Publikationen von Rolf Bahl: (Gedruckte Bücher)
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Erwin<br />
im<br />
Altersheim<br />
Roman <strong>von</strong> <strong>Rolf</strong> <strong>Bahl</strong><br />
1
Copyright@ by <strong>Rolf</strong> <strong>Bahl</strong> 2012<br />
Nur als E-book erhältlich<br />
Alle Namen und Orte in dieser Schrift sind frei<br />
erfunden, jede Ähnlichkeit mit lebenden<br />
Personen ist rein zufällig!<br />
2
Widmung: Für meine Mutter<br />
3
1<br />
„Nein, im Altersheim werdet ihr mich nie sehen,<br />
vorher mache ich Schluss“, wer das immer<br />
wieder am Stammtisch posaunte, war der Erwin.<br />
Und er war seiner Sache absolut sicher: „ Meine<br />
Erika ist sieben Jahre jünger als ich, und sie<br />
wird mich überleben, und mit ihr weiß ich was<br />
ich habe, jeden Abend werden wir den<br />
Sonnenuntergang <strong>von</strong> unserem Balkon aus bei<br />
einem Glas Rotwein genießen, und uns über Gott<br />
und die Welt unterhalten, kann es etwas<br />
Schöneres geben Leute?“ Die Kollegen konnten<br />
da nicht kontern und schauten sich nur nickend<br />
an. Da hatte einer seinen Ruhestand bereits<br />
gedanklich vorbereitet, der war wohl wie der<br />
Landwirt, welcher im Frühjahr schon wusste, wie<br />
die Kartoffelernte im Herbst aussieht.<br />
Erwin war bei der Gemeinde als Straßenwart und<br />
Gärtner in Anstellung, eine Lebensstelle mit<br />
Pensionsberechtigung. Und als die beiden Kinder<br />
ins Erwachsenenalter kamen und die elterliche<br />
Fünfzimmerwohnung verließen, kauften sich<br />
Erika und Erwin, eine schöne Dreizimmer<br />
Eigentumswohnung am Stadtrand. Wenn Erwin<br />
auf seinem Balkon saß, konnte er das Rauschen<br />
des kleines Bachs hören, und er fühlte sich dabei<br />
4
wie am Meeresstrand. Mit 65 Jahren wurde<br />
Erwin pensioniert und feierlich <strong>von</strong> der<br />
Gemeinde verabschiedet. Jetzt konnte das<br />
Leben erst so richtig beginnen, am Morgen<br />
ausschlafen, den ganzen Tag nur das tun was er<br />
oder die Erika wollte. Und am Monatsende traf<br />
regelmäßig die Rente ein, war das ein leben!<br />
Erwin hatte ein sonderbares Hobby, er mochte<br />
Pornofilme! Und nun wollte er mit der Erika<br />
einige dieser abartigen Sachen selber<br />
ausprobieren. Nur hatte die Erika dafür absolut<br />
kein Verständnis und nannte den Erwin einen<br />
perversen Senilen!<br />
Erwin genoss fortan seine Pornos heimlich, ja, er<br />
kaufte sich sogar eine Sattelitenschüssel, damit<br />
konnte er um Mitternacht harte Pornos<br />
empfangen, er blieb dafür im Wohnzimmer und<br />
sagte der Erika, er wolle im RTL noch einen<br />
Western schauen. Aber einmal erwischte ihn die<br />
Erika, als sie nachts um ein Uhr in der Wohnung<br />
ein Stöhnen hörte, erst dachte sie, der Erwin<br />
befriedige sich wieder einmal selbst, das war<br />
aber ein Irrtum, das Stöhnen kam vom Fernseher.<br />
„Erwin, das ist ganz und gar nicht gut für dich,<br />
da kommst du wieder auf dumme Gedanken,<br />
kannst du diese schweinischen Filme nicht<br />
endlich lassen?“ reklamierte die Erika in einem<br />
bösen Ton. Erwin suchte nach einer Ausrede:<br />
5
„Ich habe doch nur in der Werbepause<br />
umgeschaltet, dann schaue ich wieder den<br />
Western im RTL“. Erika wollte einfach nicht<br />
wieder ins Schlafzimmer verschwinden, sie wolle<br />
den Western auch sehen, argumentierte sie, als<br />
aber der Erwin auf RTL umstellte, war da eine<br />
andere Sendung: „Erwin war aber flexibel und<br />
sagte: „Der Film ist nun gerade zu Ende<br />
gegangen“, sagte er leicht verlegen.<br />
„Du gehst jetzt besser ins Bett, damit du<br />
morgens auf magst, wir wollen doch an den<br />
Schwanensee“, sagte die Erika forsch.<br />
Die Erika war eine wahre Naturfreundin, und sie<br />
mochte fast jedes Tier mehr als die Menschen,<br />
<strong>von</strong> denen sie wenig Positives zu sagen<br />
vermochte.<br />
Und auch die lieben Kollegen <strong>von</strong> Erwin, waren<br />
für sie vom untersten Niveau!<br />
Nur einmal, da hatte sie das leidvolle Vergnügen,<br />
die Stammtischgespräche aus nächster Nähe zu<br />
verfolgen, Erwin und seine Leute hatten gar<br />
nicht erkannt, dass hinten in der Ecke noch eine<br />
alte Dame saß und alles mitbekam, Erika war<br />
bereits vor ihnen da, und als die Kegelpartie zu<br />
Ende war, gingen die acht Kollegen an den<br />
Stammtisch und begannen mit ihren saublöden<br />
Sprüchen, grabschten der Serviertochter an den<br />
Busen und sie sah mit Schrecken, wie ihr lieber<br />
6
Mann ihr noch einen Klaps auf den Hintern<br />
verpasste. Beinahe hätte die Erika laut<br />
aufgeschrieen und ihm sämtliche Schimpfworte<br />
an den Kopf geschmissen, aber sie konnte sich<br />
knapp beherrschen. Dafür vernahm sie dann, zu<br />
ihrem größten Erstaunen, dass sie und der Erwin,<br />
es fast jede Nacht bunt zusammen treiben, und<br />
der Erwin noch potenter sei, als damals nach der<br />
Hochzeit. Einerseits war sie richtig stolz auf<br />
ihren Erwin, wenn dieser alles derart rosig<br />
schilderte, wo sie doch seit 15 Jahren rein<br />
nichts mehr zusammen hatten!<br />
Andererseits erniedrigte der Erwin sie zur halben<br />
Nymphomanin, eine Frau also, die nie satt wurde.<br />
Das gefiel ihr als Chorsängerin in der Kirche<br />
schon weniger, als sie dann aber vernehmen<br />
musste, dass auch die Frauen der anderen<br />
Kollegen in nichts zurückstanden, da wurde ihr<br />
bewusst, einem Palaver reiner Fantasten<br />
zuzulauschen!<br />
Alte, senile Lustmolche, die sich gegenseitig<br />
aufgeilen, jeder wollte dabei den andern<br />
übertreffen, das war niveaulos und abscheulich,<br />
pfui! Und danach durfte sich der Erwin zu Hause<br />
eine lange Predigt anhören, nicht vom Pfarrer,<br />
nein, <strong>von</strong> seiner lieben Erika, die ihn wie einen<br />
kleinen Lausebuben abkanzelte. „Du bist genau<br />
der Typ, welcher zur Pädophilie neigt, und wie du<br />
7
die Servierfrau betastet hast, das war auch<br />
völlig pervers, ich hätte dir eins runter gehauen“.<br />
Erwin war sprachlos, und erwiderte nur: „ Also,<br />
die Serviererin mag das, wenn sie mitmacht gibt<br />
es mehr Trinkgelder“. Aha, du Schwein, jetzt<br />
weiß ich, wie du mit dem Geld umher<br />
schmeißt“ mit diesem Schlusswort verschwand<br />
die Erika ins Schlafzimmer. .<br />
Der Abend war im Eimer, und Erwin schlief diese<br />
Nacht auf dem Sofa im Wohnzimmer.<br />
Aber nach dem Regen scheint wieder die Sonne,<br />
das war in den 40 Ehejahren der Familie schon<br />
immer so. Und am nächsten Morgen sah alles<br />
nur noch halb so schlimm aus, wie am Vorabend.<br />
Erwin hatte einen Plan, aber die Erika durfte<br />
natürlich nichts da<strong>von</strong> erfahren, nach all den<br />
Pornos, die er konsumierte, wollte er endlich<br />
auch einmal etwas selber erleben, aber die Erika<br />
war ja nicht dafür zu haben. Für sie ist alles<br />
Sodom und Gomorrha, was außerhalb der<br />
Missionarsstellung figurierte. Im Industriegebiet<br />
Befand sich in einer stillgelegten Fabrik, ein<br />
Bordellbetrieb. Erwin wanderte schon oft daran<br />
vorbei, aber meistens in Begleitung der Erika.<br />
Jeden Mittwochnachmittag war Erika an ihrem<br />
Kaffeekränzchen, und Erwin benutzte den<br />
sturmfreien Nachmittag, um sich im Puff etwas<br />
8
umzusehen. Erst versuchte er es telefonisch, er<br />
wollte lediglich die Preise kennen?<br />
Doch die Dame am anderen Ende blieb kurz<br />
angebunden: „Wir geben keine Informationen am<br />
Telefon, kommen sie einfach vorbei“.<br />
Erwin war unsicher, wenn er dort gesehen wurde,<br />
dann wusste es die Erika bereits am Abend! Da<br />
war doch dieser Siegfried, welcher immer mit<br />
seinem Hund spazieren ging, und der war<br />
schlimmer als die Boulevardzeitung, er wusste<br />
nicht nur mehr als die andern, sondern dichtete<br />
auch noch eine Menge dazu.<br />
Sowohl der Sigi, als auch sein blöder Hund,<br />
waren ihm höchst unsympathisch, darum ging er<br />
den beiden möglichst aus dem Weg, wenn das<br />
ging!<br />
Erwin schlich an einem ruhigen<br />
Mittwochnachmittag leicht aufgeregt um das<br />
Fabrikgebäude herum, er wollte sich ja nur nach<br />
dem Preis erkundigen und nahm kein Geld mit.<br />
Erst einmal blieb er in einer Ecke des Areals<br />
stehen, in weniger als einer halben Stunde,<br />
parkierten sechs Autos, ihnen entstiegen nur<br />
Männer im mittleren Alter, und jeder hatte einen<br />
kleinen Aktenkoffer mit sich, sie verschwanden<br />
durch eine grün bemalte Tür, auf einem<br />
Namenschild stand diskret: „Paradies Sauna“.<br />
9
Erwin machte sich selber Mut und ging direkt auf<br />
diese Tür zu, drinnen war ein Lift, dort stand<br />
geschrieben: „Paradies Sauna: 6. Stock“.<br />
Erwin drückte den 6.Stock, als er den Lift verließ<br />
stand er vor einer roten Holztür: „Bitte<br />
läuten!“ stand drauf. Erwin drückte die Taste,<br />
und wartete der Dinge die da kommen. Die Tür<br />
wurde nach innen geöffnet, vor ihm stand eine<br />
splitternackte junge Frau, das heißt, sie trug<br />
Schuhe mit sehr hohen Absätzen, sonst aber rein<br />
nichts, sie war sehr, sehr schlank, um die 20<br />
Jahre alt, und was ihn am meisten überraschte,<br />
sie sprach seinen Dialekt! „ich bin die Monika“,<br />
sagte sie formlos, „kann ich ihnen helfen?“<br />
Erwin musste dreimal leer schlucken, er fühlte<br />
sich plötzlich ganz klein und unsicher, dann<br />
fasste er sich wieder und fragte: „Was kostet es<br />
bei ihnen, am Telefon wollten sie mir das nicht<br />
sagen“.<br />
Monika: „Ja, das stimmt, wir geben keine<br />
Informationen am Telefon, weil uns die Polizei<br />
und das Steueramt ständig belauschen“.<br />
„Bei uns können sie alles haben, GV, Anal, SM,<br />
BJ, Lesbo, Massagen, etc., wir haben 15<br />
Festangestellte und nochmals so viele Teilzeit.<br />
Zwei machen auch Handsex, die Molli aus<br />
Brasilien und die Perushka aus Ungarn,<br />
besonders begehrt bei den Senioren mit<br />
10
Potenzproblemen. Eine Viertelstunde kostet<br />
150.- eine Stunde 400.- Franken.“<br />
Erwin wollte sich erst einmal überlegen, dankte<br />
der Monika und sagte auf Wiedersehen.<br />
Wie er gekommen war, so schlich er sich wieder<br />
da<strong>von</strong>, immer auf der Hut vor dem Sigi und<br />
seinem Hund. Er beschloss, am folgenden<br />
Mittwoch zuzuschlagen, die Erika feierte dann<br />
mit der Heidi und der Margrit den 65. Geburtstag,<br />
und spendete dabei eine Torte.<br />
Erwin bereitete sich wie ein Preisboxer auf<br />
seinen Auftritt vor, probierte allerlei Tabletten,<br />
und schluckte rohe Eier, all das sollte seine<br />
Potenz steigern.<br />
Viagra konnte er sich nicht beschaffen, weil er<br />
ein Rezept vom Hausarzt benötigte, und das<br />
hätte die Erika umgehend vernommen.<br />
Diesmal war er noch nervöser, im großen Saal<br />
waren noch acht Frauen ohne Beschäftigung,<br />
alle Ausländerinnen, Erwin kam sich vor wie auf<br />
dem Jahrmarkt, wenn der Landwirt eine Kuh<br />
kaufen will. Da stand er nun und wurde immer<br />
kleiner, wer die Wahl hat, hat die Qual!<br />
Die rundliche mit den blonden Haaren kam nicht<br />
in Frage, die sah aus wie seine Erika vor 30<br />
Jahren, eher die halbschwarze mit den langen<br />
Haaren, sie lächelte ihm zu und er sagte gleich<br />
zu. Das neu verliebte Paar verschwand in einer<br />
11
Nische, die Amalia, so hieß sie, schloss die Tür<br />
und nun waren sie unter sich und ungestört.<br />
Eine Stunde war bezahlt und angesagt, die<br />
Amalia stellte den Timer ein, zeigte ihn dem<br />
Erwin, damit dieser sich vergewissern konnte,<br />
dass nicht mit der Zeit gemogelt wird.<br />
Amalia war schnell ausgezogen, Erwin benötigte<br />
da schon etwas länger, dann wollte Amalia mit<br />
einigen Deutschworten wissen, was der Erwin<br />
möge, dieser hatte nur einen Wunsch, wieder<br />
einmal richtig Sex haben, wie früher in der guten<br />
alten Jugendzeit!<br />
„Bumsen“ sagte er Erwin, und Amalia lachte und<br />
begann seinen besten Freund zu massieren, da<br />
machte sie eine Bemerkung, die dem Erwin den<br />
ganzen Spaß verderben sollte: „ Schwanz sein<br />
sehr klein!“ Es war, als würde ihn ein Blitzschlag<br />
treffen, und sein Freund wurde nicht größer,<br />
sondern leider noch kleiner!<br />
Die Amalia schien zu realisieren, dass es hier mit<br />
einem besonders sensiblen Kerl zu tun hatte,<br />
sie versuchte ihn zu trösten: „keine Angst Papa,<br />
ich machen gut Sex für dich“.<br />
Das Wort „Papa“ traf ihn erneut wie ein Pfeil ins<br />
Herz, natürlich war er mit 72 Papa, aber das<br />
musste jetzt nicht hervorgehoben werden, jetzt,<br />
da er ein erotisches Abendteuer vor hatte. Die<br />
12
Amalia rieb am Freund herum wie eine<br />
Berserkerin, es schmerzte schon richtig,<br />
nach erfolglosen 30 Minuten schlug die Amalia<br />
vor, wenn der kleine Freund schlapp mache,<br />
dann gehe das immer mit den Fingern oder der<br />
Hand, sie habe da Erfahrung und viele<br />
Senioren wollten nur noch das. Erwin kannte das<br />
aus den Pornofilmen, aber wie Anal, so waren<br />
auch Hände aus seiner Sicht nur Ersatz für den<br />
echten Sex. Ein ganzer Kerl wie er, machte<br />
keinen abartigen Sex, das war doch sonnenklar.<br />
Die Amalia musste ihn hochkriegen, dafür hatte<br />
er 400.-Franken gespart. Die Amalia wusste aber,<br />
wie sie den Stolz des Erwin noch retten konnte,<br />
indem sie sich auf ihn setzte und dann das<br />
Ganze einfach quer hinein schob, sogar noch die<br />
Testikel, was für den Erwin eine völlig neue<br />
Erfahrung bedeutete.<br />
Und schließlich erhärtete sich sein bester<br />
Freund doch noch etwas, und die Vorstellung<br />
war gerettet. Erwin schämte sich aber doch<br />
etwas, und er zahlte eiligst die 400.-Franken und<br />
schlich sich erneut da<strong>von</strong>.<br />
Jetzt erinnerte er sich, dass er soeben 10%<br />
seiner Renten für ein eher dubioses Sexspiel<br />
verprasst hatte, dabei wollten er und die Erika<br />
am Samstag doch ins VIP Restaurant ganz dick<br />
dinieren gehen, pro Person zahlten sie jeweils<br />
13
um die 400.-Franken, man will sich schließlich<br />
auch etwas gönnen, und es macht Erika immer<br />
wieder Spaß, wenn sie die langen Gesichter der<br />
Frau Direktor Bluntschli, oder <strong>von</strong> Frau Dr.<br />
Morgentaler sieht, die sich wundern, dass die<br />
Familie Brunner sich so etwas leisten kann.<br />
Darum reserviert Erika jeden Monat einmal einen<br />
Tisch für Madame und Monsieur Erika und Erwin<br />
Brunner. Und nun wird die Erika diesmal die<br />
Reservation stornieren müssen, das Geld ist weg!<br />
Aber wie soll er das der Erika beibringen?<br />
Auf dem Weg kommen ihm zwei junge Burschen<br />
entgegen, ein Schwarzer und ein Weißer, die<br />
beiden schauen ihn seltsam an, und der Erwin<br />
wittert gleich einen Überfall, aber die sie<br />
scheinen sich nicht um ihn zu interessieren,<br />
Erwin hilft etwas mit, er ergreift sein leeres<br />
Portemonnaie, öffnet es und zeigt es den beiden<br />
Burschen, dabei ruft er laut: „Hier nehmt all mein<br />
Geld!“ Die Burschen grinsen nur, weil ja das<br />
Portemonnaie leer ist. Dann kommt ein<br />
Fußgänger, das ist die Gelegenheit, Erwin ruft<br />
wieder: „Hilfe, Überfall!“ Die beiden Burschen<br />
erkennen das Problem und rennen weg.<br />
Das genügt dem Erwin, er ist gerettet, der<br />
Fußgänger war soeben Zeuge des Überfalls,<br />
er konnte sehen, wie die Burschen da<strong>von</strong><br />
rannten. Der Zeuge schlug vor, die Polizei zu<br />
14
ufen, aber Erwin winkte ab, wegen 400.-<br />
Franken lohne sich das doch nicht.<br />
Aber er notierte sich Namen und Adresse des<br />
Zeugen, sollte die Erika im nicht Glauben<br />
schenken.<br />
Zufrieden legte er die restlichen Meter nach<br />
Hause zurück, und Erotik hatte er vorläufig auch<br />
genug gehabt. Ein kleines Problem war noch zu<br />
lösen, seine Kleider rochen etwas nach den<br />
Aromen im Puff, vielleicht sollte er sich bei den<br />
Müllsäcken etwas umparfümieren lassen?<br />
Dort roch es nach Hundescheiße!<br />
$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$<br />
15
2<br />
Die Geschichte mit dem Raubüberfall war ein<br />
voller Erfolg für Erwin, damit konnte er nicht nur<br />
seine Niederlage im „Paradies“ kompensieren,<br />
sondern er gewann noch dazu an Ansehen.<br />
Wenn ein zweiundsiebzigjähriger Senior zwei<br />
Ganoven in die Flucht schlagen kann, dann<br />
verdient er den Respekt seiner Umgebung.<br />
Um glaubwürdiger zu erscheinen, riss er noch<br />
zwei Knöpfe <strong>von</strong> seiner Bluse weg, die Erika<br />
nähte umso lieber wieder zwei neue auf.<br />
Und Erika machte ihm durchaus keine Vorwürfe,<br />
sie schlug aber vor, beim nächsten Mal, doch<br />
etwas weniger Geld mit zu führen.<br />
Am Stammtisch war Erwin nun der Held der<br />
Woche, als er schilderte, wie er die beiden<br />
Strolche in die Flucht schlagen konnte, obwohl<br />
der Schwarze dem Boxer Mohamed Ali sehr<br />
ähnlich sah, obsiegte Erwin schließlich!<br />
Damit das Ganze noch dramatischer aussah,<br />
schnitt er sich bei der morgendlichen Rasur noch<br />
in die linke Wange, das war dann <strong>von</strong> einem<br />
Messer eines der Räuber. Das Thema des Tages<br />
war damit auch gegeben, und man musste<br />
einmal mehr feststellen, wie wir doch immer<br />
mehr <strong>von</strong> kriminellen Ausländern überschwemmt<br />
werden. Erwin sonnte sich dabei in seiner neuen<br />
16
Rolle als Held. Einem Vorschlag des Kollegen<br />
Hans, wollte er aber nicht stattgeben, nämlich<br />
die Boulevardzeitung zu informieren, da würden<br />
ja doch nur dumme Fragen gestellt, und am<br />
Schluss alles zu seinem Nachteil verdreht.<br />
Für einmal war Erwin mit sich und der Welt mehr<br />
als zufrieden, und war den beiden Burschen<br />
richtig gehend dankbar, dass sie ihm aus der<br />
Patsche geholfen haben. Beinahe wäre noch<br />
etwas schief gelaufen, als Erwin sich mit dem<br />
scheußlichen Geschmack der Müllsäcke versah,<br />
blieb etwas an seinen Kleidern haften, und das<br />
roch fürchterlich, Erika wollte ihm erst nicht<br />
abnehmen, dass er vermutlich bei der Rauferei<br />
mit dem Schwarzen, damit kontaminiert wurde.<br />
Sie stand im Laden auch schon neben einem<br />
Schwarzen, und der roch nun einmal ganz anders!<br />
Als Erwin ihr aber die Telefonnummer des<br />
einzigen Zeugen gab, wollte sie nicht weiter<br />
forschen und fragen.<br />
Damit war für Erika diese leide Geschichte<br />
erledigt, sie hatte aber noch eine andere,<br />
weniger gute auf Lager. Seit Wochen reduzierte<br />
sich ihr Gewicht signifikant, bereits war sie beim<br />
Hausarzt, welcher ihr Vitamintabletten<br />
verordnete, er führte das auf die Wechseljahre<br />
zurück, welche aber schon längst hinter ihr<br />
lagen.<br />
17
Und der Erwin suchte weniger weit, er hatte<br />
Bandwürmer im Verdacht. Eine umfassende<br />
Generaluntersuchung brachte keinerlei Hinweise<br />
auf eine Krankheit.<br />
Als sich aber die Abmagerung noch<br />
beschleunigte, da schlug der Hausarzt nochmals<br />
eine Blutanalyse beim Spezialisten vor.<br />
Erst jetzt wurde man fündig, und das Resultat<br />
war vernichtend: „Knochenkrebs“!<br />
Für das Ehepaar Erwin und Erika brach eine Welt<br />
zusammen, ja, es war der Weltuntergang!<br />
Es war einfach unglaublich, nein, das durfte es<br />
gar nicht geben!<br />
Der wahre Teufel hatte es auf die beiden<br />
abgesehen. Vergessen waren alle Querelen der<br />
vergangenen 40 Jahre, jetzt galt es gemeinsam<br />
den Teufel zu besiegen.<br />
Die Prognosen hörten sich aber eher negativ an,<br />
bereits konnten kleine Ableger eruiert werden,<br />
und Knochenkrebs konnte nur selten erfolgreich<br />
geheilt werden. Aber noch war nicht alles<br />
verloren, eine Chemotherapie wurde eingeleitet,<br />
Tabletten verabreicht, kurze und längere<br />
Aufenthalte im Spital wurden nötig, das Leben<br />
der beiden wurde auf einmal völlig<br />
durcheinander gerüttelt.<br />
Statt an den Stammtisch zu pilgern, brachte<br />
Erwin Blumen ins Spital, und er musste zusehen,<br />
18
wie seine Erika bei jedem Besuch kränker und<br />
müder wirkte. Die Haare waren auch weg, dieses<br />
Bild hätte er sich lieber ersparen wollen.<br />
Und als er im Traum am Grab der Erika stand,<br />
war für ihn bereits klar, das war nur eine<br />
Vorausnachricht aus dem Jenseits.<br />
Wenn die Erika zu Hause weilte, war er ihr<br />
Krankenpfleger, es war ihm bewusst, dass die<br />
Lage durchaus umgekehrt sein könnte, und da<br />
würde die Erika genau gleich handeln.<br />
Am liebsten wäre er ebenfalls in der gleichen<br />
Lage gewesen, schon rein aus Solidarität, das<br />
Leben war für ihn nur noch ein Fegefeuer.<br />
Und er hatte auch einen klaren Sündenbock,<br />
weshalb die Erika krank wurde, das war diese<br />
verdammte Hochspannungsleitung, welche bei<br />
der früheren Wohnung nur 50 Meter entfernt<br />
am Balkon vorbei zog. Ja, und die Erika saß doch<br />
während Jahren immer auf diesem Balkon,<br />
er war felsenfest überzeugt, ohne diese Leitung<br />
wäre sie nicht erkrankt!<br />
Das sagte ihm auch der Rutengänger Nussbaum,<br />
welchen er noch aus seiner Aktivzeit bei der<br />
Gemeinde kannte, und welcher nebenberuflich<br />
Häuser entstörte und Wasseradern nachspürte.<br />
Aber das war jetzt zu spät, die Würfel waren<br />
gefallen, das Schicksal hatte brutal<br />
zugeschlagen. Nach zweijähriger Therapie, war<br />
19
die Erika nur noch Haut und Knochen, ein<br />
Zombie. Und manche ihrer lieben Bekannten<br />
trauten sich kaum mehr, sie noch auf zu suchen,<br />
sie hatten sie virtuell bereits beerdigt.<br />
Nach einer Chemotherapie fühlte sich Erika<br />
während zwei bis drei Wochen wieder<br />
wesentlich besser, das nächtliche „Knabbern“ in<br />
den Knochen verschwand wieder und sie fühlte<br />
sich munter. Das waren die Momente der<br />
Hoffnung, <strong>von</strong> nun an gehe es aufwärts und<br />
besser! Und daran klammern sich alle<br />
Verwandten und Freunde, ja, bis zum nächsten<br />
Rückfall, welcher so sicher kommt wie das<br />
Amen in der Kirche.<br />
Erwin stellte sich andauern die gleiche Frage;<br />
Warum? Und warum gerade wir? Weshalb nicht<br />
die Nachbarn? Und wo blieb da die göttliche<br />
Gerechtigkeit?<br />
Erika, die ein Leben lang immer schön brav in die<br />
Kirche ging, und im Kirchenchor schöne Lieder<br />
mitsang, warum gerade sie?<br />
Nein, es gab keine plausible Erklärung, die ganze<br />
Welt spielte verrückt, war das nun der Dank für<br />
ein Leben im Namen Jesus und der Kirche?<br />
Wie konnte ein gütiger Gott nur derart brutal und<br />
sarkastisch sein?<br />
Ja, die bibelkundigen Besserwisser, fanden da<br />
immer wieder ein Bibelzitat, welches eine<br />
20
Erklärung bot. Aber das bestand nur deshalb,<br />
weil die Bibel immer Recht behielt. Für Erwin<br />
war das keine anständige Antwort, sondern nur<br />
eine faule Ausrede, die ihm und der Erika absolut<br />
nichts brachte!<br />
Und wenn es eine Hölle gab, dann war er daran,<br />
diese jetzt zu erleben. Er lebte in einer<br />
Horrorwelt zwischen Hoffnung und Fatalismus.<br />
Aber ganz in seinem Innern war noch ein kleiner<br />
Funke Hoffnung auf ein Wunder, trotz den<br />
destruktiven Prognosen der Männer in weiß,<br />
welche der Erika noch drei Monate Dasein<br />
voraussagten.<br />
Nein, das durfte nicht wahr sein, ein Erwin ohne<br />
die Erika, das war wie sein Körper mit<br />
amputierten Gliedmassen. Und wie sollte er das<br />
Leben weiter führen, er konnte nicht einmal<br />
Spiegeleier zubereiten.<br />
Die Ärzte mussten falsch liegen, einfach<br />
ignorieren und weiter hoffen.<br />
Und in seinen Träumen wohnte er nicht mehr der<br />
Bestattung seiner Erika bei, sondern er empfing<br />
sie geheilt und gesund zu Hause in seiner Wohn<br />
ung.<br />
Wenn er aber die traurige Gestalt der völlig<br />
abgemagerten Erika im Spital sah, verblassten<br />
seine Träume wie Seifenblasen an der Sonne.<br />
21
Jetzt wurde sie sogar noch am Bett<br />
festgebunden, damit sie wegen den starken<br />
Schmerzen nicht aus dem Bett rollen konnte.<br />
Weil die Therapie nicht mehr ansprach, wurde<br />
diese eingestellt, und gegen die starken<br />
Schmerzen erhielt Erika kiloweise Tabletten.<br />
Das hatte zur Folge, dass sie nur noch halbwegs<br />
bei Bewusstsein war, und sich permanent in<br />
einem beduselten Halbschlaf befand. In diesem<br />
Zustand bewegte sie sich in einer anderen Welt.<br />
Sie habe die Engel gesehen, sagte sie dem Erwin,<br />
dieser konnte damit nicht viel anfangen und<br />
fragte die junge Krankenschwester: „Schwester,<br />
sehe ich auch Engel, wenn sie mir diese<br />
Tabletten verabreichen?“<br />
Die Schwester errötete und erwiderte: „Schon<br />
möglich, aber andere“. Sie beobachtete dabei,<br />
wie er auf ihre Oberschenkel blickte.<br />
Aber dieser Ausrutscher war nur um Sekunden,<br />
weil Erwin sich der ausweglosen Situation<br />
bewusst war, und jetzt absolut keinen Bock auf<br />
andere Gedanken hatte.<br />
Was er da im Bett sah, das war nicht mehr seine<br />
Frau, das war ein mageres Skelett, welches<br />
schon bald reif für die Entsorgung war. Erika<br />
schien sich bereits weit entfernt aufzuhalten,<br />
wenn sie die Augen öffnete, konnte sie kaum<br />
noch Worte bilden. Erwin verstand aber, dass sie<br />
22
ihre längst verstorbene Mutter ansprach und<br />
nicht ihn, sie erkannte ihn somit nicht mehr!<br />
Das Leben zog sich aus ihrem geschundenen<br />
Körper zurück, sie verabschiedete sich <strong>von</strong> ihrer<br />
Umgebung und war bereit in eine andere Welt zu<br />
ziehen, körperlos und unbeschwert.<br />
Erwin rief eiligst die Kinder und nächsten<br />
Verwandten an, aber es war bereits zu spät,<br />
Erika war schon in der Kühlbox im Keller des<br />
Spitals.<br />
$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$<br />
3<br />
Erwin betonte schon immer, außer bei seiner<br />
eigenen Beerdigung, werde er nie mehr an solch<br />
einer Feier teilnehmen. Und die zweite<br />
Feststellung, war die, dass er niemals in ein<br />
Altersheim einziehen würde.<br />
Nun musste er wohl oder übel beim Abschied<br />
seiner Erika dabei sein, ja. nicht einfach passiv<br />
mitwirken, sondern aktiv.<br />
Er konnte dabei auf die Hilfe der Gemeinde<br />
zurückgreifen, aber auch die Verwandten und<br />
Bekannten konnten dem hilflosen Erwin unter<br />
die Arme greifen. Das meiste wurde ja <strong>von</strong> den<br />
Behörden und dem Pfarramt organisiert.<br />
23
Erwin befand sich in dieser Zeit wie in einer Art<br />
<strong>von</strong> Trancezustand, er realisierte nicht mehr, wie<br />
und was um ihn herum geschah. Er ließ sich<br />
einfach dahinmanipulieren, und hätte man ihm<br />
gesagt, er solle <strong>von</strong> der hohen Brücke runter<br />
springen, er wäre der Aufforderung gefolgt.<br />
Aber auch die Abdankung ging vorüber, und<br />
plötzlich befand sich Erwin in einem großen<br />
Vakuum, eine grenzenlose Leere umfasste ihn,<br />
er fühlte sich elend und verlassen. Und was tut<br />
man in einer solchen Situation?<br />
Richtig, entweder man schluckt eine zehnfache<br />
Ration an Schlaftabletten oder geht sich<br />
besaufen.<br />
Und weil Erwin keine Tabletten zur Stelle hatte,<br />
wählte er die zweite Variante.<br />
Alkohol ist ein zuverlässiger Freund, er lässt<br />
dich nie alleine, und er führt dich in eine<br />
anscheinend bessere Welt. Erwin begann<br />
sogleich mit den stärkeren Drinks, leerte sich<br />
Glas um Glas den Hals hinunter und brummelte<br />
jeweils etwas vor sich hin.<br />
Und so wurde er während Tagen jede Nacht<br />
stock besoffen nach Hause geführt, einmal <strong>von</strong><br />
den Kollegen, ein anderes Mal <strong>von</strong> der Polizei<br />
oder der Heilsarmee.<br />
Am nächsten Nachmittag erwachte er jeweils<br />
mit einem Brummschädel, nahm sich vor, nicht<br />
24
mehr zu trinken, aber nach zehn Minuten war der<br />
Drang bereits wieder stärker. In seiner Wohnung<br />
war eine fürchterliche Sauordnung, bereits<br />
rannten Mäuse da<strong>von</strong>, wenn man in die Wohnung<br />
kam. Bei der Gemeinde machte man sich<br />
Gedanken über den pensionierten Mann,<br />
schließlich war er lange Jahre ihr Angestellter.<br />
Aber Erwin war erneut in einer anderen Welt, er<br />
war alkoholsüchtig geworden, bereits wurde<br />
gemunkelt, man werde ihn bevormunden müssen,<br />
weil er seine ganze Rente versaufe.<br />
Eine andere Möglichkeit ergab sich im<br />
Altersheim der Gemeinde, als ehemaliger<br />
Angestellter war er privilegiert. Und weil soeben<br />
ein Platz frei wurde, weil sich eine Insassin ins<br />
Jenseits abgemeldet hatte, legte man dem Erwin<br />
einen Plan vor, der war an sich einfach,<br />
entweder ins Altersheim oder in die<br />
Alkoholikerentzugsklinik. Weil Erwin erst seit<br />
kurzer Zeit dem Alkohol verfallen war, konnte<br />
man ihm diesen Vorschlag unterbreiten,<br />
allerdings mit dem Vorbehalt, sollte er sich im<br />
Heim nicht integrieren und heimlich weiter<br />
saufen, dann wäre ihm die Entzugsklinik sicher!<br />
Erwin wählte das aus seiner Sicht kleinere Übel,<br />
und meldete sich ins Altersheim. Damit wurde er<br />
ein zweites Mal wortbrüchig, posaunte er doch<br />
stets, in ein Altersheim würde er nie und nimmer<br />
25
gehen. Um den Aufenthalt finanziell sicher zu<br />
stellen, sollte er die Eigentumswohnung<br />
verkaufen, das war in dieser Gegend absolut<br />
kein Problem. Und im Alter <strong>von</strong> 75 Jahren, zog<br />
Erwin nun ins Altersheim „Sonnenschein“ ein.<br />
In ein Haus, <strong>von</strong> dem man wusste, dass man es<br />
mit größter Sicherheit, entweder tot oder schwer<br />
krank verlassen wird!<br />
Sinnigerweise befand sich der Friedhof nur<br />
unweit vom Heim, sozusagen als Hinweis, wohin<br />
die nächste Reise geht, also nicht sehr weit!<br />
Die drei Krankenjahre mit Erika, ließen den<br />
Erwin um mindestens 10 Jahre älter aussehen,<br />
<strong>von</strong> daher passte er bestens her, das<br />
Durchschnittsalter der Insassen lag bei 78<br />
Jahren, somit durfte er sich noch jung fühlen.<br />
Nachdem das Zimmer der Verstorbenen Frau<br />
gereinigt und desinfiziert war, erhielt Erwin das<br />
Aufgebot zum Einzug. Mit gemischten Gefühlen<br />
packte er alle seine Sachen in drei große Koffer,<br />
mehr konnte er nicht mitnehmen, die Zimmer<br />
waren klein und hatten nur einen Einbauschrank.<br />
$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$<br />
26
4<br />
Erwin wurde mit dem VW-Bus des Heims<br />
abgeholt, und wie ein kleiner Prinz bis zum<br />
Eingang begleitet, der Fahrer, ein Frührentner,<br />
half ihm dabei, die Gepäckstücke auf den<br />
zweiten Stock in sein Zimmer zu bringen. Da ein<br />
Lift zur Verfügung war, hätte es der Erwin auch<br />
alleine geschafft, so aber, ging das noch viel<br />
schneller. Danach wurde er zur Heimverwalterin,<br />
Frau Seiler, bestellt.<br />
Diese empfing den Neuling in ihrem eher<br />
bescheidenen Büro, sie hieß ihn im Heim<br />
willkommen, obwohl er nicht ihr Wunschkandidat<br />
war. Aber die Gemeinde, welcher das Heim<br />
gehörte, hatte da ein Wort mitgesprochen, und<br />
deshalb mussten andere auf der Warteliste<br />
weiter warten, zudem wusste Frau Seiler vom<br />
Alkoholproblem des Erwin.<br />
Zuerst überreichte Frau Seiler ihm die<br />
Hausordnung des Alters- und<br />
Pflegeheim „Sonnenschein“<br />
Auf 42 Rubriken verteilt, war da alles geregelt,<br />
was es in so einem Heim zu regeln gab.<br />
27
Das Reglement begann mit der Nummer 1,<br />
welches festhielt: „Die Hausordnung ist für alle<br />
Pensionäre verbindlich“.<br />
Frau Seiler informierte weiter, dass <strong>von</strong> den 60<br />
Zimmer, deren 42 <strong>von</strong> Frauen, und nur 18 mit<br />
Männern besetzt sind. Dann durchackerte sie<br />
gemeinsam mit Erwin die 42 Paragraphen der<br />
Hausordnung, dabei hob sie besonders die<br />
folgenden hervor:<br />
„Die Hausbewohner sind gebeten, einander<br />
freundlich und rücksichtsvoll zu begegnen, sich<br />
gegenseitig zu helfen, um dadurch eine<br />
freundliche Atmosphäre zu schaffen und auch zu<br />
erhalten.“<br />
„Die Benützung der Räumlichkeiten soll mit der<br />
gebotenen Sorgfalt erfolgen“<br />
„Rauchen ist nur in speziell dafür bestimmten<br />
Räumen erlaubt“<br />
„ Über das halten <strong>von</strong> Haustieren, entscheidet<br />
die Heimverwaltung“<br />
„Mahlzeiten werden zu festgesetzten Zeiten im<br />
Esszimmer eingenommen“<br />
28
„Die Zimmer sind einfach möbliert, mit<br />
Zustimmung der Hausverwaltung dürfen weitere<br />
Möbel dazu gekauft werden.“<br />
„Mittags- und Nachtruhe: <strong>von</strong> 12 – 14 Uhr und ab<br />
22 Uhr bis 7 Uhr morgens, ist Ruhezeit.“<br />
„Zimmerreinigung: das Zimmer wird einmal<br />
wöchentlich vom Heimpersonal gereinigt, wenn<br />
das durch den Bewohner erfolgt, wird ihm eine<br />
Differenz gutgeschrieben“<br />
„Wäsche: muss mit Namenschildern bezeichnet<br />
und dem Hausdienst übergeben werden.“<br />
„Nägel dürfen nur durch das Personal<br />
angebracht werden“<br />
„Den Anweisungen des Personals ist immer<br />
Folge zu leisten“.<br />
„Das Nacktbaden auf dem Balkon oder am<br />
Schwimmbecken ist strikte untersagt“.<br />
Erwin atmete auf, als Frau Seiler endlich beim<br />
Absatz 42 angelangt war, aber sie war noch<br />
nicht am Ende.<br />
29
„Herr Brunner, Sie wissen, dass Sie vorläufig nur<br />
provisorisch aufgenommen wurden, das<br />
hauptsächlich wegen Ihren Alkoholproblemen,<br />
es ist Ihnen erlaubt, weiterhin Ihren Stammtisch<br />
und die Kollegen aufzusuchen, aber bitte halten<br />
Sie sich <strong>von</strong> Räuschen zurück, wir kennen da<br />
absolut kein Pardon“. Erwin war sichtlich<br />
überrascht, dass Frau Seiler soviel über ihn<br />
wusste, zuviel seiner Ansicht nach!<br />
Und da war noch sein früherer Beruf im Spiel,<br />
nur wenige Bewohner waren bereit im Park und<br />
in den Gärten zu arbeiten, Erwin war geradezu<br />
dafür prädestiniert, und Frau Seiler war der<br />
Ansicht, das wäre die ideale Therapie für den<br />
Erwin. Aber Erwin war überhaupt nicht<br />
begeistert, sollte er nun, nach 10 Jahren<br />
Ruhestand, wieder zu Spaten und Schaufel<br />
greifen, er, der er doch ein ganzes Leben lang<br />
genug geschuftet hatte! Er schaute seine neue<br />
Chefin etwas seltsam an und sagte nur: „Das<br />
werden wir ja sehen“.<br />
„Ich zähle auf Sie“, antwortete Frau Seiler.<br />
Damit war die Einführung abgeschlossen.<br />
$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$<br />
30
5<br />
Mit gemischten Gefühlen ging Erwin in sein<br />
Zimmer zurück, packte die Koffern aus und<br />
verstaunte seine Sachen im Schrank und in der<br />
Kommode. Dann war er echt müde und legte sich<br />
hin, die Matratze war etwas hart, aber er schlief<br />
trotzdem ein. Als er wieder erwachte, hatte er<br />
Lust nach einem starken Kaffee, er ging in die<br />
Cafeteria, im Gegensatz zum Speisesaal, war<br />
dort Selbstbedienung. Einige Leute schauten ihn<br />
neugierig an, er grüßte kollektiv, ohne sich aber<br />
weiter um sie zu kümmern, sollten die denken, er<br />
sei ein Besucher, diese durften auch in die<br />
Cafeteria. Erwin bestellte einen Kaffee mit<br />
Kuchen, Frau Moni, die Leiterin fragte ihn nach<br />
seiner Zimmer Nummer, jeder Bewohner hatte<br />
ein persönliches Konto, am Monatsende wurde<br />
die Rechnung beglichen. Nur Besucher, waren<br />
verpflichtet, bar zu zahlen, es war auch nicht<br />
erlaubt, diese einzuladen und auf Pump zu<br />
bedienen.<br />
Erwin genoss den Kuchen, mit dem Kaffee war<br />
er aber unzufrieden, er beschwerte sich bei Frau<br />
Moni, aber diese konterte: “Ich nicht sein schuld,<br />
habe Order Kaffee für alte Leute muss sein<br />
schwach!“ Erwin verlangte nun nach der Chefin,<br />
er wollte diese Antwort nicht akzeptieren.<br />
31
Frau Moni verwies ihn an Frau Amsler,<br />
Stellvertreterin <strong>von</strong> Frau Seiler und Chefin der<br />
Küche und Cafeteria. Frau Amsler empfing ihn<br />
mit einem geröteten Kopf: „Sie sind also der<br />
Neue?“ begann sie die Einleitung. Erwin bejahte<br />
das und sagte: „Also, der Kuchen war gut, aber<br />
was Sie da Kaffee nennen, das ist doch wohl<br />
eher die Abwaschlauge <strong>von</strong> heute Mittag!“<br />
Frau Amsler hatte nun einen ganz roten Kopf:<br />
„Also, Herr Brunner, ich verbitte mir diesen Ton,<br />
wir haben vom Gesundheitsamt klare Vorgaben,<br />
über die Getränke und Speisen für unsere<br />
Heimbewohner. Der Kaffee darf nicht stärker<br />
sein, viele Leute bekunden Kreislauf- und<br />
Schlafprobleme. Und wenn Ihnen unser Kaffee<br />
nicht schmeckt, gehen sie halt auswärts, oder<br />
noch viel besser, sie verabschieden sich<br />
sogleich wieder“.<br />
Erwin argumentierte: „Ja, genau das habe ich<br />
gehört, Ihr wollt die Insassen zu Eunuchen und<br />
Zombies abstufen, danke, ich werde mir das<br />
noch überlegen“.<br />
Frau Amsler wollte nicht weiter argumentieren: „<br />
Ja, das ist wohl das Beste und jetzt<br />
entschuldigen Sie mich, ich habe zu tun“.<br />
Das war ja eine richtig tolle Einführung, und<br />
nach fünf Stunden, schon ein Intermezzo mit der<br />
zweitobersten Instanz im Heim.<br />
32
Um 18 Uhr war die Abendmahlzeit im Speisesaal,<br />
Frau Seiler präsentierte den Erwin als den neuen<br />
Insassen, dann ließ sie ihn zwischen dem Hans<br />
Meier 12, einem Ex-Polizisten und dem Heinrich<br />
Loser, Platz nehmen. Mit der Option, er könne<br />
sich später seinen Essplatz selber aussuchen.<br />
Seine beiden Nachbarn waren etwa in seinem<br />
Alter, der Meier 12, litt an Demenz, und der<br />
Heinrich hatte soeben eine Prostataoperation<br />
hinter sich. Frau Seiler hoffte damit, neben<br />
einem Ex-Polizisten würde sich der Erwin eher<br />
mäßigen und zurück halten. Erwin sah sich<br />
etwas um, und was er da sah, war wohl eher ein<br />
Spital. Ja, es hieß „Alters- und Pflegeheim“, rund<br />
ein Drittel saß in Rollstühlen, zahlreiche hinkten<br />
mit Krücken daher, und nur ein kleine Minderheit,<br />
lief ohne Gehhilfen aufrecht daher wie der Erwin.<br />
Zuerst wurde eine salzarme Suppenbrühe<br />
serviert, als Getränke konnte man wählen<br />
zwischen Wasser, Tee oder verdünnten<br />
Obstsäften.<br />
Danach wurden Spätzle mit Gehacktem serviert,<br />
und als Nachspeise noch Apfelmus. Erwin hatte<br />
kaum Zeit, die Speisen zu bewerten, er musste<br />
dem Meier 12, zuhören, dieser erzählte am<br />
laufenden Band über seine Zeit als Polizist,<br />
33
wie er den beiden Gangstern „Deubelbeiss und<br />
Schürmann“ damals ein Feuergefecht lieferte<br />
und die beiden zur Strecke brachte.<br />
Gegenüber saß der Ernst Mosimann, im aktiven<br />
Leben Käser <strong>von</strong> Beruf, er lachte laut und sagte<br />
zum Erwin: „Glaub ihm nicht alles, als<br />
Deubelbeiss und Schürmann die Schweiz in Atem<br />
hielten, war der Meier12, gerade einmal 12<br />
jährig, darum nennen wir ihn Meier 12, und nicht<br />
Meier 19“. Meier 12, antwortete nicht, er litt an<br />
Demenz in fortgeschrittenem Stadium. Dafür<br />
begann nun der Heinrich Loser <strong>von</strong> seiner<br />
Prostataoperation zu erzählen, und einmal<br />
angefangen, konnte er nicht mehr stoppen.<br />
Hinter ihnen war ein Tisch mit nur Frauen,<br />
einige in Rollstühlen, und plötzlich roch Erwin<br />
etwas, das nicht <strong>von</strong> den Getränken herrührte,<br />
eher erinnerte ihn der Geruch an eine öffentliche<br />
Toilette!<br />
Und kaum war der Geschmack da, kam auch<br />
schon Schwester Monika und rollte mit der Frau<br />
Im Rollstuhl weg.<br />
„Das ist die schöne Maria Hurni, sie leidet an<br />
einer permanenten Inkontinenz, sie war einmal<br />
sehr hübsch, ja, das liegt natürlich sehr weit<br />
zurück“ betonte Heinrich Loser lachend.<br />
34
Dann ergänzte er: „Die Maria vergisst manchmal<br />
ihren Urinbeutel, dann kann es eben geschehen,<br />
wie vorhin. Erwin hatte genug und flüchtete sich<br />
in sein Zimmer, die ganze Nacht träumte er <strong>von</strong><br />
seltsamen Gestalten um ihn herum, und oftmals<br />
wachte er schweißgetränkt auf.<br />
Dann realisierte er, dass er im Altersheim lag,<br />
und er überlegte sich ernsthaft, ob er nicht doch<br />
lieber eine Mansarde mieten sollte, um dann<br />
dort wie ein Einsiedler sein Dasein zu fristen?<br />
Diesen sonderbaren Gestalten, denen er hier<br />
begegnete, wollte er nicht gleichgestellt werden,<br />
gut, er befand sich ja sowieso in einer Probezeit,<br />
aber statt sich raus werfen zu lassen, war es<br />
möglicherweise besser, diesen Tag abzuwarten,<br />
und gleich jetzt zu entscheiden. Im Vertrag war<br />
aber eine Kündigungsfrist <strong>von</strong> drei Monaten<br />
vorgeschrieben, selbstverständlich konnte er<br />
sogleich ausziehen, aber das Geld war alle.<br />
Dabei war eine Warteliste vorhanden, aber das<br />
war anscheinend kein Grund für kürzere<br />
Kündigungsfristen.<br />
Gegen den Morgen hin fiel er in einen tiefen<br />
Schlaf, als er erwachte, zeigte seine Uhr bereits<br />
8.15 an! Und bis 9 Uhr wurde das Frühstück<br />
serviert. Er musste sich also beeilen, schnell<br />
eine kalte Dusche und Kurzrasur, dann, um 8.45<br />
35
traf er endlich im Speisesaal ein. Es war auch<br />
möglich, gegen einen Zuschlag, die Mahlzeiten<br />
im Zimmer einzunehmen. Für jedes Extra gab es<br />
einen Zuschlag, und die Dienste waren in<br />
Nummern aufgeteilt, Nr. 22 hieß zum Beispiel:<br />
„Mahlzeit ins Zimmer gebracht“, jeder Bewohner<br />
hatte ein persönliches Konto, wobei die<br />
Zimmernummer auch die Kontonummer war,<br />
beim Erwin war das die Nummer 212.<br />
Am Ende eines Monats wurden dann alle<br />
Sonderleistungen in Rechnung gestellt. Der<br />
Buchhalter druckte jeden einzelnen Posten auf<br />
einer Liste aus, so, konnten die Insassen alles<br />
nochmals überprüfen, was natürlich nur möglich<br />
war, wenn sie selber auch Buchhaltung führten,<br />
aber <strong>von</strong> den 60 Bewohnern taten das nur gerade<br />
deren vier, alles Frauen. Die andern<br />
unterschrieben einfach, und im vollen Vertrauen<br />
auf die Eintragungen des Personals. Das<br />
Sprichwort: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist<br />
besser“, war offensichtlich ein Fremdwort. Mit<br />
dem Frühstück war Erwin zufrieden, wenn er<br />
vom Kaffee einmal wegsah.<br />
Um 11 Uhr geht Erwin zur Küche, das heißt,<br />
bis vor die Küche, er will etwas abklären und<br />
den Küchenchef sprechen, aber am Eingang<br />
steht groß geschrieben: „Kein Zutritt für<br />
Heimbewohner“!<br />
36
Er möchte den Küchenchef sprechen, nach<br />
längeren Palavern, steht dieser plötzlich vor ihm,<br />
ein jüngerer vollschlanker Mann, etwas<br />
ungeduldig fragt er nach dem Wunsch, Erwin<br />
sagte sogleich: „Ich habe gehört, dass in den<br />
Altersheimen Beruhigungsmittel den Speisen<br />
beigefügt werden, ist das hier auch der Fall?“<br />
Der Koch kriegt einen roten Kopf, und wird<br />
unfreundlich: „Da müssen Sie sich an Frau<br />
Amsler wenden, ich darf Ihnen keine Auskunft<br />
geben, und achten Sie das nächste Mal auf<br />
dieses Verbot“. Und schon war der Koch wieder<br />
in der Küche verschwunden. Erwin kam sich<br />
etwas beduselt vor, das war eine Symbiose<br />
zwischen Knast und Militär, aber mit der Frau<br />
Amsler hatte er bereits Bekanntschaft gemacht,<br />
die Reaktion des Küchenbullen genügte ihm<br />
bereits, dieser Hund wusste genau Bescheid.<br />
Dann folgte schon wieder die Mittagsmahlzeit,<br />
Gemüsesuppe, Kartoffelstock mit<br />
Schweinebraten, gemischter Salat, und diese<br />
Fuselgetränke.<br />
Und nach der Mahlzeit fühlte er sich wieder sehr<br />
müde und schläfrig! Das war der Beweis, da<br />
waren Schlaf- und Beruhigungsmittel beigefügt!<br />
Seit dem Tod seiner geliebten Erika, war Erwin<br />
nur noch halbwegs in diesem Leben, da spielte<br />
dieser Umstand auch keine große Rolle mehr.<br />
37
Und vielleicht war es ja nur zu seinem Vorteil,<br />
ansonsten der dritte Frühling sich bei ihm wieder<br />
melden könnte, das Geld reichte nicht mehr für<br />
den Bordellbesuch.<br />
Und es war ihm auch bewusst geworden, dass er<br />
sich im Hein anpassen musste, und nicht das<br />
Heim ihm. Und wenn er den geistigen Zustand<br />
verschiedener Heimbewohner berücksichtigte,<br />
dann war das auch besser so.<br />
Immerhin gab es keine Arrestzelle und<br />
dergleichen, Sonnenschein zählte sich zu den<br />
neuzeitlichen Heimen. Wer Schwierigkeiten<br />
bereitete und sich nicht fügen wollte oder<br />
konnte, wurde aus dem Heim gewiesen, das<br />
erfolgte immer in Absprache mit der<br />
Vormundschaftsbehörde. Erst vor zehn Tagen,<br />
wurde Frau Martha Winkelmann in eine<br />
psychiatrische Klinik eingewiesen, sie war nicht<br />
mehr tragbar, ja, einmal urinierte sie sogar auf<br />
den Tisch in der Cafeteria, sang dabei ein<br />
halleluja Lied und nannte die Tamilin hinter der<br />
Theke „Moorenkopf“, dann warf sie die Tassen<br />
bis zur Decke hoch, und wenn die auf dem Boden<br />
zerschmetterten, jubelte sie und nannte alle<br />
Anwesenden Spinner und Idioten. Als sie auch<br />
noch splitternackt umherlief, kam der Wagen der<br />
Klinik, und die Pfleger fingen sie ein wie ein<br />
wildes Tier. Sie litt unter manischen<br />
38
Depressionen höchsten Grades, ob sie die Klinik<br />
jemals wieder verlassen kann, steht in den<br />
Sternen geschrieben.<br />
Im Sonnenschein geht man mit der Zeit, deshalb<br />
hat es auch eine Bibliothek mit drei Computern,<br />
Magazinen und Zeitungen. Wie viele ältere<br />
Jahrgänge, scheut sich auch Erwin vor dem<br />
Computer, und macht um ihn einen Bogen wie<br />
der Teufel um den Weihrauch!<br />
Er wollte nur kurz reinschauen, da rief ihn Frau<br />
Künzle, sie saß allein an einem Computer und<br />
fragte ihn, ob er sich auch auskenne, aber Erwin<br />
winkte ab, er halte nichts <strong>von</strong> diesem modernen<br />
Zeug. Frau Künzle war 72, und seit acht Jahren<br />
im Heim, sie galt als wandelnde Hauszeitung,<br />
wusste immer über alles und jedes Bescheid, oft<br />
mehr noch als diese selber wussten.<br />
Sie bot dem Erwin an, ihm die Grundkenntnisse<br />
für den PC-Gebrauch beizubringen, aber Erwin<br />
wollte sich nicht blamieren, noch nicht!<br />
Aber er interessierte sich allgemein schon, was<br />
die Emma Künzle alles zu berichten wusste.<br />
Zuerst waren die männlichen Bewohner an der<br />
Reihe, außer dem Fahrer vom Dienst, Jakob Grob,<br />
waren alle andern verrückt oder invalid:<br />
„Da ist einmal der Franzose: Monsieur Dentan,<br />
der hat den Verfolgungswahn, er sieht sich<br />
ständig bedroht und verfolgt.<br />
39
Ulrich Zimmer, Harald Bommer, Sebastian Zingg,<br />
Hannes Molnar, Meier 12, und Luzi Stahl, sie alle<br />
haben Alzheimer, ihnen wurden starke<br />
Medikamente verordnet, und sie sind auf die<br />
Hilfe der Schwestern angewiesen.<br />
Freddy Zanker, Willy Sager, Herbert Geiger und<br />
Max Stoll sind in Rollstühlen.<br />
Johannes Piller, Waldemar Bünzli und Heinz<br />
Hinterwalder, sind als verrückt erklärt worden,<br />
sind aber gutartig. Der Bünzli, glaubt fest daran,<br />
er wäre der inkarnierte Indianer „ Einsamer Wolf“.<br />
Sie können ihn oft im Park sehen und hören,<br />
wenn er seinen Schlangentanz um die Bäume<br />
macht und dabei singt.“<br />
Erwin rechnete nach, da blieben ja nur noch drei<br />
übrig, der Ernst Mosimann, der Heinrich Looser<br />
und er. Zwei Männer wurden ausgemustert, weil<br />
sie das Spital nicht mehr verlassen können, der<br />
Alex Grollimund und der Jakob Hürlimann, für<br />
beide ist der Tod die einzig mögliche Erlösung<br />
vom Krebsleiden!<br />
Erwin konnte sich gut vorstellen, dass auch er<br />
bald einmal in einer der drei Kategorien<br />
figurieren werde. Als er die Frau Künzle<br />
gedankenverloren anschaute, kam ihm diese<br />
sogleich zuvor: „Also ich bin seit 20 Jahren<br />
Witfrau, mein Mann starb an einem Unfall auf<br />
einer Baustelle, ich suche keine Beziehung<br />
40
mehr“. Erwin dachte aber gar nicht an so etwas,<br />
dafür hatte die Emma etwas zu viele Falten im<br />
Gesicht, zudem war sie viel zu schwatzhaft! Frau<br />
Künzle wollte dann die Frauen dran nehmen.<br />
Aber Erwin bekundete bereits Mühe, alle die<br />
Informationen aufzunehmen, deshalb bedankte<br />
er sich bei ihr und zog sich in seine Kammer<br />
zurück. Unterwegs begegnete ihm Frau<br />
Birnbaum: „Ihr werdet alle in der Hölle landen,<br />
Jesus hilft nur den reuigen Menschen!“<br />
Erwin sah sie leicht ungläubig an und fragte:<br />
„Woher wollen Sie das wissen?“<br />
Frau Birnbau hatte immer die Bibel bei sich:<br />
„Hier steht es geschrieben, Sie ungläubiger<br />
Mensch!“<br />
Erwin lief weiter und murmelte vor sich hin: „Ich<br />
bin im Irrenhaus, tatsächlich, ich bin unter lauter<br />
verrückten Leuten, einer ist ein Indianer, die<br />
andere eine Bibel geile Spinnerin.“<br />
„Kann ich ihnen helfen?“ hörte er eine weibliche<br />
Stimme hinter sich sagen. „Nein, ich habe<br />
lediglich etwas laut gedacht“, kam als Antwort.<br />
„Ich bin die Samantha Rudolf, freut mich Herr<br />
Brunner, ich sah sie gestern bei der<br />
Präsentation.“ Erwin fragte: „Sind Sie schon<br />
lange in dieser Herberge?“<br />
„Nein, ich bin erst seit drei Monaten hier“, war<br />
die Antwort.<br />
41
„Sie sehen ja auch noch nicht so alt aus,“ stellte<br />
Erwin fest. “Ich bin 64, und die Drittjüngste hier,<br />
mein Mann starb vor sechs Monaten an<br />
Leberschrumpfung, er war 66, unsere Pläne<br />
lösten sich damit im Nichts auf, und nun bin ich<br />
hier“. „Dann erging es Ihnen wie mir, meine Frau<br />
starb an Krebs und war 68 Jahre alt.“<br />
„Ja, das Schicksal kennte wenig Erbarmen mit<br />
uns, so ist nun einmal das Leben“, stellte<br />
Samantha leise fest.<br />
Erwin fragte weiter: „Sind in diesem Haus<br />
eigentlich alle irre oder krank, mir wurde soeben<br />
mit der Hölle gedroht, <strong>von</strong> einer Frau Birnbaum“.<br />
Samantha lachte: „Ach ja, nehmen Sie die nicht<br />
zu ernst, sie ist <strong>von</strong> Jesus in Besitz genommen<br />
worden, und nun sind wir alle Sünder und Teufel“.<br />
Erwin hatte noch weitere Fragen:“ Was macht<br />
eigentlich diese Frau Künzle, sie weiss über<br />
jeden Mann hier Bescheid?“<br />
„Samantha: „Und auch über jede Frau, und übers<br />
Hauspersonal, sie ist unsere lebendige<br />
Hauszeitung!“<br />
Erwin: „ Das habe ich mir doch gedacht, sie<br />
wirkt sehr mitteilsam“.<br />
Samantha: „Oh ja, das stimmt, und wenn Sie<br />
Informationen benötigen, dann sind Sie bei ihr an<br />
der richtigen Adresse, Sie treffen sie praktisch<br />
immer in der Bibliothek an“.<br />
42
Die beiden verabschiedeten sich dann auf später,<br />
Erwin empfand die Samantha als noch im<br />
Rahmen des für ihn Zumutbaren, ob das<br />
gegenseitig war, konnte er nicht feststellen, er<br />
hatte aber den Eindruck, dass die Samantha sich<br />
mental noch nicht ganz <strong>von</strong> ihrem Mann getrennt<br />
hatte. Sie war aber immerhin vier Jahre jünger<br />
als seine Erika. Am Morgen war er noch fest<br />
entschlossen, aus diesem Irrenhaus auszuziehen,<br />
bevor er gleichgeschaltet war, aber nun hatte er<br />
bereits zwei Kontakte, bei denen er sich<br />
aussprechen konnte, natürlich war ihm bewusst,<br />
dass die Frau Künzle auch ihn durch den<br />
Fleischwolf drehen wird, sein Problem mit dem<br />
Alkohol und die Schwäche für das andere<br />
Geschlecht. Aber was soll es, er hatte bereits<br />
halbwegs Fuß gefasst, er wollte es sich noch gut<br />
überlegen, aber etwas auf Konfrontationskurs<br />
verbleiben, sollte man ihn schließlich weg<br />
weisen, war das auch kein Unglück. Natürlich<br />
immer unter der Voraussetzung, dass er nicht im<br />
Rollstuhl war oder permanent krank.<br />
Am Nachmittag machte er einen Spaziergang<br />
durch den Park und den Garten, er war<br />
bekanntlich Fachmann, sah auch, was nicht<br />
fachmännisch war. Der Heimabwart war auch für<br />
den Garten zuständig, ihm zur Seite standen die<br />
Freiwilligen des Heims. Im Moment stand nur<br />
43
einer zur Verfügung, der Fahrer Jakob Grob,<br />
dieser hatte als Frührentner wenig Rente und<br />
musste sich einen Teil dazu verdienen. Der<br />
Hauswart, ein Herr Schlatter, sprach ihn<br />
diesbezüglich direkt an: „Herr Brunner, Sie sind<br />
doch <strong>von</strong> Beruf Gärtner, ich könnte Sie im Garten<br />
gut brauchen“.<br />
Dieser Ton gefiel dem Erwin ganz und gar nicht,<br />
was hieß da brauchen? Wenn er, der Erwin,<br />
jemals in diesem Garten aktiv werden sollte,<br />
dann war er der Chef, und sicher nicht dieser<br />
Schlatter!<br />
Darum lachte Erwin nur und lief weiter.<br />
Dann hörte Erwin Trommelschläge und einen<br />
monotonen Gesang, vor ihm standen große<br />
Bäume, und um einen dieser Bäume tanzte der<br />
„Einsame Wolf“, alias Waldemar Bünzli.<br />
Der „Einsame Wolf“ ließ stets die gleichen Laute<br />
<strong>von</strong> sich: „How, how, how“ er schwitzte stark,<br />
und schien den Erwin gar nicht zu bemerken,<br />
weil er sich in einer Art <strong>von</strong> Trancezustand<br />
befand. Amüsiert schaute Erwin diesem Treiben<br />
zu, wie der „Einsame Wolf“ im Wechselschritt<br />
nach vorne gebeugt, singend um den Baum<br />
tanzte. Für Erwin war das eine Art <strong>von</strong><br />
Fitnesstraining, mehr nicht.<br />
Endlich war der Tanz beendet, und der „Einsame<br />
Wolf“ sagte zum Erwin: „Ich bin der „Einsame<br />
44
Wolf“, eine Inkarnation des Sioux Häuptlings<br />
„Einsamer Wolf“, und der Tanz vorhin, das war<br />
der Schlangentanz der Apachen Indianer“.<br />
Erwin: „Das ist ja schön und recht, aber die<br />
Apachen leben doch im Südwesten der USA, und<br />
die Sioux im Nordosten!“<br />
Einsamer Wolf: „ Das Bleichgesicht ist gut<br />
informiert, aber der Geist im Baum hier, der war<br />
früher der Apachenkrieger Natchez, er begleitet<br />
mich jedes Mal beim Schlangentanz!“<br />
Das war eine Stufe zu hoch für den Erwin, und er<br />
sagte dem Wolf: „Und ich war früher der Kaiser<br />
Willhelm“.<br />
Wolf: „Ihr Bleichgesichter seid doch alle gleich,<br />
keine Ahnung was es auf der Welt gibt, Ihr seht<br />
ja nur einen Bruchteil da<strong>von</strong>, wir sind umringt<br />
<strong>von</strong> spirituellen Wesen, aber Ihr ignoriert sie alle,<br />
weil Ihr glaubt, Ihr wisst alles besser!“<br />
Erwin: „Also, mein lieber Wolf, mir genügend in<br />
dieser Siedlung bereits die lebenden Wesen, die<br />
sind ja alle verrückt, da brauche ich nicht noch<br />
unsichtbare Wesenheiten“.<br />
Erwin lief weiter und der Wolf rief ihm hinter her:<br />
„Sie werden noch an mich denken, Sie Ignorant,<br />
wenn hier einer spinnt, dann sind Sie es!“<br />
„Der ist ja völlig durchgedreht“, brummte Erwin<br />
vor sich hin. Dann hörte er aus dem Heim ein<br />
45
lautes Kreischen, eine splitternackte Frau<br />
rannte ihm entgegen, ihre schlappen Brüste<br />
hüpften wie Strümpfe an der Leine hin und her:<br />
„Ich bin ein Vogel, ich bin frei, juhu!“ rief sie<br />
fortlaufend. Hinter ihr rannten die beiden<br />
Schwestern, Monika und Ursula, und sie riefen:<br />
„Warten sie Frau Stirnimann, warten!!!!“<br />
Erwin glaubte zu träumen, ob er da im falschen<br />
Theater war? Ja, wenn diese Jasmin Stirnimann,<br />
statt 80, 20 Jahre zählen würde, ja, dann wäre<br />
das schon etwas anderes! Aber dieser<br />
Riesenarsch erinnerte ihn eher an ein<br />
Brauereipferd, und die leeren Brüste an Bilder<br />
aus der Sahelzone. Und das Schrumpfgesicht<br />
hätte gut zum Indianer gepasst. Nein, all das<br />
konnte ihn nicht aufgeilen, viel eher war das<br />
Stoff für einen Horrortraum. Aber der Spuk war<br />
noch nicht vorbei, während er zuschaute, wie die<br />
Schwestern die Frau Stirnimann in eine Decke<br />
einwickelten, erkennt er hinter sich eine bereits<br />
bekannte Stimme, Frau Birnbaum mit der Bibel in<br />
der rechten Hand: „Der Teufel hat Besitz <strong>von</strong> der<br />
Jasmin genommen, nur Jesus kann sie noch vom<br />
Höllenfeuer retten, und Sie, Herr Brunner, sollten<br />
sich schämen, der armen Frau wie ein Lustmolch<br />
zu folgen!“<br />
Erwin: „Sie sind doch eine freche Kuh, Frau<br />
Apfelbaum, die Jasmin rannte mir entgegen,<br />
46
nicht umgekehrt, zudem kann ich mit einem<br />
Zombie nichts anfangen!“<br />
Frau Birnbaum: „Ich heiße Birnbaum, und Sie<br />
sollten sich schämen, ich habe genau gesehen,<br />
wie Sie mit gierigem Blick, die arme Jasmin<br />
verfolgten, auch Sie werden in der Hölle<br />
schmoren!“<br />
Erwin: “Also, das wissen Sie somit so sicher, wie<br />
der Sonnenuntergang!“<br />
Frau Birnbaum: „Spotten Sie nicht, Sie Ketzer,<br />
zeigen Sie endlich Reue, Jesus verzeiht den<br />
Sündern!“<br />
Erwin: „ Was soll ich denn gesündigt haben, Sie<br />
dumme Plaudertasche, und wo war Ihr lieber<br />
Jesus, als meine Frau schwer krank war und<br />
starb?“<br />
Frau Birnbaum: „Gott ist gnädig, darum hat er<br />
Ihre Frau <strong>von</strong> ihren Beschwerden erlöst und zu<br />
sich geholt“.<br />
Erwin: „Wenn Sie das gnädig finden, dann gute<br />
Nacht, da bin ich schon lieber ein Ungläubiger!“<br />
Frau Birnbaum: „Satan weiche <strong>von</strong> mir!“<br />
Erwin: „So ein Blödsinn, als Atheist gibt es für<br />
mich auch keinen Teufel, haben Sie das noch<br />
nicht begriffen?“<br />
Frau Birnbaum: „Jesus hilf mir, ich bin vom<br />
Satan umkreist, hilf mir den Teufel vertreiben!“<br />
47
Erwin: „Ja, ich sehe ihn in Ihren Augen, ich<br />
mache mich jetzt lieber da<strong>von</strong>, sonst beginne ich<br />
auch noch zu spinnen!“ Die Schwestern führten<br />
Frau Stirnimann zurück ins Heim, während Frau<br />
Birnbaum böse Worte hinter dem Erwin<br />
nachschickte. Am Eingang traf er Frau Seiler, die<br />
eifrig mit Frau Amsler diskutierte, Erwin wollte<br />
sich zu Wort melden: „Bin ich hier in einem<br />
Irrenhaus, im Park trommelt ein verrückter<br />
Indianer, vor dem Haus rennt mir eine nackte<br />
Alte entgegen, dahinter eine Sektenspinnerin,<br />
welche mir einen Platz in der Hölle verspricht“.<br />
Frau Seiler: „Beruhigen Sie sich Herr Brunner,<br />
diese Leute haben ein Problem, seien Sie doch<br />
froh, dass Sie keines haben! Frau Stirnimann<br />
leidet an spontanen manisch-epileptischen<br />
Anfällen, sie wohnt dafür in der Pflegeabteilung.“<br />
Erwin: „Schön, und ich leide an temporären,<br />
erotisch manischen Anfällen“.<br />
Frau Seiler: „Machen Sie keine dummen Witze,<br />
ich kenne Ihre Probleme mit dem Alkohol, und<br />
machen Sie keine Dummheiten!“<br />
Erwin: „Ich denke, hier haben alle die gleichen<br />
Rechte!“<br />
Damit lief er weiter und wartete die Antwort gar<br />
nicht mehr ab.<br />
Erwin begab sich in die Cafeteria, dort lachte<br />
ihm die Frau Künzle entgegen, in Gedanken<br />
48
sagte er zu sich: „Diese Hexe werde ich wohl<br />
auch nicht mehr los werden“.<br />
Sie hatte eine aufdringliche Art, aber Erwin<br />
wollte nicht schon den bösen Mann spielen,<br />
daher setzte er sich zu ihr: „Ich schulde Ihnen<br />
noch eine ganze Menge Informationen“, sagte<br />
sie mit voller Überzeugung.<br />
„Sicher haben Sie bereits erfahren, dass<br />
morgens um 9 Uhr, Frau Seiler oder Frau Amsler,<br />
über das hausinterne Netz, eine Art <strong>von</strong><br />
Tagesbefehl oder Programm durchgeben.<br />
Auch Geburtstagswünsche, Todesnachrichten,<br />
besondere Anlässe und Besuche, diese<br />
Informationen gehen in jedes Zimmer, sofern das<br />
Mikrofon nicht ausdrücklich abgestellt wurde.<br />
Ferner findet man die Anschläge im Esszimmer,<br />
in der Cafeteria und beim Eingang.<br />
Heute um 17 Uhr, spielt die Heilsarmee auf dem<br />
Vorplatz, kommen Sie auch Herr Brunner?“<br />
Erwin: Das kann ich jetzt noch nicht sagen, wir<br />
werden ja sehen!“<br />
Erwin wollte endlich etwas Ruhe genießen und<br />
zog sich deshalb in sein Zimmer zurück. Im Haus<br />
gab es ja kaum einen Ort, wo man ungestört<br />
bleiben konnte, da war das Zimmer wie eine<br />
rettende Insel. „Nur nicht wieder dieser Frau<br />
Birnbaum begegnen“, sagte er zu sich.<br />
49
Ihr Auftritt wirkte wie ein Psychoterror, und<br />
darauf konnte er verzichten. Woher nahm diese<br />
Person das Recht her, ihn einfach so<br />
anzuquatschen und Drohungen auszusprechen?<br />
Ob er, der Erwin, sich da auch gewisse<br />
Freiheiten herausnehmen könnte? Nun ja, das<br />
werden wir ja bald einmal erfahren.<br />
Erwin befand sich immer noch tief in der<br />
Anpassungsphase, dass er sich nicht mehr um<br />
die tägliche Verpflegung kümmern musste, hatte<br />
durchaus auch Vorteile, zugleich war das aber<br />
auch ein Abstrich an seiner Lebensqualität, sich<br />
einfach um nichts mehr kümmern zu müssen,<br />
barg große Gefahren in sich, führte zu Lethargie<br />
und Passivität, aber mit Sicherheit auch zu<br />
einem beschleunigten Alterungsprozess.<br />
Von der Cafeteria begab sich Erwin in sein<br />
Zimmer, er benötigte eine dringende<br />
Abwechslung, weil auch der Irrsinn ansteckend<br />
wirkte. Kaum war er in seinem Refugium<br />
angekommen, meldete sich Frau Seiler im<br />
Lautsprecher: „Liebe Heimbewohner, ich<br />
ersuche Sie alle, sich um 16.45 auf den Vorplatz<br />
zu begeben, ab 17 Uhr bietet uns die<br />
Heilsarmeemusik ein Ständchen, ich erwarte,<br />
dass alle dabei sein werden, danke!“<br />
Das klang ja wie ein Befehl, dachte Erwin,<br />
50
aber er wollte hingehen, weil es eine kleine<br />
Abwechslung war. Die Gehbehinderten wurden<br />
<strong>von</strong> den Schwestern auf den Vorplatz geschoben,<br />
die bettlägerigen Leute in ihren Betten auf die<br />
Balkone geliftet, weil die Vorstellung ganz<br />
speziell diesen gewidmet war.<br />
Aber kaum jemand machte sich Gedanken<br />
darüber, dass die Heilsarmeeleute dafür ihre<br />
Freizeit opferten, und dafür keine Entschädigung<br />
erwarten konnten, allerdings kannte das Heim<br />
für solche Fälle eine spezielle Kasse. Das Geld<br />
ging aber nicht in die Taschen der Musiker,<br />
sondern war ausschließlich für gemeinnützige<br />
Zwecke bestimmt.<br />
Wie Erwin befürchtete, spielte die Musik<br />
vorwiegend religiöse und Endzeit schwangere<br />
Musik, und statt hochsommerliche, kam eher<br />
weihnachtliche Stimmung auf.<br />
Aber was soll es? Man musste den guten willen<br />
dieser selbstlosen Menschen anerkennen und<br />
das war ein Applaus wert.<br />
Nostalgiestimmung kam auf, und manche fragten<br />
sich, wer <strong>von</strong> ihnen in einem Jahr noch dabei<br />
sein konnte? Ein jedes Mal, wenn die Musik<br />
aufspielte, fehlten wieder einige Gesichter vom<br />
Vorjahr, aber sie wurden <strong>von</strong> neuen Gesichtern<br />
ersetzt, ob die Bläser das überhaupt realisierten?<br />
51
Die Lebensmühlen mahlten langsam aber sicher,<br />
es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen.<br />
Frau Seiler dankte im Namen aller<br />
Heimbewohner, und überreichte dem Oberbläser<br />
feierlich einen Umschlag. Dann wollte auch noch<br />
Frau Birnbaum das Wort ergreifen, mit der linken<br />
Hand streckte sie die Bibel hoch, und mit der<br />
echten Hand zeigte sie auf die vielen Teufeln um<br />
ihre Person herum. Das Heimpersonal führte sie<br />
vom Platz und damit konnte sie ihre Hasstiraden<br />
nicht anbringen.<br />
Die Vorstellung war um 17.35 beendet, und um<br />
18 Uhr war Nachtessen.<br />
Gerührt, manche mit Tränen in den Augen, zogen<br />
sich die Leute wieder ins Haus zurück.<br />
Am andern Morgen wachte Erwin leicht frustriert<br />
auf, er hatte den Eindruck, diese Anstalt wäre<br />
eine einzige Vorbereitungsstufe auf den Tod.<br />
Die Halbfreiheit und das kasernenähnliche Leben,<br />
war gewöhnungsbedürftig, er empfand plötzlich<br />
ein Engegefühl und permanente Bevormundung.<br />
Das begann mit den Mahlzeiten, Frühstück nur<br />
bis 9 Uhr, und was ist, wenn er um 10 Uhr<br />
frühstücken will? Da kriegt er wohl erst einen<br />
Anschiss <strong>von</strong> Frau Amsler, oder sogar einen<br />
Verweis. Nach dem Morgenessen, fühlte er sich<br />
wie ein eingefangener Mustang, er wollte<br />
ausbrechen, weg <strong>von</strong> hier!<br />
52
Am Mittwoch war Stammtischtag, also, auf und<br />
da<strong>von</strong>.<br />
Er zählte sein Taschengeld nach, das musste<br />
ausreichen für Bus und Eisenbahn! Auch damit<br />
musste er nun sehr knapp durch, die Heimkosten<br />
sogen alle seine Ersparnisse und auch die<br />
Renten auf. Mit dem monatlichen Taschengeld,<br />
konnte sich bestenfalls einmal im Monat zu<br />
seinen Stammtischkollegen begeben, mehr lag<br />
nicht drin, und das Bordell konnte er gänzlich<br />
vergessen. Wie sagte doch der Sozialhelfer der<br />
Gemeinde, als er ins Altersheim kam?<br />
Ah, ja: „ damit Sie keine erotische Triebe mehr<br />
plagen, wird man ihnen dort geeignete Tabletten<br />
verordnen“. Er sollte also zum Eunuchen<br />
umgewandelt werden! Er hatte einmal gehört,<br />
dass man das auch mit läufigen Hunden tat.<br />
Als er aus dem Gebäude lief, traf er den<br />
Hauswart, Jakob Grob an: „Jakob, ich melde<br />
mich bis heute Abend ab, kannst Du das weiter<br />
leiten?“<br />
„Da bin ich nicht zuständig, das muss man der<br />
Frau Amsler melden“, rief ihm der Jakob nach.<br />
Aber Erwin war schon weg und hörte gar nicht<br />
erst zu.<br />
Um 13.30 traf er bei seinen ehemaligen Kollegen<br />
ein, diese staunten nicht schlecht, als sie den<br />
Erwin erblickten. Und Erwin musste erzählen,<br />
53
wie seinerzeit als er Soldat wurde, natürlich<br />
übertrieb er noch etwas, und statt einem<br />
Indianer, gab es einen ganzen Stamm, und<br />
verrückte Mitbewohner fast eine Hundertzahl.<br />
Der Hanspeter rechnete dann aus, wenn so viele<br />
Irre dort lebten, musste ja der Erwin auch dazu<br />
zählen. Und Erwin wurde ernst: „Ihr glaubt es<br />
nicht, aber wenn man ständig um diese irren<br />
Leute sein muss, spinnt man am Ende selber<br />
auch!“<br />
Und seine ehemaligen Kollegen waren einhellig<br />
der Ansicht, Erwin habe in dieser kurzen<br />
Zeitspanne, bereits etwas <strong>von</strong> diesem Übel<br />
aufnehmen können!<br />
Diese Feststellungen nahm der Erwin aber<br />
durchaus nicht auf die leichte Schulter: „Recht<br />
habt Ihr, und will Euch verraten, dass ich<br />
wirklich daran denke, wieder auszuziehen“.<br />
Die Kollegen schauten sich gegenseitig fragend<br />
an. Und weil der Erwin Ehrengast war, gingen<br />
alle Getränke auf Kosten der Kollegen.<br />
Um 17 Uhr, musste Erwin den Rückweg antreten,<br />
er hatte sich die Fahrzeiten <strong>von</strong> der Serviererin<br />
aufschreiben lassen. Da machte ihm der Roland<br />
einen Vorschlag: „ Bleib noch eine Stunde, dann<br />
fährt Dich meine Frau ins Altersheim, ich komme<br />
mit, mit meinen Promillen kann ich leider nicht<br />
mehr ein Auto steuern!“ Das war ein Angebot,<br />
54
und so fuhr die Marianne schließlich gegen 18.30<br />
an, den mittelschwer angetrunkenen Erwin,<br />
konnte sie und Roland, um 19.30 in seinem Heim<br />
absetzen.<br />
Und im Korridor begegnete er der Frau<br />
Birnbaum:“ Verschwinde Du alte Hexe“ rief er ihr<br />
entgegen. „Sie sind ja betrunken, sie<br />
Unhold“ entgegnete sie ihm frech.<br />
Erwin: „Ich bin der Sioux Häuptling „Wilder<br />
Hengst“ und der große Manitu ist mein Gott“.<br />
Frau Birnbaum: „ Jetzt sind Sie aber wirklich<br />
vom Teufel besessen, Satan geh mir aus dem<br />
Weg!“<br />
Der Lärm ließ einige Bewohner aufkreuzen,<br />
aber auch Schwester Monika und Frau Amsler,<br />
erkundigten sich nach dem Problem.<br />
Während Frau Birnbaum ein wirres Gebet vom<br />
Stapel ließ, lallte Erwin: „Diese Apfelbirne wollte<br />
mich beleidigen, sie nannte mich den wahren<br />
Teufel“.<br />
Frau Amsler: „Das dürfen Sie nicht persönlich<br />
nehmen, Frau Birnbaum ist eben sehr religiös“.<br />
Erwin: „Religiös, das ist aber ein milder<br />
Ausdruck für eine Verrückte!“<br />
Frau Amsler: „ Herr Brunner, seien Sie froh, sind<br />
wenigstens Sie noch normal, und jetzt gehen alle<br />
in ihre Zimmer, mit Ihnen Herr Brunner habe ich<br />
noch etwas zu besprechen“.<br />
55
Erwin: „Sprechen Sie nur los, Sie Vogel, Amseln<br />
sind doch Vögel, oder nicht?“<br />
Frau Amsler: „ Ich bitte um mehr Respekt, Herr<br />
Brunner, zudem haben Sie sich heute nicht<br />
abgemeldet, und jetzt sind Sie alkoholisiert<br />
zurück, das darf nicht mehr passieren, ich hoffe,<br />
wir haben uns verstanden, Herr Brunner!“<br />
Erwin: „Das stimmt nicht, ich habe mich beim<br />
Jakob Grob abgemeldet, aber der Kerl hat das<br />
vermutlich nicht weiter geleitet“.<br />
Frau Amsler: „Der Hauswart ist nicht dafür<br />
zuständig, das müssen Sie mir oder einer<br />
Schwester melden.“<br />
Erwin: „ Da war aber keine weit und breit zu<br />
erreichen und ich musste mich beeilen, damit<br />
ich den Vorortsbus noch schaffen konnte.“<br />
Frau Amsler: „Gut, aber beim nächsten Mal gibt<br />
es Strafpunkte ab!“<br />
Erwin: „Ah ja, ich verstehe, Strafexerzieren und<br />
Kampfbahn, wie im Militär!“<br />
Frau Amsler:“ Nein, nicht ganz, aber zum<br />
Beispiel Cafeteriadienst, Parkreinigung und<br />
dergleichen, da sind Sie doch Meister!“<br />
Erwin: „ Danke, Sie können mir doch“.<br />
Und Erwin lief weg in sein Zimmer.<br />
Frau Amsler ging mit leicht gerötetem Gesicht in<br />
ihr Büro zurück: “Nur nicht aufregen“, murmelte<br />
56
sie vor sich hin. Sie überlegte sich, ob sie den<br />
Vorfall mit Frau Seiler besprechen sollte?<br />
Auch diese Frau Birnbaum sorgte täglich für<br />
Ärger, ob die wohl reif für das Irrenhaus war?<br />
Das war eine eher heikle Frage, Glaube und alles<br />
was mit Religion zu tun hat, ist eine heilige Kuh,<br />
das konnte man täglich erleben, und es konnte<br />
lebensgefährlich werden, Religionsfanatiker als<br />
verrückt zu erklären. Selbst<br />
Sittlichkeitsverbrechen, waren unter dem Mantel<br />
der Religiosität, bis vor kurzer Zeit noch ein<br />
Tabu!<br />
Auch wenn es offensichtlich war, dass Frau<br />
Birnbaum geistige Störungen aufwies, solche<br />
wie sie, gab es noch unzählige, und sie alle<br />
einsperren, das war ein Ding der Unmöglichkeit.<br />
Und der Erwin befand sich noch in der Probezeit<br />
und Anpassungsperiode, am Anfang sind viele<br />
Senioren etwas störrisch!<br />
Bei den „hohen Tieren“ figurierte Frau Seiler<br />
ganz oben, aber da war noch der Verwalter der<br />
gesamten Liegenschaft, inklusive aller<br />
Nebengebäude, Park, Hof und Gärten, ein<br />
gewisser Albert Haller. Dieser war beinahe so<br />
schwierig zu sprechen, wie der heilige Vater in<br />
Rom, aber an schönen sonnigen Tagen konnte<br />
man ihm im Park begegnen, mit einer dicken<br />
Zigarre im Mundwinkel. Den Erwin kannte er<br />
57
noch aus der Zeit, als dieser bei der Gemeinde<br />
angestellt war, und sich um die öffentlichen<br />
Blumenanlagen kümmerte. Sie waren aber nicht<br />
per „DU“, weil der Albert, als „eidg. dipl.<br />
Immobilientreuhänder“, einer höheren Gilde<br />
angehörte, er zählte sich zum vornehmen<br />
Mittelstand. Und seinen Stand unterstrich er mit<br />
einer eigenen Villa und einem BMW in der<br />
Garage. Aber Albert hatte noch eine<br />
proletarische Ader, sein Vater war seinerzeit<br />
Fabrikarbeiter, und er musste sich mühsam nach<br />
oben arbeiten. Erst eine Lehre als Schlosser,<br />
danach noch eine kaufmännische<br />
Ausbildung, die es ihm später ermöglichte, einen<br />
höheren eidgenössischen Titel zu kriegen.<br />
Dann begann er auf einem Büro der<br />
Liegenschaften Branche, wurde Prokurist und<br />
schließlich Geschäftsleiter. Und jetzt schiebt er<br />
mit 63, eine etwas ruhigere Kugel um das<br />
Altersheim Sonnenschein. Erwin kam, nach einer<br />
Gehirnwäsche mit Frau Künzle, aus der Cafeteria<br />
und wollte im Park etwas Luft schnappen. Was<br />
diese Frau Künzle nicht alles wusste: Frau Gina<br />
Brocoli, hatte nicht nur Heimweh nach „Bella<br />
Italia,“ sondern litt auch noch an einer schwerer<br />
Demenz, Adelheid Morger kam schon mit MS ins<br />
Heim, Brigitte Thoma und Frau Irma Munsch<br />
litten an Alzheimer,<br />
58
die Berta Schönenberger und auch Sarah Müller<br />
mussten ihre Brüste entfernen lassen, und beide<br />
tragen Perücken. Gilberte Übersax und Martha<br />
Hungerbühler, ließen sich ihre Gesichter „liften“.<br />
Ursula Schmied hat vorgestern ihre dritten<br />
Zähne irrtümlich in den Mülleimer geworfen, nun<br />
muss sie auf Ersatz warten. Heidi Steiner, ist<br />
eigentlich Millionärin, als ihr Mann, ein<br />
Bankdirektor, starb, vermachte er sein ganzes<br />
Vermögen ihr, nun leidet sie aber an einer<br />
schweren Form <strong>von</strong> Parkinson, das Vermögen<br />
wird nun vom Vormund verwaltet, sie braucht<br />
sich keine Sorgen zu machen, ihr Vermögen<br />
erlaubt ihr einen Aufenthalt im Sonnenschein bis<br />
zum 125. Lebensjahr! Und Diana Liebermann,<br />
Sonia Peter und Annemarie Dubach, bildeten<br />
einen spirituellen Zirkel, sie sind die<br />
friedlichsten Heimbewohnerinnen! All das ging<br />
dem Erwin durch den Kopf, als er im Park<br />
plötzlich den Albert Haller antraf: „Guten Tag<br />
Herr Haller“, sagte er eher förmlich. „Ach was,<br />
Sie sind auch da“,<br />
antworte jener etwas lässig. „Erwin: „Ja, aber<br />
als Heimbewohner, nicht beruflich wie Sie“.<br />
„Das ist mir bewusst, Herr Brunner“ erwiderte er,<br />
im Ton wie ein General zu seinem Gefreiten.<br />
Dann kam der Haller gleich zum Thema: „Herr<br />
Brunner, Sie sind genau der richtige Mann für<br />
59
unsere Gartenanlage, und ich zahle Ihnen auch<br />
einen guten Lohn dafür“.<br />
Erwin: „ Da ist doch dieser Schlatter zuständig,<br />
oder nicht?“<br />
Haller: „ Ja schon, aber Sie sind ein Profi, und<br />
direkt mir unterstellt!“<br />
Erwin: „Da sehe ich aber schwarz, der spielt<br />
doch den Chef heraus“.<br />
Haller: „Kein Problem, versuchen Sie es einfach<br />
einmal, ich werde mit ihm reden“.<br />
Erwin: „Gut, ich werde erst einmal die Rosen<br />
dort drüben schneiden, die sehen ja fürchterlich<br />
aus“.<br />
Haller: „Holen Sie sich die Werkzeuge im<br />
Gerätehaus, und schreiben Sie einfach die<br />
Zeit auf, am Ende eines Monats rechen wir dann<br />
ab“.<br />
Erwin: „Gut, morgen Nachmittag werde ich es<br />
versuchen“.<br />
Haller: „Sehr gut Herr Brunner, das freut mich,<br />
ich werde den Hauswart noch anweisen, Ihnen<br />
die Werkzeuge auszuhändigen“.<br />
Erwin verabschiedete sich vom A. Haller, er<br />
hatte nun den Segen <strong>von</strong> ganz oben, und der<br />
Schlatter wird sicher echt dumm dreinschauen,<br />
wenn er das erfährt.<br />
Am folgenden Nachmittag, war Erwin tatsächlich<br />
mit Eifer und voller Konzentration am<br />
60
Rosenstöcke zurechtschneiden. Er tat das<br />
professionell und mit Überzeugung, bisher<br />
wurden diese Stöcke stümperhaft geschnitten,<br />
das zeigte sich an den Blüten, weil die Äste zu<br />
lang waren, wurden die Rosen weniger groß und<br />
üppig! Als er schon bald am Ende der Anlage<br />
eintraf, erschien plötzlich der Schlatter und zog<br />
sogleich mit seiner Besserwisserei drauflos: „Sie<br />
schneiden die Rosenstöcke ja viel zu knapp, sie<br />
benötigen dann eine Ewigkeit, bis sie wieder<br />
grün sind und blühen“.<br />
Das war zuviel für Erwin: „Sie verdammter Idiot,<br />
Sie haben ja keine Ahnung wie man Rosen<br />
richtig schneidet, hauen Sie ab, sonst nehme ich<br />
Sie in die Mange!“<br />
Schlatter: „Ich verbiete Ihnen diesen Ton, ich bin<br />
der Chef hier und nicht Sie, ein dahergelaufener<br />
Alkoholiker!“<br />
Erwin: „Du elendes Arschloch, hier die Schere,<br />
mach weiter, mich wirst Du nie mehr hier an der<br />
Arbeit antreffen, Du eingebildeter Dummkopf!“<br />
Eigentlich wollte er dem Schlatter noch eine<br />
runter hauen, aber er ließ es beim Wortschatz.<br />
Damit war die handwerkliche Vorstellung im<br />
Heim, für den Erwin ein für alle Male<br />
abgeschlossen, die knappe Stunde Arbeit wollte<br />
er dem Sonnenschein schenken. Er benötigte<br />
nun einen starken Kaffee,<br />
61
den es in der Cafeteria nur halbherzig gab, jetzt<br />
war er es, der welcher der Frau Künzle eine<br />
Geschichte erzählte, die vom Gärtnermeister,<br />
welcher vom Rosenschneiden keine blasse<br />
Ahnung hatte. Er war sich der Sache sicher, am<br />
folgenden Tag wussten alle Bescheid. Und ihm,<br />
dem Gemeindegärtner <strong>von</strong> früher, glaubte man<br />
sicher. Zudem war dieser Schlatter für ihn<br />
gestorben, fortan war der für ihn Luft oder noch<br />
weniger. Und er befand sich hier im Ruhestand<br />
und nicht auf Arbeitssuche, soll sich der<br />
Besserwisser Schlatter doch einen dümmeren<br />
suchen. Um 17 Uhr war Turnen angesagt, da<br />
wollte er schauen, was man so für Übungen<br />
anbot. Verlangt war ein Trainingsanzug, Erwin<br />
benutzte diesen aber als Pyjama, aber das<br />
spielte wohl keine große Rolle.<br />
Als Vorturnerin wirkte Schwester Emma, sie war<br />
etwas vollschlank und wollte so vermutlich<br />
abnehmen?<br />
Im Saal befanden sich gerade einmal sechs<br />
Insassen, auch zwei in Rollstühlen, bei den<br />
Armübungen konnten Letztere munter<br />
mitmachen, bei den Beinübungen mussten sie<br />
natürlich passen. Erwin machte etwas<br />
oberflächlich mit, seine Arm und Beinarbeit<br />
ließen zu wünschen übrig, er war müde<br />
geworden, eine Stunde Arbeit,<br />
62
ging eben nicht spurlos an ihm vorbei. Und mit<br />
75 ist man nicht 25, das muss man nun einmal<br />
akzeptieren, wer das ignoriert, betrügt sich<br />
selber. Die Trainingsleiterinnen sind angewiesen,<br />
keine Höchstleistungen zu verlangen, wichtig ist<br />
die Teilnahme. Jene, welche am Turntraining<br />
regelmäßig teilnehmen, und auch täglich<br />
mindestens 20 Minuten spazieren gehen, sind<br />
einhellig der Ansicht, dass ihnen diese Tätigkeit<br />
gut tut, und dass sie dadurch auch noch besser<br />
schlafen. Dabei ist der Wanderweg, welcher am<br />
kleinen Bach entlang führt, ganz besonders<br />
beliebt. Auch die Alzheimer und Demenzträger,<br />
finden so meistens den Nachhauseweg wieder,<br />
weil sie einfach dem Bachweg entlang laufen<br />
müssen, bis sie wieder vor dem Heim stehen.<br />
Am späten Abend herrscht Aufregung im Heim,<br />
Frau Judith Morgenbesser, ist überfällig, sie ging<br />
um 14 Uhr aus dem Gebäude, zuletzt wurde sie<br />
am Bachweg gesehen. Frau Morgenbesser hatte<br />
Alzheimer, Diabetes und Inkontinenz, es war<br />
bekannt, dass sie oft austreten musste und sich<br />
im Gebüsch erleichterte. Und obwohl der Bach<br />
relativ wenig Wasser führte, konnte eine betagte<br />
Frau <strong>von</strong> 86 Jahren, doch darin ertrinken. Um 21<br />
Uhr wurde Alarm ausgelöst, sechs Angestellte<br />
begaben sich mit Taschenlampen und einer<br />
Tragbare auf die Suche. Gleichzeitig wurde auch<br />
63
die Polizei alarmiert. Abwechslungsweise wurde<br />
in die Nacht hinaus gerufen: „Frau<br />
Morgenbesser!“ Aber nur die Kröten und Frösche<br />
antworteten <strong>von</strong> den Bachufern her, <strong>von</strong> Frau<br />
Morgenbesser keine Spur!<br />
Dann klingelte plötzlich das Handy <strong>von</strong> Herrn<br />
Grob, am anderen Ende sprach Frau Amsler, Frau<br />
Morgenbesser sei soeben <strong>von</strong> der Polizei bei ihr<br />
abgeliefert worden, man möge doch schnellstens<br />
zurück finden.<br />
Frau Morgenbesser war gut fünf Kilometer<br />
gelaufen, als sie völlig erschöpft auf eine Bank<br />
sank und dort wartete. Die Wanderer wurden auf<br />
sie aufmerksam, als sie fromme Lieder sang.<br />
Sie konnte aber nicht sagen, wo sich ihr<br />
Zuhause befand. Da alarmierte ein Passant die<br />
Polizei, und diese erkannte sogleich die<br />
Vermisste vom Altersheim. Damit war die Welt<br />
im Sonnenschein wieder in Ordnung, zumindest<br />
bis zum nächsten Zwischenfall.<br />
Erwin war nun bereits seit zwei Wochen im<br />
Altersheim, und er hatte in dieser kurzen Zeit<br />
schon sehr viel <strong>von</strong> seiner Selbstständigkeit<br />
eingebüßt. Es war wie ein lautloser Tod, der sich<br />
ihm da näherte, keine Eigenverantwortung mehr,<br />
nur noch Weisungen und Anordnungen befolgen.<br />
Erwin vermisste die Freiheit, seine<br />
Stammtischkollegen, den Alkohol, und ab und zu<br />
64
einen Ausflug ins Bordell. Es war die<br />
Abwechslung, welche ihm das Leben vorher bot,<br />
und darauf sollte er nun für immer verzichten,<br />
denn hier war Endstation, wer das Heim verließ,<br />
tat dies unfreiwillig, und meistens in einer<br />
rechteckigen Kiste.<br />
Wo waren die Kinder, die Jungendlichen, und die<br />
vielen Menschen im arbeitsfähigem Alter<br />
geblieben?<br />
Nur noch diese Greise und Kranken um sich, die<br />
einen auch nicht positiv motivieren konnten,<br />
sondern vielmehr negativ. Und immer wieder<br />
diese Gespräche über Gebrechen und Leiden,<br />
das musste ja abfärben!<br />
Am Vortag traf er den Heinrich Loser im Park,<br />
sie saßen den ganzen Nachmittag auf einer Bank<br />
und durchsprachen ihr Leben.<br />
Sie hatten etwas gemeinsam, beide verloren ihre<br />
Gattinnen infolge Krebsleiden!<br />
Heinrich Loser begann wieder mit seiner<br />
Prostataoperation: „Noch ist unklar, ob mein<br />
Prostatageschwür gut- oder bösartig war. In<br />
unserem Alter eilt das ja anscheinend nicht mehr.<br />
Ich bin auf alles gefasst, und ich bin fest da<strong>von</strong><br />
überzeugt, dass ein Organ, welches man brach<br />
liegen lässt, viel eher krebsanfällig ist. Das war<br />
nämlich so, meine Veronika und ich, ja, wir<br />
hatten schon seit 20 Jahren kein Intimleben<br />
65
mehr. Und was ist geschehen, Veronika starb an<br />
einem Unterleibskrebs, ich bin fest da<strong>von</strong><br />
überzeugt, wenn wir beide auch nur einmal die<br />
Woche intim gewesen wären, sie würde noch<br />
immer leben, und ich hätte auch kein<br />
Prostatageschwür gehabt!“<br />
Erwin: „Das kannst Du aber nicht beweisen,<br />
sondern nur ahnen, und noch eine Frage, Du<br />
sprichst recht gebildet, warst Du Anwalt?“<br />
Heinrich: „Nein, nicht ganz, ich war Lehrer,<br />
Primarlehrer in der Oberstufe.“<br />
Erwin: „ Ach ja, und ich dachte schon, hier gibt<br />
es lediglich ein intellektuelles Proletariat?“<br />
Heinrich: „Da liegst Du leider nicht falsch,<br />
deshalb verbringe ich die meiste Zeit in der<br />
Bibliothek, oder in meinem Zimmer, dort kann<br />
ich mir klassische Musik abspielen lassen, und<br />
es lenkt auch etwas ab!“<br />
Erwin: „ Recht hast Du, ich traf bisher fast nur<br />
verrückte an, gestern, zum Beispiel, kommt mir<br />
in der Cafeteria eine Frau mit ihrem Tablett<br />
entgegen, plötzlich wirft sie mit lauten halleluja<br />
das ganze zur Decke hoch, Frau Moni lacht nur<br />
und wischt das Zeug auf.“<br />
Heinrich: „Das war die Frau Annamarie Dubach,<br />
sie leidet an manischen Depressionen, wenn sie<br />
ein Hoch verzeichnet, kann es vorkommen, dass<br />
sie die Suppe zur Decke hoch schmeißt. Sonst<br />
66
ist sie aber völlig harmlos, darum lässt man sie<br />
gewähren“.<br />
Erwin: „ Ja, ob man mich auch gewähren lässt,<br />
wenn ich einmal einen Ausrutscher habe?“<br />
Heinrich: „ Bei uns Männern liegt die<br />
Schmerzgrenze weiter unten, hier haben wir es<br />
eben mit einem Frauenregiment zu tun“.<br />
Erwin: „Diesen Eindruck habe ich auch<br />
bekommen, man hält uns doch eher für<br />
impotente Eunuchen, Waschlappen und Zombies.<br />
Wir werden ja sehen, wenn ich auch einmal so<br />
eine manische Depression kriege, ob man mir<br />
dann kündigt?“<br />
Heinrich: „Das würde ich gar nicht erst<br />
versuchen, vor einem halben Jahr wurde der<br />
Erich weg gewiesen, angeblich griff er der Frau<br />
Künzle an die beiden Brüste. Gesehen hat das<br />
aber niemand, und wir zweifeln an deren<br />
Richtigkeit, aber Frau Seiler kennt da kein<br />
Pardon, Erich lebt nun wieder draußen, er<br />
schlägt sich recht gut durch“.<br />
Jetzt beginnt Heinrich <strong>von</strong> seiner Zeit als Lehrer<br />
zu erzählen; „Bin ich froh, nicht mehr<br />
unterrichten zu müssen, früher, da war ein<br />
Lehrer noch eine Respektsperson, sowohl bei<br />
den Kindern, wie auch bei den Eltern und<br />
Behörden, das hat sich alles geändert, heute ist<br />
der Lehrer der Prügelknabe für alles!<br />
67
Und wenn er auch nur mit der Hand einen<br />
leichten Klaps versetzt, ist er seine Stelle schon<br />
los. Für die Schüler ist er der Clown, für die<br />
Eltern der Schuldige, wenn ihre Sprösslinge<br />
versagen und für die Behörde ein<br />
Manipulierobjekt, das man willkürlich<br />
umherdirigieren kann. Du darfst mir glauben,<br />
lieber würde ich auf dem Bau arbeiten, als<br />
nochmals Lehrer zu spielen, wenn ich noch<br />
einmal <strong>von</strong> vorne beginnen müsste.“<br />
Erwin: „Nun ja, Du bist ja in der glücklichen Lage,<br />
es nicht mehr wiederholen zu müssen!“<br />
Heinrich: „Du warst doch Gärtnermeister, das<br />
wäre auch noch ein Job im nächsten Leben!“<br />
Erwin: „Ich würde das wieder erlernen, der<br />
Kontakt mit der Natur, den Blumen, ist etwas<br />
Herrliches! Die Blumen enttäuschen Dich nie,<br />
besonders die Rosen, die sind nun einmal die<br />
Königinnen aller Blumen in unseren<br />
Breitengraden, und ihre Farben und die Parfüms<br />
sind einmalig. Und sie wissen die gute Pflege zu<br />
schätzen, sie belohnen das mit einer grandiosen<br />
Blütenpracht, welche oft während Monaten<br />
anhält! Auch Pflanzen und Blumen sind<br />
Lebewesen, und Du kannst mit ihnen mental<br />
sprechen, wenn sie Dich mögen, dann zeigen sie<br />
es Dir, mit einem einmaligen Blütenzauber. Und<br />
wie alle Lebewesen, riechen sie erst dann<br />
68
schlecht, wenn sie verfault der Erde übergeben<br />
werden.“<br />
Heinrich: „Das hört sich sehr interessant an, ich<br />
denke, Deine Arbeit brachte mehr Dankbarkeit<br />
als die meine!“<br />
Erwin: „Das nehme ich auch an, wenn Du mit der<br />
Natur lebst und arbeitest, bist Du dem realen<br />
Leben viel näher, als etwa beim Ungang mit dem<br />
Menschen, der sich immer weiter <strong>von</strong> der Natur<br />
entfernt.“<br />
Hermann: „Richtig, deshalb gingen früher viele<br />
Lehrer mit den Kindern in die Natur hinaus, in die<br />
Wälder und die Seeufer, aber das wurde im Lauf<br />
der Zeit abgeschafft, weil man die Kinder nur<br />
noch mit totem Wissen voll stopfen will, aber das<br />
ist ein großer Irrtum, die Natur kann man nicht<br />
überspringen, und auch nicht ignorieren, auch<br />
der Mensch ist ein integrierter Teil da<strong>von</strong>, wer<br />
das nicht wahrhaben will, muss eines Tages<br />
dafür bitter büßen!“<br />
Erwin: „Das sehe ich auch so, aber leider sind<br />
da viele Leute anderer Ansicht, und es sieht<br />
absolut nicht gut aus für unsere Jugend!“<br />
Heinrich: „Es hat mich gefreut, unsere<br />
Unterhaltung war sehr interessant, wir werden<br />
uns hier sicher noch oft treffen wenn Gott will,<br />
nun muss ich noch den Meier 12 aufsuchen, er<br />
will mir eine Geschichte <strong>von</strong> früher erzählen, und<br />
69
ich sei der erste Mensch, dem er dieses<br />
Geheimnis anvertraue, da muss ich doch wohl<br />
oder übel mitmachen, vermutlich geht es wieder<br />
um einen Doppelmord!“<br />
Erwin: „Ja sicher, den er natürlich alleine gelöst<br />
hat“<br />
Hermann: „Er ist ja nicht bösartig, aber<br />
manchmal mühsam, weil er wirklich glaubt, was<br />
er sagt“.<br />
Erwin: Dann noch einen schönen Rest“<br />
Hermann: „Danke gleichfalls und ein andermal“<br />
Langweilig wurde es nie im Heim, kaum ein Tag<br />
ohne einen Zwischenfall, und so erlebte Erwin<br />
auch an diesem Abend wieder eine Abwechslung.<br />
Während dem Nachtessen gerieten Frau<br />
Birnbaum und Frau Künzle aneinander. Obwohl<br />
der Frau Birnbaum ein kleiner Einzeltisch<br />
zugewiesen war, konnte sie es nicht unterlassen,<br />
wieder einmal ihr Evangelium zu verkünden: „Um<br />
mich habe ich nur Antichristen und Ketzer, ihre<br />
werdet alle ein sehr böses Ende nehmen, und in<br />
aller Ewigkeit in der Hölle schmoren.“<br />
Das ist nicht richtig Frau Birnbaum,<br />
argumentierte Erwin: „Daran müssen Sie uns<br />
nicht jeden Tag erinnern, wir sind uns doch alle<br />
bewusst, dass wir hier auf unserer aller letzen<br />
Station im Leben befinden, auch Sie Frau<br />
Birnbaum. Und der „Einsame Wolf“ kommt in die<br />
70
ewigen Jagdgründe, das ist das Indianerparadies.<br />
Und die Gina Brocoli in den Spaghettihimmel“.<br />
Frau Birnbaum: „Mit Ihnen habe ich nicht geredet,<br />
Herr Brunner, Sie sind der Satan in Person“.<br />
Da meldet sich Frau Künzle: „Aber Frau<br />
Birnbaum, so was dürfen Sie doch nicht sagen,<br />
das können Sie doch gar nicht beurteilen“.<br />
Jetzt wird Frau Birnbaum noch aggressiver, sie<br />
macht rundum Schläge und zu Frau Künzle: „Sie,<br />
Frau Künzle, sie sind die perfekte Hexe, eine<br />
Ausgeburt der Hölle!“ Dabei wirft sie der Frau<br />
Künzle die Bibel mitten ins Gesicht, Frau Künzle<br />
blutet aus der Nase, hält sich eine<br />
Papierserviette vor die Nase und rennt in die<br />
Toilette.<br />
Nun erscheint auch Frau Amsler mit zwei<br />
Schwestern, sie führen Frau Birnbaum ins Büro<br />
der Frau Seiler. Dieser Übergriff wiegt schwer,<br />
aber Frau Birnbaum führt Provokation ins Feld,<br />
Sie lebe gänzlich im Einklang mit der Lehre <strong>von</strong><br />
Jesus und es seien die andern, welche<br />
Schwierigkeiten machten. Frau Seiler ruft auch<br />
die drei Schwestern aus dem Esszimmer zu sich,<br />
aber viel können auch sie nicht zur Klärung<br />
beitragen. Die Hetztiraden der Frau Birnbaum<br />
sind bekannt. Frau Seiler droht ihr jetzt aber mit<br />
einer möglichen Einweisung in eine<br />
psychiatrische Anstalt an, Frau Birnbaum<br />
71
eagiert mit Empörung, dass der jüngste Tag<br />
bald komme und dann alle die Sünder aus dem<br />
Sonnenschein, ein elendes Ende<br />
erdulden müssen. Frau Seiler hat aber genug:<br />
„Sie sorgen täglich für Unfrieden im Haus,<br />
das können wir nicht länger tolerieren, Frau<br />
Birnbaum, ich muss Sie der<br />
Vormundschaftsbehörde melden, diese wird<br />
dann entscheiden, was mit ihnen geschehen<br />
soll.“<br />
„Das sind alles Antichristen und Ungläubige,<br />
Jesus wird sich ihnen nicht beugen“, antwortete<br />
Frau Birnbaum. Und Sie hatte noch mehr auf<br />
Lager: „Fluch und Schande wird auf Sie<br />
zukommen, auch Sie werden in der Hölle<br />
schmoren, die Menschheit ist schlecht, grausam<br />
und krank“.<br />
„Sie sagen es, und jetzt gehen Sie bitte auf Ihr<br />
Zimmer“, sagte Frau Seiler und wies Frau<br />
Birnbaum die Tür.<br />
Diese Birnbaum war ein harter Brocken, als Frau<br />
Seiler einmal den Dorfpfarrer betsellte, weil sie<br />
hoffte, dieser hätte mehr Einfluss auf die<br />
Birnbaum, empfing sie ihn mit Schimpf und<br />
Schande, bezeichnete ihn als Verräter am<br />
Christentum und als elenden Ketzer!<br />
72
Andererseits waren die psychiatrischen<br />
Anstalten auch nicht sehr geneigt, religiöse<br />
Spinner aufzunehmen, schließlich herrschte<br />
Glaubens- und Gewissensfreiheit, und darunter<br />
war ein breites Spektrum <strong>von</strong> Abarten und<br />
Perversionen eingeschlossen. Und aus religiösen<br />
Motiven, wurden nur in den ausgesuchten<br />
Diktaturen Menschen hinter Gitter versetzt,<br />
niemals aber in einer echten Demokratie!<br />
Die Situation war für alle beteiligten sehr<br />
kritisch zu beurteilen und es gab kaum eine gute<br />
Lösung dafür. Für einmal war Erwin nicht<br />
involviert, und er konnte sich als passiver<br />
Zuseher betätigen.<br />
Am nächsten Morgen erklang die<br />
Geburtstagsmelodie „Happy birthday.....“<br />
und das Geburtstagskind hieß: „Maria Hurni“<br />
oder die schöne Maria, sie feierte heute ihr 85.<br />
Lebensjahr! Bekanntlich litt die Maria an<br />
Inkontinenz, oder einfacher ausgedrückt, an<br />
schwachen, unkontrollierbaren Muskelgeweben<br />
bei der Harnblase und am Darmausgang. Eine<br />
äußerst üble Sache, aber sonst war sie noch bei<br />
ordentlich guter Gesundheit.<br />
Und die schöne Maria hatte ihren Übernamen<br />
nicht umsonst gehabt, in jungen Jahren war sie<br />
Air Hostess bei der nationalen Fluggesellschaft.<br />
73
Weil aber unter Hostess, oft falsche<br />
Vorstellungen aufkamen, wurde dieser Job bald<br />
einmal in Stewardess umgetauft, als dann auch<br />
an dieser Bezeichnung Kritik aufkam, ging man<br />
zum „Flight Attendant“ über, oder Flugbegleiterin.<br />
Und wie immer man es nennen wollte, die Arbeit<br />
war immer die gleiche, eine Servierfrau in der<br />
Luft.<br />
Die schöne Maria war sehr begehrt, sowohl bei<br />
den Passagieren, wie auch bei den Piloten. Aber<br />
sie verkaufte ihre Schönheit teuer,<br />
möglicherweise zu teuer?<br />
Natürlich war der Mann, den sie heiraten wollte,<br />
bereits mit einer anderen Frau verheiratet. Und<br />
anstatt ihre jungen Jahre zu genießen,<br />
verstrickte sie sich in ein jahrelanges<br />
Liebesdrama, aus welchem sie als Siegerin<br />
hervorgehen wollte. Sie brachte es fertig, den<br />
Prinzen, den sie nun einmal haben wollte, hörig<br />
werden zu lassen!<br />
Eine jahrelange und unheilvolle Kampfscheidung<br />
war dann die Folge, eine Abfindung an Frau und<br />
Kinder, die den Piloten nahezu in den Konkurs<br />
trieben, und darüber hinaus noch den ewigen<br />
Fluch seiner Ex-Frau im Nacken!<br />
Endlich konnte die Maria ihren Helmut ehelichen,<br />
der Honig Mond verlief, wie bei den meisten<br />
Paaren, zur beiderseitigen Befriedigung aus.<br />
74
Helmut wurde zum Flugkapitän befördert, und<br />
alles schien in bester Ordnung!<br />
Maria wollte ein Kind haben, sie quittierte ihren<br />
Job als Flugbegleiterin, führte den Haushalt,<br />
noch konnte sich Helmut kein eigenes Haus<br />
Leisten, deshalb mietete er sich eine Villa an<br />
guter Lage. Aber nach einem Jahr war Maria<br />
immer noch nicht schwanger geworden, und das<br />
Problem lag eindeutig bei ihr, Helmut hatte ja<br />
bereits zwei Kinder mit der Ex gezeugt.<br />
Wie bei den Kühen, ordnete der Arzt an, wie oft<br />
am Tag, die beiden verkehren sollten und auch in<br />
welcher Stellung! Aber es brachte keinen Erfolg.<br />
Jetzt versuchte es der Arzt mit einer hormonalen<br />
Kur, angeblich mit 80% Erfolgschancen.<br />
Helmut war nicht abergläubisch, aber der Fluch<br />
seiner Ex machte ihm trotzdem zu schaffen, und<br />
er traute sich der Maria an, aber diese lachte nur<br />
und schob das Ganze ins Reich des<br />
Aberglaubens.<br />
Die Kur war noch nicht abgeschlossen, als sich<br />
alles änderte, Helmut flog mit seiner DC8, einen<br />
regnerisch-stürmischen Flughafen an, es war<br />
ihm nicht wohl dabei, aber er befand sich bereits<br />
zu tief unten um wieder durchzustarten, also<br />
riskierte er die Landung bei Sturm und Regen!<br />
Die Landung missglückte, sein Flugzeug wurde<br />
<strong>von</strong> der Piste weggefegt, rammte ein dort<br />
75
parkiertes Flugzeug! Fazit; sechs tote<br />
Passagiere, rund 20 Verletzte, vom Personal<br />
überlebten alle unverletzt, auch er.<br />
Aber er hatte seinen Job für immer los!<br />
Und weil der schwarze Peter bei ihm lag, war die<br />
Abfindung auch winzig klein ausgefallen.<br />
Helmut war nun arbeitslos, frustriert und<br />
depressiv, und damit war er auch nicht mehr<br />
vermittlungsfähig, wurde gar zum Sozialfall,<br />
Und statt ein Leben als Diva zu verbringen,<br />
musste die Maria wieder eine Arbeit suchen, und<br />
sie war für den Hostessenberuf nun zu alt, weil<br />
sie aber immer noch hübsch war, durfte sie<br />
einen Job beim „Check-In“ übernehmen.<br />
Helmut starb an einem Selbstunfall mit seinem<br />
Auto, es hieß, die Bremsen hätten versagt. Die<br />
schöne Maria, mietete sich eine<br />
Einzimmerwohnung und wollte nie wieder<br />
heiraten. Und jetzt glaubt auch sie, dass am<br />
Fluch der Ex Frau <strong>von</strong> Helmut, doch etwas dran<br />
ist. Und an ihrem 85. Geburtstag, darf sie nur<br />
nicht vergessen, ihre Beutel festzumachen, weil<br />
das sonst bei der Geburtstagstorte einen<br />
fremden Geschmack einbringen könnte.<br />
Happy Birthday schöne Maria! Obwohl die Maria<br />
nie eigene Kinder hatte, kamen zahlreiche<br />
Verwandte zum Geburtstagsfest, als Tante und<br />
Großtante war sie auch begehrt, die Kinder<br />
76
ildeten einen Kreis um sie und sagten Gedichte<br />
auf. Mit ängstlichen Mienen schauten sie zu den<br />
alten Leuten hinüber, so, als wären diese <strong>von</strong><br />
einer bösen Krankheit befallen. Und die Kleinen<br />
waren glücklich, als es wieder nach Hause ging.<br />
Für manche Jugendliche, aber auch Erwachsene,<br />
war ein Besuch im Altersheim eher ein<br />
Kulturschock, nur alte betagte Menschen<br />
anzutreffen, mit allen den<br />
großen und kleinen Bobos. Der kleine Neffe der<br />
Maria fragte nicht ganz grundlos: „Großtante<br />
Maria, sag mal, sind hier alle Leute Krank?“<br />
Maria lacht und versucht zu klären: “Lieber<br />
Bruno, nicht alle, aber viele haben ein Leiden,<br />
manche sogar mehrere, das ist leider oft so im<br />
Alter“.<br />
Und auf dem Nachhauseweg, musste Brunos<br />
Vater noch nachhaltige Fragen beantworten,<br />
und Bruno meinte dazu: „Vater, ich möchte nie in<br />
ein solches Haus, es ist doch eine Belastung,<br />
wenn man nur noch kranke und alte Menschen<br />
um sich hat!“<br />
Dazu konnte der Vater keine befriedigende<br />
Antwort erteilen und schlug seinem Sohn vor,<br />
die Dinge einfach so zu nehmen, wie sie sind,<br />
weil man das leider nicht ändern kann.<br />
77
Erwin war der festen Überzeugung, dass der<br />
„Einsame Wolf“ spinnt, wie sonst konnte dieser<br />
zu einer derart abartigen Idee kommen, und sich<br />
als Indianer aufführen? Ein normaler Mensch<br />
kam doch nie auf so eine dumme Masche!<br />
Und mit dieser Ansicht war er durchaus nicht<br />
allein, praktisch alle Heimbewohner teilten seine<br />
Meinung. Weil er jedoch niemanden belästigte,<br />
konnte man ihm seine Rituale nicht verbieten, es<br />
war sozusagen seine Religion. Nur der Ex-Lehrer<br />
Heinrich Loser, war anderer Ansicht, und als<br />
Erwin den Einsamen Wolf mit dem Heinrich Loser<br />
auf einer Parkbank bei einer eifrigen Diskussion<br />
antraf, setzte er sich sogleich dazu und horchte<br />
mit.<br />
Es handelte sich um das Thema Umweltschutz,<br />
und Erwin war als ehemaliger Gärtner sehr daran<br />
interessiert, auch er wollte die Natur erhalten<br />
und schützen helfen.<br />
Der Einsame Wolf war Wortführer und hielt nun<br />
den beiden eine Ansprache:<br />
„Da werden an den schönsten Badestränden der<br />
Welt, Brasilien, Mexiko, etc. Konferenzen<br />
abgehalten, wie man den grünen Planeten noch<br />
retten könne. Ganze Kompanien <strong>von</strong> Delegierten<br />
reisen an, fressen und saufen, diskutieren endlos<br />
was man tun sollte, aber sie denken dabei an die<br />
andern, sie selber wollen rein nichts dazu<br />
78
eisteuern. Sie wohnen in den teuersten Hotels,<br />
fliegen erste Klase, und kosten eine Menge Geld,<br />
damit tun sie genau das, was man verhindern<br />
sollte, sie belasten auf unnötige Art und Weise<br />
die Umwelt!<br />
Dabei sollten sie doch Vorbild für den Rest der<br />
Welt sein!<br />
Seit vielen Jahren kennt man die Videokonferenz,<br />
das wäre für solche Anlässe das einzig Richtige.<br />
Hier beginnt bereits das Problem, dass unser<br />
kapitalistisches Wirtschaftssystem genau das<br />
Gegenteil hervorbringt, war schon den Indianern<br />
Vor 150 Jahren bekannt. Der Weiße Mann eilt nur<br />
dem materiellen Wohlstand nach, er will alles für<br />
sich haben, das Land, die Seen, die Wolken, und<br />
zerstört dabei die Umwelt. Und diese<br />
Wegwerfgesellschaft ist ein Verbrechen, die Zeit<br />
wird kommen, da werdet ihr nichts mehr<br />
wegwerfen, sondern alles behalten und dafür<br />
Sorge tragen. Mehr als die Hälfte der Menschen<br />
könnte ohne ein Auto auskommen, aber niemand<br />
möchte darauf verzichten, wie wollt ihr so die<br />
Umwelt schützen? Das sind alles nur leere Worte,<br />
wenn ihr nicht kürzer treten wollt, wird das Ende<br />
des grünen Planeten schon bald kommen! Der<br />
weiße Mann kennt nur die restlose Ausbeutung<br />
der Erde, er nennt das Wachstum, aber die Erde<br />
wächst nicht, sie bleibt immer gleich groß!<br />
79
Wachsen tut nur die Bevölkerung, und desto<br />
mehr Bewohner umso größer die<br />
Umweltzerstörung! Wir Indianer wurden als<br />
primitiv und rückständig bezeichnet, weil wir mit<br />
der Natur lebten und nicht gegen sie.<br />
Auch die Indianerfrauen waren auf ihre Art<br />
emanzipiert, aber auf einer absolut natürlichen<br />
Ebene und nicht wie das bei uns im Westen<br />
gehalten wird, wo die Weiber sich wie Männer<br />
aufführen und ihre natürliche Rolle ignorieren.<br />
Die Indianerfrau war Herrin im Wigwam, und<br />
selbst am Lagerfeuer wurde sie bei den<br />
Beratungen angehört. Ihre Rolle war nicht<br />
zweitklassig, sondern Männer und Frauen hielten<br />
sich an die angeborene Rollenverteilung. Und<br />
halbe Frauen und halbe Männer, wie wir das<br />
heute auf Schritt und Tritt antreffen, existierten<br />
nicht. Zwittergeburten wurden liquidiert, weil<br />
man sie nirgends zuteilen konnte. Und die<br />
jahrzehntelangen Kriege mit den weißen<br />
Eindringlingen, erforderten starke Krieger,<br />
Weichlinge gab es keine! Wisst ihr, dass<br />
Geronimo während 51 Jahren, sowohl gegen die<br />
USA, wie auch gegen Mexiko, einen<br />
vernichtenden und erfolglosen Krieg führte?<br />
Am Ende, 1986, ergab er sich mit einem<br />
Restbestand <strong>von</strong> kaum noch 15 Kriegern.<br />
80
Er wurde dabei <strong>von</strong> mehreren Divisionen<br />
Kavallerie ununterbrochen verfolgt, er konnte<br />
aber immer wieder entkommen und dabei die US-<br />
Armee empfindlich treffen.<br />
Und ein Indianer kennt auch den Zeitpunkt, an<br />
dem er in die ewigen Jagdgründe einziehen kann.<br />
Der alte Indianer erhält im Traum eine Nachricht:<br />
„Heute ist ein guter Tag zum sterben“, und am<br />
frühen Morgen wiederholt er die Nachricht und<br />
steigt auf den nahen Hügel. Unter einem großen<br />
Baum legt er sich sitzend hin, kreuzt seine Arme<br />
und wartet meditierend auf sein Ableben.<br />
Dazwischen summt er einen monotonen<br />
spirituellen Gesang. Ganz langsam verlässt er<br />
seinen alten, ausgemergelten Körper, und gegen<br />
Abend herrscht absolute Ruhe, nur die Geier<br />
kreisen um den Ort. Nur selten gelingt die<br />
Ablösung nicht, und der Todesanwärter kehrt<br />
wieder zu den Lebenden zurück.“<br />
Erwin hatte dem Monolog interessiert zugehört:<br />
„Das ist ja sehr interessant, was Du das sagst,<br />
da kann ich Dir als Gärtner nur zustimmen.“<br />
Dann begaben sich der Heinrich Loser und der<br />
Erwin, zurück ins Heim. Erwin fragte den<br />
Heinrich: „ Dieser einsame Wolf spinnt ja gar<br />
nicht, was er da sagte macht durchaus Sinn“.<br />
Heinrich: „Das stimmt, der Wolf war beruflich ein<br />
erfolgreicher Informatiker, aber seine Umgebung<br />
81
trieb ihn soweit, sich so zu äußern, der ist<br />
normaler als die meisten in diesem Heim“.<br />
Erwin: „Ja, so kann man sich täuschen!“<br />
Danach trennten sich die beiden, Erwin wollte<br />
sich etwas ausruhen, die Worte vom Wolf<br />
hinterließen tiefe Eindrücke bei ihm.<br />
Erwin fiel am folgenden Morgen in ein tiefes<br />
Loch, schon als er erwachte, erinnerte er sich an<br />
den Spruch: „Du hast keine Chance, also nutze<br />
sie!“ Richtig, er hielt sich auf einem sinkenden<br />
Schiff auf, und laufend gingen Passagiere über<br />
Bord, wann war seine Stunde gekommen?<br />
Das einzig tröstende war die Tatsache, dass es<br />
allen genau gleich ergehen wird, für einige <strong>von</strong><br />
ihnen, war das möglicherweise sogar die<br />
Erlösung.<br />
Die Erlösung vom Leiden, endlich den<br />
schmerzenden Körper ablegen können, ihn für<br />
immer verlassen, aber was dann?<br />
Ohne seinen Körper, war er doch nicht mehr der<br />
Erwin Brunner, und wenn die Seele weiter<br />
existierte, wie nützlich war das für ihn?<br />
Wie sagte doch die verrückte Frau Birnbaum:<br />
„Ihr kommt alle in die Hölle, Ihr elenden Sünder!“<br />
Also, woher wollte dieses Gespenst das wissen?<br />
War das nicht Psychoterror vom Feinsten?<br />
Da kommt er halbwegs gut gelaunt zum<br />
Frühstück, und was muss er sich anhören, die<br />
82
dummen Sprüche der Frau Birnbaum. Wenn die<br />
nur jünger wäre, ja, dann würde er sich als Jesus<br />
verkleiden und sie einmal so richtig dran nehmen.<br />
Aber auch das blieb Wunschdenken.<br />
Nein, es gab kein Ziel mehr, oder war der Tod ein<br />
Ziel? Das konnte es nicht sein, das Ende als<br />
Zielsetzung, wo blieb da die Motivation, und<br />
lohnte es sich überhaupt noch, diese Zeit zu<br />
verleben?<br />
Das Leben war doch anders, mit 18, ja, da war<br />
der Berufsabschluss und die Volljährigkeit ein<br />
Ziel, dann die berufliche Laufbahn und die<br />
Familie. Kinder wurden gezeugt, die wieder den<br />
gleichen Lebensablauf einschlagen werden, und<br />
in der Lebensmitte war der Ruhestand ein<br />
Thema, ein Ziel, das zu erreichen sich lohnte.<br />
Wie war es doch bei ihm, er und seine Erika<br />
planten zahlreiche Reisen, fremde Länder sehen,<br />
das Leben genießen, und nun war er da, in dieser<br />
Vorhölle! Eine trostlose Sache, ob er das noch<br />
lange aushalten konnte?<br />
Schon mehrmals erschien die Erika ihm im<br />
Traum, und sie war glücklich und optimistisch,<br />
auch nicht alt, etwa um die 40 Jahre, mit ihren<br />
schönsten Kleidern am Körper. Aber jedes Mal,<br />
wenn Erwin im Traum Fragen stellen wollte,<br />
verschwand sie und er erwachte dabei.<br />
83
Er erzählte seine Traumerlebnisse der Frau<br />
Künzle, und diese wusste auch eine Antwort<br />
dazu: „Sie müssen Ihre Frau auf dem Friedhof<br />
besuchen, dann hat sie wieder Ruhe!“<br />
Erwin wurde sich bewusst, dass er schon seit<br />
vielen Monaten nicht mehr bei der Grabstätte<br />
war, somit war ein Besuch längst fällig<br />
geworden. Der Friedhof befand sich aber rund<br />
zehn Kilometer entfernt, somit machte sich<br />
Erwin gleich nach dem Frühstück auf den Weg.<br />
Nach einer knappen Stunde, erreichte er mit<br />
dem Vorortsbus das Friedhof Areal. Das Wetter<br />
war ihm gut gestimmt, die Sonne strahlte<br />
freundlich auf die unzähligen Grabsteine, außer<br />
dem Friedhofgärtner, befand sich kein Mensch<br />
im Komplex, es herrschte eine unheimliche Stille.<br />
Erwin steuerte direkt auf das Grab seiner Erika<br />
zu, er deponierte die mitgebrachten Blumen und<br />
entfernte die Unkräuter. Der Grabunterhalt hatte<br />
er der Friedhofgärtnerei abgetreten, aber es gab<br />
trotzdem immer noch etwas zu bereinigen.<br />
Ein seltsames Gefühl kam in ihm hoch,<br />
Emotionen mischten sich mit Hoffnungslosigkeit<br />
und Trauer. Da stand er nun und durchlebte das<br />
ganze Elend dieser Welt, weshalb musste es so<br />
kommen, warum war es nicht umgekehrt, er im<br />
Grab und Erika mit Tränen auf Besuch?<br />
84
Er schaute über die zahlreichen Grabsteine<br />
hinweg, welch eine Ruhe, kein Krieg, kein Streit,<br />
kein Ungemach, Friede herrschte!<br />
Und eines Tages kam auch seine Stunde,<br />
eigentlich wäre er am besten gleich geblieben,<br />
einfach liegen und alles vergessen, aus dem<br />
Körper austreten und ihn so liegen lassen. Er<br />
dachte an den einsamen Wolf, unter dem Baum<br />
warten bis der Tod eintrifft. Er würde sich dort<br />
drüben auf den Rasen legen, die Augen schließen<br />
und nicht mehr aufwachen. Warum nicht jetzt,<br />
wenn doch der sichere Tod einmal<br />
kommt? Dann hat er es hinter sich, es ging doch<br />
nur darum, die Sache hinter sich zu bringen!<br />
Wie war es doch, was getan werden muss, tut<br />
man am besten gleich, dann hat man es für<br />
immer geschafft. Während er nachsinnte,<br />
schreckte ihn der Lärm einer Gießkanne, welche<br />
mit Wasser aufgefüllt wurde, in die Wirklichkeit<br />
zurück. Eine uralte Frau begoss die Blumen auf<br />
einem anderen Grab, und Erwin dachte<br />
unwillkürlich, diese wäre auch bald soweit, und<br />
könnte sich um eine Dauerresidenz im Areal<br />
umsehen. Aber da konnte er sich<br />
möglicherweise täuschen, diese Weiber wurden<br />
im Schnitt viel älter als ihre männlichen<br />
Kollegen. Und vielleicht lag er bereits im Grab,<br />
85
wenn die alte Frau immer noch mit der<br />
Gießkanne herumhantierte?<br />
Er schaute sich noch die näher liegenden<br />
Grabsteine an, dabei schreckte ihn auf, dass<br />
viele Männer bereits im Alter <strong>von</strong> 55 bis 65<br />
starben, während die meisten Frauen 80 und<br />
mehr Jahre aufwiesen. Nachteilig ist die<br />
Tatsache, dass nicht hervorgeht, welches die<br />
Todesursachen waren. Aber solche Fragen kann<br />
wohl nur ein lebender Mensch stellen.<br />
Erwin sprach halblaut zu seiner Erika,<br />
entschuldigte sich für seine Fehltaten im ganzen<br />
Leben, hob dabei die Vorzüge der Erika hervor,<br />
ja, er entschuldigte sich sogar dafür, nicht Wort<br />
gehalten zu haben, weil er immer sagte: „In ein<br />
Altersheim gehe ich nie!“<br />
Erwin wartete auf eine Antwort, ein Zeichen,<br />
aber außer einem Singvogel auf dem nahen<br />
Gebüsch, herrschte Grabesstille. Oder war die<br />
Seele der Erika in den Vogel geschlüpft?<br />
Eher unwahrscheinlich, dachte sich Erwin.<br />
Gegen die Mittagszeit belebte sich der Friedhof,<br />
ganze Familien erschienen mit Kindern und<br />
Blumen, aber viele alte Leute mischten sich<br />
dazwischen, hauptsächlich alte Frauen, Männer,<br />
wie der Erwin, bildeten die Ausnahme.<br />
Offensichtlich die zurück gebliebenen Ehefrauen!<br />
86
Nach dem Friedhofbesuch blieben die Träume<br />
mit der Erika aus, zumindest vorläufig, dafür<br />
erlebte er nun erotische Träume, welche er aber<br />
nicht ausleben konnte. Einige seltsame Vögel im<br />
Heim hatte er bereits kennen gelernt, der<br />
einsame Wolf, Frau Birnbaum, Frau Künzle, um<br />
nur die wichtigsten zu nennen.<br />
Eine kleine Gruppe zählte sich zu überzeugten<br />
Vegetarier, die Heimküche machte es sich<br />
einfach, wer fleischlos essen wollte, erhielt die<br />
Mahlzeit ohne Fleisch, dafür mit mehr Gemüse<br />
und Teigwaren zum Ausgleich. Damit konnten<br />
sich die Vegetarier in der Regel abfinden, am<br />
extremsten war Frau Adelheid Morger, sie<br />
weigerte sich sogar Fleischbrühen und Soßen zu<br />
konsumieren. Und sie unterließ keine<br />
Gelegenheit, ihre Mitbewohner über den<br />
schädlichen Fleischgenuss zu informieren.<br />
Erwin war absolut kein Fleischverächter.<br />
Ein saftiges Steak war für ihn wie ein<br />
Ersatzorgasmus, er mochte zartes Fleisch und<br />
auch ab und zu Frischfleisch.<br />
Er hatte sich noch nie im Leben Gedanken über<br />
die Tiere gemacht, er empfand es als größte<br />
Selbstverständlichkeit, dass man sich das<br />
Tierfleisch auf den Tisch servieren ließ.<br />
Vermutlich beobachtete Frau Morger ihn, wie er<br />
87
genüsslich und gierig einen Schweinebraten<br />
verzehrte, sie wollte den Erwin über<br />
vegetarisches Denken und Leben informieren.<br />
Jeder Mensch, den sie vom Fleischverzehr<br />
abbringen konnte, war ein kleiner Beitrag an die<br />
Tierhumanität!<br />
Erwin war vom Friedhofbesuch noch etwas<br />
angeschlagen, oder besser niedergeschlagen,<br />
darum begrüßte er eine Ablenkung. Er traf Frau<br />
Morger in der Cafeteria an, und Frau Morger<br />
begann sogleich mit ihrem Anliegen: „Die<br />
Menschen versündigen sich an der Tierwelt,<br />
Tiere sind Lebewesen wie die Menschen, sie<br />
werden gezeugt und geboren, haben rotes Blut<br />
und fühlen Ängste und Schmerzen, genau gleich<br />
wie wir Menschen. Es ist eine große Heuchelei,<br />
Haustiere heran zu züchten und sie dann brutal<br />
abzuschlachten, nur um deren Fleisch zu essen.<br />
Jeder Schlachthof ist ein Horror, und jede Fahrt<br />
dorthin die Hölle für die Tiere, Tiere sind beseelt<br />
und sind sensibel. Die meisten Tiere wissen<br />
bereits vorher, wohin sie gebracht werden, und<br />
was mit ihnen geschieht. Und die zwangsweise<br />
Abfütterung der Gänse, wie man das in<br />
Frankreich, Ungarn und anderen Ländern kennt,<br />
ist dazu noch elende Tierquälerei! Und das einzig,<br />
damit die Gourmets Leute sich mit<br />
Gänsefettlebern voll stopfen können!<br />
88
Tierversuche sind eine Schande für die<br />
Menschheit, sie sind überflüssig und unnötig.<br />
Man lebt sehr gut und gesund, ohne<br />
Fleischprodukte. Zudem gibt es mit Soja auch<br />
Fleischersatzangebote.“ „Das kann man ja nicht<br />
essen, kein Ersatz für Fleisch“ argumentierte<br />
Erwin.<br />
Frau Morger: „Das sind Vorurteile, wenn man<br />
diese Speisen gut zubereitet, sind sie sehr<br />
schmackhaft und wirklich ein Ersatz für Fleisch.<br />
Solange der Mensch sich an den Tieren vergeht,<br />
werden wir Kriege kennen, das ist so sicher wie<br />
der Sonnenuntergang im Westen.<br />
Der Mensch ist auch ein Tier, und dazu erst<br />
noch ein sehr brutales und gefährliches, das<br />
allerschlimmste Lebewesen auf dieser Erde!“<br />
Erwin konnte wenig dazu sagen, aus dieser<br />
Warte hatte er das noch nie betrachtet, darum<br />
bedankte er sich vorerst bei Frau Morger, konnte<br />
aber nicht versprechen, dass er nun ein<br />
überzeugter Vegetarier wird.<br />
Der folgende Morgen wurde mit einer<br />
Todesnachricht eröffnet, Frau Myrtha Müller,<br />
starb im Alter <strong>von</strong> 88 Jahren. Erwin kannte die<br />
Dame nicht, sie lag bereits im Spital als er im<br />
Heim eintraf. Heinrich Loser hatte sie kürzlich<br />
besucht, und er konnte den interessierten<br />
Leuten erklären, was er dabei erlebte: „Frau<br />
89
Müller war an diversen Schläuchen und<br />
Apparaten angeschlossen, kaum ein<br />
Körperorgan funktionierte noch selbständig,<br />
aber im Kopf war sie noch halbwegs präsent! Für<br />
den Besucher war der Anblick ein wahrer Horror,<br />
alle diese Geräte und darunter der völlig<br />
desolate Körper der Frau Müller. Das Ende war<br />
nahe, und es ist gar nicht einfach, dabei noch ein<br />
Thema anzuschlagen das ankommt. Halbwegs<br />
schaute sie bereits ins Jenseits, und wie es in<br />
diesem Zustand nicht anders zu erwarten ist,<br />
blieb ihr einzig noch ihr Glaube als letzter Trost<br />
übrig.<br />
Daran klammern sich alle, ob etwas dabei real<br />
wird, bleibe anheim gestellt. Hauptsache, es<br />
beruhigt die betroffene Person.<br />
Dass der ausgelaugte Körper ausgedient hat, ist<br />
meistens auch den extremsten Optimisten<br />
bewusst. Frau Müller war nur noch ein Zombie,<br />
eine künstlich am Leben erhaltene Halbleiche.<br />
Vor zwei Tagen kam dann der Entschluss, alle<br />
hatten genug, die Verwandten, die<br />
Krankenversicherung, das Spital und nun auch<br />
Frau Müller! Alle Geräte wurden abgestellt, und<br />
schon war die Leidenszeit der Myrtha Müller für<br />
immer beendet!“<br />
Im Altersheim Sonnenschein, wurde ein Zimmer<br />
frei, die Warteliste war mit Aspiranten und<br />
90
Aspirantinnen, lang genug. Der Kreislauf konnte<br />
weiter gehen, aber Erwin dachte gar nicht daran,<br />
dass auch seine Zeit einmal kommt, er dachte<br />
lediglich, das betreffe nur die andern. Damit<br />
lebte er wie ein Hund, dieser macht sich auch<br />
keine Gedanken über seinen Tod, weil er soweit<br />
nicht denken kann. Der Hund lebt ewig!<br />
Erwin war erstaunt, mit welcher<br />
Selbstverständlichkeit, die Heimbewohner die<br />
Todesmeldung entgegen nahmen, so, als habe<br />
man das längst erwartet. Dieser Automatismus<br />
war richtig beängstigend, es war wie eine<br />
Kapitulation vor dem Tod! Wenn man ihm nicht<br />
entgehen konnte, musste man sich mit ihm<br />
verbünden. Oder nach dem Sprichwort: „Du hast<br />
keine Chance, also nutze sie!“<br />
Für Erwin war diese Feststellung frustrierend,<br />
musste er sich dieser Kreislaufmühle ergeben?<br />
War da wirklich keine Alternative vorhanden?<br />
Er musste eingestehen, dass zwar eine Flucht<br />
möglich wäre, aber es blieb dabei, die Realität<br />
würde ihn eines Tages einholen, weil es keine<br />
Ausnahmen gibt!<br />
Die ganze Atmosphäre im Heim fand er zum<br />
Kotzen, diese Gestalten in den Rollstühlen,<br />
welche wie Gespenster wirkten, der spezielle<br />
Geruch, der irgendwie zum Heim gehörte, die<br />
Einsicht, zu einer randständigen Gruppe zu<br />
91
gehören, die gekünstelte Freundlichkeit des<br />
Personals, welche lediglich eintrainiert war!<br />
Wenn eine der Schwestern sein Zimmer<br />
aufräumte und die Bettwäsche wechselte,<br />
war die Begrüßung immer gleich gehalten:<br />
„Guten Tag Herr Brunner, haben Sie gut<br />
geschlafen?“ Und wenn einmal eine <strong>von</strong> der<br />
Routine abwich und sagte: „Guten Tag Herr<br />
Brunner, ein schöner Tag heute!“<br />
Dann war das bereits ein Aufsteller für ihn.<br />
Dabei hatte der Erwin andere, eher natürliche<br />
Interessen, die er aber nicht ausleben durfte.<br />
Besonders Schwester Monika hatte es ihm<br />
angetan, sie war jung und voll im Saft, und wenn<br />
er ihre Oberschenkel sehen konnte, wurde es im<br />
Kopf des Erwin stürmisch, und wenn Monika<br />
während dem Betten erkannte, dass der Erwin<br />
auf dem Sofa nervös hin und her rutschte, sagte<br />
Monika beruhigend: “Aber Herr Brunner, möchten<br />
Sie nicht lieber an die frische Luft?“<br />
Das wirkte auf ihn wie eine kalte Dusche, konnte<br />
sich dieses junge Ding nicht vorstellen, dass<br />
auch ein Senior noch Wünsche hat?<br />
Die Schwestern waren die einzigen Wesen,<br />
welche ihn daran erinnerten, dass außer den<br />
Alten im Heim, noch andere Menschen<br />
existierten.<br />
92
Die Damen des spirituellen Zirkels, trafen sich<br />
sporadisch im Leseraum der Bibliothek.<br />
Frau Dubach war bekanntlich manisch depressiv,<br />
wenn sie aber ihre Tabletten regelmäßig<br />
einnahm, entsprach ihr Verhalten durchaus dem<br />
mitteleuropäischen Kulturverständnis, das heißt,<br />
sie wirkte absolut normal.<br />
Als überzeugte New Age Anhängerinnen oder<br />
Esoterikerinnen, hielten sie sich an die<br />
ethischen Grundsätze ihrer Theorien, dazu<br />
gehört auch, dass man nicht missioniert, wer<br />
sich hingegen für die Thesen interessiert, wird<br />
gerne orientiert. Die drei Frauen zündeten eine<br />
Riesenkerze, hinten im Zimmer meditierten sie<br />
leise für die verstorbene Frau Myrtha Müller.<br />
Sie begleiteten mental den Astralkörper der<br />
Myrtha in die Lichtregionen des Universums, wer<br />
im Licht bleiben kann, erlebt paradiesische<br />
Zustände, wird dabei <strong>von</strong> den dunklen<br />
Wesenheiten verschont und bewegt sich dem<br />
Nirwana entgegen. Erwin schaute dem Treiben<br />
interessiert zu, er empfand Sympathie für diesen<br />
selbstlosen Akt. Plötzlich wurde das Ritual mit<br />
einem Geschrei unterbrochen, Frau Birnbaum<br />
kreiste um die drei Frauen, die Bibel schwingend<br />
rief sie: „Das ist Teufelswerk, nur Jesus kann<br />
helfen, er wird Euch strafen, stellt dieses<br />
satanische Werk ein, ich werde für Eure Seelen<br />
93
eten“. Da platzte dem Erwin der Kragen, er<br />
fasste Frau Birnbaum am Nacken und schmiss<br />
sie aus dem Zimmer. Der Krach alarmierte das<br />
Aufsichtspersonal, Frau Birnbaum wetterte mit<br />
hochrotem Kopf gegen den Erwin: „Dieser da hat<br />
mich vergewaltigt, und aus der Bibliothek<br />
geschmissen, der Unhold.“<br />
„Was ist passiert?“ fragte Frau Amsler. Erwin<br />
ergriff das Wort: „Ich habe diese unverschämte<br />
Person aus der Bibliothek geworfen, sie hatte<br />
uns übel beschimpft und terrorisiert, das lassen<br />
wir uns nicht bieten!“<br />
Nachdem Frau Amsler auch <strong>von</strong> den drei Frauen<br />
die genau gleiche Auskunft erhalten hatte,<br />
richtete sie sich an Frau Birnbaum:“ Frau<br />
Birnbaum, ich muss Sie unbedingt daran erinnern,<br />
dass es unzulässig ist, religiöse Aggressionen zu<br />
entfalten. Gehen Sie bitte auf Ihr Zimmer, wir<br />
werden den Vorfall besprechen und Sie<br />
orientieren“.<br />
Die drei Frauen bedankten sich bei Erwin für<br />
seinen selbstlosen Beistand, und sie schlugen<br />
ihm vor, ihren Seancen beizuwohnen, sofern er<br />
sich dafür interessiere. Erwin war nicht<br />
abgeneigt, und sagte dankend zu.<br />
Was er dabei mitbekam, war größtenteils<br />
Neuland für ihn, und er blieb daher auch eher<br />
kritisch.<br />
94
Das Wort hatte Frau Liebermann: „Es gibt viel<br />
mehr zwischen Himmel und Erde, als was wir<br />
kleine Menschen jemals zu erfassen vermögen.<br />
Wir leben in der materiellen Welt, und was wir<br />
sehen und wahrnehmen, das nehmen wir als<br />
existierend auf, dabei ignorieren wir aber die<br />
restlichen 90%, welche wir nicht sehen und<br />
erkennen können.<br />
Es gibt hellsichtige Menschen und Tiere, diese<br />
können Wesen aus Parallelwelten erkennen.<br />
Besonders Katzen sind hellsichtig, sie können<br />
aber auch Deine Aura lesen und deuten, und<br />
wenn diese dunkle Wellen ausstrahlt, dann wird<br />
sie sich kaum in Deine Nähe getrauen. Im Prinzip<br />
bringt jeder Mensch die Voraussetzungen dafür<br />
mit, aber unsere widernatürliche Zivilisation und<br />
Kulturwelt, hat uns da<strong>von</strong> distanziert, unsere<br />
Sinne sind verkümmert. Aber nicht nur negative<br />
Wesenheiten werden erkannt, auch die so<br />
genannten „Engeln“, welche wir als Lichtwesen<br />
bezeichnen, können erfasst werden.“<br />
Erwin fragt: „Wie lange leben diese Lichtwesen<br />
und was geschieht mit ihnen später?“<br />
Frau Peter: „Das ist eine sehr gute Frage, Herr<br />
Brunner, sehen Sie, wenn sich diese nicht<br />
wieder in einem irdischen Körper inkarnieren,<br />
kann das unendlich lang sein.“<br />
Und Frau Dubach fügt hinzu: „Also, ich möchte<br />
95
in einem Land mit warmen und freundlichem<br />
Klima wiedergeboren werden, zudem sollte das<br />
Land an einem großen Meer liegen. Ansonsten<br />
ist es besser, auf der anderen Ebene zu<br />
verbleiben.“<br />
Leises Gelächter.<br />
Erwin fragt erneut: „Und wenn ich auf einem<br />
anderen Planeten wiedergeboren werden möchte,<br />
wie muss ich dann vorgehen?“<br />
Frau Liebermann: „Auch das ist machbar, zum<br />
Beispiel auf die Plejaden, dort sollen humane<br />
Zivilisationen existieren, dann visualisieren Sie<br />
jeden Tag auf dieses Ziel hin, und wenn der<br />
Zeitpunkt des irdischen Abschieds gekommen<br />
ist, müssen Sie ganz einfach nur noch diesen<br />
Wunsch mitnehmen, vergessen Sie alles andere,<br />
und es wird gelingen!“<br />
Erwin: Danke, das hört sich ja relativ einfach an,<br />
und wer garantiert mir, dass es dann so ist?“<br />
Frau Dubach: „Sehen Sie, Glaube ist Glaube und<br />
Wissen ist Wissen, und wenn Sie lange genug an<br />
etwas glauben, dann wird es zur Gewissheit!“<br />
Frau Liebermann fügte noch hinzu: „ Wir haben<br />
Leute, welche ihren Astralkörper ins All<br />
aussenden können, sie können die<br />
Marsoberfläche überfliegen, die Plejaden<br />
besuchen, ja, manche schaffen es zu weit<br />
entfernten Sternen. Und sie kommen immer<br />
96
wieder zurück, Ausnahmen bestätigen auch da<br />
die Regel. Ich möchte das an den tragischen<br />
Unfall einer spiritistischen Gruppe am Seeufer<br />
erinnern, ihr Medium wurde auf eine lange Reise<br />
geschickt, und schaffte es nicht mehr, in ihren<br />
Körper zurück zu kehren! Und wir kennen auch<br />
den Grund dafür, sie war körperlich einfach zu<br />
schwach und kränklich, und es war leichtsinnig,<br />
mit ihr solche Versuche zu unternehmen, aber<br />
sie war leider die einzige Person, welche diese<br />
Technik beherrschte.“<br />
Erwin hatte da<strong>von</strong> gehört: „ Ja, ich erinnere mich<br />
ganz genau an diese endlose Geschichte, statt<br />
die Polizei zu informieren, legte man die Tote<br />
einfach in ein Waldstück nahe dem Seeufer.<br />
Und die wahre Todesursache wurde nie genau<br />
festgestellt, immerhin wurden die Leute des<br />
Zirkels nicht wegen Mordes angeklagt.“<br />
Frau Peter: „ Das ist richtig, wir hatten damals<br />
große Mühe, den Ermittlungsbehörden den Fall<br />
zu erläutern, und wir mussten viele Zeugnisse<br />
und Erfahrungen beibringen, aus welchen<br />
hervorging, dass solche Unfälle ab und zu<br />
geschehen, und dass man deswegen die<br />
Teilnehmer nicht anklagen kann oder darf“.<br />
Erwin: „Das Ganze kommt mir echt mysteriös vor,<br />
97
wenn diese Astralreisen wirklich möglich sind,<br />
weshalb beschäftigt sich die Wissenschaft nicht<br />
öffentlich damit?“<br />
Frau Liebermann: „Da liegen Sie richtig, weil<br />
sich viele Erfahrungen nicht systematisch<br />
wiederholen lassen, will man dieses<br />
Wissensgebiet nicht angehen, es ist unbequem!<br />
Aber viele Geheimdienste, besonders jene der<br />
USA, halten <strong>von</strong> diesen Astralreisen, welchen sie<br />
die Bezeichnung „Remote Viewing“ gaben, sehr<br />
viel. Und es gibt darüber bereits eine Menge<br />
Literatur, viele auch bereits in deutscher<br />
Übersetzung. Leider findet sich in unserer<br />
Bibliothek kein einziges Buch darüber. Dabei<br />
wäre das doch gerade für unsere Jahrgänge ein<br />
sehr aktuelles Thema, meine ich“.<br />
Erwin ist etwas überfordert, deshalb fragt er<br />
direkt: „Hand aufs Herz, glaubt Ihr an all das,<br />
was Ihr soeben erzählt habt?“<br />
Frau Peter: „Glauben ist das falsche Wort, wir<br />
sind überzeugt und wissen es, wir machen es<br />
wie die Sufis und Buddhisten, wir erhalten die<br />
Antworten in tiefer Meditation, nicht <strong>von</strong> einem<br />
Guru, sondern <strong>von</strong> unserem Selbst“.<br />
Erwin: „Wollen Sie sagen vom<br />
Unterbewusstsein?“<br />
98
Frau Peter: „Sie können es so nennen, im Prinzip<br />
ist es aber eher das Überbewusstsein, welches<br />
über unser Unterbewusstsein antwortet.<br />
Und das Überbewusstsein ist mit dem<br />
universalen Geist verbunden!“<br />
Erwin: „Das ist für mich ein spanisches Dorf, da<br />
kann ich nicht mehr mitkommen!“<br />
Frau Liebermann: „Kein Problem, wenn Sie sich<br />
interessieren, habe ich Ihnen zahlreiche <strong>Bücher</strong><br />
zur Auswahl, ich leihe sie Ihnen gerne aus.<br />
Erwin: „Gerne, aber bitte eines, das ich<br />
verstehen kann, ich möchte ja Ihre Thesen nicht<br />
einfach als Unsinn und Aberglaube abtun, aber<br />
ich habe natürlich schon meine Vorbehalte. Ich<br />
darf Euch jedoch versichern, Eure Art ist mir viel<br />
sympathischer als die <strong>von</strong> Frau Birnbaum, das ist<br />
unverschämt, was die sich erlaubt!“<br />
Frau Dubach: „ Sehen Sie, alle Leute, welche<br />
unsicher sind, versuchen es mit Aggressivität,<br />
indem sie versuchen, andere Menschen zu<br />
bekehren. Ich gebe Ihnen einen guten Rat,<br />
lassen Sie alle diese Propheten und<br />
Besserwisser links liegen, es sind echte<br />
Blindgänger, Schädlinge und Störenfriede.“<br />
Erwin: „Da haben Sie vollkommen recht, diese<br />
Zeugen Jehovas oder Scientologen, sind<br />
ekelhafte Zeitgenossen, man sollte solche<br />
Erscheinungen verbieten!“<br />
99
Frau Liebermann: „Ja, aber das geht unter<br />
„Religionsfreiheit“, und wir erleben hier auch,<br />
was man darunter versteht und ungestraft tun<br />
darf, ohne ins Irrenhaus zu kommen!“.<br />
Erwin lacht und antwortet: „ Sie sagen es, Frau<br />
Liebermann, Narrenfreiheit erlaubt nur die<br />
religiöse Toleranz.“<br />
Frau Peter: „So ist das Herr Brunner, Sie haben<br />
es richtig gesagt, man verlangt oft viel<br />
Verständnis für Dummheit. Und sehen Sie, es<br />
gibt doch fast gleich viele Religionen, wie es<br />
Menschen gibt.“<br />
Erwin: „Da kann ich Ihnen nur beipflichten, aber<br />
jetzt möchte ich mich <strong>von</strong> Euch verabschieden,<br />
gerne werde ich mich bei anderer Gelegenheit<br />
wieder melden.“<br />
Erwin lief nachdenkend in sein Zimmer, noch vor<br />
zehn Jahren hätte er so etwas ins Reich der<br />
Märchen abgetan, und bestenfalls ein mildes<br />
Lächeln übrig gehabt. Aber jetzt, nach all den<br />
Erfahrungen mit seiner Frau und danach, sowie<br />
der Tatsache, dass er auch bereits ein<br />
beachtliches Alter erreicht hatte, empfand er die<br />
Theorien der drei Damen aus einem völlig<br />
anderen Blickwinkel. Und im Gegensatz zu den<br />
farblosen Sprüchen der Frau Birnbaum, fand er<br />
die Erklärungen der Spiritistinnen interessant,<br />
und er machte sich auch Gedanken darüber.<br />
100
Ja, die Möglichkeit, mit der Aura im Licht weiter<br />
zu existieren, empfand er wie einen Lichtblick in<br />
der traurigen Zukunftsvision. Nichts als negative<br />
Begebenheiten um ihn herum, so war gestern<br />
schon wieder eine Vermisstenmeldung zu<br />
verzeichnen. Diesmal war es der Ulrich Zimmer,<br />
der an Alzheimer litt, er ging am Nachmittag auf<br />
den nahen Friedhof, um das Grab seiner<br />
verstorbenen Frau zu besuchen.<br />
Obwohl der Friedhof kaum ein Kilometer entfernt<br />
lag, war der Ulrich am Abend noch nicht wieder<br />
im Heim. Ulrich war noch unter den jüngeren im<br />
Heim, und er war gut zu Fuß. Da konnte etwas<br />
nicht stimmen, eine Suchaktion wurde<br />
eingeleitet, der Ulrich war wie vom Erdboden<br />
verschwunden, die Polizei erließ einen Aufruf im<br />
Lokalradio. Die Suche verlief erfolgreich, der<br />
Ulrich wurde auf einer Bank entlang eines<br />
Wanderweges gefunden, er hatte fünfzehn<br />
Kilometer zurückgelegt. Den Friedhof konnte er<br />
problemlos finden, aber dort holte ihn der<br />
Alzheimer ein, er hatte plötzlich keine Ahnung<br />
mehr, wo er sich aufhielt. Und so lief er einfach<br />
auf dem Wanderweg weiter, immer in der<br />
Hoffnung, bald ins Heim zu kommen. Aber er lief<br />
in eine völlig falsche Richtung, und die Leute<br />
fragen war auch nicht möglich, er hatte<br />
schlichtweg vergessen wie das Heim hieß.<br />
101
So betrachtet, war das Leben im Altersheim mit<br />
Abwechselungen voll gespickt, und trotzdem<br />
fühlte sich Erwin wie ein Affe im Zoo.<br />
Er hatte Unterkunft und Verpflegung, genau<br />
gleich wie der Gorilla im Käfig, mit dem kleinen<br />
Unterschied, dass er noch einen relativ freien<br />
Ausgang hatte, aber was nützte ihm diese<br />
Möglichkeit bei seinem mickerigen Taschengeld?<br />
Das wenige Geld, das ihm blieb, reichte nur für<br />
kleine Extras, und sonst für rein nichts. Eben so<br />
gut hätte er in einer Gefängniszelle leben können,<br />
der Unterschied war gering.<br />
Und wie im Knast, kam auch hier ein Seelsorger<br />
vorbei, ein ökumenisch orientierter<br />
Seelenbetreuer. Im Heim gab es nahezu alle<br />
Glaubensrichtungen, es fehlten nur noch die<br />
Hindus und Muslime. Frau Birnbaum war<br />
ursprünglich Jüdin, konvertierte aber zum<br />
Katholizismus, oder genauer, sie wurde<br />
Anhängerin einer extremen Sekte. Und sie wollte<br />
keinen professionellen Seelsorger sehen, der<br />
war vom Teufel geschickt worden!<br />
Erwin mochte aber den Pfarrer auch nicht treffen,<br />
er erinnerte ihn an seinen schweren Unfall, als<br />
er mit der Mähmaschine, statt das Gras, seinen<br />
Fuß durch sägte! Im Spital kam dann der<br />
Gemeindepfarrer, um den schwer verunfallten<br />
102
Mann zu trösten. Das war ja ein schöner Zug <strong>von</strong><br />
ihm, aber hier, war das doch eher ein Vorbote ins<br />
Jenseits. Einem Jenseits, aus welchem er immer<br />
weniger klug wurde, und worüber er so viele<br />
Meinungen hörte, wie er Leute kannte.<br />
Nein, er mochte diesem Jenseits nicht mehr<br />
nachsinnen und auch nicht andauernd daran<br />
erinnert werden! Aber wie wollte er dem<br />
ausweichen, in diesem Sterbelaboratorium?<br />
Eine Trotzreaktion stieg in ihm hoch, er wollte<br />
ausreißen, die Flucht ergreifen, weg <strong>von</strong> hier!<br />
Er begann alles um ihn zu hassen, die<br />
Heimbewohner wie auch das Personal, bei der<br />
Leiterin empfand er eine versteckte Arroganz,<br />
sie war zu sachlich und hatte eine gekünstelte<br />
Freundlichkeit, wie es auch das restliche<br />
Personal an den Tag legte. Für sie war das ein<br />
Beruf, sie waren die Hirten und die Alten die<br />
Schafe. Und der Hauswart mit den<br />
Kantinenleuten, waren die Hirtenhunde, welche<br />
ständig aufpassten, dass kein Schaf ausscherte.<br />
Und die Schwestern taten, als wäre er ein<br />
sexneutrales Wesen, ohne Lust und Trieb:<br />
„Guten Tag Herr Brunner, haben sie gut<br />
geschlafen?“ das kam automatisch und völlig<br />
ohne Gefühl. Da war ein Unterton dabei, und am<br />
liebsten hätten sie vermutlich gesagt: So, Du<br />
alter Knacker, lebst Du immer noch?“ Dabei<br />
103
waren einige der Schwestern durchaus voll im<br />
Saft, und Erwin konnte sich virtuell gut<br />
vorstellen, wie er mit seinen Händen die Kurven<br />
der Monika abtastete. Erwin hatte da noch ein<br />
kleines menschliches Geheimnis, beim Ausgang<br />
zu seinen Kollegen, machte er einen Abstecher<br />
in den Erotik Shop, dabei erstand er sich einige<br />
harte Pornohefte. Diese hatte er im<br />
Wandschrank versteckt, und immer, wenn er<br />
romantische Gedanken aufkommen hatte, griff er<br />
zu den Heften. Und nicht selten, musste er sich<br />
danach erleichtern, dabei gefiel es ihm, auch<br />
echte Lustschreie zu produzieren. Das führte<br />
dann zu einem kleinen Missverständnis mit<br />
Folgen. Schwester Monika war daran, das<br />
Zimmer nebenan zu besorgen, als sie die Schreie<br />
hörte und sofort panikartig ins Zimmer <strong>von</strong> Erwin<br />
rannte. Erwin saß splitternackt auf dem Sofa und<br />
befriedigte sich immer noch, Schwester Monika<br />
lief hochrot an und rannte da<strong>von</strong>, direkt ins Büro<br />
<strong>von</strong> Frau Seiler!<br />
Erwin war sich bewusst, dass er das Kriegsbeil<br />
ausgegraben hatte, und dass er sicher ins Büro<br />
<strong>von</strong> Frau Seiler musste!<br />
Und kaum hatte er diese Gedanken hinter sich,<br />
klingelte auch schon das hausinterne Telefon:<br />
„Herr Brunner, kommen Sie unverzüglich in mein<br />
Büro“, das klang nicht nach einer freundlichen<br />
104
Einladung.<br />
Frau Seiler zeigte nie zuvor viel Achtung oder<br />
Respekt gegenüber dem Erwin, das war ihm vom<br />
ersten Tag an bewusst. Er kam sich eher vor wie<br />
ein großer Hund, den man andauernd in die<br />
Schranken weisen musste. Der Empfang im Büro<br />
war auch entsprechend: „Setzen Sie sich Herr<br />
Brunner“, sagte Frau Seiler etwas schnippisch.<br />
Danach begann Frau Seiler mit ihrem Laudatio:<br />
„So geht das nicht Herr Brunner, wir sind ein<br />
Alters- und Pflegeheim und kein Freudenhaus.<br />
Sie haben Schwester Monika schwer schockiert,<br />
weshalb schließen Sie Ihr Zimmer nicht ab?“<br />
Erwin: „Tagsüber, wenn ich im Zimmer bin,<br />
schließe ich nicht ab, zudem habe ich die Monika<br />
nicht gerufen, sie kam <strong>von</strong> sich aus ohne<br />
anzuklopfen!“<br />
Frau Seiler: „Ja, weil sie dachte, Sie riefen um<br />
Hilfe und wären in Gefahr, schämen Sie sich Herr<br />
Brunner, Sie in Ihrem hohen Alter, das ist doch<br />
etwas für junge Leute, haben Sie keine anderen<br />
Interessen?“<br />
Erwin: „Sex war schon immer eines meiner<br />
Hobbies, Sie, Frau Seiler haben es gut, Sie haben<br />
einen Mann zu Hause, aber meine Frau starb an<br />
Krebs und ließ mich alleine zurück, umgeben <strong>von</strong><br />
lauter Ignoranten, wie Sie es sind. Kürzlich war<br />
eine Fernsehsendung, da gibt es doch<br />
105
tatsächlich moderne Altersheime, die spezielle<br />
Prostituierte zulassen, Frauen, die sich nur um<br />
das Triebleben der Senioren kümmern, und ihnen<br />
eine kleine Freude zukommen lassen!“<br />
Frau Seiler: „Da<strong>von</strong> habe ich auch gehört, aber<br />
wir sind kein Freudenhaus, sondern ein Heim mit<br />
vielen kranken Menschen, und Sie sind bei uns<br />
eine Ausnahme, die meisten Bewohner haben<br />
gänzlich andere Probleme, Ihnen, Herr Brunner,<br />
werden wir geeignete Tabletten beschaffen,<br />
damit Sie sich beruhigen werden!“<br />
Erwin: „Genau das habe ich mir gedacht, Sie<br />
möchten mich zum Eunuchen und Zombie<br />
machen, damit ich, wie viele hier, nur noch wie<br />
eine Halbleiche umherschleiche, dann<br />
verschreiben Sie mir doch gleich die EXIT<br />
Tablette, das wäre einfacher.“<br />
Frau Seiler: „Das geht leider nicht, unser Institut<br />
wird nach christlich-ethischen Grundsätzen<br />
geführt. Deshalb können wir auch keine sexuelle<br />
Ausschweifungen dulden!“<br />
Erwin: „Ich habe verstanden, ich soll mich den<br />
verlogenen religiösen Ansichten beugen,<br />
vergessen Sie es, ich habe es wie der Andrian<br />
Von Bubenberg, als es bei der Schlacht <strong>von</strong><br />
Murten rief: „Solange in uns noch ein Tropfen<br />
Blut fließt, geben wir nicht auf!“<br />
Frau Seiler: „Und was hat das mit uns zu tun?“<br />
106
Erwin: „Bubenberg gewann die Schlacht gegen<br />
die Burgunder, verstehen Sie das?“<br />
Frau Seiler: „Verstehe, und Sie sind der<br />
Bubenberg, aber ich muss Ihnen klar mitteilen,<br />
noch einmal ein derartiger Vorfall, und wir<br />
müssen uns trennen, ist das klar Herr Brunner?“<br />
Erwin: „Ich werde es mir noch überlegen!“<br />
Frau Seiler: „Da gibt es rein nichts zu überlegen,<br />
und jetzt will ich Sie heute nicht mehr sehen,<br />
guten Tag Herr Brunner“.<br />
Erwin erinnerte sich an die Schulzeit, als er<br />
einmal vor die Tür gewiesen wurde, aber damals<br />
fühlte er sich schuldig, hatte er doch dem Lehrer<br />
eine Büroklammer an den Nacken geknallt.<br />
Aber jetzt kam er sich echt gedemütigt vor,<br />
wie ein Straßenköter, den man verscheucht.<br />
Und er dachte gar nicht daran, sich zu ändern,<br />
vielmehr befand er sich nun auf dem Kriegspfad.<br />
Schwester Monika tauschte mit der kleinen<br />
Käthi, Monika schämte sich, dem Erwin zu<br />
begegnen, deshalb übernahm Käthi die<br />
Besorgung des Zimmers <strong>von</strong> Erwin. Käthi war<br />
neu im Heim, sie war etwas scheu, aber<br />
freundlich und zurück haltend. Erwin mochte<br />
diese Sorte Frau, er hasste Emanzen und<br />
Mannsweiber. Käthi hatte bereits dreimal sein<br />
Zimmer aufgeräumt und das Bett hergerichtet,<br />
zur vollen Zufriedenheit <strong>von</strong> Erwin.<br />
107
Erwin konnte sich an diesem jungen<br />
unschuldigen Ding so richtig satt sehen, dabei<br />
kamen ihm wieder Gedanken auf, die er besser<br />
nicht hätte aufkommen lassen! Und er wurde <strong>von</strong><br />
seinem Naturgeist überwältigt, indem er sich auf<br />
dem Sofa einmal mehr befriedigte, die Käthi war<br />
an der Arbeit, als sie seine seltsamen Laute<br />
vernahm, schaute sie zu ihm hin, sie stieß einen<br />
Schrei aus, und rannte wie ein aufgescheuchtes<br />
Huhn aus dem Zimmer. Erwin lachte nur über<br />
diese Prüderie, machte weiter bis zum<br />
Höhepunkt.<br />
Natürlich landete auch die Käthi bei Frau Seiler<br />
und erzählte völlig entsetzt, was vorgefallen war.<br />
Diesmal fand sie es nicht für nötig, den Erwin<br />
sogleich wieder in ihr Büro zu zitieren. Für sie<br />
war es sonnenklar, dass der Erwin beim<br />
nächsten Mal auch Hand an der Schwester<br />
anlegen werde, da kannte sie sich aus.<br />
Erwin war provisorisch aufgenommen worden,<br />
und er hatte den Bogen überzogen, er musste<br />
das Heim verlassen!<br />
Erwin war sich der Konsequenzen voll bewusst,<br />
er schlug darum den Sprung nach vorne ein,<br />
indem er seinem Rausschmiss zuvorkam.<br />
Er setzte sich ans Haustelefon und wählte die<br />
Nummer <strong>von</strong> Frau Seiler: „Das Suppenhühnchen<br />
hat Sie sicher bereits orientiert, darum nehmen<br />
108
Sie hiermit zur Kenntnis, dass ich Ihre<br />
Zwingburg auf Ende des Monats verlassen<br />
werde.“<br />
Damit legte Erwin den Hörer, ohne die Antwort<br />
abzuwarten, auf die Gabel zurück. Eine Welle der<br />
Erleichterung durchfuhr ihn dabei, bald war er<br />
wieder ein freier Mann, und konnte tun und<br />
lassen was er wollte.<br />
Er fühlte sich um Jahre jünger und munterer.<br />
Und diesmal war das Glück auf seiner Seite,<br />
Walter, ein Stammtisch Kollege, teilte ihm<br />
telefonisch mit, dass in seinem Miethaus, auf<br />
den ersten des folgenden Monats eine<br />
Einzimmerwohnung frei werde, da es sich um<br />
eine Genossenschaftssiedlung handelte, war der<br />
Mietzins äußerst günstig, zudem wurden Rentner<br />
oder Rentnerinnen bevorzugt. Und da der Erwin<br />
auch noch den Verwalter kannte, war ihm die<br />
Wohnung auf sicher zugeteilt, er musste nur<br />
noch einen Genossenschaftsanteil kaufen, und<br />
die Sache war perfekt.<br />
Im Altersheim war man froh, den unbequemen<br />
Gast loszuwerden, darum erhielt er seinen Anteil,<br />
abzüglich die aufgelaufenen Gebühren für den<br />
Aufenthalt zurück gezahlt.<br />
Bekanntlich musste Erwin, seine ganzen<br />
Ersparnisse über rund 25.000.- Franken<br />
hinterlegen, da<strong>von</strong> wurden nur 5000.- gebraucht,<br />
109
und Erwin war wieder stolzer Besitzer seiner<br />
vormaligen Ersparnisse!<br />
Wer in ein Altersheim aufgenommen wird, kann<br />
in der Regel, mit wenigen Ausnahmen der gut<br />
Betuchten, die hohen Monatsgebühren nicht mit<br />
der eigenen Rente leisten, deshalb werden vorab<br />
die Ersparnisse erfasst, wenn diese<br />
aufgebraucht sind, begleicht das Sozialamt die<br />
Differenz. Dem Heimbewohner verbleibt dann<br />
noch ein sehr bescheidenes Taschengeld, damit<br />
sich dieser einige Extras leisten kann. Oftmals<br />
verhelfen aber die Verwandten zu einem Aufgeld,<br />
welches in der Regel zu etwas mehr Ausgaben<br />
verleiht. Bei Erwin war das aber bislang nicht<br />
der Fall, seine beiden Kinder lebten weit weg<br />
und konnten ihn noch nicht besuchen.<br />
Im Heim zirkulierten nun die unmöglichsten<br />
Gerüchte, es hieß, er habe sich an einer der<br />
Schwestern sexuell vergreifen wollen, und Frau<br />
Birnbaum wusste zu berichten, er habe es auch<br />
bei ihr versucht, der Unhold, dabei verwies sie<br />
auf angebliche Würgespuren, bekanntlich griff<br />
Erwin sie im Nacken und warf sie aus der<br />
Bibliothek, dabei hinterließ er Spuren im Nacken.<br />
Erwin wurde nun zum Exot, um den man einen<br />
Bogen machte wenn er auf kreuzte. Dem Erwin<br />
war es scheißegal, in zwei Wochen war er weg,<br />
110
sollten die doch denken und schwatzen was sie<br />
wollten. Erwin sah nun Licht am Ende des<br />
Tunnels, das Leben machte wieder Sinn und<br />
Spaß, nicht mehr jeden Tag das Trauerspiel mit<br />
den Leidensgenossinnen und Genossen, wieder<br />
unter normalen Leuten sein, vorab jüngere, die<br />
ihn nicht ständig ans sichere Ende erinnerten.<br />
Damit Erwin den Genossenschaftsanteil und die<br />
erste Rate Mietzins leisten konnte, war er darauf<br />
angewiesen, dass man ihm sein Guthaben<br />
unverzüglich freigab, und das wurde durchaus<br />
kulant vorgenommen, weil man froh war, ihn<br />
möglichst bald loszuwerden. Ferner musste er<br />
auch geeignete Möbel kaufen, aber das war<br />
problemlos, die Wohnung war leer, die vormalige<br />
Mieterin hatte sich ins Jenseits abgemeldet, das<br />
allerdings im vornehmen Alter <strong>von</strong> 94 Jahren!<br />
Das war Musik in den Ohren <strong>von</strong> Erwin, da<br />
konnte er ja noch auf nahezu 20 weitere Jahre<br />
blicken. Wobei ihm aber bewusst war, dass er<br />
sich <strong>von</strong> Freund Alkohol trennen musste, die<br />
Vormieterin habe es mit Tees und wenig fettiger<br />
Nahrung geschafft! Ob er das auch konnte?<br />
Erwin freute sich kindlich auf seine kleine<br />
Wohnung, sie war genau richtig, wenig Aufwand<br />
für Reinigung und trotzdem war alles da, WC,<br />
Dusche, Küche, Vorraum, Abstellraum, Balkon,<br />
und das große Wohn-Schlafzimmer, und all das<br />
111
für einen unschlagbaren Mietpreis, und als<br />
Genossenschafter, konnte er sich wie ein<br />
Eigentümer fühlen, musste nicht riskieren, dass<br />
ihm gekündigt wird. Dass zuvor eine Tote im<br />
Zimmer lag, das konnte ihm absolut nichts<br />
anhaben, da war er nun abgehärtet, und die<br />
Wohnung wurde gründlich gereinigt und<br />
desinfiziert. Aber das Beste war die Tatsache,<br />
dass ihm nach Abzug aller Kosten, wie Miete und<br />
Nebenkosten, Versicherungen, Nahrungsmittel,<br />
etc. immer noch ein ansehnlicher Betrag zur<br />
Verfügung blieb. Das reichte sogar noch für<br />
einen Bordellbesuch einmal im Monat!<br />
Und er konnte seine Mahlzeiten wieder selber<br />
zubereiten, <strong>von</strong> diesem eintönigen Heimfraß<br />
hatte er mehr als genug. Und zu den Mahlzeiten<br />
konnte er sich wieder einen guten Tischwein<br />
einschenken, und nicht mehr diesen Heimfusel<br />
runter leeren. Der Heinrich argumentierte: „Wenn<br />
Du aber pflegebedürftig bist, dann ist das auch<br />
keine gute Lösung!“<br />
Erwin: „Das stimmt nur halbwegs, die Mieterin<br />
vor mir, konnte bis zu ihrem Tod selbstständig<br />
bleiben, zudem haben wir im Haus einen Lift.“<br />
Heinrich: „Damit ist aber das Problem auch<br />
nicht gelöst, stell Dir vor, Du bist im Rollstuhl,<br />
was dann?“<br />
Erwin: „Ich weiß nicht, weshalb die Leute immer<br />
112
nur negativ sehen, das muss absolut nicht sein,<br />
kann aber auch nie ausgeschlossen werden, das<br />
Leben ist immer ein Risiko. Und sterben muss<br />
jeder und jede einmal, also wozu soll man sich<br />
darüber laufend ängstigen?“<br />
Heinrich: „ Stimmt auch, auf jeden Fall bringt es<br />
uns rein nichts!“<br />
Erwin: „ Das ist richtig, und es ist besser, wir<br />
kennen unser Ende nicht, dass es kommen wird,<br />
das ist sicher, aber wann und wie, das bleibt<br />
offen“.<br />
Erwin war voller Enthusiasmus, er fühlte sich<br />
wie neugeboren, frei wie ein Vogel, oder<br />
zumindest halbwegs.<br />
Aber jede Medaille hat bekanntlich zwei Seiten,<br />
eine positive und eine negative Version.<br />
Einerseits war er bereits an das gänzlich passive<br />
Leben im Heim gewohnt, ein Dasein, welches<br />
auch die Soldaten und Häftlinge kennen, und<br />
wenn sie entlassen werden, dann begegnen sie<br />
Unmengen <strong>von</strong> Problemen, die sie zuvor nicht<br />
kannten. Es ist, als würde man sich nackt in<br />
einem Urwald befinden, unzählige Gefahren<br />
lauern allerorts, Gefahren, die man oft nicht<br />
gleich als solche erkennen kann. Er musste<br />
seine Rente wieder selber verwalten, und<br />
schauen, dass er damit auskam.<br />
113
Auch die Verpflegung lag wieder gänzlich bei<br />
ihm, das war aber das kleinste Problem, weil<br />
kochen ihm Spaß machte. Da gab es größere<br />
Schwierigkeiten zu überwinden, wobei der<br />
größte Feind sicher „Freund Alkohol“ war, ins<br />
Bordell ging er ja nur, wenn er noch etwas Geld<br />
übrig hatte. Nun ja, es galt nun, sich selber im<br />
Zaun zu halten, und sollte er abstürzen, dann<br />
wollte es das Schicksal vermutlich so haben.<br />
Ein Schicksal, das er durchaus steuern konnte,<br />
sofern er die erforderliche Kraft und Disziplin<br />
dafür aufbringen konnte.<br />
Die letzten Tage im Altersheim Sonnenschein,<br />
zogen sich endlos lang dahin, aber der Tag war<br />
dann doch plötzlich erreicht, und Erwin konnte<br />
geräuschlos wie er gekommen war, die<br />
Heimstätte wieder verlassen. Kollege Walter<br />
holte ihn mit dem Auto ab, einige Insassen<br />
winkten den beiden nach, als sie aus dem Areal<br />
fuhren. Erwin fühlte sich leichter, so. als hätte er<br />
einen schweren Rucksack abgelegt, die Episode<br />
Altersheim lag hinter ihm und er war um eine<br />
Erfahrung reicher geworden.<br />
$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$<br />
114
6<br />
Gut zwei Monate Altersheim lagen wie ein<br />
Albtraum hinter Erwin, und nun war er wieder<br />
draußen in der Zivilisation. Und am Stammtisch<br />
war er der absolute Exot in der Runde, er wurde<br />
als „Abtrünniger“ freudig empfangen und musste<br />
natürlich <strong>von</strong> seinen Erlebnissen berichten:<br />
„Glaubt mir, Du bist nur noch ein halber Mensch<br />
im Altersheim, einerseits möchte man Dich am<br />
liebsten gleich im Jenseits sehen, aber<br />
andererseits ist das eine Industrie. Es bildet sich<br />
aber eine Zweiklassengesellschaft, hier das<br />
Personal und dort die Insassen, und wehe, Du<br />
machst einer der jungen Schwestern ein<br />
Kompliment, das wird sogleich als sexuelle<br />
Belästigung empfunden, weil ein alter Mann<br />
keine sexuellen Wünsche und Regungen mehr<br />
haben darf!<br />
Du bist zum Eunuchen degradiert, ein Zombie,<br />
der schon bald das Zeitliche segnen wird.<br />
Und sie mischen schlappmachende Chemikalien<br />
in das Essen, damit den Leuten die Lebenslust<br />
gründlich vergeht. Und die Verpflegung bleibt<br />
monoton und langweilig, wie alles um Dich<br />
herum. Mehr als die Hälfte spinnt, zum Teil<br />
hochgradig, und das wirkt ansteckend. Das<br />
115
erlaubt den Betroffenen, allerlei Unfug zu bieten,<br />
nur eines darfst Du nicht, sexuelle Wünsche<br />
äußern, dann bist Du ein Unhold und wirst<br />
rausgeschmissen!“<br />
Hermann: „ Aha, jetzt wissen wir wenigstens,<br />
weshalb Du wieder da bist!“<br />
Erwin: „ Also, damit keine falschen Gerüchte<br />
kursieren, ich habe selber gekündigt!“<br />
Walter: „Da hat mir aber der Hauswart eine<br />
andere Geschichte vorgetragen, als ich Dich im<br />
Heim abholte, er führte aus, man habe Dich<br />
gefeuert, und zwar wegen sittlichen Vergehen!“<br />
Erwin: „Was, das hat dieser Kerl gesagt, da seht<br />
Ihr, wie man Dich dort verarscht, und der<br />
Hausabwart war auch nicht mein Freund, darum<br />
findet er es vermutlich für nötig, mich zu<br />
verleumden! Als mir das Ganze zuviel wurde,,<br />
habe ich der Verwalterin telefonisch gekündigt,<br />
natürlich war sie hocherfreut, weil sie mich<br />
schon am ersten Tag nicht mochte, ich hielt mit<br />
meiner Meinung nicht zurück. Das mögen diese<br />
Leute nicht, sie wollen dressierte und kritiklose<br />
Kunden, Du bist das Meerschweinchen, welchem<br />
man schauen muss und sein Gehege reinigt,<br />
wenn aber das Schweinchen aktiv wird, dann ist<br />
das unerwünscht!“<br />
Leopold: „Ich kann mir gut vorstellen, dass diese<br />
Umgebung demoralisierend wirkt, besonders<br />
116
dann, wenn man sich bewusst wird, dass man<br />
diese Stätte nur im Sarg verlassen wird“.<br />
Erwin: „Richtig, es drückt täglich auf Dein Gemüt,<br />
und es wird noch bestätigt, wenn wieder ein<br />
Todesfall eintrifft! Du lebst in einem wahren<br />
Teufelskreis, und Du kannst Dich nicht<br />
da<strong>von</strong>machen, weil das Alter Dich immer wieder<br />
einholt.“<br />
Die Kollegen waren nach einem langen<br />
Unterbruch endlich wieder vollzählig<br />
zusammengekommen.<br />
Erwins Geschichten hörten sich an, wie die aus<br />
einem Konzentrationslager oder eines<br />
Gefängnisses. Er musste doch seine Rückkehr<br />
mit harten Fakten untermauern. Er stand im<br />
Mittelpunkt der Stammtischrunde, und selbst die<br />
Gäste an den andern Tischen lauschten ihm<br />
interessiert zu.<br />
Eine Weile verlief alles gut, Erwin genoss seine<br />
neu erlangte Freiheit in vollen Zügen. Aber wie<br />
es so geht, wenn der Mensch keine großen<br />
Probleme hat, dann schafft er sich welche.<br />
Und es gibt immer wieder Zeitgenossen, die Dir<br />
gerne das Bein stellen, sozusagen zum<br />
Zeitvertreib. Im Fall <strong>von</strong> Erwin, war es der Walter,<br />
er fuhr nochmals zum Altersheim, dort traf er<br />
den Schlatter, nicht unbedingt ein Freund <strong>von</strong><br />
Erwin. Walter wollte <strong>von</strong> ihm vernehmen, ob der<br />
117
Erwin wirklich aus freien Stücken das Heim<br />
verließ? Schlatter zog sämtliche Register, und er<br />
addierte noch viel Erfundenes dazu. Beim<br />
nächsten Stammtisch packte der Walter aus:<br />
„Ich fuhr rein zufällig beim Heim vorbei, da traf<br />
ich den Schlatter, ich fragte ihn, ob es zutreffe,<br />
dass der Erwin <strong>von</strong> sich aus kündigte?<br />
Der Schlatter lachte schallend laut, und sagte:“<br />
Hat der Kerl das so gesagt, das stimmt natürlich<br />
nicht, er wurde hochkantig hinausgeworfen,<br />
nachdem er ein zweites Mal eine junge Pflegerin<br />
vergewaltigen wollte. Und er vergriff sich auch<br />
an einer Frau Birnbaum, indem er sie am Hals<br />
würgte.“<br />
Erwin lief rot an und wurde wütend: „Was für<br />
einen Unsinn erzählst Du da, Du Arschloch.<br />
Das ist alles erstunken und erlogen, Du bist der<br />
größte Schuft, ein Idiot!“<br />
Erwin ließ sein ganzes Repertoire an<br />
Schimpfwörtern auf den Walter niederprasseln,<br />
er war derart laut, dass sich die Gäste erstaunt<br />
dem Stammtisch zuwandten, und als es immer<br />
bunter wurde, verwies der Wirt den Erwin aus<br />
dem Lokal, das machte alles noch schwieriger.<br />
Erwin war stinksauer, fortan werde er diesen<br />
Schuppen meiden. Es bildeten sich zwei Gruppen,<br />
die Pro Walter Gruppe und die Pro Erwin Gruppe.<br />
118
Erstere blieb dem Lokal treu, die Gruppe Erwin<br />
suchte sich ein anderes Lokal.<br />
Die Gruppe Erwin nistete sich dann in der<br />
Vorstadt-Kneipe ein, man traf sich dort<br />
sporadisch und ungeplant, einer war fast immer<br />
anwesend.<br />
Weil aber das intellektuelle Niveau im unteren<br />
Bereich lag, entwickelten sie nie anspruchsvolle<br />
Diskussionen, vielmehr blieben diese meistens<br />
unter der Gürtellinie. In politischen Fragen war<br />
man sich aber einig, besonders was die<br />
Asylpolitik anbetraf, und jeder war der Ansicht,<br />
dass diese Scheinflüchtlinge lediglich<br />
Arbeitssuchende waren, das heißt, Arbeit war<br />
ihnen versperrt, ihnen wurde Unterkunft und<br />
Verpflegung gewährt, dazu erhielten sie ein<br />
Taschengeld, und das war höher, als was der<br />
Erwin im Altersheim zugesprochen erhielt.<br />
Noch mehr störte aber, dass diese Horden sich<br />
tagtäglich im Viertel herumtrieben, mit Drogen<br />
handelten, Leute ausraubten und dadurch ein<br />
Klima der Unsicherheit schafften. Erwin kaufte<br />
sich darum einen Pfefferspray, damit wollte er<br />
sich vor Überfällen zur Wehr setzen.<br />
Erwin traf der Fluch, dass er über ausreichende<br />
Renteneinnahmen verfügen konnte, das erlaubte<br />
ihm, sich tagsüber in den Kneipen aufzuhalten,<br />
und dadurch nahm er den Weg nach Hause fast<br />
119
immer mehr oder weniger beduselt unter die<br />
Füße. Freund Alkohol hatte ihn wieder fest im<br />
Griff, eine Folge der großen Leere, der er stets<br />
ausgesetzt blieb. Die Kollegen Hans und Alfred,<br />
konnten sich das nicht leisten, ihre Renten<br />
reichten nicht aus, deshalb kauften sie sich ihre<br />
Biere im Laden, und genossen dann die Getränke<br />
zu Hause, damit wurden sie als Alkoholiker kaum<br />
erkannt. Beim Erwin wusste aber bereits das<br />
ganze Haus, dass er süchtig war.<br />
Immerhin, schaffte er den Weg nach Hause ohne<br />
fremde Hilfen.<br />
Es war an einem trüben Spätnachmittag, Erwin<br />
war einmal mehr stark beduselt auf dem<br />
Heimweg.<br />
Eine Gruppe dunkelhäutiger Asylbewerber kam<br />
ihm entgegen, Erwin war stinksauer und ließ<br />
eine Hetztirade auf diese losprasseln, und<br />
plötzlich wurde ihm buchstäblich schwarz vor<br />
den Augen. Als er wieder erwachte, lag er auf<br />
dem Gehsteig und weit und breit kein Mensch!<br />
Der Schädel brummte wie ein Bienenschwarm,<br />
mühsam richtete er sich auf, das war im<br />
alkoholisierten Zustand gar nicht einfach zu<br />
bewerkstelligen, und als er nach dem<br />
Portemonnaie greifen wollte, war dieses auch<br />
weg! Viel Geld war nicht mehr drinnen, aber die<br />
Geldbörse hatte er erst kürzlich erstanden und<br />
120
nicht wenig dafür bezahlt. Sicher war sein<br />
Portemonnaie jetzt bei einem dieser Halunken,<br />
ob er zur Polizei gehen sollte?<br />
Aber er war sich bewusst geworden, dass er in<br />
seinem alkoholisierten Zustand, noch<br />
zusätzliche Probleme kreieren könnte, und man<br />
ihm gar nicht glauben würde. Kollege Müller<br />
wurde auch betrunken ausgeraubt, und als er zur<br />
Polizei ging und Anzeige machen wollte, wurde<br />
ihm erläutert, er habe in seinem Zustand die<br />
Räuber provoziert, was soviel hieß, es war seine<br />
Schuld, wenn er überfallen wurde, also, da<br />
verzichtete er doch lieber auf eine Anzeige, die<br />
mit großer Sicherheit, außer Ärger nichts<br />
gebracht hätte. Man lebte nun einmal in einer<br />
völlig pervertierten Zeit, und niemand wollte mit<br />
dem Gesindel aufräumen, vielmehr fanden sich<br />
immer wieder Winkeladvokaten, die sich einen<br />
Spaß daraus machten, diesem kriminellen Pack<br />
den Aufenthalt im Land zu ermöglichen. Erwin<br />
und seine Kollegen sprachen daher Klartext, und<br />
sie waren einhellig der Ansicht, die Zeit sei<br />
längst überfällig, dass man eine<br />
Todesschwadron bilde und das Gesindel<br />
systematisch erschieße, man war sich auch<br />
einig, dass, wenn einmal damit begonnen würde,<br />
sich dann die noch lebenden <strong>von</strong> selbst<br />
121
da<strong>von</strong>machen. Aber keiner wollte den Anfang<br />
machen, darum blieb alles wie es war.<br />
Um die Langeweile zu bewältigen, trieb sich<br />
Erwin auch in den Einkaufszentren herum, so,<br />
wie es viele Rentner täglich taten, er saß<br />
stundenlang in einer Cafeteria und schaute dem<br />
Treiben der Leute zu. Manchmal nahm er<br />
Kontakt mit einem andern Rentner auf, aber<br />
diese Diskussionen blieben immer bei banalen<br />
Themen stecken. Jeder wollte seine Sorgen<br />
loswerden, einfach jemanden erzählen, das<br />
erleichtert das Gemüht, aber der andere<br />
interessiert sich einen Deut darum. Ob nun die<br />
Gattin des anderen an Krebs starb oder aber<br />
sich <strong>von</strong> ihm scheiden ließ, was machte das<br />
schon aus? Er, Erwin, hatte doch auch seine<br />
Vergangenheit, wozu alles weiter erzählen, die<br />
freuten sich doch nur, wenn es dem andern auch<br />
nicht besser erging. So ist das nun einmal, das<br />
Leid des andern ist Dein Trost. Du täuscht<br />
Anteilnahme vor, aber grundsätzlich ist es Dir<br />
scheißegal, zählen tut nur, was Dich betrifft,<br />
weil am Ende Du allein da stehst, und auch allein<br />
das Zeitliche segnen musst. Das Sterben kannst<br />
Du nicht delegieren, da bist Du dran!<br />
Der Raubüberfall hatte auf Erwin doch noch ein<br />
Nachspiel zur Folge. Weil auch seine<br />
122
Identitätskarte dabei war, beantragte er einen<br />
neuen Ausweis bei der Gemeindekanzlei.<br />
Dort meldete er den Tatbestand, worauf man ihm<br />
nahe legte, in solchen Fällen, wie Raub,<br />
Diebstahl und anderen Verlusten, werde für die<br />
Ausstellung einer neuen Ausweiskarte, ein<br />
Polizeirapport verlangt. Erwin fluchte in allen<br />
Tönen über diese Bürokratie, völlig unnötige<br />
Schikane, wo lag da der Unterschied, ob er nun<br />
hier oder bei der Polizei den Verlust meldete?<br />
Das war Arbeitsbeschaffung pur!<br />
Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als die<br />
Vorschriften zu befolgen, als einzelner Bürger<br />
war man machtlos, dem Amtsschimmel<br />
ausgeliefert!<br />
Auf dem Polizeiposten bediente ihn eine<br />
blutjunge Polizistin, und wenn diese nicht derart<br />
machohaft aufgetreten wäre, er hätte sich mehr<br />
für ihre unterdrückte Weiblichkeit interessiert.<br />
So aber, war sie nur ein Sex neutrales Wesen,<br />
das ihn nun mit Fragen bestürmte: „Also Herr<br />
Brunner, und wie ist Ihr Vorname?“<br />
“Erwin“, nur Erwin, ich habe nicht sieben<br />
Vorfnamen.“<br />
Polizistin (P): „Geboren?“<br />
Erwin (E): „Ja“<br />
P: “Das nehme ich an, aber ich will das Datum<br />
haben“.<br />
123
E: „Erster April 1973“<br />
P: „Das soll wohl ein Witz sein, machen Sie keine<br />
dummen Sprüche, meine Zeit ist knapp!“<br />
E: „Das ist kein Aprilscherz, 1.4.37!“<br />
P: „Das ist eher glaubhaft“.<br />
E: „Ich kann auch nichts dafür, dass es der erste<br />
April war“.<br />
P: „Adresse?“<br />
Auch diese konnte Erwin problemlos aus dem<br />
Ärmel schütteln, dann ging die Befragung weiter:<br />
„Also Herr Brunner, Sie führen aus, dass Sie<br />
niedergeschlagen wurden, und dass Ihr<br />
Portemonnaie mit dem ganzen Inhalt geraubt<br />
wurde. Weshalb sind Sie nicht gleich zu uns<br />
gekommen?“<br />
E: „Also, ich habe noch nie gehört, dass einem<br />
Opfer das Geld und die anderen Wertsachen<br />
jemals zurück gegeben wurden, und ich hatte<br />
gelesen, dass die Polizei nur gerade 2% aller<br />
Taten aufklären kann, also, wozu sollte ich Sie<br />
aufsuchen?“<br />
P: „Das ist wichtig für unsere Abklärungen, und<br />
wir finden mehr als nur 2% der Täterschaft.<br />
Schildern Sie mir kurz den Tathergang“.<br />
E: Ich war auf dem Weg nach Hause, als mir drei<br />
Neger entgegen kamen“:<br />
P: „Das heißt nicht Neger, sondern Farbige oder<br />
Schwarze“.<br />
124
E: „Als ich die Schule besuchte, sprach unser<br />
Lehrer nur <strong>von</strong> den Negern in Afrika, und dabei<br />
bin ich geblieben“.<br />
P: „Das glaube ich Ihnen gerne Herr Brunner,<br />
aber das ist ein halbes Jahrhundert her, und nun<br />
ist Neger zum Schimpfwort geworden, ja, es ist<br />
sogar strafbar gemäß dem neuen<br />
Rassismusgesetz“.<br />
E: „Aber es waren keine Farbigen, sondern<br />
brandschwarze Neger, oder Schwarze wie Sie<br />
wollen, für mich gibt es da keinen Unterschied.<br />
Und als diese Neger auf meiner Höhe waren,<br />
wurde es mir schwarz vor den Augen, und als ich<br />
wieder erwachte, lag ich am Straßenrand.<br />
Das ist alles was ich aussagen kann“.<br />
P: „Und wie Sie ausführten, soll Ihre Geldbörse<br />
geraubt worden sein?“<br />
E: „Ja natürlich, was sonst?“<br />
P: „Weil wir eine anonyme Meldung erhielten, wo<br />
vermerkt wurde, dass Sie einen Vollrausch<br />
hatten, und die Schwarzen vermutlich nur<br />
vortäuschten“.<br />
E: „Das ist eine elende Verleumdung, sicher war<br />
es dieser Walter, der Riesenschweinehund!“<br />
P: „Ja, es war eine männliche Stimme, aber den<br />
Namen wollte er uns nicht nennen, deshalb wir<br />
solche Anzeigen nur mit Vorbehalten annehmen“.<br />
125
E: „Dieser Walter kommt noch dran, das<br />
versichere ich Ihnen“.<br />
P: „Machen Sie sich nicht strafbar, Herr Brunner,<br />
Sie haben ja keinerlei Beweise, zudem wurde<br />
uns bestätigt, dass Sie Alkoholiker sind!“<br />
E: „ Das hat Ihnen vermutlich auch dieser Kerl<br />
gesagt, nehme ich an?“<br />
P: „Nein, wir haben uns anderweitig erkundigt,<br />
deshalb sind wir etwas vorsichtig mit Ihren<br />
Angaben“.<br />
E: „Das ist doch die absolute Höhe der Frechheit,<br />
da wird man <strong>von</strong> Asylsuchenden überfallen,<br />
ausgeraubt und bewusstlos geschlagen, und<br />
dann sagt die Polizei, Dein Freund und Helfer,<br />
man habe alles nur erfunden und sei stock<br />
besoffen gewesen. Sicher, ich hatte ein Glas<br />
zuviel getrunken, aber ich war voll bei Sinnen,<br />
und ich kann schwören, es waren drei Neger!“<br />
P: „Gut Herr Brunner, ich bestätige Ihnen nun<br />
den Verlust Ihres Ausweises, und damit können<br />
Sie gehen“.<br />
Erwin verabschiedete sich grollend, es war<br />
genau so, wie er sich das vorgestellt hatte.<br />
Ergebnislos mit den üblichen Vorurteilen der<br />
Polizei, und am Schluss bist Du der Schuldige!<br />
Und die Beule am Kopf, die hatte er sich wohl<br />
auch selber besorgt? Er war um eine negative<br />
Erfahrung reicher geworden. Wie üblich, erzählte<br />
126
Erwin seine Eindrücke den Kollegen am<br />
Stammtisch, natürlich fügte er noch Diverses<br />
hinzu, das war bei solchen Anlässen die Regel.<br />
Schließlich lügen uns die Politiker und die<br />
Medien auch fortlaufend an, und die Mehrzahl<br />
der Filmproduktionen basiert nur noch auf frei<br />
erfundene Geschichten, vermutlich deshalb, weil<br />
die Realität einfach zu langweilig wirkt. Und die<br />
Leute wollen betrogen werden, besonders wenn<br />
das Thema Liebe angegangen wird. Die<br />
Liebesfilme, Romane und was da alles geboten<br />
wird, sind reine Mogelpackungen, erstunken und<br />
erlogen. Aber die Leute finden dabei meistens<br />
das, was ihnen verwehrt blieb, etwas abseits der<br />
Realität. Darum interessieren sich unzählige<br />
Zeitgenossen für die Lebensläufe der Adligen,<br />
Geldmagnaten, und ähnlichen schlechten<br />
Vorbildern, statt sie zu verachten, himmeln sie<br />
sie an, kaufen jede nur mögliche Schundliteratur,<br />
um sich daran zu ergötzen. Damit ist es auch<br />
verständlich, dass bei derartigen<br />
Wertvorstellungen, sich die Menschheit nicht<br />
vorwärts entwickeln kann. So betrachtet,<br />
bewegten sich die Diskussionen am Stammtisch,<br />
schon eher auf einem bescheidenen Niveau.<br />
Stolz verkündete Erwin: „Hört mal Ihr Herren, im<br />
Paradies Club erhalten Senioren jetzt 10%<br />
Ermäßigung auf alle Dienstleistungen, und das<br />
127
habe ich mit der Chefin ausgehandelt. Eine<br />
Stunde Vollservice kosten daher statt 400.-<br />
Franken, nur noch 360.- Franken!“<br />
„Du spinnst doch, was wollen wir Rentner in so<br />
einem teuren Puff, ich habe das viel billiger, auf<br />
dem Drogenstrich zahle ich für ein Quickie nur Fr.<br />
50.-, ja, ich habe auch schon nur 30.- oder sogar<br />
20.- Franken bezahlt. Dazu sind diese Girls willig<br />
und unkompliziert“, argumentierte Karl.<br />
Erwin: „Wo findet man diese Diskonthuren, das<br />
sind ja Superpreise!“<br />
Karl: „Geh einfach in den Stadtpark, dort siehst<br />
Du die Drogenhändler, meistens Neger und<br />
andere Exoten, diese beliefern Unterhändler,<br />
das sind drogensüchtige Burschen, und um diese<br />
findest Du die willigen Frauen, Du musst nur dort<br />
vorbeigehen, und schon quatscht Dich eine an:<br />
„Papi willst Du ein Quickie?“, dann handelst Du<br />
den Preis aus, aber mehr als Fr. 80.- würde ich<br />
nicht zahlen.“<br />
Erwin: „ Das werde ich mir ansehen, danke für<br />
den Hinweis!“<br />
Dann wurde das Thema Potenz vom Freddy<br />
aufgeworfen: „Also, bei mir läuft rein nichts mehr,<br />
und Viagra Tabletten sind viel zu teuer, darum<br />
kann ich mir das Geld ersparen!“<br />
Karl: „Das hat auch Vorteile, aber ich kann da<br />
noch viermal die Nacht“.<br />
128
Freddy: „Du Angeber, ja, viermal urinieren die<br />
Nacht, das kenne ich auch“.<br />
Aber Freddy wollte nicht <strong>von</strong> seiner Behauptung<br />
abweichen, und so entstand eine wilde<br />
Diskussion, mit einem Wortschatz, der weit unter<br />
der bekannten Gürtellinie lag. Als dann der Emil<br />
die Runde noch wissen ließ, dass die Anita vom<br />
„Escort Club“, erst kürzlich sagte, als sie beim<br />
Freddy war, sei da rein nichts daraus geworden,<br />
weil nicht einmal der Hauch einer Erektion<br />
möglich war. Verließ der Freddy die Runde und<br />
er wurde nicht mehr gesichtet, sein Image vom<br />
Alphamännchen war völlig im Eimer.<br />
Der Spott der Kollegen war ihm sicher.<br />
Erwin wollte nun die Billigvariante für Sex<br />
ausprobieren, er befand sich wieder in einer Art<br />
<strong>von</strong> sexuellem Notstand. Und immer nur Hand<br />
anlegen sollte die Hirnmasse schädigen, ja, das<br />
sagte doch seinerzeit der Klassenlehrer, und<br />
anfänglich glaubte Erwin daran, dass das<br />
Sperma tatsächlich direkt vom Hirn kam.<br />
Später schämte er sich, dass er diesen Unsinn<br />
jemals ernst nehmen konnte.<br />
An einem späten Nachmittag kaufte er sich eine<br />
Fahrkarte für die Straßenbahn, die ihn in die<br />
Stadt bringen sollte. Schnurstracks lief er in den<br />
genannten Park, schon <strong>von</strong> weitem erkannte er<br />
kleine Ansammlungen, er schaute dem Treiben<br />
129
aus einer gewissen Distanz zu. Er sah, wie kleine<br />
Plastiksäckchen ausgetauscht wurden, dann lief<br />
ein Bursche hinüber zu den vier Frauen auf der<br />
Bank. Drei <strong>von</strong> ihnen kauften Stoff, die vierte<br />
sagte halblaut: „Ich habe heute noch nichts<br />
verdient“. Das war das Zeichen für Erwin, er<br />
näherte sich langsam der Bank, inzwischen<br />
verließen die drei anderen die Bank und<br />
verzogen sich nach hinten, und schon sprach ihn<br />
die Frau an:“ Magst Du ein Quickie, ich brauche<br />
unbedingt Geld für Stoff!“<br />
Erwin fragte nach dem Preis, und sie wollte 100.-<br />
Franken, aber Erwin war informiert: „mehr als<br />
50.- habe ich nicht auf mir“, sagte er knapp.<br />
Damit war der Handel abgeschlossen, aber wo<br />
sollte die Ausführung stattfinden?<br />
Erwin wollte die junge Frau eigentlich<br />
mitnehmen, nach Hause in sein Zimmer, aber<br />
das wollte sie unter keinen Umständen, sie<br />
musste ja Stoff haben und zwar sofort!<br />
Sie führte den Erwin hinter die Büsche, und dort<br />
breitete die Agnes, wie sie sich nannte, eine<br />
Gummimatte aus. Das war nicht nach dem Gusto<br />
<strong>von</strong> Erwin, aber was konnte sonst noch in Frage<br />
kommen? In ein Hotel? Das war unrealistisch,<br />
erstens kostete ein Zimmer um die 150.- Franken,<br />
und zweitens würden die ja doch nur die Polizei<br />
anrufen, weil die Frau vermutlich minderjährig<br />
130
war. Also rein ins Abenteuer, ängstlich schaute<br />
er sich um, um allfällige Zuschauer zu eruieren.<br />
Er konnte nichts sehen, und die Agnes beruhigte<br />
ihn, alle ihre Drogenkolleginnen erledigten ihre<br />
Geschäfte hier, das gehe absolut in Ordnung.<br />
Aber dem Erwin wollte es trotz dem Notstand<br />
nicht richtig gelingen, die Agnes legte daher<br />
Hand an. Und das trübte seine Stimmung noch<br />
mehr, aber es sollte bei diesem einen<br />
Experiment bleiben!<br />
Kaum hatte die Agnes das Geld, war sie auch<br />
schon beim Dealer. Und als aufrechter Bürger,<br />
empfand Erwin seine Handlungsweise auch nicht<br />
zur Wiederholung geeignet, mochte der Karl das<br />
tun, für ihn war es keine Alternative, auch das<br />
gekaufte Liebesleben hatte seine Grenzen.<br />
Dieser Drogenstrich entsprach nicht seinen<br />
Vorstellungen, er kam sich vor, wie ein läufiger<br />
Hund.<br />
Beim nächsten Stamm Treff informierte er Karl<br />
entsprechend, doch dieser lachte ihn lediglich<br />
aus, er sei eben noch ein blutiger Anfänger, ein<br />
Grünhorn!<br />
Die Tage gingen vorüber, es gab wenig<br />
Abwechslung, und Erwin gönnte sich mehr<br />
Alkohol, als ihm zuträglich war.<br />
Dann weckte ein tragischer Vorfall die monotone<br />
Situation, der Willi, ein Stammtischkollege,<br />
131
wurde <strong>von</strong> kriminellen Jugendlichen auf dem<br />
Heimweg Spitalreif geschlagen! Der invalide Willi,<br />
welcher nur mit Stöcken gehen konnte, lief<br />
abends um 21 Uhr durch die einsame Gasse, als<br />
ihm drei Burschen den Weg versperrten, sie<br />
waren mit Baseballschlägern ausgerüstet, ohne<br />
Vorwarnung schlugen sie ihn nieder. Und nicht<br />
genug damit, schlugen sie weiter auf ihn ein, als<br />
er bereits am Boden lag, und erst dann, als eine<br />
Gruppe Soldaten im Ausgang, sich näherte<br />
ließen sie <strong>von</strong> ihm ab. Seine Brieftasche und die<br />
Uhr nahmen sie mit. Die beherzten Soldaten<br />
riefen die Polizei und die Sanität. Der Willi wurde<br />
bewusstlos ins Spital eingeliefert, die erste<br />
Nacht verbrachte er auf der Intensivstation.<br />
Es wurden mehrere Rippenbrüche und<br />
Quetschungen, sowie eine schwere<br />
Hirnerschütterung, diagnostiziert.<br />
Und wenn die Soldaten nicht aufgekreuzt wären,<br />
man hätte das Schlimmste befürchten müssen!<br />
Natürlich konnte die Polizei rein nichts eruieren,<br />
der Alte war wohl selber schuld, weshalb geht er<br />
um diese Zeit durch diese Gasse?<br />
Für Erwin war das aber eindeutig zuviel, es<br />
konnte nicht angehen, dass Jugendliche<br />
ungestraft solche Verbrechen ausführen konnten.<br />
Und wer alt genug ist, Verbrechen zu begehen,<br />
ist auch alt genug die Konsequenzen daraus zu<br />
132
tragen. Ohne sich mit seinen Kollegen<br />
abzusprechen, plante Erwin ein Zeichen zu<br />
setzen, damit das Gesindel ein für alle Male<br />
genug kriegt. Er erinnerte sich dabei an einen<br />
Film mit Charles Bronson, „Death Wish“ oder so<br />
ähnlich, hieß er, und dort räumte einer mit den<br />
Kriminellen auf seine Art auf! Nachdem er einige<br />
Gauner ins Jenseits befördert hatte, ging das<br />
Verbrechertum um mehr als 50% zurück.<br />
Kollege Hanspeter war ein Sportschütze und<br />
Waffensammler, einige Wochen zuvor, kaufte er<br />
ihm einen Revolver ab, und damit konnte er<br />
bestens umgehen, denn Erwin war früher<br />
ebenfalls Sportschütze mit Faustfeuerwaffen.<br />
Als er den Willi im Spital besuchte, fragte er so<br />
nebenbei, wie die drei Halunken ausgesehen<br />
hatten, Willi überreichte ihm eine Zeichnung,<br />
denn Willi war <strong>von</strong> Beruf Zeichner, er arbeitete<br />
früher als Karikaturist für die Zeitungen. Und für<br />
die Polizei fertigte er nun diverse Zeichnungen<br />
an, damit fiel ihm gar nicht auf, dass Erwin eine<br />
Skizze mit sich nahm. Ohne <strong>von</strong> seinem<br />
Vorhaben etwas verlauten zu lassen,<br />
verabschiedete er sich vom Willi, dieser befand<br />
sich auf dem besten Weg zur Besserung.<br />
Erwin spielte das Ganze zuerst gedanklich<br />
mehrmals durch, er legte sich eine Tasche zu,<br />
die er auf der Brust tragen wollte, darin der<br />
133
schussbereite Revolver mit acht Schüssen<br />
geladen. Er wollte abends, um etwa die gleiche<br />
Zeit, wie zuvor der Willi, durch diese Gasse<br />
laufen, und sobald die Verbrecher vor ihm waren,<br />
ganz einfach schießen, bevor die ihn<br />
niederschlagen konnten. Theoretisch lief das<br />
alles glatt ab, ob aber die Realität auch so war?<br />
Nun ja, schlimmstenfalls konnte er sich<br />
freischießen, sollte etwas schief laufen, dafür<br />
nahm er ein zweites voll geladenes Magazin mit.<br />
Und er zählte auf den Überraschungsmoment,<br />
und der war auf seiner Seite. Von nun an, trug<br />
Erwin stets eine schwarze Tasche vor die Brust<br />
gehängt, und das störte niemanden.<br />
Wichtig war für ihn, dass niemand auch nur eine<br />
leise Vermutung haben konnte, weil er wusste,<br />
wenn zwei ein Geheimnis zusammen hüten, dann<br />
weiß es einer zuviel. Und den Revolver wollte er<br />
danach in einem Waldversteck unterbringen, so,<br />
dass es bei ihm nichts zu finden gab!<br />
Wichtig war auch, dass man ihn nicht erkannte<br />
und verfolgen konnte. Dafür hatte er eine<br />
schwarze Pelerine mit Kapuze, die er kürzlich<br />
auf eine Bank im Park fand und gleich mitlaufen<br />
ließ. Zudem hatte er einen Oberlippenbart zum<br />
Aufkleben gebastelt. Sollten dabei etwelche<br />
Zeugen dabei sein, dann wollte er nicht gleich<br />
erkannt werden! Wobei er sich bewusst war,<br />
134
dass zwischen einem Gefängnis und dem<br />
Altersheim kein wesentlicher Unterschied<br />
bestand. Die Einzelzellen waren etwas kleiner<br />
als im Heim, dafür war der Aufenthalt kostenlos,<br />
und die Mahlzeiten waren auch nicht schlechter.<br />
Aber er suchte das nicht unbedingt, weil er die<br />
Freiheit doch noch bevorzugte.<br />
Er lief nun schon dreimal die Gasse entlang,<br />
ohne aber auf jemanden zu stoßen. Vermutlich<br />
hielten sich die Verbrecher auch eine Weile <strong>von</strong><br />
der Gasse fern, aber sie würden mit großer<br />
Sicherheit schon bald wieder aufkreuzen, das<br />
war so sicher wie der nächste Morgen.<br />
Er hatte es sich gut überlegt, manchmal wollte<br />
er sein Vorhaben stornieren, aber dann erinnerte<br />
er sich wieder an den Willi und an sein eigenes<br />
Erlebnis, und dabei stieg eine Riesenwut in ihm<br />
hoch, die er aber auch auf die Polizei mit ihrer<br />
totalen Unfähigkeit abwälzte, und auch auf die<br />
Gesellschaft, die es zuließ, dass solche<br />
Zustände möglich waren!<br />
Einer musste doch einmal ein Zeichen setzen,<br />
und das war er. Um seine Treffsicherheit zu<br />
testen, übte er in einer verlassenen Kiesgrube,<br />
der Revolver arbeitete einwandfrei, keine<br />
Ladestörungen, das konnte er nicht in Betracht<br />
135
ziehen. Erwin verlegte seine abendlichen Touren<br />
auf 22 bis 23 Uhr, und schon beim zweiten<br />
Anlauf wurde er fündig.<br />
Wieder kamen ihm drei junge Halunken entgegen,<br />
er griff in seine Brusttasche und entsicherte den<br />
Revolver. Rund zehn Meter vor der Gruppe, blieb<br />
er im Dunkeln stehen, die drei kamen näher, jetzt<br />
erkannte er die Baseball Schläger und einer<br />
schwang ein langes Messer!<br />
Der vorderste Kerl rief: „Geld her Du Trottel,<br />
sonst knallst!“<br />
Und es knallte, drei Mal Volltreffer, alle drei<br />
lagen am Boden und röchelten noch leicht, bis<br />
sie <strong>von</strong> ihrem elenden Dasein erlöst wurden.<br />
Es war ein Akt <strong>von</strong> fünf Sekunden, drei gezielte<br />
Schüsse jeweils in die linke Brust, das war wie<br />
früher ein Wettschießen.<br />
Erwin schaute sich um, er konnte niemanden<br />
sehen und lief normalen Schrittes da<strong>von</strong>. Die<br />
Pelerine legte er in eine Mülltonne, den<br />
Schnurbart in die Hosentasche, nun war er<br />
wieder der Erwin auf dem Heimweg.<br />
Am nächsten Morgen verstaute er den Revolver<br />
und die Munition in einer wasserdichten<br />
Plastikbox, dann ging er in den kleinen Wald am<br />
Rand der Vorstadt. Dort versteckte er die Waffe<br />
in einer kleinen Felswand. Das Versteck konnte<br />
nur durch Zufall entdeckt werden.<br />
136
Die Zeitungen meldeten eine Abrechnung unter<br />
Jugendbanden, aber dann meldete sich doch<br />
noch ein Zeuge bei der Polizei. Dieser saß auf<br />
einem Balkon eines Mehrfamilienhauses, als die<br />
Schüsse fielen, aber er konnte nur <strong>von</strong> einem<br />
einzelnen Mann berichten, welcher in die andere<br />
Richtung in der Dunkelheit verschwand.<br />
Der Mann habe ausgesehen wie Zoro der Rächer,<br />
aber mehr konnte er auch nicht erkennen. Das<br />
war immerhin ein Hinweis, dass es sich nicht um<br />
zwei Banden handelte. Dafür kam die Vermutung<br />
auf, da habe jemand aufzeigen wollen, wie man<br />
mit dem Gesindel umgeht. Das war ein Fressen<br />
für die Medien, und die Polizei tappte, wie immer,<br />
im Dunkeln.<br />
Erwin ging am Nachmittag zum Stammtisch,<br />
und wusste natürlich <strong>von</strong> allem nichts.<br />
Er war sich bewusst, dass, wenn auch nur ein<br />
Hauch <strong>von</strong> Verdacht auf ihn fallen würde, die<br />
lieben Kollegen den Mund nicht halten könnten.<br />
Das ist nun einmal menschlich.<br />
Die Zeitungen meldeten, dass einer der Ganoven<br />
aus dem Balkan stammte, ein zweiter war aus<br />
Nordafrika, und der dritte war ein Landsmann,<br />
ein achtzehnjähriger Schwererziehbarer, der aus<br />
einem Heim geflohen war und sich seit Monaten<br />
mit Raubüberfällen hervortat!<br />
137
Seine beiden Kollegen befanden sich illegal im<br />
Land, auch sie lebten <strong>von</strong> Diebstahl und Raub.<br />
Bei den Leuten gab es zwei Lager, das eine<br />
Lager begrüßte diese Art <strong>von</strong> Problemlösung<br />
und gratulierten dem unbekannten Rächer, das<br />
andere Lager war der Meinung, man könne diese<br />
Zustände anders lösen, und die Selbstjustiz<br />
entspreche nicht den Gepflogenheiten einer<br />
humanen Gesellschaft. Allerdings wussten diese<br />
auch keine bessere Lösung.<br />
Für Erwin war der Fall erledigt, er hatte ein<br />
Zeichen gesetzt, und es hat seine Wirkung nicht<br />
verfehlt.<br />
Die Polizei hatte keine blasse Ahnung, wo sie mit<br />
den Ermittlungen beginnen sollte. Sie vernahmen<br />
aber alle Leute, welche in den vergangenen<br />
Monaten Opfer derartiger Überfälle<br />
wurden, aber ohne den Erwin, weil er seinerzeit<br />
keine Anzeige erstattete. Hingegen besuchten<br />
sie auch den Willi, dieser war inzwischen aus<br />
dem Spital entlassen worden, ging aber immer<br />
noch an Krücken. Dass er nicht der Gesuchte<br />
sein konnte, war selbst der Polizei klar<br />
geworden, er lief an Krücken und konnte nicht<br />
der Schütze sein. Auch der Hanspeter wurde<br />
geprüft, er war kein Opfer, sondern als<br />
Waffensammler und Sportschütze bekannt,<br />
hingegen war er nicht Teilnehmer am<br />
138
Stammtisch. Erwin kannte ihn noch aus der Zeit<br />
im Schützenverein. Die Polizei wollte <strong>von</strong> ihm<br />
auch wissen, ob er jemandem eine Waffe<br />
verkauft habe. Natürlich verneinte er das,<br />
erinnerte sich aber, dass er dem Erwin einen<br />
Revolver vermittelt hatte, das blieb aber<br />
Privatsache! Deshalb rief er den Erwin an, und<br />
erzählte ihm <strong>von</strong> der polizeilichen Untersuchung,<br />
aber Hanspeter hatte ein Alibi, am fraglichen<br />
Tag, war bis zum nächsten Tag mit einer<br />
Seniorengruppe im Ausland unterwegs.<br />
Hanspeter wollte wissen, ob der Erwin den<br />
Revolver noch besitze?<br />
Nun griff Erwin zu einer Notlüge, er antwortete:<br />
„Nein, die ist mir abhanden gekommen, und zwar<br />
im Winter, als meine Lammfellpelzjacke in der<br />
Kneippe geklaut wurde, zurück blieb eine andere<br />
Jacke, darin steckte ein Schlüsselbund, aber<br />
seltsamerweise meldete sich der Besitzer nicht,<br />
vermutlich war er mit dem Revolver mehr als<br />
zufrieden?“<br />
Und die Geschichte war nicht erfunden, nur war<br />
der Revolver nicht in der Jacke. Dass er den<br />
Revolver nicht mehr hatte war auch richtig!<br />
Hanspeter glaubte die Geschichte, umso mehr,<br />
als er ja in der Kneippe nachfragen konnte.<br />
Hanspeter sagte zum Abschied: „Dann ist ja alles<br />
klar, ich dachte schon, Du wärst der<br />
139
Meisterschütze, weil Du seinerzeitig bei den<br />
Schnellfeuerübungen immer treffsicher warst.“<br />
Erwin: „Das stimmt, aber das war vor vierzig<br />
Jahren, wenn Du sehen könntest, wie meine<br />
Hände zittern, würdest Du schon gar nicht auf<br />
solche Gedanken kommen“.<br />
Damit räumte Erwin jeden Verdacht weg, und<br />
Hanspeter hatte eine plausible Erklärung<br />
erhalten.<br />
Auch diese Feststellung war nur halbwegs<br />
richtig, wie bei jedem Alkoholiker, zitterten<br />
Erwins Hände wie Espenlaub, aber nur dann,<br />
wenn er nüchtern war! Sobald sein Körper die<br />
fehlende Flüssigkeit erhielt, wurden die Hände<br />
wieder ruhig, und damals waren sie sehr ruhig,<br />
aber das blieb sein Geheimnis.<br />
Mit großer Genugtuung, stellte Erwin fest, dass<br />
nun seit längerer Zeit im fraglichen Quartier<br />
keine Überfälle mehr erfolgten! Der Vorfall hatte<br />
unter den Ganoven einen großen Respekt<br />
ausgelöst.<br />
Erwin suggerierte sich nun ein, dass er gar nicht<br />
der Schütze war, das war insofern <strong>von</strong> großer<br />
Wichtigkeit, dass er sich in einem Vollrausch<br />
versprechen könnte. Dabei war die<br />
Volksmeinung ganz auf seiner Seite, in<br />
Leserbriefen wurde der unbekannte Rächer<br />
sogar für eine Auszeichnung vorgeschlagen.<br />
140
Und manche wünschten sich noch mehr<br />
derartige Einsätze, weil nur solche Eingriffe<br />
wirksam sind. Andere schlugen vor, all das<br />
Gesindel, welches Eisenbahnwagen zerstörte,<br />
Autos demolierte, Schaufenster einschlugen, und<br />
dergleichen mehr, auf einer Alp hinter<br />
Stacheldraht zu platzieren sei, mit<br />
Maschinengewehrposten, und wer flüchten<br />
wollte, sollte abgeknallt werden.<br />
Erwin war jedes Mal froh, wenn am Stammtisch<br />
ein anderes Thema aktuell war, weil er<br />
befürchtete, er könnte sich plötzlich verraten.<br />
Und er war um jeden Tag froh, welcher vorüber<br />
war. Die Polizei suchte einen rund<br />
fünfzigjährigen Mann als Täter, weil der einzige<br />
Zeuge der festen Meinung war, der Mann<br />
mittlerer Statur, wäre zwischen 40 und 60 Jahre<br />
alt. Und auch die Kapuze wies eher auf eine<br />
jüngere Person hin. Damit waren die<br />
Stammtischkollegen aus dem engeren Kreis der<br />
Verdächtigen heraus. Sie wurden deshalb auch<br />
nicht befragt oder damit konfrontiert.<br />
Und der Fall wurde bei der Polizei schon sehr<br />
bald zu den ungelösten Fällen abgelegt.<br />
Das war gut so, aber Erwin musste weiterhin<br />
vorsichtig bleiben, nachdem er sein Bewusstsein<br />
entlastet hatte, begann der da<strong>von</strong> zu träumen.<br />
141
Und es waren keine angenehmen Träume,<br />
vielmehr Horrorerlebnisse. Dabei sah er immer<br />
die aufgerissenen Augen der drei Täter, und im<br />
Traum verfolgten sie ihn mit ihren Messern und<br />
Baseballschlägern, er befand sich ständig auf<br />
der Flucht. Und das Allerschlimmste dabei war,<br />
er konnte darüber mit niemandem reden.<br />
Er suggerierte sich ein, dass er der Menschheit<br />
einen guten Dienst erwiesen habe, und deshalb<br />
eher eine Medaille verdient hätte, das war<br />
übrigens auch die Meinung der meisten Leute.<br />
Und danach wurden die Albträume milder und<br />
erträglicher. Dafür plagten ihn neue<br />
Beschwerden, die Nieren, wie auch die Leber,<br />
waren angeschlagen, der permanente<br />
Alkoholkonsum zeigte Wirkung!<br />
Besonders der Zustand seiner Leber war<br />
alarmierend, sie war hoffungslos geschrumpft,<br />
und selbst gänzliche Abstinenz, hätte sie nicht<br />
mehr heilen können. Und Lebertransplantationen<br />
waren höchst umstritten und sehr aufwändig.<br />
Das konnte er abschreiben, somit blieb ihm nur<br />
noch die Möglichkeit offen, wie bisher weiter zu<br />
trinken. Ein Kollege, welcher kürzlich verstorben<br />
war, hatte die gleiche Krankheit, auch er trank<br />
während Jahren zuviel Alkohol, als er vernahm,<br />
dass die Leber in einem sehr schlechten Zustand<br />
142
war, wurde er zum Abstinenzler, aber das<br />
erschwerte nur sein Leben, und er litt an<br />
unerträglichen Schmerzen, bis ihn der Tod da<strong>von</strong><br />
erlöste.<br />
Bei Erwin lautete die ärztliche Diagnose auf<br />
„Leberzirrhose“, und das hörte sich an wie ein<br />
Todesurteil! In seinem Fall war es eine<br />
alkoholische Zirrhose, die am häufigsten<br />
vorkommende Variante, gefolgt <strong>von</strong> der<br />
Virushepatitis. Die Leberzirrhose bildet das<br />
Endstadium der Lebererkrankung, welche sich<br />
über viele Jahre hinziehen kann. Sie gilt daher<br />
als unheilbar, jedoch kann man mittels strikter<br />
Abstinenz und gesunder Lebensweise, einen<br />
gewissen Stillstand erreichen und dadurch das<br />
Leben verlängern. Aber Erwin dachte nicht daran,<br />
auf Freund Alkohol zu verzichten, er vertraute<br />
auf die Pharmaindustrie, welche es ihm<br />
ermöglichen sollte, möglichst schmerzfrei zu<br />
leben. Abends war er meistens besser gelaunt,<br />
als am frühen Morgen, weil er morgens nüchtern<br />
war und so sein Elend besser erkennen konnte,<br />
abends ging er stets mit einem mittelmäßigen<br />
Rausch ins Bett.<br />
Tagsüber traf er seine Kollegen und fand so<br />
Ablenkung, natürlich ist in solchen Kreisen die<br />
Anteilnahme bescheiden, weil jeder noch<br />
zusätzlich seine eigenen Probleme in den<br />
143
Vordergrund stellt. Schließlich ist sich jeder<br />
selbst der Nächste, und die letzte Reise muss<br />
man auch selber antreten. Ausnahmen<br />
bestätigen die Regel, etwa bei einem Amokläufer,<br />
welcher auch die Menschen in seiner Umgebung<br />
mitnimmt. Oder wenn Du im Flugzeug bist und<br />
dieses stürzt ab, auch hier bist Du nicht allein.<br />
Ob das aber ein Trost ist, das bleibe<br />
dahingestellt. Erwin tröstete sich damit, dass ja<br />
jeder einmal gehen muss, also bestand kein<br />
Grund zur Panik, in seinem Fall war der Termin<br />
vermutlich etwas früher, aber wer konnte das<br />
schon wissen? Nachts wachte er oft auf, weil er<br />
auf der Leber einen Schmerz verspürte, er<br />
konnte diesen mit etwas Druck auf die Stelle<br />
zum verschwinden bringen, dabei erinnerte er<br />
sich an Napoleon, <strong>von</strong> dem man sagte, er hätte<br />
seine Hand stets auf die Leber gerückt, weil<br />
auch er eine Lebererkrankung hatte, das war<br />
zwar ein kleiner Trost, aber er verfehlte seine<br />
positive Wirkung nicht. Und wenn der Schmerz<br />
nicht behoben werden konnte, griff er zu einer<br />
Tablette, sein Arzt hatte ihm eine ganze Auswahl<br />
da<strong>von</strong> verschrieben, mildere, wenn der Schmerz<br />
gering war, mittlere, wenn er stärker, und starke<br />
wenn er unerträglich wurde. Aber Erwin<br />
schluckte immerzu nur die starke Ausgabe.<br />
144
Weil auch die Nieren nur noch minimal<br />
arbeiteten, hatte er auch oft Wasser in den<br />
Beinen, aber auch dafür erhielt er eine Medizin.<br />
Es lebe die Pharmaindustrie, wie der Alkohol, ist<br />
sie Dein Freund und Helfer. Zu diesen Übeln<br />
gesellte sich auch noch permanente Diabetes.<br />
Manchmal überlegte Erwin, ob er nicht selber<br />
Schluss machen sollte, um damit den<br />
„Countdown“ zu umgehen? Er hatte <strong>von</strong> einer<br />
Organisation „EXIT“ gehört, wer dort Mitglied<br />
wurde, durfte sich mit einer Tablette ins<br />
Jenseits befördern lassen. Aber er wollte nicht<br />
erneut Mitglied in einem Verein werden, wo er<br />
sich doch erst kürzlich <strong>von</strong> jedem Vereinsleben<br />
losgesagt hatte. Und man konnte sich ja auch<br />
die Pulsadern aufschneiden, nur benötigte man<br />
dafür etwas Überwindung. Dann erinnerte er sich<br />
an die Leidenszeit seiner Erika, sie wäre gar<br />
nicht auf den Gedanken gekommen, sich so aus<br />
dieser Welt zu verabschieden. Somit beschloss<br />
Erwin, sich gedanklich mehr bei ihr zu bewegen,<br />
das beruhigte ihn etwas, es war wie eine Art <strong>von</strong><br />
Solidarität! Erika hatte alles hinter sich, was ihm<br />
noch bevorstand, und damit wollte und musste<br />
er sich abfinden können. Erwin war sich gewiss,<br />
dass er <strong>von</strong> der Stammtischrunde, sicher der<br />
nächste Kandidat für das Jenseits sein werde!<br />
145
Aber erstens kommt es anders, und zweitens als<br />
man denkt.<br />
Die Meldung schlug ein wie Blitz und Donner, der<br />
behinderte Willi wurde das Opfer eines<br />
Autorasers!<br />
Willi überquerte den Zebrastreifen, er war jedoch<br />
etwas langsam, und die Ampel für ihn war<br />
bereits auf „ROT“, als er erst in der Straßenmitte<br />
weilte, Willi erkannte die Gefahr und wollte<br />
zurück, aber er war zu langsam, ein Autofahrer<br />
näherte sich mit übersetzter Geschwindigkeit<br />
aus der Seitenstrasse! Willi wurde in die Luft<br />
gewirbelt und brach sich das Genick, die<br />
Gehhilfen flogen wie Speere umher, Aus und<br />
Amen! Der Fahrer hatte grün und hatte das Recht<br />
auf seiner Seite, aber er fuhr etwas über dem<br />
erlaubten Limit. Weshalb ihm Fahrlässigkeit<br />
unterstellt wurde, aber das machte den Willi<br />
auch nicht mehr lebendig.<br />
Einmal mehr wurde die Frage aufgeworfen, ob<br />
die Fußgängerampeln nicht zu kurze Zeit auf<br />
grün bleiben, weil Invalide und Kinder oft kaum<br />
genügen Zeit erhalten, die Strasse zu<br />
überqueren. Für Willi erübrigte sich diese Frage,<br />
er war seinen Kollegen vorausgegangen.<br />
Sämtliche Stammtischmitglieder gingen an die<br />
Bestattungsfeier <strong>von</strong> Willi, Erwin durfte einen<br />
allerletzten Blick auf den verstorbenen Willi<br />
146
werfen, in Gedanken sprach er vor sich hin: „Du<br />
hast mich also geschlagen, deshalb Dein<br />
Lächeln, auf wieder sehen Willi im Jenseits“.<br />
Dabei glaubte Erwin, der Willi habe seine Lippen<br />
bewegt, aber das war vermutlich pure Fantasie.<br />
Und als er sich vorstellte, dass er vermutlich der<br />
nächste Kandidat war, und möglicherweise<br />
schon bald die Stelle <strong>von</strong> Willi einnehmen könnte,<br />
durchfuhr ihn ein seltsames Gefühl. Nicht Angst,<br />
sondern eine unglaubliche Ruhe kam in ihm hoch.<br />
War das Leben nur die zweitbeste Wahl, und der<br />
Tod die Erlösung, oder die erste Wahl?<br />
Am liebsten hätte er sich sogleich neben den<br />
Willi gelegt, die Leute um ihn herum waren nur<br />
noch Statisten. Das Leben erschien ihm wertlos<br />
und voller Sorgen und Qualen, ja, die Lösung war<br />
wohl der Tod? Und anscheinend war nur ein<br />
Toter Mensch auch ein guter Mensch?<br />
So wie damals im Wilden Weste, wo man sagte,<br />
nur ein Toter Indianer sei ein guter Indianer. Klar,<br />
je weniger Indianer es gab, desto mehr Land<br />
konnten sich die weißen Siedler aneignen.<br />
Beim Willi war der Fall ähnlich, halblaut sagte<br />
Erwin am Grab: „ Danke Willi, auch im Namen der<br />
Versicherung, welche nun Deine Rente einsparen<br />
kann“. „Aber das sagt man doch nicht“, rief eine<br />
Frau neben ihm aus. Natürlich nicht, aber man<br />
denkt es!“ antwortete Erwin.<br />
147
In Tat und Wahrheit, war es für jede<br />
Sozialversicherung eine gute Nachricht, wenn<br />
einer weniger auf der Bezügerliste war, und es<br />
ist reine Heuchlerei, wenn man diese Tatsache<br />
nicht offen ausspricht. Aber es fügt sich in<br />
unzählige andere Scheinheiligkeiten in unserem<br />
Alltag ein. In einer Firma, bewegt sich der CEO<br />
durch die Abteilungen, dabei fragt er die<br />
Angestellten so ganz nebenbei, weshalb sie in<br />
seiner Unternehmung tätig sind?<br />
Und 95% werden ihm antworten, dass sie aus<br />
purer Firmentreue und Freude an der Arbeit<br />
mitwirken. Und kaum einer wird ihm sagen, dass<br />
er arbeite, um seinen Lebensunterhalt zu<br />
finanzieren. Der nicht ganz weltfremde CEO kann<br />
sich selber eine Meinung bilden, ob er sich lieber<br />
schmeicheln lassen, oder aber die Wahrheit<br />
hören möchte. Aber Tatsachen sind nicht immer<br />
angenehm, deshalb sind Notlügen in solchen<br />
Fällen durchaus vertretbar.<br />
Erwin schaute sich in der kleinen<br />
Trauergemeinde um, und es schien ihm, dass die<br />
Gesichter der Teilnehmer, bei jeder Beerdigung<br />
ähnlich sind, das mochten die<br />
Trauerbekleidungen ausmachen?<br />
Oder die Machtlosigkeit des Menschen, vor den<br />
Naturgesetzen, oder vor dem Willen Gottes.<br />
148
Letzterer war jedoch kein Mensch, weshalb auch<br />
nicht nach menschlichen Normen gehandelt<br />
wurde. Für das Universum hatte ein Leben<br />
aufgehört und sich wieder in den Kreislauf der<br />
Natur integriert, mehr nicht. Und wenn der<br />
verstorbene für Nachkommen gesorgt hatte,<br />
dann hatte der Mohr seine Pflicht erfüllt und<br />
konnte gehen. Er hatte damit auch einen Beitrag<br />
an die Unsterblichkeit seiner Gene geliefert.<br />
Und damit unterschieden sich die Menschen<br />
nicht <strong>von</strong> der Tier- und Pflanzenwelt, obwohl sich<br />
der Mensch diesen hoch überlegen fühlt.<br />
Von solchen Gedanken war der Willi befreit,<br />
er war nur noch ein Kadaver, seelenlos und ohne<br />
Leben, ein toter Gegenstand.<br />
Der Geistliche betonte die besonderen Unfall-<br />
Anfälligkeiten im Leben des Willi.<br />
Schon während seiner Schulzeit erlitt er Arm-<br />
und Beinbrüche, krachte mit seinem Fahrrad in<br />
ein fahrendes Auto. Und später heiratete er eine<br />
Frau, die absolut nicht zu ihm passen konnte.<br />
Nachdem sich das ungleiche Paar fünfzehn<br />
Jahre lang einen gnadenlosen Grabenkrieg<br />
leistete, ließ sich Willi <strong>von</strong> seiner Allerliebsten<br />
scheiden. Die beiden Kinder wurden seiner<br />
Exfrau zugesprochen, und Willi zu<br />
Alimentenzahlungen verdonnert. Alles wurde ihm<br />
149
genommen, die Wohnung, die Kinder und sein<br />
kleines Vermögen!<br />
In seiner Verzweiflung baute er einen<br />
Selbstunfall mit seinem Auto, die Absicht dazu<br />
konnte ihm nicht nachgewiesen werden.<br />
Willi wurde mit schweren Verletzungen ins Spital<br />
eingeliefert, und er blieb gehbehindert bis ans<br />
Lebensende. Die wenigen Trauergäste horchten<br />
betroffen, und Erwin gratulierte sich selber,<br />
er war richtig froh, dass er die Schläger, welche<br />
den Willi Spitalreif schlugen, rächen konnte.<br />
Gerne hätte er das Geheimnis dem Willi mit ins<br />
Grab mitgegeben, aber das war nun nicht mehr<br />
möglich. Erwin blieb allein die Genugtuung übrig.<br />
Und schon bald würde er ihm folgen, und wenn<br />
die Seele weiterlebte, wer weiß, ob er es ihm<br />
nicht noch melden konnte? Beinahe freute er<br />
sich darüber. Danach begleitete er seine<br />
Stammtischkollegen in das Restaurant nahe<br />
beim Friedhof. Und als diese nach Hause gingen,<br />
blieben nur noch ein paar wenige Leute zurück.<br />
So war also das Begräbnis eines „Nobody“, aber<br />
was machte es schon aus, ob Tausende dabei<br />
waren,<br />
oder nur einige wenige Leute? Den Toten konnte<br />
das nicht mehr stören, und für die Lebenden war<br />
es auch nicht <strong>von</strong> Bedeutung.<br />
150
Der Manfred schlug vor, man wolle nun das<br />
Kapitel Willi M. abschließen, und besser ein<br />
anderes Thema wählen. Erwin machte sich<br />
Gedanken darüber, aber was brachte das schon,<br />
nun noch in Tränen auszubrechen? Höchstens<br />
Selbstmitleid!<br />
Nein, man beschloss, das Elend zu vergessen,<br />
und was half dabei am besten?<br />
Natürlich Freund Alkohol. Und weil man etwas<br />
weit <strong>von</strong> zu Hause war, ließen sich die Kollegen<br />
am Abend mit einer Taxe nach Hause bringen.<br />
Erwin war so voll, dass er sich sogleich samt<br />
seiner Kleider aufs Bett legte und den Schlaf des<br />
Gerechten antrat.<br />
Der Alkohol half auch mit, die Schmerzen in<br />
Leber und Nieren weitgehend zu dämpfen.<br />
Am folgenden Vormittag wachte Erwin mit einem<br />
Brummschädel auf, er war sich nicht ganz klar,<br />
ob der Willi wirklich nicht mehr da war, oder<br />
aber, er nur einen bösen Traum gehabt hatte?<br />
Erst als er den Kopf mit kaltem Wasser abspülte,<br />
kamen seine Sinne in die Realität zurück.<br />
„Der Nächste bin ich“ sagte er laut vor sich hin<br />
und lachte.<br />
Er hatte sich vorgenommen, den ganzen Tag zu<br />
Hause zu verbringen.<br />
Am späteren Nachmittag läutete jemand an<br />
seiner Tür. Er öffnete und schaute in zwei<br />
151
seltsame Gesichter: „Wir müssen unbedingt mit<br />
Ihnen sprechen, sie befinden sich in größter<br />
Gefahr, bald schlägt Ihre Stunde und Ihnen<br />
wartet die Hölle!“, sagte der ältere <strong>von</strong> den<br />
beiden mit besorgter Mine.<br />
„Wer seid Ihr?“ fragte Erwin etwas unwirsch.<br />
„Wir sind <strong>von</strong> den Zeugen Jehovas, und wir<br />
wollen Ihnen helfen!“ fügte der jüngere Mann<br />
hinzu.<br />
„Ich brauche Ihr Hilfe nicht, verschwinden Sie!“<br />
war die Antwort <strong>von</strong> Erwin.<br />
Aber so schnell lassen sich diese<br />
Seelenverkäufer nicht abschieben. In bekannter<br />
Manier bearbeiteten sie den Erwin. Und sie<br />
wussten offenbar auch über seine<br />
gesundheitlichen Probleme mehr als ihm lieb<br />
war? Sicher plauderte da jemand im unteren<br />
Stock und sagte: „Gehen Sie doch nach oben zu<br />
Herrn Brunner, der ist schwerkrank!“<br />
So wurde er zum Fressen für die Geier!<br />
Und die Seelenhändler zogen alle Kapitel ihres<br />
Könnens hervor, um dem Erwin tüchtig<br />
einzuheizen. Über die wahnsinnigen Qualen, die<br />
ihn in der Hölle erwarteten, und er hatte absolut<br />
keine andere Wahl, als sich unverzüglich in die<br />
rettenden Arme der Zeugen zu werfen. Nur sie<br />
konnten ihn noch da<strong>von</strong> retten. Nun wurde es<br />
152
ihm aber zu bunt, er griff zu einem Stock, den er<br />
vorsichtshalber neben der Tür abgelegt hatte, er<br />
rief: „Nun reichst aber Ihr Lumpenpack,<br />
entweder Ihr verschwindet oder es knallt!“<br />
Erst als er den Stock zum Schlag hochhielt,<br />
verzogen sich die Halunken.<br />
Er hatte sie los, aber die inquisitiven Worte<br />
verdarben ihm den ganzen Tag. Ob da doch<br />
etwas dran sein konnte? Nun ja, bald konnte er<br />
das ja selber abklären. Aber dieser Vorfall,<br />
welcher voll gespickt war mit Drohungen, konnte<br />
er nicht einfach so wegstecken, es betraf<br />
immerhin seine nachtödliche Zukunft, sofern es<br />
eine solche überhaupt gab?<br />
Diese religiösen Wahnvorstellungen waren<br />
durchaus geeignet, einem Menschen das Leben<br />
zu versauern. Da stellte sich die Frage, ob es<br />
nicht viel einfacher wäre, wenn mit dem Tod<br />
einfach alles zu Ende ginge! Wie sagte doch Karl<br />
Marx: „Religion ist Opium für das Volk!“<br />
Ja, es war wie Freund Alkohol, dem Erwin<br />
täglich seine Stoßgebete widmete. Und an<br />
diesem „Ruhetag“, waren seine<br />
Entzugserscheinungen besonders stark. Weshalb<br />
er sich an die Schnapsflasche heranmachte,<br />
eines seiner bewährten Medikamente. Und damit<br />
verschwand sein Trübsal <strong>von</strong> vorher, er war<br />
wieder in seinem Element. Vergessen waren die<br />
153
eiden Seelenterroristen, und weg der ziehende<br />
Leberschmerz, er befand sich in einem<br />
berauschenden Zustand, und darin wollte er<br />
bleiben, wenn möglich bis an sein Ende. Mochte<br />
sein Arzt Zepter und Hallo rufen, es war nicht<br />
sein Leben, der wollte ihn doch nur am Leben<br />
erhalten, damit er noch einen Kunden mehr hatte,<br />
oder Patienten, wie man das in dieser Branche<br />
nannte. Und Ärzte waren auch keine Vorbilder<br />
für langes Leben, sein früherer Hausarzt segnete<br />
bereits das Zeitliche mit 58 Jahren! Trotzdem<br />
sind die Götter in weiß, immer noch für<br />
zahlreiche Bürger zumindest Halbgötter<br />
geblieben. Wobei die Zauberlehrlinge eher die<br />
Ausnahme <strong>von</strong> der Regel bilden, weil sich ein<br />
Arzt grundsätzlich auf seine akademische<br />
Ausbildung beruft, und alles was da nicht<br />
hineinpasst, das lehnt er als dubios ab.<br />
Dennoch gilt der Arztberuf als besonders<br />
stressverdächtig. Erwin konnte vom Hausarzt<br />
wenig Hilfe erwarten, die größte Hilfe bestand<br />
darin, ihm möglichst viele Tabletten zu<br />
verschreiben. Wenn er frühmorgens mit einem<br />
Brummschädel aufwachte, waren es in der Regel<br />
die starken Leberschmerzen, die ihm den<br />
Wecker ersetzten. Und er empfand dabei eine<br />
große Unruhe, am liebsten wäre er für immer<br />
eingeschlafen, oder er hoffte, bis zum Abend<br />
154
einen Zeitsprung machen zu können, weil die<br />
Schmerzen kaum zu ertragen waren. Dafür gab<br />
es die Tabletten, und nachdem er sich eine<br />
doppelte Menge runter gespült hatte, kam auch<br />
schon die Erlösung, bis in den frühen Nachmittag<br />
blieb er schmerzfrei. Es war wie ein Wettlauf mit<br />
dem Unvermeidlichen, und am Ende siegte der<br />
Tod über das Leben. So musste es sein, und<br />
nicht umgekehrt. Nur empfand er es als eine<br />
Zumutung, dass er nun einfach dahinsiechen<br />
musste, und das ohne etwas dagegen tun zu<br />
können. Das Leben war brutal und unerbittlich!<br />
Aber es nützte absolut nichts, sich vor dem<br />
nahenden Tod zu fürchten, ob er sich fürchtete<br />
oder nicht, er ließ sich nicht verhindern!<br />
Er war lediglich ein Sandkorn auf dieser Erde,<br />
und alles Leben ging weiter, so, als hätte es ihn<br />
gar nie gegeben! Das konnte er auch jedes Mal<br />
bei seinen verstorbenen Kollegen feststellen,<br />
wenn der Hans nicht mehr zum täglichen Einkauf<br />
ging, niemanden fiel auf, dass er ausblieb, nicht<br />
einmal die Kassiererin im Supermarkt, mit<br />
welcher er immer einen Kurzschwatz führte.<br />
Und wenn er sich vorstellte, dass es bei ihm<br />
genau gleich ablaufen wird, überkam ihn ein<br />
seltsames Gefühl <strong>von</strong> Machtlosigkeit und<br />
Depression.<br />
155
Das unterschied ihn vom Hund, der Hund weiß<br />
nicht, dass seine Stunde bald geschlagen hat,<br />
er genießt das Leben bis zum letzten Atemzug.<br />
Aber er als Mensch muss seinen sicheren Tod<br />
demütig abwarten.<br />
Erwin war felsenfest überzeugt, dass er der<br />
nächste Todeskandidat der Stammtischrunde<br />
sein wird. Aber er sollte sich täuschen, da war<br />
dieser Roland, nahezu zehn Jahre jünger als er,<br />
und spindeldürr, also kerngesund und nicht<br />
dickbäuchig wie seine Kollegen. Seit bald zwei<br />
Jahren klagte er aber über ständige<br />
Magenschmerzen, und sein Arzt verschrieb ihm<br />
ausreichend Tabletten. Aber er brachte diese<br />
Plage nicht weg, deshalb leitete der Arzt ihn<br />
weiter an einen Spezialisten. Und schon bald<br />
musste er die Diagnose: „Krebs im Endstadium“<br />
entgegennehmen, für den sehr aktiven Roland<br />
brach eine Welt zusammen. Ja, die Nachricht<br />
wirkte wie eine Bombe, nach wenigen Tagen sah<br />
er aus wie ein Zombie, nur noch ein Häufchen<br />
Elend. Sein Ende kam mit Riesenschritten, nur<br />
ein Monat nach dem negativen Bescheid, wurde<br />
Roland zu Grabe getragen. Für Erwin war das<br />
kein Trost, er wunderte sich nur, wie schnell<br />
man in diesem Leben abgebucht wird. Fast<br />
beneidete er den Roland wegen seinem raschen<br />
156
Abschied. Der hatte es hinter sich, und einmal<br />
mehr musste Erwin an einer Bestattung<br />
teilhaben, welche nicht die seine war.<br />
Die Abdankung unterschied sich in nichts <strong>von</strong><br />
allen den vorangehenden, nur die Leute waren<br />
nicht die gleichen. Und auch der Friedhof war<br />
woanders. Als Erwin sich die neuen Gräber<br />
neben dem Roland näher anschaute, fiel ihm<br />
beim zweiten Grab ein Namen auf, den er kennen<br />
musste: “Waldemar Bünzli“! Der Grabstein fehlte<br />
noch, und war provisorisch durch ein einfaches<br />
Holzkreuz gesetzt. Und hinter den Blumen war<br />
eine kleine Holztafel angebracht: „Einsamer<br />
Wolf“, und in etwas kleinerer Schrift:<br />
„Ehrenhäuptling der Sioux Indianer“.<br />
Erwin war erneut betroffen, der „Einsame Wolf“<br />
war doch kerngesund, als er die Anstalt verließ!<br />
Er rief seinen Kollegen Heinrich Loser an, und<br />
dieser wusste folgendes zu vermelden: „Ja, der<br />
„Einsame Wolf“ hat uns plötzlich verlassen und<br />
ist in die „Ewigen Jagdgründe“ verreist. Es ist<br />
schon bald ein Monat her, als er eines Morgens<br />
beim Frühstück sagte: „Heute ist ein guter Tag<br />
zum Sterben“, aber niemand nahm ihn ernst, er<br />
sagte das doch oft. Aber an diesem Tag geschah<br />
ein Unglück, nach dem Sonnentanz kletterte er<br />
auf den großen Lindenbaum, weit oben, es<br />
mochten sicher sechs Meter sein, legte er sich<br />
157
auf einen Ast und meditierte. Vermutlich befand<br />
er sich in sehr tiefer Trance oder war sogar<br />
eingeschlafen? Er fiel Kopf voran in die Tiefe und<br />
brach sich das Genick!“<br />
„Das passt ja genau zum „Einsamen Wolf“, wie er<br />
lebte, so starb er, und wer hat die Tafel am<br />
provisorischen Grab beschriftet“, fragte Erwin.<br />
„Das war ich“ antwortete Heinrich.<br />
Erwin: „Das hast Du aber gut gemacht, und das<br />
mit dem Ehrenhäuptling stimmt doch wohl<br />
nicht?“<br />
Heinrich: „Falsch geraten, in seinem Zimmer<br />
hatte er eine Urkunde hängen, darauf stand in<br />
englischer Sprache genau das geschrieben, mit<br />
Siegel und Unterschriften, vom Stamm der<br />
Lakota Sioux!“<br />
Erwin: „Kaum zu glauben, aber nun ist er in den<br />
„Ewigen Jagdgründen“ und glücklich“.<br />
Heinrich: „Das will ich auch hoffen“.<br />
Erwin: „Ich bin der nächste Kandidat, meine<br />
Nieren sind am Ende, und die Leber ist auch<br />
futsch, das ist kein Leben mehr!“<br />
Heinrich: „Übertreibe nicht, Du kannst es noch<br />
lange schaffen“.<br />
Erwin: „Nein, diesmal ist die Sache sehr ernst,<br />
mein Arzt will mich an ein Dialysegerät<br />
anschließen, aber das mache ich nicht mit, das<br />
ist doch reiner Horror!“<br />
158
Heinrich: „Stimmt, bei uns müssen zwei ins<br />
Spital, es geht nicht mehr ohne das Gerät.“<br />
„Ohne mich“ sagt Erwin entschlossen, und<br />
Heinrich ist überzeugt, der macht lieber Schluss<br />
als sich noch Wochen und gar Monate quälen zu<br />
lassen. Heinrich hatte noch weitere<br />
Informationen: „Seit Deinem Abgang sind hier<br />
fünf Leute gestorben, da ist einmal der „Einsame<br />
Wolf“, sodann Meier 12, sein Prostatakrebs<br />
hinterließ Ableger, und er hatte keine Chance<br />
auf Heilung. Ulrich Zimmer und Harald Bommer,<br />
die beiden Alzheimerkranken, haben sich auch<br />
abgemeldet, und bei den Frauen die Annemarie<br />
Dubach“.<br />
Erwin: „Danke für die Auskunft, und ich melde<br />
mich hiermit bei Dir ab“.<br />
Heinrich, „Du hast es aber eilig!“<br />
Erwin: „Ich mache mir keine Illusionen“.<br />
Damit war das Gespräch beendet, es sollte das<br />
letzte Mal sein, dass sich die zwei sprechen<br />
konnten.<br />
Der Krug geht zum Brunnen bis er bricht.<br />
Manche brechen früher, andere sehr viel später,<br />
ja, oft denkt man, die halten es ewig aus.<br />
Doch, da gibt es absolut keine Ausnahme.<br />
Und das realisierte auch Erwin, sein Interesse an<br />
der Umgebung ließ nach, Ablenkung brachten<br />
nur noch Freund Alkohol und die vielen Pillen.<br />
159
Das Leben verabschiedete sich langsam aber<br />
sicher aus ihm, noch konnte er sich<br />
selbstständig bewegen, aber wie lange noch?<br />
Sein Dasein vollzog sich <strong>von</strong> einem Rausch zum<br />
nächsten. Und er hoffte, dass er an einem<br />
schönen Morgen einfach nicht mehr erwachen<br />
werde. Aber das Schicksal wollte es ihm nicht<br />
derart einfach erlauben, als er den Arzt<br />
aufsuchte, kriegte dieser Sorgenfalten. Der<br />
Blutzuckergehalt war viel zu hoch, Erwin sollte<br />
sich im Spital einer Dialysebehandlung<br />
(Blutwäsche) unterziehen, und das zweimal<br />
monatlich.<br />
Aber Erwin winkte ab, ohne ihn!<br />
Trotzdem, der Arzt war nun überfordert, er<br />
wies Erwin dem Bezirksspital zu.<br />
Es war offensichtlich, sobald er dort eintraf,<br />
wollte man ihn sicher gleich behalten, aber er<br />
hatte keine Wahl, er benötigte Tabletten, und die<br />
erhielt er nur mit einer ärztlichen Rezeptur.<br />
Er blieb noch etwas beim Hausarzt, dieser<br />
machte missmutig mit. Erwin ging nur noch<br />
selten an die Stammtischtreffs, er hatte das<br />
Gefühl, als Todeskandidat, der ganz zuoberst auf<br />
der Abschussliste stand, nehme man ihn nicht<br />
mehr ernst, für seine Kollegen sei er praktisch<br />
schon gestorben. Natürlich sagte er das nicht,<br />
die hätten es nie und nimmer zugegeben!<br />
160
Er betrank sich darum mehr und mehr zu Hause,<br />
als einsamer Trinker. Wobei es völlig egal war,<br />
ob da noch Leute um ihn herum waren oder nicht,<br />
er befand sich nahezu während 24 Stunden in<br />
einem berauschten Zustand. Erneut rief er bei<br />
der Organisation „EXIT“ an, man möge ihn doch<br />
eine Todespille abgeben. Aber er wurde nicht<br />
fündig, die gesetzlichen Vorschriften erlaubten<br />
nur die Abgabe an Mitglieder!<br />
Erwin plante deshalb eine andere Lösung, er<br />
schleppte sich mühsam in den Wald, dort, wo er<br />
seinen Revolver versteckt hielt. So ein Schuss in<br />
die Schläfe, war mindestens so effizient wie<br />
diese Pille! Gut, für die Aufräumleute war es<br />
weniger lustig, aber die waren sich ja gewohnt<br />
an solche Anblicke.<br />
Unterwegs wurde ihm übel und schwindlig, und<br />
mehrmals musste er sich auf eine der Bänke<br />
setzen, weil er nahezu bewusstlos war. Aber der<br />
größte Schreck traf ihn erst, als er am Versteck<br />
ankam, der Stein vor der Höhle war weg, und der<br />
Revolver ebenfalls!<br />
Und die Füchse, die nebenan einen Bau<br />
bewohnten, waren vermutlich auch nicht die<br />
Räuber!<br />
Von einem Waffenfund im Wald, war nie etwas zu<br />
hören, deshalb vermutete Erwin, seine Waffe<br />
liege nicht bei der Polizei, sondern viel eher bei<br />
161
einem, welcher sich dort ebenfalls ein Versteck<br />
suchte? Oder möglicherweise <strong>von</strong> Pfadfindern<br />
entdeckt wurde, die dort oft campierten?<br />
Tatsache war, der Revolver ist weg!<br />
Damit war der Suizidplan mit dem Revolver auch<br />
nicht mehr aktuell. Im Wald gab es viele Pilze,<br />
die meisten <strong>von</strong> ihnen ungenießbar und giftig.<br />
Vom Fliegenpilz war bekannt, dass sein<br />
Giftpotential nicht ausreichte um ins Jenseits zu<br />
kommen, und lediglich Magenkrämpfe waren<br />
auch nicht gefragt. Aber als sehr wirksam gilt<br />
der Grüne Knollenblätterpilz, aber <strong>von</strong> dieser<br />
Sorte konnte Erwin keine sehen, sie hielten sich<br />
vermutlich versteckt?<br />
Erwin quälte sich den Waldweg entlang, stets<br />
auf der Suche nach dem rettenden Giftpilz.<br />
Plötzlich drehte sich alles um ihn herum, und er<br />
verlor das Bewusstsein.<br />
Als er nach Stunden wieder zu sich kam, lag er<br />
in einem Zimmer und starrte an die weiße Decke.<br />
Neben dem Bett saß eine junge Frau in Weiß,<br />
eine Krankenschwester, sie schaute ihn mit<br />
graublauen Augen wortlos an. Als sie erkannte,<br />
dass der Patient das Bewusstsein erlangte, rief<br />
sie umgehend eine Kontaktperson und meldete:<br />
„Schwester Ursula, PX ist erwacht“.<br />
„Wo bin ich hier?“ fragte Erwin die Frau.<br />
162
„Sie liegen auf der Intensivabteilung des<br />
Bezirksspitals“, war ihre kurze Antwort.<br />
Und bereits gesellte sich eine ganze Gruppe<br />
weißer Gestalten ins Zimmer. Ein baumlanger<br />
älterer Mann, neben ihm ein kleinerer etwas<br />
jüngerer, und die waren flankiert <strong>von</strong> zwei<br />
Schwestern. „Oberarzt Baumberger, und das ist<br />
mein Assistent“ auf den kleineren Mann zeigend,<br />
begann der lange Mann.<br />
Dann führte er aus: „Man hat sie im Wald<br />
aufgelesen, Herr Brunner, sie hatten eine akute<br />
Unterzuckerung, vermutlich hatten Sie zu viele<br />
Tabletten eingenommen?“<br />
Jetzt erinnerte sich Erwin, dass er eine<br />
dreifache Ration Blutzuckertabletten schluckte,<br />
weil er befürchtete, auf seiner Waldwanderung<br />
eine Überzuckerung zu erleiden. Erwin hatte nur<br />
seine Identitätskarte auf sich, vorerst wurde<br />
seine Adresse und die Krankenversicherung<br />
erfasst. Erwin wurde nun auf Lungen und Nieren<br />
untersucht, und die Ergebnisse ließen den<br />
Oberarzt besorgt äußern: „Herr Brunner, es steht<br />
ganz und gar nicht gut mit Ihrer Gesundheit, wir<br />
müssen Sie an ein Dialysegerät anschließen, Ihre<br />
Nieren versagen gänzlich!“<br />
Erwin verwarf die Hände: „Niemals, Herr<br />
Oberarzt, ich mag das nicht!“<br />
163
„Dann benötigen wir Ihre Unterschrift, weil Sie in<br />
wenigen Tagen bei den Engeln sind, und wir<br />
können dann keinerlei Verantwortung tragen“,<br />
antwortete der Oberarzt.<br />
„Kein Problem“, sagte Erwin.<br />
Wenig später erschien der Spitalseelsorger an<br />
seinem Bett, Erwin lag bereits wieder in einem<br />
Halbrausch, diesmal durch Tabletten verursacht.<br />
Er mochte nicht mit diesem<br />
„Seelentröster“ plaudern, das brachte doch nur<br />
noch mehr Frust!<br />
Aber er wünschte noch einmal seine beiden<br />
Kinder zu sehen, und das konnte der Mann<br />
organisieren. Erwin wurde in ein kleines<br />
Einzelzimmer gebracht, seinem Wunsch folgend<br />
ohne lebensverlängernde Behandlungen, nur<br />
großzügig mit Tabletten versorgt, ein<br />
Sterbezimmer!<br />
In seinem beduselten Zustand empfing er den<br />
Sohn und die Tochter, seine Nachfolger auf<br />
Erden, die dafür sorgten, dass seine Gene weiter<br />
lebten. Es war ein kurzer Abschied in Tränen,<br />
Erwins Kontakte mit seinem Nachwuchs waren<br />
eher bescheiden, das war nun eher <strong>von</strong> Vorteil.<br />
Und zum erben gab es kaum etwas, was an<br />
Vermögen blieb, genügte knapp, um die<br />
Bestattungskosten zu decken.<br />
164
In seinem beduselten Zustand, fiel dem Erwin<br />
der Abschied leichter, er befand sich schon<br />
halbwegs im Jenseits.<br />
Der Lebenswille war wie eine Flamme erloschen.<br />
Erwin empfand nur noch Bewegungen im Zimmer,<br />
und die Tabletten wurden ihm eingeflösst wie<br />
den Mastgänsen das Futter. Windeln wechseln<br />
und Körperwaschen nahm er nur noch<br />
schleierhaft wahr. Nur mit größter Anstrengung<br />
realisierte er, dass er sich noch auf der Welt<br />
aufhielt, in einem kleinen Zimmer, und die<br />
Erde drehte sich weiter um die Sonne,<br />
gleichgültig, ob er da war oder nicht!<br />
Er vegetierte dahin, <strong>von</strong> Lebensqualität war<br />
keine Spur mehr vorhanden, aber es störte ihn<br />
nicht, ihm war alles gleichgültig geworden.<br />
Und drei Tage später meldete die Schwester<br />
frühmorgens:<br />
„Hier Schwester Regula auf Station 35, PX ist<br />
<strong>von</strong> seinen Leiden erlöst worden“. Am andern<br />
Ende: „Danke Schwester, wir kommen sogleich,<br />
Sie können danach in die Pause gehen“.<br />
Ende<br />
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165
Über den Autor:<br />
<strong>Rolf</strong> <strong>Bahl</strong>, (Kürzel <strong>von</strong> Vor- und Nachname)<br />
geboren am 24. August 1938 in Bern.<br />
Autodidakt.<br />
Verbrachte die ersten 10 Lebensjahre<br />
mit seinen Eltern in Südwestfrankreich.<br />
Begann mit 15 Jahren eine Lehre zum<br />
„Bau- Kunst- und<br />
Konstruktionsschlosser“, bei der LWB<br />
Bern. Übersiedelte ein Jahr später in die<br />
Ostschweiz, wo er als Bau- und<br />
Fabrikarbeiter tätig war.<br />
Im Alter <strong>von</strong> 17 Jahren, absolvierte er<br />
eine Ausbildung zum Postbeamten, in der<br />
Freizeit bildete er sich mittels<br />
Fernstudium und autodidaktisch weiter,<br />
Diplom als Journalist, etc.<br />
Meldete sich vorzeitig als Infanterist in<br />
die Rekrutenschule, die er mit<br />
achtzehneinhalb Jahren bereits hinter<br />
sich brachte.<br />
Mit 19, verlässt er die Post und reist<br />
erstmals allein nach Nordafrika.<br />
166
Danach stellt er auf den Büroberuf um,<br />
holt nebenberuflich die kaufmännische<br />
Lehrabschlussprüfung nach, arbeitet vier<br />
Jahre bei „Coop Schweiz“, danach<br />
kommen wieder Auslandaufenthalte und<br />
ein Jahr in Genf bei einer Privatbank.<br />
Sodann folgen die „Swissair AG, Kloten“,<br />
sowie die „Union International London“.<br />
1968 verbringt er in Spanien als „Free-<br />
Lance“ Sprachlehrer. Nach seiner<br />
Rückkehr wird er Hauptbuchhalter bei<br />
einer Bautreuhandfirma, wird sehr krank<br />
und muss vor seiner Abreise nach Liberia,<br />
wo er eine Stelle als Geschäftsleiter<br />
hatte, mehrere Wochen ins Spital.<br />
Die Karrierepläne waren aus, die Ärzte<br />
schlugen vor, einen weniger stressigen<br />
Job zu finden, sonst werde er bald bei<br />
den Engeln landen, meinte der Oberarzt<br />
etwas sarkastisch! Die höheren, zum Teil<br />
staatlichen Fachdiplome, waren damit<br />
überflüssig geworden.<br />
Und wie es der Zufall so wollte, fand er<br />
eine Stelle bei der OSEC (Office Suisse<br />
167
d´expansion Commerciale), ganz<br />
stressfrei war der Job auch nicht, aber er<br />
konnte überleben!<br />
Im Jahr 1997, ging er in den beruflichen<br />
Ruhestand, seither lebt er in den kalten<br />
Monaten in Südostasien, und im Sommer<br />
in der Schweiz.<br />
Seit 1968, ist er zudem auch<br />
„Hobbyautor“ und zeitweise Verleger,<br />
(siehe auch<br />
Verzeichnis der <strong>Publikationen</strong>).<br />
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168
<strong>Publikationen</strong> <strong>von</strong><br />
<strong>Rolf</strong> <strong>Bahl</strong>:<br />
(<strong>Gedruckte</strong> <strong>Bücher</strong>)<br />
Einmal die Ferne<br />
sehen, ARUBA-VERLAG 1968<br />
Zwischen 1957 und 1966, reist der Autor etappenweise,<br />
und mit wenig Geld um die Welt. (Vergriffen)<br />
Weltuntergang, 2000<br />
Ende oder Wende?<br />
R. Fischer-Verlag Frankfurt 1992<br />
Der Autor, widmete sich während Jahren der<br />
Parapsychologie, hier versuchte er die<br />
Untergangsprognosen für das Jahr 2000 zu<br />
verharmlosen! Zu recht, wie wir heute wissen. (Nach<br />
2000 vom Verlag aus dem Handel gezogen).<br />
Hinweis: Beide Schriften können in der Schweiz bei:<br />
Schweiz. Nationalbibliothek, CH-3003 Bern, Mail: slbbns@slb.admin.ch,<br />
in Ausleihe gelesen werden.<br />
169
TIMO, der schwarze<br />
Kater, ROBA-VERLAG<br />
Die Geschichte einer Katze<br />
(Neuauflage 2011, jetzt auch als E-Book !)<br />
Schatten im Paradies,<br />
Leben und Sterben in Pattaya<br />
ISBN 974-93004-7-5<br />
Erlebnisse im Rentnerparadies<br />
Flucht aus Manila, ISBN<br />
974-93864-5-0<br />
Ein Tourist gerät in die Fänge einer Erpresserbande!<br />
Die Prinzessin <strong>von</strong><br />
Kalasin, ISBN 974-94967-8-7,<br />
Thailandroman<br />
Eine junge Frau aus dem armen Isaan, zeigt auf, wie<br />
man in kurzer Zeit viel Geld verdienen kann.<br />
170
Daengs Abenteuer, ISBN<br />
978-974-09-8990-5<br />
Der Traum vom sorgenlosen Leben im Farangland<br />
(Westen), wird für Daeng zum wahren Albtraum.<br />
Thailandroman<br />
Sumalis Rache,<br />
Sumali überlebt das „Killing Field“ der „Roten Khmer“,<br />
später rächt sie sich an einem ihrer Peiniger, welcher<br />
nun als Menschenhändler in Thailand aktiv wurde.<br />
Hans im Glück<br />
Als Rentner in Thailand, ISBN 978-974-<br />
367-1 Roman<br />
Rückblick unter<br />
Palmen, ISBN 978-616-903-4,<br />
eine mosaikähnliche<br />
171
Zusammenfassung aus der<br />
Vergangenheit<br />
(Auch als E-Book erhältlich)<br />
Weltvertrieb für obige <strong>Bücher</strong>:<br />
info@farang.co.th, oder www.derfarang.co.th<br />
Bye – Bye Tiluk, eine<br />
seltsame Love Story aus Thailand, nur<br />
in englischer Sprache erhältlich bei:<br />
ROBA-Verlag<br />
Ackerstrasse 4, CH-8604 Volketswil<br />
auch als E-Book bei: Freebook, de<br />
Schriften, welche nur als Ebooks<br />
erhältlich sind:<br />
Blick Zurück,<br />
Autobiographie <strong>von</strong> <strong>Rolf</strong> <strong>Bahl</strong>, nur als<br />
E-Book (890 Seiten)<br />
172
Tod im Barrio Chino,<br />
Barcelona während der Franco<br />
Diktatur.<br />
Nur als E-Book erhältlich<br />
Kurzgeschichten die<br />
das Leben schrieb.<br />
25, zum Teil dramatische Erzählungen<br />
aus dem Leben. Nur als E-book<br />
Nie wieder las Vegas!<br />
Wer sich leichtsinnig dort zweimal<br />
verheiratet, muss später dafür schwer<br />
büßen. Nur als E-Book<br />
173
Der Urgroßvater<br />
die Nachforschungen<br />
in die Vergangenheit, führten zu<br />
erstaunlichen Ergebnissen!<br />
Nur als E-Book<br />
Monikas Stimme<br />
Kriminalroman<br />
nur als E-Book<br />
So sprach<br />
Buddha<br />
ein Versuch, mit westlichem<br />
Verständnis, die Thesen des<br />
Buddhismus zu verstehen.<br />
nur als E-Book<br />
174
Partnerschaft<br />
Vom Wunschdenken zur Realität<br />
Unkonventionelle Ansichten zum Thema<br />
Partnerschaften.<br />
nur als E-Book<br />
Ungültiger<br />
Jahrgang!<br />
Über Altersdiskriminierung und<br />
andere Missstände im Alltag.<br />
nur als E-Book<br />
Butterfly und Nonne<br />
die Fortsetzung <strong>von</strong> Bye Bye<br />
Tiluk<br />
nur als E-Book<br />
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