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Ausgabe 1-2010 - Westdeutsches Tumorzentrum Essen

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Herr Prof. Dührsen, arbeiten Hämatologie<br />

und Onkologie in Deutschland<br />

genügend evidenzbasiert?<br />

Auf jeden Fall. Ich denke, diese beiden<br />

Fächer sind Paradebeispiele für eine<br />

gelungene evidenzbasierte Medizin. In<br />

kaum einem anderen Fachgebiet liefern<br />

Studien eindeutigere Ergebnisse,<br />

wenn es um Fragen zur Behandlung<br />

und – eingeschränkt – auch solche zur<br />

Diagnostik geht.<br />

Was ist das Geheimnis dieses Erfolgs?<br />

Wenn es um die Optimierung von Diagnostik-<br />

und Behandlungsstrategien<br />

geht, dann müssen unterschiedliche<br />

Behandlungs-Protokolle getestet werden,<br />

und das möglichst bei Patienten<br />

aus vielen verschiedenen Institutionen.<br />

Das wiederum bedeutet, dass die<br />

einzelne Institution kooperieren muss<br />

mit anderen, eigene Interessen müssen<br />

zurückstehen. Von sehr großer internationaler<br />

Bedeutung ist in diesem<br />

Zusammenhang sicher die Deutsche<br />

Hodgkin-Lymphom-Studiengruppe,<br />

auch wenn die 1978 leider nicht in<br />

<strong>Essen</strong>, sondern in Hannover gegründet<br />

wurde (lacht).<br />

Was war das Neue an dieser Gruppe?<br />

Das Hodgkin-Lymphom ist mit einer<br />

Inzidenz von 1 bis 2 auf 100.000 Einwohner<br />

eine sehr seltene Erkrankung<br />

und es gelang im Lauf der Jahre, nahezu<br />

alle Patienten aus über 400 Zentren<br />

in die Studienprotokolle einzubringen.<br />

Die Erkenntnisse aus den so durchgeführten<br />

Therapiestudien haben großartige<br />

Therapie-Erfolge gezeitigt.<br />

Durch diese Gruppe ist Evidenz geschaffen<br />

worden. Die erste Studiengruppe<br />

in Deutschland war allerdings<br />

nicht die Hodgkin-Lymphom-Studiengruppe,<br />

sondern die Kieler Lymphomgruppe,<br />

die sich mit den wesentlich<br />

häufigeren Non-Hodgkin-Lymphomen<br />

beschäftigte und bereits 1972 gegründet<br />

wurde. Von Mitte der siebziger bis<br />

Mitte der neunziger Jahre wurde sie<br />

mit großem wissenschaftlichen Erfolg-<br />

i n t e r v i e w w t z - j o u r n a l 1 · 2 0 1 0 · 2 . J g<br />

von meinem Vorgänger Günter Brittinger<br />

von <strong>Essen</strong> aus geleitet.<br />

Die Kieler Lymphomgruppe in <strong>Essen</strong>?<br />

Der Name bezieht sich auf ein mittlerweile<br />

historisches Klassifikationssystem<br />

für Non-Hodgkin-Lymphome,<br />

eben die Kiel-Klassifikation. Die Einteilungskriterien<br />

waren im Wesentlichen<br />

morphologischer Natur, und unter Leitung<br />

der <strong>Essen</strong>er Klinik für Hämatologie<br />

wurde untersucht, wie Histopathologie<br />

und Klinik der Erkrankung miteinander<br />

korrelieren. In ganz Deutschland<br />

haben sich in den vergangenen<br />

30 Jahren Lymphom- und Leukämiestudiengruppen<br />

etabliert, die ganz im<br />

Sinne der evidenzbasierten Medizin<br />

daran arbeiten, validierte Diagnostikund<br />

Therapieverfahren für die unterschiedlichen<br />

malignen hämatologischen<br />

Erkrankungen zu finden.<br />

Wie sieht die EbM-Tradition in der<br />

Onkologie aus?<br />

In der Onkologie sind die Verhältnisse<br />

naturgemäß etwas schwieriger, allein<br />

wegen der vielen unterschiedlichen<br />

Fächer, die kooperieren müssen. Chirurgen,<br />

Strahlentherapeuten, internistische<br />

Onkologen, zusätzlich noch je<br />

nach genauer Erkrankung Pulmologen,<br />

Gastroenterologen oder Gynäkologen:<br />

Sie alle müssen sich in der Behandlungsstrategie<br />

für den Patienten einig<br />

werden. Hinzu kommt, dass der Erkenntnisgewinn<br />

in der Onkologie<br />

schwieriger ist als in der Hämatologie.<br />

Das fängt bei der Gewinnung von<br />

biologischem Material an; darüber<br />

hinaus ist es zum Zeitpunkt der Diagnose<br />

häufig schon zu massiven gene -<br />

tischen Veränderungen in der Zelle<br />

gekommen. Hämatologische Erkrankungen<br />

dagegen fallen schon im Frühstadium<br />

durch Blutbildveränderungen<br />

auf. Die genetischen Veränderungen<br />

in der Zelle sind einigermaßen überschaubar<br />

und bestimmte Erkrankungen<br />

wie etwa die chronische myeloische<br />

Leukämie haben Modellcharak-<br />

ter. Die Medikamentenentwicklung<br />

gestaltet sich dort einfacher als bei<br />

soliden Tumoren.<br />

Welchen Stellenwert hat die evidenzbasierte<br />

Medizin für Ihre praktische<br />

Arbeit?<br />

Als Ärzte haben wir die Aufgabe, für<br />

jeden einzelnen Patienten die individuell<br />

optimale Therapie zu finden. Dazu<br />

muss ich wissen, welche Verfahren zur<br />

Verfügung stehen, in welcher körperlichen<br />

und seelischen Verfassung sich<br />

der Patient befindet, ich muss ihn aufklären,<br />

damit er selbst entscheidungsfähig<br />

wird.<br />

Und welche Rolle spielt dabei die<br />

evidenzbasierte Medizin?<br />

Sie bietet einen Rahmen, der durch<br />

Erfahrungen mit einem sehr starren<br />

Kollektiv, sprich: unter Studienbedingungen<br />

definiert worden ist. Ob für<br />

den individuellen Patienten, der vor<br />

mir sitzt, dieselbe Behandlung wie für<br />

das Studienkollektiv die beste ist, weiß<br />

man halt nicht ganz genau.<br />

Aber die evidenzbasierte Medizin,<br />

oder besser: die daraus entstandenen<br />

Leitlinien geben doch Orientierung.<br />

Ja, durchaus. Und die Wahrscheinlichkeit,<br />

dass mein Patient von der Behandlung<br />

ähnlich wie das Studienkollektiv<br />

profitiert, wächst mit der Zahl<br />

der Merkmale, die zwischen den Studienteilnehmern<br />

und meinem Patienten<br />

übereinstimmen. Entscheidend sind<br />

also Fragen wie: Liegt mein Patient im<br />

Altersbereich der Studie, hat er ähnliche<br />

Begleiterkrankungen? Aber auch:<br />

Sind seine sozialen Voraussetzungen<br />

so, dass er eine ambulante Chemotherapie<br />

verkraften kann? Lebt er allein<br />

oder mit einem Partner? Da gilt es, im<br />

Einzelfall genau hinzuschauen. Die evidenzbasierte<br />

Medizin beziehungsweise<br />

Leitlinien bieten immer nur einen<br />

Orientierung gebenden Rahmen; Ärzte<br />

dürfen sie nicht als enges Korsett missverstehen.<br />

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