> stehen. Haraways Untersuchungen beleuchten das<br />

Verhältnis westlicher Wissenschaft und Politik. Sie begründet ihren Fokus auf<br />

PrimatInnen damit, dass sie beson<strong>der</strong>s geeignet s<strong>in</strong>d, <strong>um</strong> „Natur“ und „Kultur“ zu<br />

verstehen. In <strong>der</strong> Geschichte des Abendlandes werden nichtmenschliche<br />

PrimatInnen so verstanden, dass sie an e<strong>in</strong>er entscheidenden Grenze zwischen<br />

Tier und Mensch stehen. Und obwohl <strong>die</strong>se Grenze sich im Verlauf <strong>der</strong><br />

Geschichte wie<strong>der</strong>holt verschoben hat, wird sie immer so gezogen, dass sie als<br />

„natürliche“ ersche<strong>in</strong>t; <strong>die</strong>se Grenzziehung ist historisch und kulturell absolut<br />

spezifisch. Die Primatologie nimmt e<strong>in</strong>e wichtige Funktion <strong>in</strong> unserer Kultur e<strong>in</strong>:<br />

„Scientific debate about monkeys, apes, and h<strong>um</strong>an be<strong>in</strong>gs, that is, about<br />

primates, is a social process of produc<strong>in</strong>g stories, important stories that constitute<br />

public mean<strong>in</strong>gs. Science is our myth.” 80 Fem<strong>in</strong>ismus ist ebenso wie<br />

Wissenschaft e<strong>in</strong> Mythos, e<strong>in</strong> Kampf <strong>um</strong> allgeme<strong>in</strong> anerkanntes Wissen. Die<br />

Untersuchung des Sozialverhaltens von PrimatInnen ist nicht zu trennen von den<br />

komplexen Kämpfen <strong>in</strong> den westlichen Demokratien, <strong>in</strong> denen es dar<strong>um</strong> geht, wer<br />

war<strong>um</strong> e<strong>in</strong> mündiger, gesun<strong>der</strong> Bürger se<strong>in</strong> kann. Im westlichen philosophischen<br />

77 Haraway: Primatologie ist Politik mit an<strong>der</strong>en Mitteln, S. 162 f.<br />

78 Haraway hat den Titel ihres Essays “Primatologie ist Politik mit an<strong>der</strong>en Mitteln” von Latour<br />

übernommen, <strong>der</strong> den Slogan “Wissenschaft ist <strong>die</strong> Fortsetzung von Politik mit an<strong>der</strong>en Mitteln”<br />

formulierte, <strong>in</strong> Anlehnung an von Clausewitz’ Formulierung „Krieg ist e<strong>in</strong> bloße Fortsetzung <strong>der</strong><br />

Politik mit an<strong>der</strong>en Mitteln“.<br />

79 Haraway: Simians, Cyborgs, and Women, S. 93.<br />

80 Haraway: Simians, Cyborgs, and Women, S. 81.


Diskurs ist es e<strong>in</strong>e altehrwürdige Tradition, mit dem Naturzustand zu<br />

arg<strong>um</strong>entieren, wenn es <strong>um</strong> menschliche Politik geht.<br />

PrimatologInnen erzählen Geschichten, <strong>die</strong> ihrer jeweiligen Zeit, „Rasse“, Klasse,<br />

ihrem Ort und ihrem Geschlecht – wie auch ihren Tieren – bemerkenswert<br />

entsprechen. „Natur“ stellt sich als konstruiert, historisch konstituiert heraus, und<br />

ist nicht nackt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fundschicht e<strong>in</strong>es Fossils o<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em tropischen Wald<br />

entdeckt worden. „Natur“ ist <strong>um</strong>stritten, und Frauen haben sich mit Begeisterung<br />

<strong>in</strong> den Kampf gestürzt. Es sei nicht mehr akzeptabel, Tiermodelle für menschliche<br />

Lebensweisen zu erörtern, ohne <strong>die</strong> Aktivitäten von Weibchen und Jungtieren<br />

genauso zu berücksichtigen wie <strong>die</strong> <strong>der</strong> Männchen: Dieses Ergebnis sche<strong>in</strong>t auf<br />

komplexe Weise das Produkt e<strong>in</strong>er historischen weltweiten Frauenbewegung und<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong> den primatologischen Feld- und Laborpraktiken von Männern und Frauen<br />

bestimmter Kulturen sichtbar gemachten Phänomene zu se<strong>in</strong>.<br />

Wissenschaftler<strong>in</strong>nen produzieren ke<strong>in</strong>e schöneren und schon gar ke<strong>in</strong>e<br />

„natürlicheren“ Geschichten als Wissenschaftler. Auch sie produzieren ihre<br />

Geschichten im Rahmen <strong>der</strong> regelgeleiteten öffentlich anerkannten sozialen<br />

Praktik <strong>der</strong> Wissenschaft, und <strong>die</strong>se Beteiligung am Kampf <strong>um</strong> Bedeutungen ist<br />

für Haraway außerordentlich wichtig: „To ignore, to fail to engage <strong>in</strong> the social<br />

process of mak<strong>in</strong>g science, and to attend only to use and abuse of the results of<br />

scientific work is irresponsible. I believe it is even less responsible <strong>in</strong> present<br />

historical conditions to pursue anti-scientific tales about nature that idealize<br />

women, nurtur<strong>in</strong>g, or some other entity argued to be free of male war-ta<strong>in</strong>ted<br />

pollution. Scientific stories have too much power as public myth to effect<br />

mean<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> our lives. Besides, scientific stories are <strong>in</strong>terest<strong>in</strong>g.” 81 Haraways<br />

„Moral“ ist, dass Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen dar<strong>um</strong> kämpfen sollten, Geschichten zu erzählen<br />

und <strong>die</strong> historischen Bed<strong>in</strong>gungen für das Entwerfen von Erzählmustern<br />

festzulegen. Am wichtigsten sei, auf <strong>der</strong> Demystifizierung <strong>der</strong> <strong>in</strong> öffentlichen<br />

Diskursen auftauchenden wissenschaftlichen Bedeutungen zu <strong>in</strong>sistieren.<br />

Menschen <strong>in</strong> bestimmten historischen Formationen stellen <strong>die</strong> Bedeutungen her:<br />

„Me<strong>in</strong>e These ist, dass <strong>die</strong> wissenschaftlichen Praktiken und Diskurse <strong>der</strong><br />

mo<strong>der</strong>nen Primatenforschung teilhaben an dem grundlegenden Akt <strong>der</strong> westlichen<br />

Geschichte: <strong>der</strong> Konstruktion des Menschen-Mannes. Diese Konstruktion ruft<br />

nach kollektiver Dekonstruktion. Primatenforschung ist Politik mit an<strong>der</strong>en<br />

81 Haraway: Simians, Cyborgs, and Women, S. 107.


Mitteln“. 82 Die Primatologie ist e<strong>in</strong>e komplexe wissenschaftliche Konstruktion<br />

des Selbst und des an<strong>der</strong>en, von Kultur und „Natur“, von Sex und Gen<strong>der</strong>, von<br />

menschlich und tierisch, von Zweck und Ressource, Handelndem und<br />

Behandeltem. Dieses Wissenschaftsfeld legt fest, wer als „wir“ gelten kann.<br />

Haraway hofft daher auf e<strong>in</strong>e politisierte Semiotik, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Politik <strong>die</strong> Suche nach<br />

e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen Welt ist – vermittelt durch viele gesellschaftlich begründete<br />

Praktiken, e<strong>in</strong>schließlich <strong>der</strong> Primatologie.<br />

Wissenschaft als fem<strong>in</strong>istische Politik<br />

„Both chimpanzees and artifacts have politics, so why shouldn’t we?“ 83<br />

Bei Haraway s<strong>in</strong>d Wissenschaft und Politik eng verwoben; z<strong>um</strong> e<strong>in</strong>en aufgrund<br />

<strong>der</strong> Tatsache, dass Wissenschaft Politik mit an<strong>der</strong>en Mitteln ist. Z<strong>um</strong> an<strong>der</strong>en ist<br />

Haraways <strong>Objektivitätsbegriff</strong> außerdem mit <strong>der</strong> Entwicklung politischer<br />

Bewegungen verbunden: Sie benötigt, wie oben dargestellt, e<strong>in</strong>en verän<strong>der</strong>ten<br />

Subjekt- und Identitätsbegriff als Subjekt des Wissens für ihr Konzept von<br />

situierten Wissen. Die Möglichkeit <strong>der</strong> Entwicklung e<strong>in</strong>es solchen fem<strong>in</strong>istischen,<br />

alternativen Subjektbegriffs hängt aber wie<strong>der</strong><strong>um</strong> von politischen Bewegungen<br />

ab. Daher halte ich es für notwendig, auf Haraways Politikverständnis näher<br />

e<strong>in</strong>zugehen.<br />

Haraway möchte e<strong>in</strong>en ironischen, politischen Mythos entwickeln, <strong>der</strong><br />

Fem<strong>in</strong>ismus, Sozialismus und Materialismus <strong>die</strong> Treue hält; Treue verstanden als<br />

Form e<strong>in</strong>er Blasphemie statt ehrfürchtigem Glauben an re<strong>in</strong>e Lehre o<strong>der</strong><br />

Identifikation. Blasphemie sche<strong>in</strong>t <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge sehr ernst zu nehmen. Blasphemie<br />

schütze uns vor <strong>der</strong> moralischen Mehrheit <strong>in</strong> den eigenen Reihen, während sie auf<br />

<strong>der</strong> Notwendigkeit <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft bestehe. Im Zentr<strong>um</strong> von Haraways<br />

ironischer Treue, <strong>der</strong> Blasphemie, steht das Bild <strong>der</strong> Cyborg 84 : „The cyborg is a<br />

matter of fiction and lived experience that changes what counts as women’s<br />

experience <strong>in</strong> the late twentieth century. This is a struggle over life and death, but<br />

the boundary between science fiction and social reality is an optical illusion.” 85 In<br />

<strong>der</strong> Science Fiction und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong> wimmelt es von Cyborgs. Haraway<br />

plä<strong>die</strong>rt dafür, <strong>die</strong> Cyborg als e<strong>in</strong>e Fiktion anzusehen, an <strong>der</strong> sich <strong>die</strong><br />

82 Haraway: Primatologie ist Politik mit an<strong>der</strong>en Mitteln, S.144.<br />

83 Haraway: Simians, Cyborgs, and Women, S. 153.<br />

84 E<strong>in</strong>e Cyborg ist nach Haraway e<strong>in</strong> kybernetischer Organismus, e<strong>in</strong> Hybrid aus Masch<strong>in</strong>e und<br />

Organismus, e<strong>in</strong>e Kreatur <strong>der</strong> gesellschaftlichen Wirklichkeit und <strong>der</strong> Fiktion.<br />

85 Haraway: Simians, Cyborgs, and Women, S. 149.


Beschaffenheit unserer heutigen gesellschaftlichen und körperlichen Realität<br />

ablesen lässt und als e<strong>in</strong>e phantasievolle Ressource, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>ige sehr fruchtbare<br />

Verb<strong>in</strong>dungen vorschlägt. Die Beziehung zwischen Organismus und Masch<strong>in</strong>e<br />

war immer e<strong>in</strong> Grenzkrieg – <strong>die</strong> <strong>um</strong>kämpften Gebiete s<strong>in</strong>d Produktion,<br />

Reproduktion, Vorstellungskraft. Haraway plä<strong>die</strong>rt dafür, <strong>die</strong> Verwirrung <strong>die</strong>ser<br />

Grenzen zu genießen und Verantwortung bei ihrer Konstruktion zu übernehmen.<br />

Die Cyborg besitzt ke<strong>in</strong>e Ursprungsgeschichte im westlichen Verständnis. Sie ist<br />

überzeugte AnhängerIn von Partialität, Ironie, Intimität und Perversität;<br />

oppositionell, utopisch und ohne jede Unschuld. Sie erzw<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e Neudef<strong>in</strong>ition<br />

von „Natur“ und Kultur. Cyborgs s<strong>in</strong>d respektlos. Das große Problem mit den<br />

Cyborgs ist, dass sie Abkömml<strong>in</strong>ge des Militarismus und patriarchalen<br />

Kapitalismus o<strong>der</strong> gar Staatssozialismus s<strong>in</strong>d. Aber illegitime Abkömml<strong>in</strong>ge seien<br />

ihrer Herkunft gegenüber häufig nicht allzu loyal. Haraway vertritt <strong>die</strong> These,<br />

dass drei bisher entscheidende Grenzziehungen <strong>der</strong> westlichen Kultur Ende des<br />

20. Jahrhun<strong>der</strong>ts zusammengebrochen s<strong>in</strong>d: <strong>die</strong> zwischen Tier und Mensch,<br />

zwischen Tier/Mensch (Organismus) und Masch<strong>in</strong>e und <strong>die</strong> zwischen<br />

Physikalischem und Nichtphysikalischem. <strong>Der</strong> Cyborgmythos handelt von <strong>die</strong>sen<br />

überschrittenen Grenzen, machtvollen Verschmelzungen und gefährlichen<br />

Möglichkeiten. Haraway skizziert zwei mögliche Perspektiven <strong>der</strong> Cyborgwelt:<br />

e<strong>in</strong>e Horrorvision und e<strong>in</strong>e positive Utopie mit gelebten sozialen und körperlichen<br />

Wirklichkeiten, <strong>in</strong> <strong>der</strong> niemand mehr se<strong>in</strong>e Verbundenheit zu Tieren und<br />

Masch<strong>in</strong>en zu fürchten braucht und niemand mehr vor dauerhaft partiellen<br />

Identitäten und wi<strong>der</strong>sprüchlichen Positionen zurückschrecken muss. Für<br />

politisches Handeln ist es notwendig, beide Blickw<strong>in</strong>kel zugleich zu beachten.<br />

Aff<strong>in</strong>itäten 86 statt Identitäten als Basis politischen Handelns<br />

„Cyborg unities are monstrous and illegitimate; <strong>in</strong> our present political circ<strong>um</strong>stances, we<br />

could hardly hope for more potent myths for resistance and recoupl<strong>in</strong>g.“ 87<br />

Haraways kritisiert <strong>die</strong> auf traditioneller Identität beruhenden Politikformen<br />

entschieden: Die Ausschlussmechanismen durch Benennungen s<strong>in</strong>d mittlerweile<br />

nicht mehr zu übersehen. Identitäten erweisen sich als wi<strong>der</strong>sprüchlich, partiell<br />

86 Haraway def<strong>in</strong>iert Aff<strong>in</strong>ity folgen<strong>der</strong>maßen: “Aff<strong>in</strong>ity: related not by blood but by choice, the<br />

appeal of one chemical nuclear group for another, avidity.” (Haraway: Simians, Cyborgs, and<br />

Women, S. 155).<br />

87 Haraway: Simians, Cyborgs, and Women, S. 154.


und strategisch. Politik ist für Haraway aber nicht auf traditionelle Identitäten als<br />

Grundlage angewiesen. Sie schlägt als Basis für politisches Handeln Aff<strong>in</strong>ität statt<br />

Identität vor und beruft sich auf Chela Sandovals Modell politischer Identität, das<br />

oppositionelle Bewusstse<strong>in</strong>. 88 Als Beispiel führt sie den Begriff <strong>der</strong> Women of<br />

Color an: „This identity marks out a self-consciously constructed space that<br />

cannot affirm the capacity to act on the basis of natural identification, but only on<br />

the basis of conscious coalition, of aff<strong>in</strong>ity, of political k<strong>in</strong>ship.” 89 Sandoval hat<br />

gezeigt, wie e<strong>in</strong>e politische E<strong>in</strong>heit unabhängig von e<strong>in</strong>er Logik <strong>der</strong> Aneignung,<br />

Vere<strong>in</strong>nahmung o<strong>der</strong> totalisieren<strong>der</strong> Identifikation hergestellt werden kann.<br />

Haraway erteilt daher an alle Ansprüche auf e<strong>in</strong>en organischen o<strong>der</strong> “natürlichen”<br />

Standpunkt e<strong>in</strong>e Absage: „White women, <strong>in</strong>clud<strong>in</strong>g socialist fem<strong>in</strong>ists, discovered<br />

(that is, were forced kick<strong>in</strong>g and scream<strong>in</strong>g to notice) the non-<strong>in</strong>nocence of the<br />

category ‚woman’. That consciousness changes the geography of all previous<br />

categories; it denatures them as heat denatures a fragile prote<strong>in</strong>. Cyborg fem<strong>in</strong>ists<br />

have to argue that ‘we’ do not want any more natural matrix of unity and that no<br />

construction is whole. Innocence, and the corrollary <strong>in</strong>sistence on victimhood as<br />

the only ground for <strong>in</strong>sight, has done enough damage.” 90 Epistemologie heiße,<br />

den Unterschied zwischen den Differenzen, <strong>die</strong> spielerisch s<strong>in</strong>d und denen, <strong>die</strong><br />

Pole e<strong>in</strong>es weltweiten historischen Herrschaftssystems s<strong>in</strong>d, zu erkennen. Politik<br />

habe mit e<strong>in</strong>em (heterogenen) „wir“ zu tun; Politik existiere nur dort, wo es mehr<br />

als e<strong>in</strong>e Stimme, mehr als e<strong>in</strong>e Realität gibt. Politik habe mit Differenz zu tun.<br />

Und bei Differenz gehe es letztlich <strong>um</strong> <strong>die</strong> Unmöglichkeit von Übere<strong>in</strong>stimmung<br />

und Identität mit sich selbst. 91<br />

Die Cyborg als fem<strong>in</strong>istische Identität ist bei Haraway e<strong>in</strong>e Art zerlegtes und neu<br />

zusammengesetztes, postmo<strong>der</strong>nes kollektives und <strong>in</strong>dividuelles Selbst. Wir<br />

brauchen ke<strong>in</strong>e Totalität, <strong>um</strong> gute politische Arbeit zu leisten. Vielleicht können<br />

wir auf ironische Weise aus unseren Verschmelzungen mit Tieren und Masch<strong>in</strong>en<br />

lernen, etwas An<strong>der</strong>es als <strong>der</strong> Mensch, <strong>die</strong> Verkörperung des westlichen Logos, zu<br />

se<strong>in</strong>. Cyborg-Politik bedeutet, zugleich für e<strong>in</strong>e Sprache und gegen <strong>die</strong> perfekte<br />

88 Vgl. Chela Sandoval: Dis-illusionment and the poetry of the future: the mak<strong>in</strong>g of oppositional<br />

consciousness, University of California at Santa Cruz, Dissertation.<br />

89 Haraway: Simians, Cyborgs, and Women, S. 156.<br />

90 Haraway: Simians, Cyborgs, and Women, S. 157.<br />

91 Vergl. Tr<strong>in</strong>h T. M<strong>in</strong>h-ha: Difference: „A Special Third World Women Issue“ <strong>in</strong> Discourse 8,<br />

1986/87 (She, the Inappropriated Other), bes. S. 27-34.


Kommunikation zu kämpfen, gegen das zentrale Dogma des Phallogozentrismus,<br />

den e<strong>in</strong>en Code, <strong>der</strong> jede Bedeutung perfekt überträgt.<br />

Haraway bezieht fem<strong>in</strong>istische Scienc-Fiction-Literatur <strong>in</strong> ihre Analysen e<strong>in</strong>. In<br />

solchen Geschichten, <strong>in</strong> denen ke<strong>in</strong>e Figur e<strong>in</strong>fach menschlich ist, wird <strong>der</strong> Status,<br />

e<strong>in</strong> Mensch zu se<strong>in</strong>, äußerst problematisch. Monster, <strong>die</strong> älteren Geschwister <strong>der</strong><br />

Cyborgs, haben von jeher <strong>die</strong> Grenzen e<strong>in</strong>es geme<strong>in</strong>samen sozialen Lebens <strong>in</strong> den<br />

Vorstellungen des Westens bestimmt. Wenn wir wirklich anerkennen, dass <strong>die</strong><br />

Metaphorik <strong>der</strong> Cyborg nichts Fe<strong>in</strong>dliches an sich hat, so zieht das verschiedene<br />

Konsequenzen nach sich: Unsere Körper, unsere Leben s<strong>in</strong>d Landkarten <strong>der</strong><br />

Macht und Identität. E<strong>in</strong> Cyborg-Körper ist nicht unschuldig. Die Masch<strong>in</strong>e ist<br />

ke<strong>in</strong> Es, das belebt, beseelt o<strong>der</strong> beherrscht werden müsste. Die Masch<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>d<br />

wir, e<strong>in</strong> Aspekt unserer Verkörperung. Wir können für Masch<strong>in</strong>en verantwortlich<br />

se<strong>in</strong>, sie beherrschen o<strong>der</strong> bedrohen uns nicht. Wir s<strong>in</strong>d für <strong>die</strong> Grenzen<br />

verantwortlich, wir s<strong>in</strong>d sie. Cyborgs verspüren ke<strong>in</strong>en Drang, e<strong>in</strong>e <strong>um</strong>fassende<br />

Theorie zu produzieren, stattdessen verfügen sie über e<strong>in</strong>e ausgeprägte Erfahrung<br />

<strong>der</strong> Begrenzung, ihrer Konstruktion und Dekonstruktion.<br />

Wenn wir Wissenschaft als e<strong>in</strong> Ensemble heterogener Praktiken begreifen und<br />

nicht als etwas Monolithisches, wenn uns <strong>die</strong> vielen Praktiken bewusst s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong><br />

wissenschaftliches Wissen produzieren, dann brauchen wir auch e<strong>in</strong> weniger<br />

monolithisches Politikmodell, <strong>um</strong> strategischer darüber nachdenken zu können,<br />

wie wir etwas bewirken können und darüber, wer wir s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> unseren<br />

unterschiedlichen Verortungen. Daher besteht Haraway darauf, dass „wir<br />

politische Bewegungen brauchen, für <strong>die</strong> Komplexität e<strong>in</strong>e Selbstverständlichkeit<br />

ist, an<strong>der</strong>nfalls werden wir es erst gar nicht so weit br<strong>in</strong>gen, politische<br />

Bewegungen auf <strong>die</strong> Be<strong>in</strong>e zu stellen – gerade weil es so kompliziert ist.“ 92<br />

Lieber Cyborg als Gött<strong>in</strong> – Haraways Plädoyer für Unabgeschlossenheit<br />

„Wir brauchen ke<strong>in</strong> ‚Happy End‘, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> Nicht-Ende. Dar<strong>um</strong> s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> von männlichpatriarchalen<br />

Apokalypsen handelnden Narrationen unbrauchbar. Das System ist nicht<br />

geschlossen, das heilige Ebenbild wird nicht kommen. Die Welt ist nicht erfüllt.“ 93<br />

Bestimmte Dualismen haben sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> westlichen Tradition hartnäckig gehalten,<br />

sie waren und s<strong>in</strong>d systematischer Bestandteil <strong>der</strong> Logiken und Praktiken <strong>der</strong><br />

Herrschaft über all jene, <strong>die</strong> als An<strong>der</strong>e konstituiert werden und <strong>der</strong>en Funktion es<br />

92 Haraway: Die Neuerf<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Natur, S. 122.<br />

93 Haraway: Monströse Versprechen, S. 78.


ist, Spiegel des Selbst zu se<strong>in</strong>. Für Haraway heißt <strong>der</strong> E<strong>in</strong>e zu se<strong>in</strong>, autonom,<br />

mächtig, Gott, aber auch e<strong>in</strong>e Illusion zu se<strong>in</strong>. Noch bedeutet <strong>die</strong>/<strong>der</strong> An<strong>der</strong>e zu<br />

se<strong>in</strong>, vielfältig und ohne klare Grenzen, une<strong>in</strong>heitlich und unwesentlich zu se<strong>in</strong>.<br />

Die Entwicklung <strong>der</strong> Hochtechnologien stellt e<strong>in</strong>e fasz<strong>in</strong>ierend <strong>in</strong>trigante<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung <strong>die</strong>ser Dualismen dar. War<strong>um</strong> sollten unsere Körper an <strong>der</strong> Haut<br />

enden o<strong>der</strong> bestenfalls an<strong>der</strong>e von Haut <strong>um</strong>schlossene Wesenheiten <strong>um</strong>fassen? In<br />

„A Cyborg Manifesto“ 94 formuliert Haraway zwei Kernthesen: (1) Die<br />

Produktion e<strong>in</strong>er universalen, totalisierenden Theorie ist e<strong>in</strong> schwerwiegen<strong>der</strong><br />

Fehler, <strong>der</strong> <strong>die</strong> meisten Bereiche <strong>der</strong> Realität verfehlt, wahrsche<strong>in</strong>lich schon<br />

immer, aber mit Sicherheit heute. (2) Verantwortung für <strong>die</strong> sozialen<br />

Beziehungen, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> gesellschaftlichen Wissenschafts- und<br />

Technologieverhältnisse strukturiert werden, zu übernehmen heißt, e<strong>in</strong>e<br />

antiwissenschaftliche Metaphysik, <strong>die</strong> Dämonisierung <strong>der</strong> Technologie zu<br />

verweigern und sich stattdessen <strong>der</strong> vielschichtigen Aufgabe zu widmen, <strong>die</strong><br />

Grenzen des täglichen Lebens, <strong>in</strong> partialen Verb<strong>in</strong>dungen mit An<strong>der</strong>en, <strong>in</strong><br />

Kommunikation mit all unseren Teilen, zu rekonstruieren. Die Cyborg-Metapher<br />

kann e<strong>in</strong>en Weg aus dem Irrgarten <strong>der</strong> Dualismen vorschlagen, <strong>in</strong> dem wir unsere<br />

Körper und Werkzeuge uns selbst gegenüber erklärt haben: „This is not a dream<br />

of a common language, but of a powerful <strong>in</strong>fidel heteroglossia. It is an<br />

imag<strong>in</strong>ation of a fem<strong>in</strong>ist speak<strong>in</strong>g <strong>in</strong> tongues to strike fear <strong>in</strong>to the circuits of the<br />

supersavers of the new right. It means both build<strong>in</strong>g and destroy<strong>in</strong>g mach<strong>in</strong>es,<br />

identities, categories, relationships, space stories. Though both are bound <strong>in</strong> the<br />

spiral dance 95 , I would rather be a cyborg than a goddess.” 96<br />

Fem<strong>in</strong>istische Naturwissenschaften?<br />

„But that’s how science works – it’s not exact, it’s what you can get!“ 97<br />

94 Essay veröffentlicht <strong>in</strong> Haraway: Simians, Cyborgs, and Women, S. 181 ff.<br />

95 Das Spiral Danc<strong>in</strong>g war e<strong>in</strong>e sowohl spirituelle als auch politische Praktik, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Wächter und<br />

<strong>die</strong> <strong>in</strong>haftierten KernkraftgegnerInnen im Alameda County Gefängnis <strong>in</strong> Kalifornien <strong>in</strong> den frühen<br />

1980er Jahren verband.<br />

96 Haraway: Simians, Cyborgs, and Women, S. 181.<br />

97 Spontaner Ausruf von Londa Schieb<strong>in</strong>ger bei ihrem Vortrag „Has Fem<strong>in</strong>ism changed Science?“<br />

auf dem Kongress „Frauen <strong>in</strong> Naturwissenschaft und Technik“ <strong>in</strong> Hamburg am 2.6.2000.


- Londa Schieb<strong>in</strong>ger<br />

Ich habe <strong>die</strong> Vorschläge dreier fem<strong>in</strong>istischer Theoretiker<strong>in</strong>nen für e<strong>in</strong>e<br />

Neukonzeption des Pr<strong>in</strong>zips <strong>der</strong> Objektivität vorgestellt. Helen Long<strong>in</strong>o zeigt,<br />

dass wissenschaftliches Wissen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em gesellschaftlichen Prozess durch <strong>die</strong><br />

Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Wissenschaftsgeme<strong>in</strong>de ausgehandelt wird. Objektivität könne<br />

dadurch erreicht werden, dass <strong>in</strong>dividuelle Interessen e<strong>in</strong>zelner<br />

WissenschaftlerInnen ausgeglichen werden, <strong>in</strong>dem <strong>die</strong> Interessen aller am<br />

Wissenschaftsprozess Beteiligten gleichermaßen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Fragestellungen und<br />

Ergebnisse e<strong>in</strong>fließen. Sandra Hard<strong>in</strong>g versteht <strong>die</strong> Produktion wissenschaftlichen<br />

Wissens ebenfalls als sozialen Prozess. Ihr Konzept <strong>der</strong> starken Objektivität<br />

verlangt <strong>in</strong> Anlehnung an das Strong Programme das systematische Ergründen<br />

des gesellschaftlichen Kontextes und <strong>der</strong> <strong>in</strong> den Forschungsprozess e<strong>in</strong>fließenden<br />

Interessen. Die Objektivität werde dadurch erhöht, dass <strong>die</strong> Forschungsfragen<br />

gedanklich ihren Ausgangspunkt <strong>in</strong> den Lebenssituationen von Frauen (und<br />

an<strong>der</strong>en unterprivilegierten Gruppierungen) f<strong>in</strong>den. Donna Haraways Konzept<br />

situierter Wissen besteht auf <strong>der</strong> Reflexion <strong>der</strong> eigenen Verortung <strong>in</strong>nerhalb<br />

gesellschaftlicher und epistemischer Strukturen. Objektivität entstehe durch <strong>die</strong>se<br />

Reflexion und <strong>die</strong> Übernahme <strong>der</strong> Verantwortung für <strong>die</strong> eigene Positionierung<br />

sowie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit an<strong>der</strong>en sich verortenden AkteurInnen.<br />

Abschließend möchte ich <strong>die</strong>se unterschiedlichen Objektivitätsansätze auf ihre<br />

Tauglichkeit für <strong>die</strong> naturwissenschaftliche Praxis h<strong>in</strong> vergleichen, da alle drei<br />

Autor<strong>in</strong>nen auf <strong>der</strong> fem<strong>in</strong>istischen Intervention <strong>in</strong> <strong>die</strong> bestehenden Wissenschaften<br />

bestehen und so <strong>der</strong>en Verän<strong>der</strong>ung herbeiführen wollen.<br />

Long<strong>in</strong>os Analyse <strong>der</strong> naturwissenschaftlichen Beweisführung hat nicht nur<br />

gezeigt, wie H<strong>in</strong>tergrundannahmen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Wissensproduktion e<strong>in</strong>fließen, son<strong>der</strong>n<br />

auch <strong>die</strong> Notwendigkeit des Vorhandense<strong>in</strong>s solcher Annahmen für den Prozess<br />

<strong>der</strong> Beweisführung bewiesen. Long<strong>in</strong>os Herangehensweise an Objektivität hat den<br />

Vorteil, dass sie ke<strong>in</strong>erlei <strong>in</strong>haltliche und methodologische Vorschriften enthält<br />

und daher e<strong>in</strong>en großen Spielra<strong>um</strong> für <strong>die</strong> Def<strong>in</strong>ition fem<strong>in</strong>istischer Wissenschaft<br />

lässt. Dar<strong>in</strong> liegen aber auch Probleme: In <strong>der</strong> Orientierung an <strong>der</strong> Praxis –<br />

Naturwissenschaft e<strong>in</strong>fach als Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong> zu betreiben – liegt auch e<strong>in</strong>e starke<br />

Schieb<strong>in</strong>ger antwortete damit auf Gelächter aus dem Publik<strong>um</strong>, als sie darstellte, dass e<strong>in</strong> Grund<br />

für <strong>die</strong> <strong>in</strong>tensive Beforschung von Pavianen war, dass sie auf dem Boden leben und daher<br />

e<strong>in</strong>facher zu beobachten s<strong>in</strong>d als Primaten, <strong>die</strong> auf Bä<strong>um</strong>en leben.


Fokussierung auf <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelne WissenschaftlerIn, <strong>die</strong> problematisch ist. Was heißt<br />

es konkret, als Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong> zu forschen? Ist es ratsam, das so unbestimmt zu lassen<br />

angesichts <strong>der</strong> Erfahrungen, dass relativ privilegierte Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen, <strong>der</strong>en<br />

e<strong>in</strong>ziges Unterdrückungsmoment <strong>in</strong> ihrem Frause<strong>in</strong> besteht, sich oftmals nur für<br />

ihre persönlichen Interessen e<strong>in</strong>gesetzt und somit e<strong>in</strong>en recht e<strong>in</strong>geschränkten<br />

Fem<strong>in</strong>ismus vertreten haben, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>em Großteil <strong>der</strong> Frauen, <strong>die</strong> er behauptet zu<br />

vertreten, eher geschadet o<strong>der</strong> sie z<strong>um</strong><strong>in</strong>dest aus <strong>der</strong> Frauenbewegung<br />

ausgeschlossen hat? 98 Welchen Wert hat es, wenn uns Forscher<strong>in</strong>nen Ergebnisse<br />

als fem<strong>in</strong>istisch verkaufen wollen, <strong>die</strong> besagen, dass Testosteron aggressiv<br />

macht? 99 Long<strong>in</strong>o selbst hat uns zu Recht auf <strong>die</strong> Existenz heterosexistischer<br />

Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen h<strong>in</strong>gewiesen. 100 Außerdem kl<strong>in</strong>gt ihr „do<strong>in</strong>g science as a fem<strong>in</strong>ist“<br />

wie<strong>der</strong><strong>um</strong>, als würden isolierte E<strong>in</strong>zelpersonen Wissenschaft betreiben, obwohl<br />

sie selbst darauf besteht, dass Wissenschaft e<strong>in</strong> sozialer Prozess ist, an dem immer<br />

viele Personen beteiligt s<strong>in</strong>d. Teilweise liegt <strong>die</strong> Antwort auf <strong>die</strong>se Fragen <strong>in</strong><br />

Long<strong>in</strong>os Objektivitätsstandards, <strong>die</strong> sich auf <strong>die</strong> Möglichkeit transformativer<br />

Kritik <strong>in</strong> <strong>der</strong> gesamten Wissenschaftsgeme<strong>in</strong>de beziehen. Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d<br />

z<strong>um</strong><strong>in</strong>dest drei ihrer Kriterien nicht neu: Wenigstens würden<br />

NaturwissenschaftlerInnen behaupten, dass sie <strong>die</strong>se sowieso befolgen, nämlich<br />

<strong>die</strong> anerkannten Wege für <strong>die</strong> Kritik, <strong>die</strong> geme<strong>in</strong>samen Standards für <strong>die</strong><br />

Beurteilung von Theorien und Forschung und <strong>die</strong> Offenheit für Kritik <strong>der</strong><br />

Geme<strong>in</strong>de. Lediglich das vierte Kriteri<strong>um</strong> <strong>der</strong> gleichmäßig verteilten Autorität<br />

aller am Wissenschaftsbetrieb Beteiligten könnte hier Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong><br />

bestehenden Verhältnisse herbeiführen. Hier könnten Fem<strong>in</strong>istInnen und an<strong>der</strong>e<br />

darauf bestehen, dass durch Gleichstellungspolitik dafür gesorgt werden muss,<br />

den Anteil bisher unterrepräsentierter Gruppierungen <strong>in</strong> den Naturwissenschaften<br />

zu erhöhen. Dies wäre allerd<strong>in</strong>gs nur e<strong>in</strong>e notwendige und noch ke<strong>in</strong>e<br />

h<strong>in</strong>reichende Bed<strong>in</strong>gung für <strong>die</strong> gleichmäßig verteilte Autorität aller Mitglie<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft. Es dürfte bekannt se<strong>in</strong>, dass Mitglie<strong>der</strong> marg<strong>in</strong>alisierter<br />

Gruppen im Wissenschaftsbetrieb mit Vorurteilen ihrer KollegInnen konfrontiert<br />

98 Vgl. hierzu zahlreiche Berichte von Women of Color, z.B. <strong>in</strong> bell hooks: Sehnsucht und<br />

Wi<strong>der</strong>stand, Berl<strong>in</strong> 1996; Audre Lorde: Sister Outsi<strong>der</strong>, Freedom, 1984; Tr<strong>in</strong>h T. M<strong>in</strong>h-ha usw.<br />

99 So beispielsweise <strong>die</strong> H<strong>um</strong>anbiolog<strong>in</strong> Kerr<strong>in</strong> Christiansen an <strong>der</strong> Hamburger Universität, vgl.<br />

den Aufsatz von Britta Bergmann und Jacob Michelsen: Geschlechterkonstruktionen am<br />

H<strong>um</strong>anbiologischen Institut, <strong>in</strong> AG gegen Rassenkunde (Hg.): De<strong>in</strong>e Knochen – De<strong>in</strong>e<br />

Wirklichkeit, Texte gegen rassistische und sexistische Kont<strong>in</strong>uität <strong>in</strong> <strong>der</strong> H<strong>um</strong>anbiologie,<br />

Hamburg/Münster, 1998.<br />

100 Vgl. Long<strong>in</strong>o: Science as Social Knowledge, S. 132.


werden, <strong>die</strong> den Effekt haben können, dass sie nicht als vollwertige Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Geme<strong>in</strong>schaft akzeptiert werden. Long<strong>in</strong>os Ansatz stößt hier auf <strong>die</strong>selben<br />

Probleme wie Habermas’ Kriterien <strong>der</strong> idealen Sprechsituation 101 : Woher sollen<br />

wir wissen, wann <strong>die</strong>se gegeben ist, und ist es überhaupt realistisch, dass sie<br />

jemals erreicht wird? Was machen wir, solange sie nicht erreicht ist? Long<strong>in</strong>o<br />

sche<strong>in</strong>t ähnlich wie <strong>der</strong> von ihr kritisierte Habermas <strong>die</strong> bestehenden<br />

Machtverhältnisse auszublenden o<strong>der</strong> z<strong>um</strong><strong>in</strong>dest zu unterschätzen, wenn sie davon<br />

ausgeht, dass <strong>die</strong>ses Kriteri<strong>um</strong> erfüllt werden kann. Sie läuft damit Gefahr, <strong>die</strong><br />

bestehenden Verhältnisse zu idealisieren. Mit welchen Mitteln stattet Long<strong>in</strong>o <strong>die</strong><br />

e<strong>in</strong>zelne fem<strong>in</strong>istische Wissenschaftler<strong>in</strong> aus, <strong>um</strong> gegen <strong>die</strong> Vorbehalte ihrer<br />

Kollegen angehen zu können? Und wessen Interessen müssen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

wissenschaftlichen Geme<strong>in</strong>schaft vertreten werden? Wer stellt dafür Kriterien<br />

auf? Müssen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Chemie RollstuhlfahrerInnen, Homosexuelle usw. <strong>in</strong>tegriert<br />

se<strong>in</strong>, <strong>um</strong> objektive Ergebnisse zu liefern? Was ist mit den Interessen von<br />

Gruppierungen, <strong>die</strong> per se nicht gleichberechtigt Teil <strong>der</strong><br />

Wissenschaftsgeme<strong>in</strong>schaft werden können, wie beispielsweise sogenannte geistig<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te und K<strong>in</strong><strong>der</strong>? 102 Werden ihre Interessen durch an<strong>der</strong>e vertreten o<strong>der</strong> gar<br />

nicht? Was heißt es, dass alle Interessen gleichermaßen vertreten werden müssen<br />

– lässt sich das quantitativ ausdrücken, bemessen am Anteil <strong>der</strong> jeweiligen<br />

Interessensgruppe <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bevölkerung? Weiter stellt sich <strong>die</strong> Frage <strong>der</strong> Def<strong>in</strong>ition<br />

von „Bevölkerung“ <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Zusammenhang angesichts dessen, dass unsere<br />

westliche Naturwissenschaft globale Auswirkungen zeitigt.<br />

So vorteilhaft für <strong>die</strong> naturwissenschaftliche Praxis Long<strong>in</strong>os Ansatz auf den<br />

ersten Blick auch ersche<strong>in</strong>en mag, <strong>die</strong> konkrete Umsetzung weist zahlreiche<br />

Fallstricke auf. E<strong>in</strong> grundlegendes Problem sche<strong>in</strong>t mir zu se<strong>in</strong>, dass das Erreichen<br />

von Objektivität bei ihr aufgrund ihrer Fokussierung auf Wissenschaft als Praxis<br />

über <strong>die</strong> quantitative E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung marg<strong>in</strong>alisierter Gruppen funktionieren muss,<br />

<strong>die</strong>s aber zahlreiche praktische Fragen aufwirft und vor allem <strong>die</strong> politische<br />

Bereitschaft dazu ka<strong>um</strong> zu erkennen ist. Z<strong>um</strong>al es nicht ausreicht, e<strong>in</strong>fach Frauen<br />

zu för<strong>der</strong>n, son<strong>der</strong>n es müssen Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen se<strong>in</strong>, mehr noch: Es müssen<br />

Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen se<strong>in</strong>, <strong>die</strong> auch bereit s<strong>in</strong>d, als solche Naturwissenschaft zu<br />

101<br />

Diese <strong>um</strong>fassen Ansprüche an Öffentlichkeit, Gleichberechtigung aller Beteiligten,<br />

Zwanglosigkeit und Wahrhaftigkeit. Vgl. Jürgen Habermas: Vorstu<strong>die</strong>n und Ergänzungen zur<br />

Theorie kommunikativen Handelns, Frankfurt/Ma<strong>in</strong>, 1984.<br />

102<br />

Wenn wir auch <strong>die</strong> Interessen von Tieren berücksichtigen wollen, fallen sie ebenfalls unter<br />

<strong>die</strong>se Problematik.


etreiben. In <strong>der</strong> momentanen Situation ist das <strong>in</strong> Deutschland ka<strong>um</strong> möglich.<br />

Angenommen, e<strong>in</strong>e fem<strong>in</strong>istische Chemiker<strong>in</strong> möchte auch als solche forschen<br />

und arbeiten, wie kann sie e<strong>in</strong>en Anfang machen ohne jegliche <strong>in</strong>haltliche<br />

Orientierung, außer <strong>der</strong> für sich wenig aussagenden Bestimmung „fem<strong>in</strong>istisch“,<br />

<strong>die</strong> erst noch gefüllt werden müsste, beson<strong>der</strong>s h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Physik und<br />

Chemie? Long<strong>in</strong>os Ansatz sche<strong>in</strong>t mir am effektivsten für <strong>die</strong> Biologie zu<br />

funktionieren, sofern sie sich auf Menschen (o<strong>der</strong> Tiere) als<br />

Untersuchungsgegenstand bezieht. Aber für <strong>die</strong> Physik und <strong>die</strong> Chemie bietet er<br />

weniger Ansatzpunkte, was mit Long<strong>in</strong>os Empirismus zusammenhängt. Die<br />

Produktion <strong>der</strong> Daten wird nicht h<strong>in</strong>terfragt, lediglich <strong>die</strong> Auslegung. Für <strong>die</strong> stark<br />

empiristischen o<strong>der</strong> auch „exakten“ Naturwissenschaften wie Chemie und Physik<br />

bedürfte es neuer theoretischer Werkzeuge, <strong>um</strong> <strong>die</strong>se aus fem<strong>in</strong>istischer Sicht zu<br />

verän<strong>der</strong>n. Außerdem hält Long<strong>in</strong>o an <strong>der</strong> Höherbewertung wissenschaftlicher<br />

Produktion von Wissen gegenüber an<strong>der</strong>en Arten <strong>der</strong> Wissensherstellung fest.<br />

Diese Haltung verbaut weitere Möglichkeiten, <strong>die</strong> Naturwissenschaften zu<br />

verän<strong>der</strong>n.<br />

Können <strong>die</strong> an<strong>der</strong>en beiden TheoretikerInnen <strong>die</strong> Probleme lösen, <strong>die</strong> <strong>in</strong> Long<strong>in</strong>os<br />

Ansatz ungelöst bleiben? Hard<strong>in</strong>g schränkt <strong>die</strong> Reichweite ihres Konzepts bereits<br />

selbst e<strong>in</strong>: Es geht ihr lediglich <strong>um</strong> das Aufwerfen neuer Forschungsfragen, <strong>die</strong><br />

durch <strong>die</strong> Standpunkte von Frauen und an<strong>der</strong>en sichtbar werden, nicht <strong>um</strong> <strong>die</strong><br />

Ergebnisse, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Forschung dann hat. Daher gibt es bei Hard<strong>in</strong>g auch<br />

ke<strong>in</strong>erlei Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit methodologischen Fragen o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Bestimmung <strong>der</strong> Objekte des Wissens. Sie ist ebenso empiristisch orientiert wie<br />

Long<strong>in</strong>o, da sie davon ausgeht, dass Aussagen darüber möglich s<strong>in</strong>d, wie <strong>die</strong> Welt<br />

wirklich ist: „The notion of objectivity is useful <strong>in</strong> provid<strong>in</strong>g a way to th<strong>in</strong>k about<br />

the gap we want between how any <strong>in</strong>dividual or group wants the world to be and<br />

how <strong>in</strong> fact it is.” 103 Diese Aussage Hard<strong>in</strong>gs weist auch darauf h<strong>in</strong>, dass sie zu<br />

glauben sche<strong>in</strong>t, Objektivität und Wahrheit im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er wirklichkeitsgetreuen<br />

Beschreibung <strong>der</strong> Welt stünden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em logischen Zusammenhang, während<br />

Long<strong>in</strong>o <strong>die</strong> Erfüllung ihrer Standards für Objektivität nicht als Maßstab für <strong>die</strong><br />

Wahrheit e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Aussage nimmt. 104 Sowohl Long<strong>in</strong>o als auch<br />

103 Hard<strong>in</strong>g: Whose Science? Whose Knowledge, S. 161.<br />

104 E<strong>in</strong>en ähnlichen Fehlschluss wirft Long<strong>in</strong>o auch Habermas vor: „What guarantees are there that<br />

the statements we would agree on <strong>in</strong> the ideal speech situation would be accurate representations


Hard<strong>in</strong>g gehen davon aus, dass es e<strong>in</strong>e „Welt da draußen“ gibt, <strong>die</strong> unabhängig<br />

von uns existiert. Somit bleiben sie mit ihrem Empirismus mo<strong>der</strong>nen<br />

Vorstellungen verbunden, Haraway dagegen wirft <strong>die</strong> Idee e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Kultur<br />

vorgängigen „Natur“ o<strong>der</strong> Welt über Bord.<br />

Obwohl Hard<strong>in</strong>g sich bemüht, anti-essentialistische Elemente <strong>in</strong> ihre Version <strong>der</strong><br />

Standpunkttheorie e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen, basieren ihre Arg<strong>um</strong>ente für <strong>die</strong> Privilegierung<br />

<strong>der</strong> Perspektive von Frauen doch auf e<strong>in</strong>er recht e<strong>in</strong>fachen und e<strong>in</strong>dimensionalen<br />

Auffassung von Unterdrückung und Sozialisation von Frauen sowie auf e<strong>in</strong>em<br />

recht essentialistischen und vere<strong>in</strong>heitlichendem Begriff von Frauen. So lesen sich<br />

ihre Versuche, <strong>die</strong> Komplexität <strong>der</strong> Kategorie Frau zu berücksichtigen, eher als<br />

Lippenbekenntnisse; schließlich ist ihre Theorie doch auf „<strong>die</strong> Frau an sich“<br />

angewiesen. Kategorien wie „Rasse“, Klasse usw. werden letztlich re<strong>in</strong> additiv<br />

behandelt. Obwohl sie ihre Standpunkttheorie nicht auf Erfahrungen von Frauen<br />

stützen will, son<strong>der</strong>n auf <strong>die</strong> verme<strong>in</strong>tlich objektive Entität <strong>der</strong> Lebenssituationen<br />

von Frauen, behandelt sie <strong>die</strong>se wie<strong>der</strong><strong>um</strong>, als seien sie für e<strong>in</strong>e bestimmte<br />

Gruppe von Frauen homogen. Das wird beispielsweise <strong>in</strong> ihrem Kapitel zu Lesben<br />

deutlich: Sie verallgeme<strong>in</strong>ert grob fahrlässig, dass vom lesbischen Standpunkt aus<br />

– im Gegensatz z<strong>um</strong> Standpunkt <strong>der</strong> heterosexuellen Frau – Frauen <strong>in</strong> Beziehung<br />

zu an<strong>der</strong>en Frauen gesehen werden bzw. z<strong>um</strong><strong>in</strong>dest nicht nur <strong>in</strong> Relation zu<br />

Männern und Familie. In <strong>die</strong>ser Generalisierung zeigen sich für mich eher <strong>die</strong><br />

e<strong>in</strong>geschränkten Vorstellungen Hard<strong>in</strong>gs darüber, wie Lesben und wie<br />

heterosexuelle Frauen leben; <strong>die</strong> Vielfalt <strong>der</strong> Lebensrealitäten <strong>die</strong>ser beiden<br />

verme<strong>in</strong>tlich <strong>in</strong> sich homogenen Gruppen ist Hard<strong>in</strong>g offensichtlich nicht bewusst.<br />

Aber es gibt „<strong>die</strong> Lebenssituationen“ von Frauen genauso wenig wie „<strong>die</strong><br />

Erfahrungen“ von Frauen; beides s<strong>in</strong>d höchst heterogene und komplexe Entitäten.<br />

Was Hard<strong>in</strong>g treffend für <strong>die</strong> Kategorie <strong>der</strong> Erfahrung beschreibt, nämlich, dass<br />

<strong>die</strong>se selbst sozial konstruiert ist, gilt auch für <strong>die</strong> Lebenssituationen von Frauen.<br />

Ich will <strong>die</strong>s an Hard<strong>in</strong>gs eigenem Beispiel demonstrieren - <strong>der</strong> Def<strong>in</strong>ition dessen,<br />

was als Vergewaltigung gilt: Hard<strong>in</strong>g weist daraufh<strong>in</strong>, dass bestimmte<br />

Erfahrungen erst durch <strong>die</strong> Entstehung e<strong>in</strong>er Frauenbewegung, bestimmter<br />

Analysen und des entsprechenden Bewusstse<strong>in</strong>s <strong>der</strong> jeweiligen Frau als<br />

of reality?“ (Long<strong>in</strong>o: Science as Social Knowledge, S. 200 f.) Long<strong>in</strong>o ist so konsequent, daher<br />

auch festzustellen, dass ihr eigenes Konzept von Objektivität ebenso wenig über <strong>die</strong> “Wahrheit”<br />

des Wissens aussagt, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> Ergebnis <strong>der</strong> Aushandlung <strong>der</strong> Wissenschaftsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

darstellt.


Vergewaltigung wahrgenommen werden konnten (statt als Normalität o<strong>der</strong><br />

„eheliche Pflicht“). Für Hard<strong>in</strong>g wird <strong>die</strong> soziale Konstruktion von Erfahrung, <strong>die</strong><br />

sich <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Beispiel offenbart, z<strong>um</strong> Problem, da „Erfahrung“ <strong>in</strong> ihrem<br />

Verständnis somit nicht als objektiver Ausgangspunkt für Forschung herhalten<br />

kann. Dieses Problem wird allerd<strong>in</strong>gs nicht gelöst, <strong>in</strong>dem wir von den<br />

Lebenssituationen von Frauen ausgehen. Denn das hieße, dass, wenn wir z.B. <strong>in</strong><br />

Erfahrung br<strong>in</strong>gen wollen, wie viele Frauen von ihren Ehemännern vergewaltigt<br />

werden, wir bei <strong>der</strong> Datenerhebung immer noch von <strong>der</strong> Wahrnehmung <strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>zelnen Frau o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Def<strong>in</strong>ition von Vergewaltigung durch Forschende<br />

abhängig s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> wie<strong>der</strong><strong>um</strong> politisch und gesellschaftlich jeweils historisch und<br />

kulturell spezifisch konstruiert werden. Ob <strong>die</strong> Opfer sexualisierter Gewalt sich<br />

auch selbst als solche wahrnehmen, hängt immer auch von den gesellschaftlichen<br />

und politischen Strukturen ab, <strong>in</strong> denen sie sich bewegen. Darüber h<strong>in</strong>aus werden<br />

wir niemals e<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition dessen, was e<strong>in</strong>e Vergewaltigung ist, erreichen<br />

können, wenn wir uns an den von außen betrachteten Handlungen <strong>der</strong> Beteiligten<br />

orientieren; was für <strong>die</strong> jeweilige Frau als Vergewaltigung gilt, ist <strong>in</strong>dividuell,<br />

selbst wenn wir bei allen Frauen e<strong>in</strong> „fem<strong>in</strong>istisches Bewusstse<strong>in</strong>“ voraussetzen<br />

könnten. 105 Hard<strong>in</strong>gs Versuch, <strong>der</strong> problematischen Kategorie Erfahrung zu<br />

entgehen, birgt also immer noch <strong>die</strong>selben Probleme, da auch <strong>der</strong> verme<strong>in</strong>tlich<br />

objektive Ausgangspunkt – <strong>die</strong> Lebenssituationen von Frauen – von sozial<br />

konstruierten Instanzen durchdrungen ist. Darüber h<strong>in</strong>aus ist problematisch, dass<br />

Hard<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> neues Objektivitätskonzept entwickeln will, <strong>in</strong>nerhalb dessen sie den<br />

Begriff <strong>der</strong> Objektivität gleichzeitig selbstverständlich benutzt, ohne ihn genauer<br />

zu def<strong>in</strong>ieren. So bleibt unklar, was sie me<strong>in</strong>t, wenn sie <strong>die</strong> Erfahrungen von<br />

Frauen als Ausgangspunkt für <strong>die</strong> Produktion von Wissen als nicht objektiv<br />

bezeichnet.<br />

In ihrem Konzept des „re<strong>in</strong>vent<strong>in</strong>g ourselves as others“ versucht Hard<strong>in</strong>g, den<br />

essentialistischen Tendenzen <strong>der</strong> Standpunkttheorie zu entgehen, <strong>in</strong>dem sie uns<br />

<strong>die</strong> Möglichkeit eröffnet, den Standpunkt marg<strong>in</strong>alisierter Gruppen e<strong>in</strong>zunehmen,<br />

denen wir nicht qua Geburt o<strong>der</strong> Biologie angehören. Dieser Ansatz hat den<br />

praktischen Vorteil, dass sich so pr<strong>in</strong>zipiell jedeR an <strong>der</strong> als emanzipatorisch<br />

verstandenen starken Objektivität beteiligen kann, da jedeR gedanklich ihre/se<strong>in</strong>e<br />

105 Damit hängt u.a. auch <strong>die</strong> fem<strong>in</strong>istische For<strong>der</strong>ung zusammen, dass <strong>die</strong> Def<strong>in</strong>itionsmacht, was<br />

e<strong>in</strong>e Vergewaltigung ist, bei <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Frau liegen muss, statt e<strong>in</strong>en Katalog von Situationen<br />

aufzustellen, <strong>die</strong> unter <strong>die</strong>se Kategorie fallen.


Forschung <strong>in</strong> den Lebenssituationen An<strong>der</strong>er (Marg<strong>in</strong>alisierter) beg<strong>in</strong>nen kann.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs spielt hier wie<strong>der</strong> das Problem e<strong>in</strong>e Rolle, was als Lebenssituation<br />

Marg<strong>in</strong>alisierter gelten kann und soll.<br />

Unklar ist <strong>in</strong> Hard<strong>in</strong>gs Konzept auch, woher <strong>die</strong> Motivation Privilegierter<br />

stammen sollte, sich <strong>in</strong> <strong>die</strong> Situationen an<strong>der</strong>er h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zudenken und <strong>die</strong> eigene<br />

Forschung an ihren Interessen auszurichten. Dafür s<strong>in</strong>d ihre Identitätskategorien<br />

zu starr gedacht. Durch <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heitlichkeit <strong>der</strong> Identität, sich z.B. ungebrochen als<br />

Frau zu verstehen, gibt es klare Interessen als Frau. Was oftmals „biologische<br />

Frau“ bedeutet. Daher s<strong>in</strong>d viele Frauen, <strong>die</strong> sich so identifizieren, auch ka<strong>um</strong> <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Lage, sich solidarisch gegenüber transsexuellen Frauen zu verhalten. Sie s<strong>in</strong>d<br />

tatsächlich oft unfähig, Geme<strong>in</strong>samkeiten zu sehen, son<strong>der</strong>n konzentrieren sich<br />

auf <strong>die</strong> (verme<strong>in</strong>tlich) klaren Unterschiede 106 . Hier gilt, was ich bereits bei<br />

Long<strong>in</strong>o angemerkt habe, nämlich e<strong>in</strong>e bemerkenswert ger<strong>in</strong>ge Bereitschaft von<br />

Seiten <strong>der</strong> relativ o<strong>der</strong> extrem Privilegierten, sich für <strong>die</strong> Interessen<br />

marg<strong>in</strong>alisierter Gruppierungen e<strong>in</strong>zusetzen. Das gilt <strong>um</strong>so stärker für solche<br />

Unterprivilegierten, <strong>die</strong> (im Moment) ka<strong>um</strong> e<strong>in</strong>e Lobby besitzen und sich nicht<br />

gewaltsam Gehör verschaffen können, vor allem im Wissenschaftsbetrieb, <strong>der</strong> nur<br />

e<strong>in</strong>em ger<strong>in</strong>gen Teil <strong>der</strong> Bevölkerung zugänglich ist. Immerh<strong>in</strong> ist bei Hard<strong>in</strong>g <strong>die</strong><br />

politische Bewegung stärker mit wissenschaftlichen Strukturen verbunden als bei<br />

Long<strong>in</strong>o, <strong>die</strong> <strong>die</strong> fem<strong>in</strong>istischen und <strong>die</strong> wissenschaftlichen Strukturen, denen e<strong>in</strong>e<br />

fem<strong>in</strong>istische Wissenschaftler<strong>in</strong> sich verbunden fühlen kann, als getrennt<br />

aufzufassen sche<strong>in</strong>t. Ungeklärt ist bei Hard<strong>in</strong>g <strong>die</strong> Frage, ob <strong>die</strong> Lebenssituationen<br />

Unterdrückter für Privilegierte ohne <strong>die</strong> Artikulation durch <strong>die</strong> Unterdrückten<br />

überhaupt sichtbar werden können. Sicherlich zeigt sich hier wie<strong>der</strong><strong>um</strong> <strong>die</strong> enge<br />

Verwobenheit von politischen Bewegungen und dem, was als Wissen gelten kann.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs gibt es auch Beispiele, <strong>die</strong> Hard<strong>in</strong>gs Idee des „re<strong>in</strong>vent<strong>in</strong>g ourselves as<br />

others“ unterstützen, beispielsweise <strong>der</strong> Fall e<strong>in</strong>es Hamburger<br />

Kommunalpolitikers, <strong>der</strong> versuchte, e<strong>in</strong>en Tag als Obdachloser zu verbr<strong>in</strong>gen und<br />

feststellen musste, dass das Tagesgeld, das Obdachlose vom Staat erhalten,<br />

tatsächlich nicht ausreicht, <strong>um</strong> im W<strong>in</strong>ter <strong>in</strong> den Straßen zu überleben. Diese Art<br />

von H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>versetzen <strong>in</strong> das Leben An<strong>der</strong>er könnte eventuell e<strong>in</strong>e Solidarisierung<br />

106 E<strong>in</strong>er <strong>die</strong>ser verme<strong>in</strong>tlich klaren Unterschiede ist <strong>die</strong> „männliche“ Sozialisation transsexueller<br />

Frauen im Gegensatz zur „weiblichen“ Sozialisation „biologischer“ Frauen. Leslie Fe<strong>in</strong>berg weist<br />

darauf h<strong>in</strong>, dass gerade <strong>die</strong> Existenz Transsexueller deutlich macht, dass solche simplifizierten<br />

Sozialisationstheorien <strong>die</strong> Komplexität menschlicher Entwicklung nicht erfassen können. Vgl.<br />

Leslie Fe<strong>in</strong>berg: Transgen<strong>der</strong> Warriors, Boston, 1996.


und e<strong>in</strong>en Wissenszuwachs bewirken, hat aber deutliche Grenzen: Besagter<br />

Politiker hätte sich wohl ka<strong>um</strong> e<strong>in</strong>fach als schwarze Frau verkleiden und ihre<br />

Alltagserfahrungen teilen können.<br />

Vor allem stellt sich auch hier <strong>die</strong> Frage <strong>der</strong> Relevanz <strong>die</strong>ses Konzepts für <strong>die</strong><br />

Physik und Chemie. Ansatzpunkte zu fem<strong>in</strong>istischer Kritik auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong><br />

Standpunkttheorie sehe ich zunächst hauptsächlich <strong>in</strong> den Bereichen <strong>der</strong><br />

Anwendung <strong>die</strong>ser Wissenschaften, auch wenn <strong>die</strong> Unterscheidung <strong>in</strong> „re<strong>in</strong>e“ und<br />

„angewandte“ Naturwissenschaft zu Recht als Entschuldigung für <strong>die</strong> mangelnde<br />

Bereitschaft, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, entlarvt<br />

wurde. Ich gebe Hard<strong>in</strong>g zwar recht, dass Fragestellungen, <strong>die</strong> zunächst nur an <strong>der</strong><br />

Oberfläche e<strong>in</strong>er Wissenschaft zu kratzen sche<strong>in</strong>en, beispielsweise an <strong>der</strong><br />

Anwendung ihrer Theorien, letztendlich dazu führen können, dass <strong>die</strong><br />

Wissenschaft <strong>in</strong> ihren Grundmauern erschüttert wird. Hard<strong>in</strong>g sche<strong>in</strong>t <strong>die</strong>s aber als<br />

zeitliche Entwicklung zu verstehen. Denn sie gibt uns ke<strong>in</strong>e Analyse <strong>der</strong><br />

Untersuchungsgegenstände an <strong>die</strong> Hand, mit denen wir uns sofort an den<br />

empirischen Kern <strong>der</strong> exakten Naturwissenschaften trauen könnten.<br />

Haraway bekommt e<strong>in</strong>ige <strong>die</strong>ser Probleme, <strong>die</strong> Hard<strong>in</strong>g und Long<strong>in</strong>o nur<br />

unbefriedigend zu lösen vermögen, besser <strong>in</strong> den Griff. Dies liegt unter an<strong>der</strong>em<br />

daran, dass sie auf vielen verschiedenen Ebenen gleichzeitig operiert: Sie<br />

betrachtet nicht nur <strong>die</strong> Entstehung von wissenschaftlichen Fragestellungen,<br />

son<strong>der</strong>n auch das Objekt und das Subjekt des Wissens und rekonzeptualisiert<br />

beide auch <strong>in</strong>haltlich neu, ohne dabei e<strong>in</strong> starres Dogma aufzustellen, das<br />

Weiterentwicklung verunmöglicht, im Gegenteil: Ihre Konzepte s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> sich selbst<br />

flexibel, unabgeschlossen und bedürfen <strong>der</strong> ständigen Verän<strong>der</strong>ung; Reflexivität<br />

<strong>der</strong> eigenen Position ist e<strong>in</strong> notwendiger Bestandteil ihrer theoretischen<br />

Überlegungen. In <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne kann Haraway auch queer gelesen werden; e<strong>in</strong>ige<br />

Kerngedanken <strong>der</strong> Queer Theory 107 f<strong>in</strong>den sich bereits <strong>in</strong> den 1980er Jahren <strong>in</strong><br />

Haraways Schriften. 108 Von den beschriebenen drei Theoretiker<strong>in</strong>nen gel<strong>in</strong>gt es<br />

Haraway am überzeugendsten, Politik und Wissenschaft zusammen zu denken,<br />

<strong>die</strong> Trennung von Subjekt und Objekt des Wissens <strong>in</strong> Frage zu stellen, <strong>die</strong><br />

107<br />

Vgl. hierzu Sab<strong>in</strong>e Hark: Queer Interventionen, <strong>in</strong> Fem<strong>in</strong>istische Stu<strong>die</strong>n, 11. Jahrgang, Nov.<br />

1993, Nr. 2<br />

108<br />

Das gleiche gilt für Schriften e<strong>in</strong>iger an<strong>der</strong>er Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen, auf <strong>die</strong> Haraway sich explizit<br />

bezieht, z.B. Tr<strong>in</strong>h T. M<strong>in</strong>h-ha.


Privilegierung naturwissenschaftlichen Wissens vor an<strong>der</strong>en Wissensformen über<br />

Bord zu werfen (auch <strong>die</strong> NaturwissenschaftlerInnen erzählen bei ihr <strong>in</strong>teressante<br />

o<strong>der</strong> langweilige Geschichten und werden so entmystifiziert), <strong>die</strong> Kategorie Frau<br />

als Identität und Subjektposition sowie als Untersuchungsgegenstand <strong>in</strong> ihrer<br />

Komplexität und Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit zu erfassen. Obwohl Haraway sich auf viele<br />

poststrukturalistische o<strong>der</strong> „postmo<strong>der</strong>ne“ Theorien bezieht, leistet sie mehr als<br />

e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache fem<strong>in</strong>istische Version <strong>die</strong>ser; sie entwickelt e<strong>in</strong>e eigene theoretische<br />

Ausrichtung durch ihre Konzepte vom Objekt und Subjekt des Wissens.<br />

Haraways Überlegungen und Untersuchungen über <strong>die</strong> Primatologie und das<br />

Immunsystem liefern e<strong>in</strong>e gute Grundlage für e<strong>in</strong>e Neukonzeptualisierung dessen,<br />

was wir oft allzu selbstverständlich als „Körper“, „Natur“ o<strong>der</strong> „biologisch“<br />

auffassen. Dies liegt unter an<strong>der</strong>em daran, dass sie neue, brauchbare Metaphern<br />

e<strong>in</strong>führt o<strong>der</strong> alte für fem<strong>in</strong>istische Zwecke <strong>um</strong>deutet, wie <strong>die</strong> <strong>der</strong> Vision und <strong>der</strong><br />

Cyborg.<br />

Durch ihre Vorschläge, <strong>die</strong> Konzeption <strong>der</strong> Gegenstände des Wissens neu zu<br />

begreifen, zeigt Haraway Möglichkeiten auf, wie Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen <strong>die</strong><br />

Naturwissenschaften verän<strong>der</strong>n können; z.B. <strong>in</strong>dem sie nach neuen<br />

methodologischen Vorgehensweisen suchen, <strong>die</strong> <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Welt als gewitzte<br />

Agent<strong>in</strong>, als handlungsfähig im Prozess <strong>der</strong> Wissensproduktion, gerecht werden.<br />

Ich möchte nicht behaupten, dass das e<strong>in</strong>fach wäre; schließlich wird hier etwas<br />

verlangt, was alles an<strong>der</strong>e als gewohnt ist. Allerd<strong>in</strong>gs glaube ich durchaus, dass<br />

e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive Beschäftigung mit <strong>der</strong> Vorstellung, dass „Natur“ nichts ist, was <strong>der</strong><br />

Kultur vorausgeht, dass beispielsweise e<strong>in</strong>e Zelle nicht e<strong>in</strong>fach auf ihre<br />

angemessene Beschreibung wartet, tatsächlich bestimmte heute übliche<br />

wissenschaftliche Praktiken desolat ersche<strong>in</strong>en lässt und nach neuen kreativen<br />

Wegen ruft.<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus hilft <strong>die</strong> Metapher <strong>der</strong> Vision, wie Haraway sie füllt, <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

naturwissenschaftlichen (Labor-) Praxis auch, das Moment <strong>der</strong> Reflexion des<br />

eigenen Vorgehens zu stärken, <strong>in</strong>dem wir nämlich das Sehen von D<strong>in</strong>gen, das<br />

Erstellen von Daten durch Beobachtungen o<strong>der</strong> Messungen, nicht als etwas<br />

Passives sehen, son<strong>der</strong>n als aktiven Prozess, bei dem wir Gestaltungsrä<strong>um</strong>e<br />

haben. Somit kann Haraways Theorie auch E<strong>in</strong>fluss auf <strong>die</strong> Herstellung <strong>der</strong> Daten<br />

selbst haben und somit auf den empirischen Kern <strong>der</strong> Naturwissenschaften, auch<br />

<strong>der</strong> Physik und Chemie mit ihren vielfältigen Visualisierungstechniken.


Problematisch ist vor allem, ob wir <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage s<strong>in</strong>d, solche Konversationen, wie<br />

sie Haraway vorschweben, auch tatsächlich <strong>um</strong>zusetzen. Dennoch bietet<br />

Haraways Ansatz mehr Möglichkeiten <strong>der</strong> Anwendung auf <strong>die</strong> Physik und<br />

Chemie als <strong>die</strong> Hard<strong>in</strong>gs und Long<strong>in</strong>os. Das liegt an ihrer Neukonzeption <strong>der</strong><br />

Objekte <strong>der</strong> Forschung, <strong>die</strong> sich auch auf <strong>die</strong> „unbelebte Natur“ und „künstliche“<br />

Gegenstände beziehen lässt. Während <strong>die</strong> Grenzen zwischen „Natur“ und<br />

„Kultur“ sowie „Natur“ und „Technik“ aufgelöst werden, entmaterialisiert<br />

Haraways Ansatz <strong>die</strong> Objekte <strong>der</strong> Physik und Chemie nicht, son<strong>der</strong>n im<br />

Gegenteil: Als mögliche AktantInnen nehmen <strong>die</strong> Objekte aktiv am Prozess <strong>der</strong><br />

Wissensproduktion teil. Während ke<strong>in</strong>e <strong>der</strong> „Kultur“ vorgängigen Phänomene <strong>in</strong><br />

Experimenten beobachtbar wären, ist das, was wir beobachten, auch ke<strong>in</strong>esfalls<br />

beliebig. E<strong>in</strong>e Weiterentwicklung Haraways‘ Konzepte könnte so e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en<br />

Umgang mit physikalischen und chemischen Experimenten und Daten bewirken.<br />

Auch Haraways Subjekt des Wissens löst e<strong>in</strong>ige Probleme von Hard<strong>in</strong>gs Ansatz:<br />

Aufgrund <strong>der</strong> Une<strong>in</strong>heitlichkeit und Partialität des Subjekts kann es Verb<strong>in</strong>dungen<br />

zu an<strong>der</strong>en herstellen; somit kann Haraway auch bessere Möglichkeiten zu<br />

solidarischem Handeln aufzeigen und <strong>der</strong> Komplexität und Heterogenität <strong>der</strong><br />

Lebenswelten <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten marg<strong>in</strong>alisierten Gruppe gerechter<br />

werden. Ke<strong>in</strong> Mensch ist e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>e Frau o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Mann und geht von <strong>die</strong>sem<br />

Standpunkt aus, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong>s ist immer nur e<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> Identität, e<strong>in</strong>er unter<br />

vielen Teilaspekten. So ist auch e<strong>in</strong> als „Mann“ geborener Mensch niemals<br />

ungebrochen „männlich“, son<strong>der</strong>n könnte aufgrund partialer „weiblicher“ Aspekte<br />

se<strong>in</strong>er Identität zur Solidarität mit Frauen bzw. zu fem<strong>in</strong>istischer Solidarität fähig<br />

se<strong>in</strong>. 109 Da niemand gänzlich den Idealbil<strong>der</strong>n, <strong>die</strong> wir von Geschlechtern und<br />

an<strong>der</strong>en Kategorien haben mögen, entsprechen kann, s<strong>in</strong>d wir tatsächlich im<br />

Haraway’schen S<strong>in</strong>ne alle Cyborgs, <strong>der</strong>en Identitäten sich aus E<strong>in</strong>zelteilen<br />

zusammensetzen, <strong>die</strong> sich teilweise wi<strong>der</strong>sprechen. Dass aufgrund solcher je<strong>der</strong>/m<br />

<strong>in</strong>newohnen<strong>der</strong> Differenzen, Partialitäten und Wi<strong>der</strong>sprüche Verb<strong>in</strong>dungen zu<br />

an<strong>der</strong>en ebenso brüchigen Entitäten möglich s<strong>in</strong>d – Überschneidungspunkte<br />

gewissermaßen, halte ich für e<strong>in</strong> durchaus attraktives Modell. Somit s<strong>in</strong>d<br />

Solidaritäten auf e<strong>in</strong>e nicht-vere<strong>in</strong>nahmende Weise möglich, <strong>die</strong> bei Hard<strong>in</strong>g nicht<br />

funktionieren können, ohne <strong>die</strong> An<strong>der</strong>en zu vere<strong>in</strong>nahmen.<br />

109 Hier stoße ich an <strong>die</strong> Grenze <strong>der</strong> Begrifflichkeiten, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Vorstellungen angemessen<br />

darstellen können, da unsere Sprache zu sehr an Dichotomien und fest <strong>um</strong>rissenen Kategorien<br />

orientiert ist.


E<strong>in</strong>e weitere Stärke von Haraways Ansatz ist, dass es bei ihr ke<strong>in</strong>e<br />

epistemologische Position <strong>der</strong> Unschuld (im Gegensatz zu Hard<strong>in</strong>g) geben kann,<br />

auf <strong>der</strong> sich ausgeruht werden könnte. 110 Stattdessen muss <strong>die</strong> eigene<br />

Positionierung immer wie<strong>der</strong> reflektiert werden, <strong>um</strong> Verantwortung für das eigene<br />

Handeln aus <strong>die</strong>sem Ort heraus zu übernehmen. Daher s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Kategorien trotz<br />

ihrer kulturellen und historischen Konstruiertheit und ständigen Verän<strong>der</strong>ung<br />

wichtig, <strong>um</strong> deutlich zu machen, mit wessen Interessen ich spreche. Diese<br />

Positionierung führt aber bei Haraway <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Lesart nicht zur Essentialisierung<br />

<strong>der</strong> Kategorien Geschlecht, „Rasse“ usw. (was bei Hard<strong>in</strong>g, wie wir gesehen<br />

haben, <strong>der</strong> Fall ist), son<strong>der</strong>n Haraway entwickelt e<strong>in</strong>en Identitätsbegriff, <strong>der</strong><br />

Partialität und Verän<strong>der</strong>ung immer bereits enthält; <strong>in</strong> Anlehnung an Tr<strong>in</strong>h T.<br />

M<strong>in</strong>h-ha spricht Haraway auch von <strong>der</strong> Unmöglichkeit, mit sich selbst identisch<br />

zu se<strong>in</strong>. Diese Auffassung birgt e<strong>in</strong> kostbares Potential für e<strong>in</strong> verän<strong>der</strong>tes<br />

Verständnis von Objektivität, das selbst auch ke<strong>in</strong> statisches se<strong>in</strong> kann, son<strong>der</strong>n<br />

immer wie<strong>der</strong> h<strong>in</strong>terfragt werden muss.<br />

Ich halte somit Haraways <strong>Objektivitätsbegriff</strong>, e<strong>in</strong>gebettet <strong>in</strong> ihre Konzeptionen<br />

des Subjekts und Objekts des Wissens und des Verhältnisses zwischen<br />

Wissenschaft und Politik, für das vielversprechendste, <strong>um</strong> wirklich fem<strong>in</strong>istische<br />

Verän<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> den (exakten) Naturwissenschaften auch auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong><br />

Theorien zu bewirken.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs befürchte ich, dass <strong>die</strong> Bereitschaft seitens <strong>der</strong><br />

NaturwissenschaftlerInnen – beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong> Deutschland, sich auf solche<br />

Konzeptionen e<strong>in</strong>zulassen, ka<strong>um</strong> vorhanden ist. Das stellt wie<strong>der</strong><strong>um</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Nachteil von Haraways Entwürfen dar; lei<strong>der</strong> s<strong>in</strong>d ihre Schriften auch aufgrund<br />

ihres sehr eigenen Schreibstils und <strong>der</strong> zahlreichen (wun<strong>der</strong>vollen) Metaphern<br />

alles an<strong>der</strong>e als allgeme<strong>in</strong>verständlich. Gleichzeitig s<strong>in</strong>d<br />

NaturwissenschaftlerInnen nicht gerade dafür bekannt, dass sie während ihrer<br />

Arbeitszeit WissenschaftsphilosophInnen lesen. Allerd<strong>in</strong>gs dürften alle hier<br />

diskutierten Theorien dem Ma<strong>in</strong>stream (o<strong>der</strong> Malestream, wie Haraway es<br />

ausdrücken würde) <strong>in</strong> den Naturwissenschaften als zu politisch gelten. Daher<br />

sollten wir uns nicht immer von verme<strong>in</strong>tlich pragmatischen Überlegungen<br />

aufhalten lassen, son<strong>der</strong>n versuchen, <strong>die</strong> Theorien zu för<strong>der</strong>n, <strong>die</strong> uns am<br />

110 Mit <strong>der</strong> Verabschiedung vom Begriff <strong>der</strong> Unschuld verschw<strong>in</strong>det auch se<strong>in</strong> Gegenbegriff des<br />

Opfers. Aufgrund <strong>der</strong> Ablehnung <strong>die</strong>ser Dichotomie kann Haraway <strong>die</strong> Übernahme von<br />

Verantwortung für das eigene Handeln stark machen.


<strong>in</strong>teressantesten ersche<strong>in</strong>en. Denn, wie Haraway richtig bemerkt: „Politische<br />

Ernsthaftigkeit erfor<strong>der</strong>t, dass wir an unserer Arbeit großes Vergnügen haben.<br />

An<strong>der</strong>nfalls werden wir aufhören, es wäre zu schwierig, und wir würden unseren<br />

Glauben verlieren.“ 111<br />

111 Haraway: Die Neuerf<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Natur, S. 104.


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