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Publikationen von Rolf Bahl: (Gedruckte Bücher)

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Erwin<br />

im<br />

Altersheim<br />

Roman <strong>von</strong> <strong>Rolf</strong> <strong>Bahl</strong><br />

1


Copyright@ by <strong>Rolf</strong> <strong>Bahl</strong> 2012<br />

Nur als E-book erhältlich<br />

Alle Namen und Orte in dieser Schrift sind frei<br />

erfunden, jede Ähnlichkeit mit lebenden<br />

Personen ist rein zufällig!<br />

2


Widmung: Für meine Mutter<br />

3


1<br />

„Nein, im Altersheim werdet ihr mich nie sehen,<br />

vorher mache ich Schluss“, wer das immer<br />

wieder am Stammtisch posaunte, war der Erwin.<br />

Und er war seiner Sache absolut sicher: „ Meine<br />

Erika ist sieben Jahre jünger als ich, und sie<br />

wird mich überleben, und mit ihr weiß ich was<br />

ich habe, jeden Abend werden wir den<br />

Sonnenuntergang <strong>von</strong> unserem Balkon aus bei<br />

einem Glas Rotwein genießen, und uns über Gott<br />

und die Welt unterhalten, kann es etwas<br />

Schöneres geben Leute?“ Die Kollegen konnten<br />

da nicht kontern und schauten sich nur nickend<br />

an. Da hatte einer seinen Ruhestand bereits<br />

gedanklich vorbereitet, der war wohl wie der<br />

Landwirt, welcher im Frühjahr schon wusste, wie<br />

die Kartoffelernte im Herbst aussieht.<br />

Erwin war bei der Gemeinde als Straßenwart und<br />

Gärtner in Anstellung, eine Lebensstelle mit<br />

Pensionsberechtigung. Und als die beiden Kinder<br />

ins Erwachsenenalter kamen und die elterliche<br />

Fünfzimmerwohnung verließen, kauften sich<br />

Erika und Erwin, eine schöne Dreizimmer<br />

Eigentumswohnung am Stadtrand. Wenn Erwin<br />

auf seinem Balkon saß, konnte er das Rauschen<br />

des kleines Bachs hören, und er fühlte sich dabei<br />

4


wie am Meeresstrand. Mit 65 Jahren wurde<br />

Erwin pensioniert und feierlich <strong>von</strong> der<br />

Gemeinde verabschiedet. Jetzt konnte das<br />

Leben erst so richtig beginnen, am Morgen<br />

ausschlafen, den ganzen Tag nur das tun was er<br />

oder die Erika wollte. Und am Monatsende traf<br />

regelmäßig die Rente ein, war das ein leben!<br />

Erwin hatte ein sonderbares Hobby, er mochte<br />

Pornofilme! Und nun wollte er mit der Erika<br />

einige dieser abartigen Sachen selber<br />

ausprobieren. Nur hatte die Erika dafür absolut<br />

kein Verständnis und nannte den Erwin einen<br />

perversen Senilen!<br />

Erwin genoss fortan seine Pornos heimlich, ja, er<br />

kaufte sich sogar eine Sattelitenschüssel, damit<br />

konnte er um Mitternacht harte Pornos<br />

empfangen, er blieb dafür im Wohnzimmer und<br />

sagte der Erika, er wolle im RTL noch einen<br />

Western schauen. Aber einmal erwischte ihn die<br />

Erika, als sie nachts um ein Uhr in der Wohnung<br />

ein Stöhnen hörte, erst dachte sie, der Erwin<br />

befriedige sich wieder einmal selbst, das war<br />

aber ein Irrtum, das Stöhnen kam vom Fernseher.<br />

„Erwin, das ist ganz und gar nicht gut für dich,<br />

da kommst du wieder auf dumme Gedanken,<br />

kannst du diese schweinischen Filme nicht<br />

endlich lassen?“ reklamierte die Erika in einem<br />

bösen Ton. Erwin suchte nach einer Ausrede:<br />

5


„Ich habe doch nur in der Werbepause<br />

umgeschaltet, dann schaue ich wieder den<br />

Western im RTL“. Erika wollte einfach nicht<br />

wieder ins Schlafzimmer verschwinden, sie wolle<br />

den Western auch sehen, argumentierte sie, als<br />

aber der Erwin auf RTL umstellte, war da eine<br />

andere Sendung: „Erwin war aber flexibel und<br />

sagte: „Der Film ist nun gerade zu Ende<br />

gegangen“, sagte er leicht verlegen.<br />

„Du gehst jetzt besser ins Bett, damit du<br />

morgens auf magst, wir wollen doch an den<br />

Schwanensee“, sagte die Erika forsch.<br />

Die Erika war eine wahre Naturfreundin, und sie<br />

mochte fast jedes Tier mehr als die Menschen,<br />

<strong>von</strong> denen sie wenig Positives zu sagen<br />

vermochte.<br />

Und auch die lieben Kollegen <strong>von</strong> Erwin, waren<br />

für sie vom untersten Niveau!<br />

Nur einmal, da hatte sie das leidvolle Vergnügen,<br />

die Stammtischgespräche aus nächster Nähe zu<br />

verfolgen, Erwin und seine Leute hatten gar<br />

nicht erkannt, dass hinten in der Ecke noch eine<br />

alte Dame saß und alles mitbekam, Erika war<br />

bereits vor ihnen da, und als die Kegelpartie zu<br />

Ende war, gingen die acht Kollegen an den<br />

Stammtisch und begannen mit ihren saublöden<br />

Sprüchen, grabschten der Serviertochter an den<br />

Busen und sie sah mit Schrecken, wie ihr lieber<br />

6


Mann ihr noch einen Klaps auf den Hintern<br />

verpasste. Beinahe hätte die Erika laut<br />

aufgeschrieen und ihm sämtliche Schimpfworte<br />

an den Kopf geschmissen, aber sie konnte sich<br />

knapp beherrschen. Dafür vernahm sie dann, zu<br />

ihrem größten Erstaunen, dass sie und der Erwin,<br />

es fast jede Nacht bunt zusammen treiben, und<br />

der Erwin noch potenter sei, als damals nach der<br />

Hochzeit. Einerseits war sie richtig stolz auf<br />

ihren Erwin, wenn dieser alles derart rosig<br />

schilderte, wo sie doch seit 15 Jahren rein<br />

nichts mehr zusammen hatten!<br />

Andererseits erniedrigte der Erwin sie zur halben<br />

Nymphomanin, eine Frau also, die nie satt wurde.<br />

Das gefiel ihr als Chorsängerin in der Kirche<br />

schon weniger, als sie dann aber vernehmen<br />

musste, dass auch die Frauen der anderen<br />

Kollegen in nichts zurückstanden, da wurde ihr<br />

bewusst, einem Palaver reiner Fantasten<br />

zuzulauschen!<br />

Alte, senile Lustmolche, die sich gegenseitig<br />

aufgeilen, jeder wollte dabei den andern<br />

übertreffen, das war niveaulos und abscheulich,<br />

pfui! Und danach durfte sich der Erwin zu Hause<br />

eine lange Predigt anhören, nicht vom Pfarrer,<br />

nein, <strong>von</strong> seiner lieben Erika, die ihn wie einen<br />

kleinen Lausebuben abkanzelte. „Du bist genau<br />

der Typ, welcher zur Pädophilie neigt, und wie du<br />

7


die Servierfrau betastet hast, das war auch<br />

völlig pervers, ich hätte dir eins runter gehauen“.<br />

Erwin war sprachlos, und erwiderte nur: „ Also,<br />

die Serviererin mag das, wenn sie mitmacht gibt<br />

es mehr Trinkgelder“. Aha, du Schwein, jetzt<br />

weiß ich, wie du mit dem Geld umher<br />

schmeißt“ mit diesem Schlusswort verschwand<br />

die Erika ins Schlafzimmer. .<br />

Der Abend war im Eimer, und Erwin schlief diese<br />

Nacht auf dem Sofa im Wohnzimmer.<br />

Aber nach dem Regen scheint wieder die Sonne,<br />

das war in den 40 Ehejahren der Familie schon<br />

immer so. Und am nächsten Morgen sah alles<br />

nur noch halb so schlimm aus, wie am Vorabend.<br />

Erwin hatte einen Plan, aber die Erika durfte<br />

natürlich nichts da<strong>von</strong> erfahren, nach all den<br />

Pornos, die er konsumierte, wollte er endlich<br />

auch einmal etwas selber erleben, aber die Erika<br />

war ja nicht dafür zu haben. Für sie ist alles<br />

Sodom und Gomorrha, was außerhalb der<br />

Missionarsstellung figurierte. Im Industriegebiet<br />

Befand sich in einer stillgelegten Fabrik, ein<br />

Bordellbetrieb. Erwin wanderte schon oft daran<br />

vorbei, aber meistens in Begleitung der Erika.<br />

Jeden Mittwochnachmittag war Erika an ihrem<br />

Kaffeekränzchen, und Erwin benutzte den<br />

sturmfreien Nachmittag, um sich im Puff etwas<br />

8


umzusehen. Erst versuchte er es telefonisch, er<br />

wollte lediglich die Preise kennen?<br />

Doch die Dame am anderen Ende blieb kurz<br />

angebunden: „Wir geben keine Informationen am<br />

Telefon, kommen sie einfach vorbei“.<br />

Erwin war unsicher, wenn er dort gesehen wurde,<br />

dann wusste es die Erika bereits am Abend! Da<br />

war doch dieser Siegfried, welcher immer mit<br />

seinem Hund spazieren ging, und der war<br />

schlimmer als die Boulevardzeitung, er wusste<br />

nicht nur mehr als die andern, sondern dichtete<br />

auch noch eine Menge dazu.<br />

Sowohl der Sigi, als auch sein blöder Hund,<br />

waren ihm höchst unsympathisch, darum ging er<br />

den beiden möglichst aus dem Weg, wenn das<br />

ging!<br />

Erwin schlich an einem ruhigen<br />

Mittwochnachmittag leicht aufgeregt um das<br />

Fabrikgebäude herum, er wollte sich ja nur nach<br />

dem Preis erkundigen und nahm kein Geld mit.<br />

Erst einmal blieb er in einer Ecke des Areals<br />

stehen, in weniger als einer halben Stunde,<br />

parkierten sechs Autos, ihnen entstiegen nur<br />

Männer im mittleren Alter, und jeder hatte einen<br />

kleinen Aktenkoffer mit sich, sie verschwanden<br />

durch eine grün bemalte Tür, auf einem<br />

Namenschild stand diskret: „Paradies Sauna“.<br />

9


Erwin machte sich selber Mut und ging direkt auf<br />

diese Tür zu, drinnen war ein Lift, dort stand<br />

geschrieben: „Paradies Sauna: 6. Stock“.<br />

Erwin drückte den 6.Stock, als er den Lift verließ<br />

stand er vor einer roten Holztür: „Bitte<br />

läuten!“ stand drauf. Erwin drückte die Taste,<br />

und wartete der Dinge die da kommen. Die Tür<br />

wurde nach innen geöffnet, vor ihm stand eine<br />

splitternackte junge Frau, das heißt, sie trug<br />

Schuhe mit sehr hohen Absätzen, sonst aber rein<br />

nichts, sie war sehr, sehr schlank, um die 20<br />

Jahre alt, und was ihn am meisten überraschte,<br />

sie sprach seinen Dialekt! „ich bin die Monika“,<br />

sagte sie formlos, „kann ich ihnen helfen?“<br />

Erwin musste dreimal leer schlucken, er fühlte<br />

sich plötzlich ganz klein und unsicher, dann<br />

fasste er sich wieder und fragte: „Was kostet es<br />

bei ihnen, am Telefon wollten sie mir das nicht<br />

sagen“.<br />

Monika: „Ja, das stimmt, wir geben keine<br />

Informationen am Telefon, weil uns die Polizei<br />

und das Steueramt ständig belauschen“.<br />

„Bei uns können sie alles haben, GV, Anal, SM,<br />

BJ, Lesbo, Massagen, etc., wir haben 15<br />

Festangestellte und nochmals so viele Teilzeit.<br />

Zwei machen auch Handsex, die Molli aus<br />

Brasilien und die Perushka aus Ungarn,<br />

besonders begehrt bei den Senioren mit<br />

10


Potenzproblemen. Eine Viertelstunde kostet<br />

150.- eine Stunde 400.- Franken.“<br />

Erwin wollte sich erst einmal überlegen, dankte<br />

der Monika und sagte auf Wiedersehen.<br />

Wie er gekommen war, so schlich er sich wieder<br />

da<strong>von</strong>, immer auf der Hut vor dem Sigi und<br />

seinem Hund. Er beschloss, am folgenden<br />

Mittwoch zuzuschlagen, die Erika feierte dann<br />

mit der Heidi und der Margrit den 65. Geburtstag,<br />

und spendete dabei eine Torte.<br />

Erwin bereitete sich wie ein Preisboxer auf<br />

seinen Auftritt vor, probierte allerlei Tabletten,<br />

und schluckte rohe Eier, all das sollte seine<br />

Potenz steigern.<br />

Viagra konnte er sich nicht beschaffen, weil er<br />

ein Rezept vom Hausarzt benötigte, und das<br />

hätte die Erika umgehend vernommen.<br />

Diesmal war er noch nervöser, im großen Saal<br />

waren noch acht Frauen ohne Beschäftigung,<br />

alle Ausländerinnen, Erwin kam sich vor wie auf<br />

dem Jahrmarkt, wenn der Landwirt eine Kuh<br />

kaufen will. Da stand er nun und wurde immer<br />

kleiner, wer die Wahl hat, hat die Qual!<br />

Die rundliche mit den blonden Haaren kam nicht<br />

in Frage, die sah aus wie seine Erika vor 30<br />

Jahren, eher die halbschwarze mit den langen<br />

Haaren, sie lächelte ihm zu und er sagte gleich<br />

zu. Das neu verliebte Paar verschwand in einer<br />

11


Nische, die Amalia, so hieß sie, schloss die Tür<br />

und nun waren sie unter sich und ungestört.<br />

Eine Stunde war bezahlt und angesagt, die<br />

Amalia stellte den Timer ein, zeigte ihn dem<br />

Erwin, damit dieser sich vergewissern konnte,<br />

dass nicht mit der Zeit gemogelt wird.<br />

Amalia war schnell ausgezogen, Erwin benötigte<br />

da schon etwas länger, dann wollte Amalia mit<br />

einigen Deutschworten wissen, was der Erwin<br />

möge, dieser hatte nur einen Wunsch, wieder<br />

einmal richtig Sex haben, wie früher in der guten<br />

alten Jugendzeit!<br />

„Bumsen“ sagte er Erwin, und Amalia lachte und<br />

begann seinen besten Freund zu massieren, da<br />

machte sie eine Bemerkung, die dem Erwin den<br />

ganzen Spaß verderben sollte: „ Schwanz sein<br />

sehr klein!“ Es war, als würde ihn ein Blitzschlag<br />

treffen, und sein Freund wurde nicht größer,<br />

sondern leider noch kleiner!<br />

Die Amalia schien zu realisieren, dass es hier mit<br />

einem besonders sensiblen Kerl zu tun hatte,<br />

sie versuchte ihn zu trösten: „keine Angst Papa,<br />

ich machen gut Sex für dich“.<br />

Das Wort „Papa“ traf ihn erneut wie ein Pfeil ins<br />

Herz, natürlich war er mit 72 Papa, aber das<br />

musste jetzt nicht hervorgehoben werden, jetzt,<br />

da er ein erotisches Abendteuer vor hatte. Die<br />

12


Amalia rieb am Freund herum wie eine<br />

Berserkerin, es schmerzte schon richtig,<br />

nach erfolglosen 30 Minuten schlug die Amalia<br />

vor, wenn der kleine Freund schlapp mache,<br />

dann gehe das immer mit den Fingern oder der<br />

Hand, sie habe da Erfahrung und viele<br />

Senioren wollten nur noch das. Erwin kannte das<br />

aus den Pornofilmen, aber wie Anal, so waren<br />

auch Hände aus seiner Sicht nur Ersatz für den<br />

echten Sex. Ein ganzer Kerl wie er, machte<br />

keinen abartigen Sex, das war doch sonnenklar.<br />

Die Amalia musste ihn hochkriegen, dafür hatte<br />

er 400.-Franken gespart. Die Amalia wusste aber,<br />

wie sie den Stolz des Erwin noch retten konnte,<br />

indem sie sich auf ihn setzte und dann das<br />

Ganze einfach quer hinein schob, sogar noch die<br />

Testikel, was für den Erwin eine völlig neue<br />

Erfahrung bedeutete.<br />

Und schließlich erhärtete sich sein bester<br />

Freund doch noch etwas, und die Vorstellung<br />

war gerettet. Erwin schämte sich aber doch<br />

etwas, und er zahlte eiligst die 400.-Franken und<br />

schlich sich erneut da<strong>von</strong>.<br />

Jetzt erinnerte er sich, dass er soeben 10%<br />

seiner Renten für ein eher dubioses Sexspiel<br />

verprasst hatte, dabei wollten er und die Erika<br />

am Samstag doch ins VIP Restaurant ganz dick<br />

dinieren gehen, pro Person zahlten sie jeweils<br />

13


um die 400.-Franken, man will sich schließlich<br />

auch etwas gönnen, und es macht Erika immer<br />

wieder Spaß, wenn sie die langen Gesichter der<br />

Frau Direktor Bluntschli, oder <strong>von</strong> Frau Dr.<br />

Morgentaler sieht, die sich wundern, dass die<br />

Familie Brunner sich so etwas leisten kann.<br />

Darum reserviert Erika jeden Monat einmal einen<br />

Tisch für Madame und Monsieur Erika und Erwin<br />

Brunner. Und nun wird die Erika diesmal die<br />

Reservation stornieren müssen, das Geld ist weg!<br />

Aber wie soll er das der Erika beibringen?<br />

Auf dem Weg kommen ihm zwei junge Burschen<br />

entgegen, ein Schwarzer und ein Weißer, die<br />

beiden schauen ihn seltsam an, und der Erwin<br />

wittert gleich einen Überfall, aber die sie<br />

scheinen sich nicht um ihn zu interessieren,<br />

Erwin hilft etwas mit, er ergreift sein leeres<br />

Portemonnaie, öffnet es und zeigt es den beiden<br />

Burschen, dabei ruft er laut: „Hier nehmt all mein<br />

Geld!“ Die Burschen grinsen nur, weil ja das<br />

Portemonnaie leer ist. Dann kommt ein<br />

Fußgänger, das ist die Gelegenheit, Erwin ruft<br />

wieder: „Hilfe, Überfall!“ Die beiden Burschen<br />

erkennen das Problem und rennen weg.<br />

Das genügt dem Erwin, er ist gerettet, der<br />

Fußgänger war soeben Zeuge des Überfalls,<br />

er konnte sehen, wie die Burschen da<strong>von</strong><br />

rannten. Der Zeuge schlug vor, die Polizei zu<br />

14


ufen, aber Erwin winkte ab, wegen 400.-<br />

Franken lohne sich das doch nicht.<br />

Aber er notierte sich Namen und Adresse des<br />

Zeugen, sollte die Erika im nicht Glauben<br />

schenken.<br />

Zufrieden legte er die restlichen Meter nach<br />

Hause zurück, und Erotik hatte er vorläufig auch<br />

genug gehabt. Ein kleines Problem war noch zu<br />

lösen, seine Kleider rochen etwas nach den<br />

Aromen im Puff, vielleicht sollte er sich bei den<br />

Müllsäcken etwas umparfümieren lassen?<br />

Dort roch es nach Hundescheiße!<br />

$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$<br />

15


2<br />

Die Geschichte mit dem Raubüberfall war ein<br />

voller Erfolg für Erwin, damit konnte er nicht nur<br />

seine Niederlage im „Paradies“ kompensieren,<br />

sondern er gewann noch dazu an Ansehen.<br />

Wenn ein zweiundsiebzigjähriger Senior zwei<br />

Ganoven in die Flucht schlagen kann, dann<br />

verdient er den Respekt seiner Umgebung.<br />

Um glaubwürdiger zu erscheinen, riss er noch<br />

zwei Knöpfe <strong>von</strong> seiner Bluse weg, die Erika<br />

nähte umso lieber wieder zwei neue auf.<br />

Und Erika machte ihm durchaus keine Vorwürfe,<br />

sie schlug aber vor, beim nächsten Mal, doch<br />

etwas weniger Geld mit zu führen.<br />

Am Stammtisch war Erwin nun der Held der<br />

Woche, als er schilderte, wie er die beiden<br />

Strolche in die Flucht schlagen konnte, obwohl<br />

der Schwarze dem Boxer Mohamed Ali sehr<br />

ähnlich sah, obsiegte Erwin schließlich!<br />

Damit das Ganze noch dramatischer aussah,<br />

schnitt er sich bei der morgendlichen Rasur noch<br />

in die linke Wange, das war dann <strong>von</strong> einem<br />

Messer eines der Räuber. Das Thema des Tages<br />

war damit auch gegeben, und man musste<br />

einmal mehr feststellen, wie wir doch immer<br />

mehr <strong>von</strong> kriminellen Ausländern überschwemmt<br />

werden. Erwin sonnte sich dabei in seiner neuen<br />

16


Rolle als Held. Einem Vorschlag des Kollegen<br />

Hans, wollte er aber nicht stattgeben, nämlich<br />

die Boulevardzeitung zu informieren, da würden<br />

ja doch nur dumme Fragen gestellt, und am<br />

Schluss alles zu seinem Nachteil verdreht.<br />

Für einmal war Erwin mit sich und der Welt mehr<br />

als zufrieden, und war den beiden Burschen<br />

richtig gehend dankbar, dass sie ihm aus der<br />

Patsche geholfen haben. Beinahe wäre noch<br />

etwas schief gelaufen, als Erwin sich mit dem<br />

scheußlichen Geschmack der Müllsäcke versah,<br />

blieb etwas an seinen Kleidern haften, und das<br />

roch fürchterlich, Erika wollte ihm erst nicht<br />

abnehmen, dass er vermutlich bei der Rauferei<br />

mit dem Schwarzen, damit kontaminiert wurde.<br />

Sie stand im Laden auch schon neben einem<br />

Schwarzen, und der roch nun einmal ganz anders!<br />

Als Erwin ihr aber die Telefonnummer des<br />

einzigen Zeugen gab, wollte sie nicht weiter<br />

forschen und fragen.<br />

Damit war für Erika diese leide Geschichte<br />

erledigt, sie hatte aber noch eine andere,<br />

weniger gute auf Lager. Seit Wochen reduzierte<br />

sich ihr Gewicht signifikant, bereits war sie beim<br />

Hausarzt, welcher ihr Vitamintabletten<br />

verordnete, er führte das auf die Wechseljahre<br />

zurück, welche aber schon längst hinter ihr<br />

lagen.<br />

17


Und der Erwin suchte weniger weit, er hatte<br />

Bandwürmer im Verdacht. Eine umfassende<br />

Generaluntersuchung brachte keinerlei Hinweise<br />

auf eine Krankheit.<br />

Als sich aber die Abmagerung noch<br />

beschleunigte, da schlug der Hausarzt nochmals<br />

eine Blutanalyse beim Spezialisten vor.<br />

Erst jetzt wurde man fündig, und das Resultat<br />

war vernichtend: „Knochenkrebs“!<br />

Für das Ehepaar Erwin und Erika brach eine Welt<br />

zusammen, ja, es war der Weltuntergang!<br />

Es war einfach unglaublich, nein, das durfte es<br />

gar nicht geben!<br />

Der wahre Teufel hatte es auf die beiden<br />

abgesehen. Vergessen waren alle Querelen der<br />

vergangenen 40 Jahre, jetzt galt es gemeinsam<br />

den Teufel zu besiegen.<br />

Die Prognosen hörten sich aber eher negativ an,<br />

bereits konnten kleine Ableger eruiert werden,<br />

und Knochenkrebs konnte nur selten erfolgreich<br />

geheilt werden. Aber noch war nicht alles<br />

verloren, eine Chemotherapie wurde eingeleitet,<br />

Tabletten verabreicht, kurze und längere<br />

Aufenthalte im Spital wurden nötig, das Leben<br />

der beiden wurde auf einmal völlig<br />

durcheinander gerüttelt.<br />

Statt an den Stammtisch zu pilgern, brachte<br />

Erwin Blumen ins Spital, und er musste zusehen,<br />

18


wie seine Erika bei jedem Besuch kränker und<br />

müder wirkte. Die Haare waren auch weg, dieses<br />

Bild hätte er sich lieber ersparen wollen.<br />

Und als er im Traum am Grab der Erika stand,<br />

war für ihn bereits klar, das war nur eine<br />

Vorausnachricht aus dem Jenseits.<br />

Wenn die Erika zu Hause weilte, war er ihr<br />

Krankenpfleger, es war ihm bewusst, dass die<br />

Lage durchaus umgekehrt sein könnte, und da<br />

würde die Erika genau gleich handeln.<br />

Am liebsten wäre er ebenfalls in der gleichen<br />

Lage gewesen, schon rein aus Solidarität, das<br />

Leben war für ihn nur noch ein Fegefeuer.<br />

Und er hatte auch einen klaren Sündenbock,<br />

weshalb die Erika krank wurde, das war diese<br />

verdammte Hochspannungsleitung, welche bei<br />

der früheren Wohnung nur 50 Meter entfernt<br />

am Balkon vorbei zog. Ja, und die Erika saß doch<br />

während Jahren immer auf diesem Balkon,<br />

er war felsenfest überzeugt, ohne diese Leitung<br />

wäre sie nicht erkrankt!<br />

Das sagte ihm auch der Rutengänger Nussbaum,<br />

welchen er noch aus seiner Aktivzeit bei der<br />

Gemeinde kannte, und welcher nebenberuflich<br />

Häuser entstörte und Wasseradern nachspürte.<br />

Aber das war jetzt zu spät, die Würfel waren<br />

gefallen, das Schicksal hatte brutal<br />

zugeschlagen. Nach zweijähriger Therapie, war<br />

19


die Erika nur noch Haut und Knochen, ein<br />

Zombie. Und manche ihrer lieben Bekannten<br />

trauten sich kaum mehr, sie noch auf zu suchen,<br />

sie hatten sie virtuell bereits beerdigt.<br />

Nach einer Chemotherapie fühlte sich Erika<br />

während zwei bis drei Wochen wieder<br />

wesentlich besser, das nächtliche „Knabbern“ in<br />

den Knochen verschwand wieder und sie fühlte<br />

sich munter. Das waren die Momente der<br />

Hoffnung, <strong>von</strong> nun an gehe es aufwärts und<br />

besser! Und daran klammern sich alle<br />

Verwandten und Freunde, ja, bis zum nächsten<br />

Rückfall, welcher so sicher kommt wie das<br />

Amen in der Kirche.<br />

Erwin stellte sich andauern die gleiche Frage;<br />

Warum? Und warum gerade wir? Weshalb nicht<br />

die Nachbarn? Und wo blieb da die göttliche<br />

Gerechtigkeit?<br />

Erika, die ein Leben lang immer schön brav in die<br />

Kirche ging, und im Kirchenchor schöne Lieder<br />

mitsang, warum gerade sie?<br />

Nein, es gab keine plausible Erklärung, die ganze<br />

Welt spielte verrückt, war das nun der Dank für<br />

ein Leben im Namen Jesus und der Kirche?<br />

Wie konnte ein gütiger Gott nur derart brutal und<br />

sarkastisch sein?<br />

Ja, die bibelkundigen Besserwisser, fanden da<br />

immer wieder ein Bibelzitat, welches eine<br />

20


Erklärung bot. Aber das bestand nur deshalb,<br />

weil die Bibel immer Recht behielt. Für Erwin<br />

war das keine anständige Antwort, sondern nur<br />

eine faule Ausrede, die ihm und der Erika absolut<br />

nichts brachte!<br />

Und wenn es eine Hölle gab, dann war er daran,<br />

diese jetzt zu erleben. Er lebte in einer<br />

Horrorwelt zwischen Hoffnung und Fatalismus.<br />

Aber ganz in seinem Innern war noch ein kleiner<br />

Funke Hoffnung auf ein Wunder, trotz den<br />

destruktiven Prognosen der Männer in weiß,<br />

welche der Erika noch drei Monate Dasein<br />

voraussagten.<br />

Nein, das durfte nicht wahr sein, ein Erwin ohne<br />

die Erika, das war wie sein Körper mit<br />

amputierten Gliedmassen. Und wie sollte er das<br />

Leben weiter führen, er konnte nicht einmal<br />

Spiegeleier zubereiten.<br />

Die Ärzte mussten falsch liegen, einfach<br />

ignorieren und weiter hoffen.<br />

Und in seinen Träumen wohnte er nicht mehr der<br />

Bestattung seiner Erika bei, sondern er empfing<br />

sie geheilt und gesund zu Hause in seiner Wohn<br />

ung.<br />

Wenn er aber die traurige Gestalt der völlig<br />

abgemagerten Erika im Spital sah, verblassten<br />

seine Träume wie Seifenblasen an der Sonne.<br />

21


Jetzt wurde sie sogar noch am Bett<br />

festgebunden, damit sie wegen den starken<br />

Schmerzen nicht aus dem Bett rollen konnte.<br />

Weil die Therapie nicht mehr ansprach, wurde<br />

diese eingestellt, und gegen die starken<br />

Schmerzen erhielt Erika kiloweise Tabletten.<br />

Das hatte zur Folge, dass sie nur noch halbwegs<br />

bei Bewusstsein war, und sich permanent in<br />

einem beduselten Halbschlaf befand. In diesem<br />

Zustand bewegte sie sich in einer anderen Welt.<br />

Sie habe die Engel gesehen, sagte sie dem Erwin,<br />

dieser konnte damit nicht viel anfangen und<br />

fragte die junge Krankenschwester: „Schwester,<br />

sehe ich auch Engel, wenn sie mir diese<br />

Tabletten verabreichen?“<br />

Die Schwester errötete und erwiderte: „Schon<br />

möglich, aber andere“. Sie beobachtete dabei,<br />

wie er auf ihre Oberschenkel blickte.<br />

Aber dieser Ausrutscher war nur um Sekunden,<br />

weil Erwin sich der ausweglosen Situation<br />

bewusst war, und jetzt absolut keinen Bock auf<br />

andere Gedanken hatte.<br />

Was er da im Bett sah, das war nicht mehr seine<br />

Frau, das war ein mageres Skelett, welches<br />

schon bald reif für die Entsorgung war. Erika<br />

schien sich bereits weit entfernt aufzuhalten,<br />

wenn sie die Augen öffnete, konnte sie kaum<br />

noch Worte bilden. Erwin verstand aber, dass sie<br />

22


ihre längst verstorbene Mutter ansprach und<br />

nicht ihn, sie erkannte ihn somit nicht mehr!<br />

Das Leben zog sich aus ihrem geschundenen<br />

Körper zurück, sie verabschiedete sich <strong>von</strong> ihrer<br />

Umgebung und war bereit in eine andere Welt zu<br />

ziehen, körperlos und unbeschwert.<br />

Erwin rief eiligst die Kinder und nächsten<br />

Verwandten an, aber es war bereits zu spät,<br />

Erika war schon in der Kühlbox im Keller des<br />

Spitals.<br />

$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$<br />

3<br />

Erwin betonte schon immer, außer bei seiner<br />

eigenen Beerdigung, werde er nie mehr an solch<br />

einer Feier teilnehmen. Und die zweite<br />

Feststellung, war die, dass er niemals in ein<br />

Altersheim einziehen würde.<br />

Nun musste er wohl oder übel beim Abschied<br />

seiner Erika dabei sein, ja. nicht einfach passiv<br />

mitwirken, sondern aktiv.<br />

Er konnte dabei auf die Hilfe der Gemeinde<br />

zurückgreifen, aber auch die Verwandten und<br />

Bekannten konnten dem hilflosen Erwin unter<br />

die Arme greifen. Das meiste wurde ja <strong>von</strong> den<br />

Behörden und dem Pfarramt organisiert.<br />

23


Erwin befand sich in dieser Zeit wie in einer Art<br />

<strong>von</strong> Trancezustand, er realisierte nicht mehr, wie<br />

und was um ihn herum geschah. Er ließ sich<br />

einfach dahinmanipulieren, und hätte man ihm<br />

gesagt, er solle <strong>von</strong> der hohen Brücke runter<br />

springen, er wäre der Aufforderung gefolgt.<br />

Aber auch die Abdankung ging vorüber, und<br />

plötzlich befand sich Erwin in einem großen<br />

Vakuum, eine grenzenlose Leere umfasste ihn,<br />

er fühlte sich elend und verlassen. Und was tut<br />

man in einer solchen Situation?<br />

Richtig, entweder man schluckt eine zehnfache<br />

Ration an Schlaftabletten oder geht sich<br />

besaufen.<br />

Und weil Erwin keine Tabletten zur Stelle hatte,<br />

wählte er die zweite Variante.<br />

Alkohol ist ein zuverlässiger Freund, er lässt<br />

dich nie alleine, und er führt dich in eine<br />

anscheinend bessere Welt. Erwin begann<br />

sogleich mit den stärkeren Drinks, leerte sich<br />

Glas um Glas den Hals hinunter und brummelte<br />

jeweils etwas vor sich hin.<br />

Und so wurde er während Tagen jede Nacht<br />

stock besoffen nach Hause geführt, einmal <strong>von</strong><br />

den Kollegen, ein anderes Mal <strong>von</strong> der Polizei<br />

oder der Heilsarmee.<br />

Am nächsten Nachmittag erwachte er jeweils<br />

mit einem Brummschädel, nahm sich vor, nicht<br />

24


mehr zu trinken, aber nach zehn Minuten war der<br />

Drang bereits wieder stärker. In seiner Wohnung<br />

war eine fürchterliche Sauordnung, bereits<br />

rannten Mäuse da<strong>von</strong>, wenn man in die Wohnung<br />

kam. Bei der Gemeinde machte man sich<br />

Gedanken über den pensionierten Mann,<br />

schließlich war er lange Jahre ihr Angestellter.<br />

Aber Erwin war erneut in einer anderen Welt, er<br />

war alkoholsüchtig geworden, bereits wurde<br />

gemunkelt, man werde ihn bevormunden müssen,<br />

weil er seine ganze Rente versaufe.<br />

Eine andere Möglichkeit ergab sich im<br />

Altersheim der Gemeinde, als ehemaliger<br />

Angestellter war er privilegiert. Und weil soeben<br />

ein Platz frei wurde, weil sich eine Insassin ins<br />

Jenseits abgemeldet hatte, legte man dem Erwin<br />

einen Plan vor, der war an sich einfach,<br />

entweder ins Altersheim oder in die<br />

Alkoholikerentzugsklinik. Weil Erwin erst seit<br />

kurzer Zeit dem Alkohol verfallen war, konnte<br />

man ihm diesen Vorschlag unterbreiten,<br />

allerdings mit dem Vorbehalt, sollte er sich im<br />

Heim nicht integrieren und heimlich weiter<br />

saufen, dann wäre ihm die Entzugsklinik sicher!<br />

Erwin wählte das aus seiner Sicht kleinere Übel,<br />

und meldete sich ins Altersheim. Damit wurde er<br />

ein zweites Mal wortbrüchig, posaunte er doch<br />

stets, in ein Altersheim würde er nie und nimmer<br />

25


gehen. Um den Aufenthalt finanziell sicher zu<br />

stellen, sollte er die Eigentumswohnung<br />

verkaufen, das war in dieser Gegend absolut<br />

kein Problem. Und im Alter <strong>von</strong> 75 Jahren, zog<br />

Erwin nun ins Altersheim „Sonnenschein“ ein.<br />

In ein Haus, <strong>von</strong> dem man wusste, dass man es<br />

mit größter Sicherheit, entweder tot oder schwer<br />

krank verlassen wird!<br />

Sinnigerweise befand sich der Friedhof nur<br />

unweit vom Heim, sozusagen als Hinweis, wohin<br />

die nächste Reise geht, also nicht sehr weit!<br />

Die drei Krankenjahre mit Erika, ließen den<br />

Erwin um mindestens 10 Jahre älter aussehen,<br />

<strong>von</strong> daher passte er bestens her, das<br />

Durchschnittsalter der Insassen lag bei 78<br />

Jahren, somit durfte er sich noch jung fühlen.<br />

Nachdem das Zimmer der Verstorbenen Frau<br />

gereinigt und desinfiziert war, erhielt Erwin das<br />

Aufgebot zum Einzug. Mit gemischten Gefühlen<br />

packte er alle seine Sachen in drei große Koffer,<br />

mehr konnte er nicht mitnehmen, die Zimmer<br />

waren klein und hatten nur einen Einbauschrank.<br />

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26


4<br />

Erwin wurde mit dem VW-Bus des Heims<br />

abgeholt, und wie ein kleiner Prinz bis zum<br />

Eingang begleitet, der Fahrer, ein Frührentner,<br />

half ihm dabei, die Gepäckstücke auf den<br />

zweiten Stock in sein Zimmer zu bringen. Da ein<br />

Lift zur Verfügung war, hätte es der Erwin auch<br />

alleine geschafft, so aber, ging das noch viel<br />

schneller. Danach wurde er zur Heimverwalterin,<br />

Frau Seiler, bestellt.<br />

Diese empfing den Neuling in ihrem eher<br />

bescheidenen Büro, sie hieß ihn im Heim<br />

willkommen, obwohl er nicht ihr Wunschkandidat<br />

war. Aber die Gemeinde, welcher das Heim<br />

gehörte, hatte da ein Wort mitgesprochen, und<br />

deshalb mussten andere auf der Warteliste<br />

weiter warten, zudem wusste Frau Seiler vom<br />

Alkoholproblem des Erwin.<br />

Zuerst überreichte Frau Seiler ihm die<br />

Hausordnung des Alters- und<br />

Pflegeheim „Sonnenschein“<br />

Auf 42 Rubriken verteilt, war da alles geregelt,<br />

was es in so einem Heim zu regeln gab.<br />

27


Das Reglement begann mit der Nummer 1,<br />

welches festhielt: „Die Hausordnung ist für alle<br />

Pensionäre verbindlich“.<br />

Frau Seiler informierte weiter, dass <strong>von</strong> den 60<br />

Zimmer, deren 42 <strong>von</strong> Frauen, und nur 18 mit<br />

Männern besetzt sind. Dann durchackerte sie<br />

gemeinsam mit Erwin die 42 Paragraphen der<br />

Hausordnung, dabei hob sie besonders die<br />

folgenden hervor:<br />

„Die Hausbewohner sind gebeten, einander<br />

freundlich und rücksichtsvoll zu begegnen, sich<br />

gegenseitig zu helfen, um dadurch eine<br />

freundliche Atmosphäre zu schaffen und auch zu<br />

erhalten.“<br />

„Die Benützung der Räumlichkeiten soll mit der<br />

gebotenen Sorgfalt erfolgen“<br />

„Rauchen ist nur in speziell dafür bestimmten<br />

Räumen erlaubt“<br />

„ Über das halten <strong>von</strong> Haustieren, entscheidet<br />

die Heimverwaltung“<br />

„Mahlzeiten werden zu festgesetzten Zeiten im<br />

Esszimmer eingenommen“<br />

28


„Die Zimmer sind einfach möbliert, mit<br />

Zustimmung der Hausverwaltung dürfen weitere<br />

Möbel dazu gekauft werden.“<br />

„Mittags- und Nachtruhe: <strong>von</strong> 12 – 14 Uhr und ab<br />

22 Uhr bis 7 Uhr morgens, ist Ruhezeit.“<br />

„Zimmerreinigung: das Zimmer wird einmal<br />

wöchentlich vom Heimpersonal gereinigt, wenn<br />

das durch den Bewohner erfolgt, wird ihm eine<br />

Differenz gutgeschrieben“<br />

„Wäsche: muss mit Namenschildern bezeichnet<br />

und dem Hausdienst übergeben werden.“<br />

„Nägel dürfen nur durch das Personal<br />

angebracht werden“<br />

„Den Anweisungen des Personals ist immer<br />

Folge zu leisten“.<br />

„Das Nacktbaden auf dem Balkon oder am<br />

Schwimmbecken ist strikte untersagt“.<br />

Erwin atmete auf, als Frau Seiler endlich beim<br />

Absatz 42 angelangt war, aber sie war noch<br />

nicht am Ende.<br />

29


„Herr Brunner, Sie wissen, dass Sie vorläufig nur<br />

provisorisch aufgenommen wurden, das<br />

hauptsächlich wegen Ihren Alkoholproblemen,<br />

es ist Ihnen erlaubt, weiterhin Ihren Stammtisch<br />

und die Kollegen aufzusuchen, aber bitte halten<br />

Sie sich <strong>von</strong> Räuschen zurück, wir kennen da<br />

absolut kein Pardon“. Erwin war sichtlich<br />

überrascht, dass Frau Seiler soviel über ihn<br />

wusste, zuviel seiner Ansicht nach!<br />

Und da war noch sein früherer Beruf im Spiel,<br />

nur wenige Bewohner waren bereit im Park und<br />

in den Gärten zu arbeiten, Erwin war geradezu<br />

dafür prädestiniert, und Frau Seiler war der<br />

Ansicht, das wäre die ideale Therapie für den<br />

Erwin. Aber Erwin war überhaupt nicht<br />

begeistert, sollte er nun, nach 10 Jahren<br />

Ruhestand, wieder zu Spaten und Schaufel<br />

greifen, er, der er doch ein ganzes Leben lang<br />

genug geschuftet hatte! Er schaute seine neue<br />

Chefin etwas seltsam an und sagte nur: „Das<br />

werden wir ja sehen“.<br />

„Ich zähle auf Sie“, antwortete Frau Seiler.<br />

Damit war die Einführung abgeschlossen.<br />

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30


5<br />

Mit gemischten Gefühlen ging Erwin in sein<br />

Zimmer zurück, packte die Koffern aus und<br />

verstaunte seine Sachen im Schrank und in der<br />

Kommode. Dann war er echt müde und legte sich<br />

hin, die Matratze war etwas hart, aber er schlief<br />

trotzdem ein. Als er wieder erwachte, hatte er<br />

Lust nach einem starken Kaffee, er ging in die<br />

Cafeteria, im Gegensatz zum Speisesaal, war<br />

dort Selbstbedienung. Einige Leute schauten ihn<br />

neugierig an, er grüßte kollektiv, ohne sich aber<br />

weiter um sie zu kümmern, sollten die denken, er<br />

sei ein Besucher, diese durften auch in die<br />

Cafeteria. Erwin bestellte einen Kaffee mit<br />

Kuchen, Frau Moni, die Leiterin fragte ihn nach<br />

seiner Zimmer Nummer, jeder Bewohner hatte<br />

ein persönliches Konto, am Monatsende wurde<br />

die Rechnung beglichen. Nur Besucher, waren<br />

verpflichtet, bar zu zahlen, es war auch nicht<br />

erlaubt, diese einzuladen und auf Pump zu<br />

bedienen.<br />

Erwin genoss den Kuchen, mit dem Kaffee war<br />

er aber unzufrieden, er beschwerte sich bei Frau<br />

Moni, aber diese konterte: “Ich nicht sein schuld,<br />

habe Order Kaffee für alte Leute muss sein<br />

schwach!“ Erwin verlangte nun nach der Chefin,<br />

er wollte diese Antwort nicht akzeptieren.<br />

31


Frau Moni verwies ihn an Frau Amsler,<br />

Stellvertreterin <strong>von</strong> Frau Seiler und Chefin der<br />

Küche und Cafeteria. Frau Amsler empfing ihn<br />

mit einem geröteten Kopf: „Sie sind also der<br />

Neue?“ begann sie die Einleitung. Erwin bejahte<br />

das und sagte: „Also, der Kuchen war gut, aber<br />

was Sie da Kaffee nennen, das ist doch wohl<br />

eher die Abwaschlauge <strong>von</strong> heute Mittag!“<br />

Frau Amsler hatte nun einen ganz roten Kopf:<br />

„Also, Herr Brunner, ich verbitte mir diesen Ton,<br />

wir haben vom Gesundheitsamt klare Vorgaben,<br />

über die Getränke und Speisen für unsere<br />

Heimbewohner. Der Kaffee darf nicht stärker<br />

sein, viele Leute bekunden Kreislauf- und<br />

Schlafprobleme. Und wenn Ihnen unser Kaffee<br />

nicht schmeckt, gehen sie halt auswärts, oder<br />

noch viel besser, sie verabschieden sich<br />

sogleich wieder“.<br />

Erwin argumentierte: „Ja, genau das habe ich<br />

gehört, Ihr wollt die Insassen zu Eunuchen und<br />

Zombies abstufen, danke, ich werde mir das<br />

noch überlegen“.<br />

Frau Amsler wollte nicht weiter argumentieren: „<br />

Ja, das ist wohl das Beste und jetzt<br />

entschuldigen Sie mich, ich habe zu tun“.<br />

Das war ja eine richtig tolle Einführung, und<br />

nach fünf Stunden, schon ein Intermezzo mit der<br />

zweitobersten Instanz im Heim.<br />

32


Um 18 Uhr war die Abendmahlzeit im Speisesaal,<br />

Frau Seiler präsentierte den Erwin als den neuen<br />

Insassen, dann ließ sie ihn zwischen dem Hans<br />

Meier 12, einem Ex-Polizisten und dem Heinrich<br />

Loser, Platz nehmen. Mit der Option, er könne<br />

sich später seinen Essplatz selber aussuchen.<br />

Seine beiden Nachbarn waren etwa in seinem<br />

Alter, der Meier 12, litt an Demenz, und der<br />

Heinrich hatte soeben eine Prostataoperation<br />

hinter sich. Frau Seiler hoffte damit, neben<br />

einem Ex-Polizisten würde sich der Erwin eher<br />

mäßigen und zurück halten. Erwin sah sich<br />

etwas um, und was er da sah, war wohl eher ein<br />

Spital. Ja, es hieß „Alters- und Pflegeheim“, rund<br />

ein Drittel saß in Rollstühlen, zahlreiche hinkten<br />

mit Krücken daher, und nur ein kleine Minderheit,<br />

lief ohne Gehhilfen aufrecht daher wie der Erwin.<br />

Zuerst wurde eine salzarme Suppenbrühe<br />

serviert, als Getränke konnte man wählen<br />

zwischen Wasser, Tee oder verdünnten<br />

Obstsäften.<br />

Danach wurden Spätzle mit Gehacktem serviert,<br />

und als Nachspeise noch Apfelmus. Erwin hatte<br />

kaum Zeit, die Speisen zu bewerten, er musste<br />

dem Meier 12, zuhören, dieser erzählte am<br />

laufenden Band über seine Zeit als Polizist,<br />

33


wie er den beiden Gangstern „Deubelbeiss und<br />

Schürmann“ damals ein Feuergefecht lieferte<br />

und die beiden zur Strecke brachte.<br />

Gegenüber saß der Ernst Mosimann, im aktiven<br />

Leben Käser <strong>von</strong> Beruf, er lachte laut und sagte<br />

zum Erwin: „Glaub ihm nicht alles, als<br />

Deubelbeiss und Schürmann die Schweiz in Atem<br />

hielten, war der Meier12, gerade einmal 12<br />

jährig, darum nennen wir ihn Meier 12, und nicht<br />

Meier 19“. Meier 12, antwortete nicht, er litt an<br />

Demenz in fortgeschrittenem Stadium. Dafür<br />

begann nun der Heinrich Loser <strong>von</strong> seiner<br />

Prostataoperation zu erzählen, und einmal<br />

angefangen, konnte er nicht mehr stoppen.<br />

Hinter ihnen war ein Tisch mit nur Frauen,<br />

einige in Rollstühlen, und plötzlich roch Erwin<br />

etwas, das nicht <strong>von</strong> den Getränken herrührte,<br />

eher erinnerte ihn der Geruch an eine öffentliche<br />

Toilette!<br />

Und kaum war der Geschmack da, kam auch<br />

schon Schwester Monika und rollte mit der Frau<br />

Im Rollstuhl weg.<br />

„Das ist die schöne Maria Hurni, sie leidet an<br />

einer permanenten Inkontinenz, sie war einmal<br />

sehr hübsch, ja, das liegt natürlich sehr weit<br />

zurück“ betonte Heinrich Loser lachend.<br />

34


Dann ergänzte er: „Die Maria vergisst manchmal<br />

ihren Urinbeutel, dann kann es eben geschehen,<br />

wie vorhin. Erwin hatte genug und flüchtete sich<br />

in sein Zimmer, die ganze Nacht träumte er <strong>von</strong><br />

seltsamen Gestalten um ihn herum, und oftmals<br />

wachte er schweißgetränkt auf.<br />

Dann realisierte er, dass er im Altersheim lag,<br />

und er überlegte sich ernsthaft, ob er nicht doch<br />

lieber eine Mansarde mieten sollte, um dann<br />

dort wie ein Einsiedler sein Dasein zu fristen?<br />

Diesen sonderbaren Gestalten, denen er hier<br />

begegnete, wollte er nicht gleichgestellt werden,<br />

gut, er befand sich ja sowieso in einer Probezeit,<br />

aber statt sich raus werfen zu lassen, war es<br />

möglicherweise besser, diesen Tag abzuwarten,<br />

und gleich jetzt zu entscheiden. Im Vertrag war<br />

aber eine Kündigungsfrist <strong>von</strong> drei Monaten<br />

vorgeschrieben, selbstverständlich konnte er<br />

sogleich ausziehen, aber das Geld war alle.<br />

Dabei war eine Warteliste vorhanden, aber das<br />

war anscheinend kein Grund für kürzere<br />

Kündigungsfristen.<br />

Gegen den Morgen hin fiel er in einen tiefen<br />

Schlaf, als er erwachte, zeigte seine Uhr bereits<br />

8.15 an! Und bis 9 Uhr wurde das Frühstück<br />

serviert. Er musste sich also beeilen, schnell<br />

eine kalte Dusche und Kurzrasur, dann, um 8.45<br />

35


traf er endlich im Speisesaal ein. Es war auch<br />

möglich, gegen einen Zuschlag, die Mahlzeiten<br />

im Zimmer einzunehmen. Für jedes Extra gab es<br />

einen Zuschlag, und die Dienste waren in<br />

Nummern aufgeteilt, Nr. 22 hieß zum Beispiel:<br />

„Mahlzeit ins Zimmer gebracht“, jeder Bewohner<br />

hatte ein persönliches Konto, wobei die<br />

Zimmernummer auch die Kontonummer war,<br />

beim Erwin war das die Nummer 212.<br />

Am Ende eines Monats wurden dann alle<br />

Sonderleistungen in Rechnung gestellt. Der<br />

Buchhalter druckte jeden einzelnen Posten auf<br />

einer Liste aus, so, konnten die Insassen alles<br />

nochmals überprüfen, was natürlich nur möglich<br />

war, wenn sie selber auch Buchhaltung führten,<br />

aber <strong>von</strong> den 60 Bewohnern taten das nur gerade<br />

deren vier, alles Frauen. Die andern<br />

unterschrieben einfach, und im vollen Vertrauen<br />

auf die Eintragungen des Personals. Das<br />

Sprichwort: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist<br />

besser“, war offensichtlich ein Fremdwort. Mit<br />

dem Frühstück war Erwin zufrieden, wenn er<br />

vom Kaffee einmal wegsah.<br />

Um 11 Uhr geht Erwin zur Küche, das heißt,<br />

bis vor die Küche, er will etwas abklären und<br />

den Küchenchef sprechen, aber am Eingang<br />

steht groß geschrieben: „Kein Zutritt für<br />

Heimbewohner“!<br />

36


Er möchte den Küchenchef sprechen, nach<br />

längeren Palavern, steht dieser plötzlich vor ihm,<br />

ein jüngerer vollschlanker Mann, etwas<br />

ungeduldig fragt er nach dem Wunsch, Erwin<br />

sagte sogleich: „Ich habe gehört, dass in den<br />

Altersheimen Beruhigungsmittel den Speisen<br />

beigefügt werden, ist das hier auch der Fall?“<br />

Der Koch kriegt einen roten Kopf, und wird<br />

unfreundlich: „Da müssen Sie sich an Frau<br />

Amsler wenden, ich darf Ihnen keine Auskunft<br />

geben, und achten Sie das nächste Mal auf<br />

dieses Verbot“. Und schon war der Koch wieder<br />

in der Küche verschwunden. Erwin kam sich<br />

etwas beduselt vor, das war eine Symbiose<br />

zwischen Knast und Militär, aber mit der Frau<br />

Amsler hatte er bereits Bekanntschaft gemacht,<br />

die Reaktion des Küchenbullen genügte ihm<br />

bereits, dieser Hund wusste genau Bescheid.<br />

Dann folgte schon wieder die Mittagsmahlzeit,<br />

Gemüsesuppe, Kartoffelstock mit<br />

Schweinebraten, gemischter Salat, und diese<br />

Fuselgetränke.<br />

Und nach der Mahlzeit fühlte er sich wieder sehr<br />

müde und schläfrig! Das war der Beweis, da<br />

waren Schlaf- und Beruhigungsmittel beigefügt!<br />

Seit dem Tod seiner geliebten Erika, war Erwin<br />

nur noch halbwegs in diesem Leben, da spielte<br />

dieser Umstand auch keine große Rolle mehr.<br />

37


Und vielleicht war es ja nur zu seinem Vorteil,<br />

ansonsten der dritte Frühling sich bei ihm wieder<br />

melden könnte, das Geld reichte nicht mehr für<br />

den Bordellbesuch.<br />

Und es war ihm auch bewusst geworden, dass er<br />

sich im Hein anpassen musste, und nicht das<br />

Heim ihm. Und wenn er den geistigen Zustand<br />

verschiedener Heimbewohner berücksichtigte,<br />

dann war das auch besser so.<br />

Immerhin gab es keine Arrestzelle und<br />

dergleichen, Sonnenschein zählte sich zu den<br />

neuzeitlichen Heimen. Wer Schwierigkeiten<br />

bereitete und sich nicht fügen wollte oder<br />

konnte, wurde aus dem Heim gewiesen, das<br />

erfolgte immer in Absprache mit der<br />

Vormundschaftsbehörde. Erst vor zehn Tagen,<br />

wurde Frau Martha Winkelmann in eine<br />

psychiatrische Klinik eingewiesen, sie war nicht<br />

mehr tragbar, ja, einmal urinierte sie sogar auf<br />

den Tisch in der Cafeteria, sang dabei ein<br />

halleluja Lied und nannte die Tamilin hinter der<br />

Theke „Moorenkopf“, dann warf sie die Tassen<br />

bis zur Decke hoch, und wenn die auf dem Boden<br />

zerschmetterten, jubelte sie und nannte alle<br />

Anwesenden Spinner und Idioten. Als sie auch<br />

noch splitternackt umherlief, kam der Wagen der<br />

Klinik, und die Pfleger fingen sie ein wie ein<br />

wildes Tier. Sie litt unter manischen<br />

38


Depressionen höchsten Grades, ob sie die Klinik<br />

jemals wieder verlassen kann, steht in den<br />

Sternen geschrieben.<br />

Im Sonnenschein geht man mit der Zeit, deshalb<br />

hat es auch eine Bibliothek mit drei Computern,<br />

Magazinen und Zeitungen. Wie viele ältere<br />

Jahrgänge, scheut sich auch Erwin vor dem<br />

Computer, und macht um ihn einen Bogen wie<br />

der Teufel um den Weihrauch!<br />

Er wollte nur kurz reinschauen, da rief ihn Frau<br />

Künzle, sie saß allein an einem Computer und<br />

fragte ihn, ob er sich auch auskenne, aber Erwin<br />

winkte ab, er halte nichts <strong>von</strong> diesem modernen<br />

Zeug. Frau Künzle war 72, und seit acht Jahren<br />

im Heim, sie galt als wandelnde Hauszeitung,<br />

wusste immer über alles und jedes Bescheid, oft<br />

mehr noch als diese selber wussten.<br />

Sie bot dem Erwin an, ihm die Grundkenntnisse<br />

für den PC-Gebrauch beizubringen, aber Erwin<br />

wollte sich nicht blamieren, noch nicht!<br />

Aber er interessierte sich allgemein schon, was<br />

die Emma Künzle alles zu berichten wusste.<br />

Zuerst waren die männlichen Bewohner an der<br />

Reihe, außer dem Fahrer vom Dienst, Jakob Grob,<br />

waren alle andern verrückt oder invalid:<br />

„Da ist einmal der Franzose: Monsieur Dentan,<br />

der hat den Verfolgungswahn, er sieht sich<br />

ständig bedroht und verfolgt.<br />

39


Ulrich Zimmer, Harald Bommer, Sebastian Zingg,<br />

Hannes Molnar, Meier 12, und Luzi Stahl, sie alle<br />

haben Alzheimer, ihnen wurden starke<br />

Medikamente verordnet, und sie sind auf die<br />

Hilfe der Schwestern angewiesen.<br />

Freddy Zanker, Willy Sager, Herbert Geiger und<br />

Max Stoll sind in Rollstühlen.<br />

Johannes Piller, Waldemar Bünzli und Heinz<br />

Hinterwalder, sind als verrückt erklärt worden,<br />

sind aber gutartig. Der Bünzli, glaubt fest daran,<br />

er wäre der inkarnierte Indianer „ Einsamer Wolf“.<br />

Sie können ihn oft im Park sehen und hören,<br />

wenn er seinen Schlangentanz um die Bäume<br />

macht und dabei singt.“<br />

Erwin rechnete nach, da blieben ja nur noch drei<br />

übrig, der Ernst Mosimann, der Heinrich Looser<br />

und er. Zwei Männer wurden ausgemustert, weil<br />

sie das Spital nicht mehr verlassen können, der<br />

Alex Grollimund und der Jakob Hürlimann, für<br />

beide ist der Tod die einzig mögliche Erlösung<br />

vom Krebsleiden!<br />

Erwin konnte sich gut vorstellen, dass auch er<br />

bald einmal in einer der drei Kategorien<br />

figurieren werde. Als er die Frau Künzle<br />

gedankenverloren anschaute, kam ihm diese<br />

sogleich zuvor: „Also ich bin seit 20 Jahren<br />

Witfrau, mein Mann starb an einem Unfall auf<br />

einer Baustelle, ich suche keine Beziehung<br />

40


mehr“. Erwin dachte aber gar nicht an so etwas,<br />

dafür hatte die Emma etwas zu viele Falten im<br />

Gesicht, zudem war sie viel zu schwatzhaft! Frau<br />

Künzle wollte dann die Frauen dran nehmen.<br />

Aber Erwin bekundete bereits Mühe, alle die<br />

Informationen aufzunehmen, deshalb bedankte<br />

er sich bei ihr und zog sich in seine Kammer<br />

zurück. Unterwegs begegnete ihm Frau<br />

Birnbaum: „Ihr werdet alle in der Hölle landen,<br />

Jesus hilft nur den reuigen Menschen!“<br />

Erwin sah sie leicht ungläubig an und fragte:<br />

„Woher wollen Sie das wissen?“<br />

Frau Birnbau hatte immer die Bibel bei sich:<br />

„Hier steht es geschrieben, Sie ungläubiger<br />

Mensch!“<br />

Erwin lief weiter und murmelte vor sich hin: „Ich<br />

bin im Irrenhaus, tatsächlich, ich bin unter lauter<br />

verrückten Leuten, einer ist ein Indianer, die<br />

andere eine Bibel geile Spinnerin.“<br />

„Kann ich ihnen helfen?“ hörte er eine weibliche<br />

Stimme hinter sich sagen. „Nein, ich habe<br />

lediglich etwas laut gedacht“, kam als Antwort.<br />

„Ich bin die Samantha Rudolf, freut mich Herr<br />

Brunner, ich sah sie gestern bei der<br />

Präsentation.“ Erwin fragte: „Sind Sie schon<br />

lange in dieser Herberge?“<br />

„Nein, ich bin erst seit drei Monaten hier“, war<br />

die Antwort.<br />

41


„Sie sehen ja auch noch nicht so alt aus,“ stellte<br />

Erwin fest. “Ich bin 64, und die Drittjüngste hier,<br />

mein Mann starb vor sechs Monaten an<br />

Leberschrumpfung, er war 66, unsere Pläne<br />

lösten sich damit im Nichts auf, und nun bin ich<br />

hier“. „Dann erging es Ihnen wie mir, meine Frau<br />

starb an Krebs und war 68 Jahre alt.“<br />

„Ja, das Schicksal kennte wenig Erbarmen mit<br />

uns, so ist nun einmal das Leben“, stellte<br />

Samantha leise fest.<br />

Erwin fragte weiter: „Sind in diesem Haus<br />

eigentlich alle irre oder krank, mir wurde soeben<br />

mit der Hölle gedroht, <strong>von</strong> einer Frau Birnbaum“.<br />

Samantha lachte: „Ach ja, nehmen Sie die nicht<br />

zu ernst, sie ist <strong>von</strong> Jesus in Besitz genommen<br />

worden, und nun sind wir alle Sünder und Teufel“.<br />

Erwin hatte noch weitere Fragen:“ Was macht<br />

eigentlich diese Frau Künzle, sie weiss über<br />

jeden Mann hier Bescheid?“<br />

„Samantha: „Und auch über jede Frau, und übers<br />

Hauspersonal, sie ist unsere lebendige<br />

Hauszeitung!“<br />

Erwin: „ Das habe ich mir doch gedacht, sie<br />

wirkt sehr mitteilsam“.<br />

Samantha: „Oh ja, das stimmt, und wenn Sie<br />

Informationen benötigen, dann sind Sie bei ihr an<br />

der richtigen Adresse, Sie treffen sie praktisch<br />

immer in der Bibliothek an“.<br />

42


Die beiden verabschiedeten sich dann auf später,<br />

Erwin empfand die Samantha als noch im<br />

Rahmen des für ihn Zumutbaren, ob das<br />

gegenseitig war, konnte er nicht feststellen, er<br />

hatte aber den Eindruck, dass die Samantha sich<br />

mental noch nicht ganz <strong>von</strong> ihrem Mann getrennt<br />

hatte. Sie war aber immerhin vier Jahre jünger<br />

als seine Erika. Am Morgen war er noch fest<br />

entschlossen, aus diesem Irrenhaus auszuziehen,<br />

bevor er gleichgeschaltet war, aber nun hatte er<br />

bereits zwei Kontakte, bei denen er sich<br />

aussprechen konnte, natürlich war ihm bewusst,<br />

dass die Frau Künzle auch ihn durch den<br />

Fleischwolf drehen wird, sein Problem mit dem<br />

Alkohol und die Schwäche für das andere<br />

Geschlecht. Aber was soll es, er hatte bereits<br />

halbwegs Fuß gefasst, er wollte es sich noch gut<br />

überlegen, aber etwas auf Konfrontationskurs<br />

verbleiben, sollte man ihn schließlich weg<br />

weisen, war das auch kein Unglück. Natürlich<br />

immer unter der Voraussetzung, dass er nicht im<br />

Rollstuhl war oder permanent krank.<br />

Am Nachmittag machte er einen Spaziergang<br />

durch den Park und den Garten, er war<br />

bekanntlich Fachmann, sah auch, was nicht<br />

fachmännisch war. Der Heimabwart war auch für<br />

den Garten zuständig, ihm zur Seite standen die<br />

Freiwilligen des Heims. Im Moment stand nur<br />

43


einer zur Verfügung, der Fahrer Jakob Grob,<br />

dieser hatte als Frührentner wenig Rente und<br />

musste sich einen Teil dazu verdienen. Der<br />

Hauswart, ein Herr Schlatter, sprach ihn<br />

diesbezüglich direkt an: „Herr Brunner, Sie sind<br />

doch <strong>von</strong> Beruf Gärtner, ich könnte Sie im Garten<br />

gut brauchen“.<br />

Dieser Ton gefiel dem Erwin ganz und gar nicht,<br />

was hieß da brauchen? Wenn er, der Erwin,<br />

jemals in diesem Garten aktiv werden sollte,<br />

dann war er der Chef, und sicher nicht dieser<br />

Schlatter!<br />

Darum lachte Erwin nur und lief weiter.<br />

Dann hörte Erwin Trommelschläge und einen<br />

monotonen Gesang, vor ihm standen große<br />

Bäume, und um einen dieser Bäume tanzte der<br />

„Einsame Wolf“, alias Waldemar Bünzli.<br />

Der „Einsame Wolf“ ließ stets die gleichen Laute<br />

<strong>von</strong> sich: „How, how, how“ er schwitzte stark,<br />

und schien den Erwin gar nicht zu bemerken,<br />

weil er sich in einer Art <strong>von</strong> Trancezustand<br />

befand. Amüsiert schaute Erwin diesem Treiben<br />

zu, wie der „Einsame Wolf“ im Wechselschritt<br />

nach vorne gebeugt, singend um den Baum<br />

tanzte. Für Erwin war das eine Art <strong>von</strong><br />

Fitnesstraining, mehr nicht.<br />

Endlich war der Tanz beendet, und der „Einsame<br />

Wolf“ sagte zum Erwin: „Ich bin der „Einsame<br />

44


Wolf“, eine Inkarnation des Sioux Häuptlings<br />

„Einsamer Wolf“, und der Tanz vorhin, das war<br />

der Schlangentanz der Apachen Indianer“.<br />

Erwin: „Das ist ja schön und recht, aber die<br />

Apachen leben doch im Südwesten der USA, und<br />

die Sioux im Nordosten!“<br />

Einsamer Wolf: „ Das Bleichgesicht ist gut<br />

informiert, aber der Geist im Baum hier, der war<br />

früher der Apachenkrieger Natchez, er begleitet<br />

mich jedes Mal beim Schlangentanz!“<br />

Das war eine Stufe zu hoch für den Erwin, und er<br />

sagte dem Wolf: „Und ich war früher der Kaiser<br />

Willhelm“.<br />

Wolf: „Ihr Bleichgesichter seid doch alle gleich,<br />

keine Ahnung was es auf der Welt gibt, Ihr seht<br />

ja nur einen Bruchteil da<strong>von</strong>, wir sind umringt<br />

<strong>von</strong> spirituellen Wesen, aber Ihr ignoriert sie alle,<br />

weil Ihr glaubt, Ihr wisst alles besser!“<br />

Erwin: „Also, mein lieber Wolf, mir genügend in<br />

dieser Siedlung bereits die lebenden Wesen, die<br />

sind ja alle verrückt, da brauche ich nicht noch<br />

unsichtbare Wesenheiten“.<br />

Erwin lief weiter und der Wolf rief ihm hinter her:<br />

„Sie werden noch an mich denken, Sie Ignorant,<br />

wenn hier einer spinnt, dann sind Sie es!“<br />

„Der ist ja völlig durchgedreht“, brummte Erwin<br />

vor sich hin. Dann hörte er aus dem Heim ein<br />

45


lautes Kreischen, eine splitternackte Frau<br />

rannte ihm entgegen, ihre schlappen Brüste<br />

hüpften wie Strümpfe an der Leine hin und her:<br />

„Ich bin ein Vogel, ich bin frei, juhu!“ rief sie<br />

fortlaufend. Hinter ihr rannten die beiden<br />

Schwestern, Monika und Ursula, und sie riefen:<br />

„Warten sie Frau Stirnimann, warten!!!!“<br />

Erwin glaubte zu träumen, ob er da im falschen<br />

Theater war? Ja, wenn diese Jasmin Stirnimann,<br />

statt 80, 20 Jahre zählen würde, ja, dann wäre<br />

das schon etwas anderes! Aber dieser<br />

Riesenarsch erinnerte ihn eher an ein<br />

Brauereipferd, und die leeren Brüste an Bilder<br />

aus der Sahelzone. Und das Schrumpfgesicht<br />

hätte gut zum Indianer gepasst. Nein, all das<br />

konnte ihn nicht aufgeilen, viel eher war das<br />

Stoff für einen Horrortraum. Aber der Spuk war<br />

noch nicht vorbei, während er zuschaute, wie die<br />

Schwestern die Frau Stirnimann in eine Decke<br />

einwickelten, erkennt er hinter sich eine bereits<br />

bekannte Stimme, Frau Birnbaum mit der Bibel in<br />

der rechten Hand: „Der Teufel hat Besitz <strong>von</strong> der<br />

Jasmin genommen, nur Jesus kann sie noch vom<br />

Höllenfeuer retten, und Sie, Herr Brunner, sollten<br />

sich schämen, der armen Frau wie ein Lustmolch<br />

zu folgen!“<br />

Erwin: „Sie sind doch eine freche Kuh, Frau<br />

Apfelbaum, die Jasmin rannte mir entgegen,<br />

46


nicht umgekehrt, zudem kann ich mit einem<br />

Zombie nichts anfangen!“<br />

Frau Birnbaum: „Ich heiße Birnbaum, und Sie<br />

sollten sich schämen, ich habe genau gesehen,<br />

wie Sie mit gierigem Blick, die arme Jasmin<br />

verfolgten, auch Sie werden in der Hölle<br />

schmoren!“<br />

Erwin: “Also, das wissen Sie somit so sicher, wie<br />

der Sonnenuntergang!“<br />

Frau Birnbaum: „Spotten Sie nicht, Sie Ketzer,<br />

zeigen Sie endlich Reue, Jesus verzeiht den<br />

Sündern!“<br />

Erwin: „ Was soll ich denn gesündigt haben, Sie<br />

dumme Plaudertasche, und wo war Ihr lieber<br />

Jesus, als meine Frau schwer krank war und<br />

starb?“<br />

Frau Birnbaum: „Gott ist gnädig, darum hat er<br />

Ihre Frau <strong>von</strong> ihren Beschwerden erlöst und zu<br />

sich geholt“.<br />

Erwin: „Wenn Sie das gnädig finden, dann gute<br />

Nacht, da bin ich schon lieber ein Ungläubiger!“<br />

Frau Birnbaum: „Satan weiche <strong>von</strong> mir!“<br />

Erwin: „So ein Blödsinn, als Atheist gibt es für<br />

mich auch keinen Teufel, haben Sie das noch<br />

nicht begriffen?“<br />

Frau Birnbaum: „Jesus hilf mir, ich bin vom<br />

Satan umkreist, hilf mir den Teufel vertreiben!“<br />

47


Erwin: „Ja, ich sehe ihn in Ihren Augen, ich<br />

mache mich jetzt lieber da<strong>von</strong>, sonst beginne ich<br />

auch noch zu spinnen!“ Die Schwestern führten<br />

Frau Stirnimann zurück ins Heim, während Frau<br />

Birnbaum böse Worte hinter dem Erwin<br />

nachschickte. Am Eingang traf er Frau Seiler, die<br />

eifrig mit Frau Amsler diskutierte, Erwin wollte<br />

sich zu Wort melden: „Bin ich hier in einem<br />

Irrenhaus, im Park trommelt ein verrückter<br />

Indianer, vor dem Haus rennt mir eine nackte<br />

Alte entgegen, dahinter eine Sektenspinnerin,<br />

welche mir einen Platz in der Hölle verspricht“.<br />

Frau Seiler: „Beruhigen Sie sich Herr Brunner,<br />

diese Leute haben ein Problem, seien Sie doch<br />

froh, dass Sie keines haben! Frau Stirnimann<br />

leidet an spontanen manisch-epileptischen<br />

Anfällen, sie wohnt dafür in der Pflegeabteilung.“<br />

Erwin: „Schön, und ich leide an temporären,<br />

erotisch manischen Anfällen“.<br />

Frau Seiler: „Machen Sie keine dummen Witze,<br />

ich kenne Ihre Probleme mit dem Alkohol, und<br />

machen Sie keine Dummheiten!“<br />

Erwin: „Ich denke, hier haben alle die gleichen<br />

Rechte!“<br />

Damit lief er weiter und wartete die Antwort gar<br />

nicht mehr ab.<br />

Erwin begab sich in die Cafeteria, dort lachte<br />

ihm die Frau Künzle entgegen, in Gedanken<br />

48


sagte er zu sich: „Diese Hexe werde ich wohl<br />

auch nicht mehr los werden“.<br />

Sie hatte eine aufdringliche Art, aber Erwin<br />

wollte nicht schon den bösen Mann spielen,<br />

daher setzte er sich zu ihr: „Ich schulde Ihnen<br />

noch eine ganze Menge Informationen“, sagte<br />

sie mit voller Überzeugung.<br />

„Sicher haben Sie bereits erfahren, dass<br />

morgens um 9 Uhr, Frau Seiler oder Frau Amsler,<br />

über das hausinterne Netz, eine Art <strong>von</strong><br />

Tagesbefehl oder Programm durchgeben.<br />

Auch Geburtstagswünsche, Todesnachrichten,<br />

besondere Anlässe und Besuche, diese<br />

Informationen gehen in jedes Zimmer, sofern das<br />

Mikrofon nicht ausdrücklich abgestellt wurde.<br />

Ferner findet man die Anschläge im Esszimmer,<br />

in der Cafeteria und beim Eingang.<br />

Heute um 17 Uhr, spielt die Heilsarmee auf dem<br />

Vorplatz, kommen Sie auch Herr Brunner?“<br />

Erwin: Das kann ich jetzt noch nicht sagen, wir<br />

werden ja sehen!“<br />

Erwin wollte endlich etwas Ruhe genießen und<br />

zog sich deshalb in sein Zimmer zurück. Im Haus<br />

gab es ja kaum einen Ort, wo man ungestört<br />

bleiben konnte, da war das Zimmer wie eine<br />

rettende Insel. „Nur nicht wieder dieser Frau<br />

Birnbaum begegnen“, sagte er zu sich.<br />

49


Ihr Auftritt wirkte wie ein Psychoterror, und<br />

darauf konnte er verzichten. Woher nahm diese<br />

Person das Recht her, ihn einfach so<br />

anzuquatschen und Drohungen auszusprechen?<br />

Ob er, der Erwin, sich da auch gewisse<br />

Freiheiten herausnehmen könnte? Nun ja, das<br />

werden wir ja bald einmal erfahren.<br />

Erwin befand sich immer noch tief in der<br />

Anpassungsphase, dass er sich nicht mehr um<br />

die tägliche Verpflegung kümmern musste, hatte<br />

durchaus auch Vorteile, zugleich war das aber<br />

auch ein Abstrich an seiner Lebensqualität, sich<br />

einfach um nichts mehr kümmern zu müssen,<br />

barg große Gefahren in sich, führte zu Lethargie<br />

und Passivität, aber mit Sicherheit auch zu<br />

einem beschleunigten Alterungsprozess.<br />

Von der Cafeteria begab sich Erwin in sein<br />

Zimmer, er benötigte eine dringende<br />

Abwechslung, weil auch der Irrsinn ansteckend<br />

wirkte. Kaum war er in seinem Refugium<br />

angekommen, meldete sich Frau Seiler im<br />

Lautsprecher: „Liebe Heimbewohner, ich<br />

ersuche Sie alle, sich um 16.45 auf den Vorplatz<br />

zu begeben, ab 17 Uhr bietet uns die<br />

Heilsarmeemusik ein Ständchen, ich erwarte,<br />

dass alle dabei sein werden, danke!“<br />

Das klang ja wie ein Befehl, dachte Erwin,<br />

50


aber er wollte hingehen, weil es eine kleine<br />

Abwechslung war. Die Gehbehinderten wurden<br />

<strong>von</strong> den Schwestern auf den Vorplatz geschoben,<br />

die bettlägerigen Leute in ihren Betten auf die<br />

Balkone geliftet, weil die Vorstellung ganz<br />

speziell diesen gewidmet war.<br />

Aber kaum jemand machte sich Gedanken<br />

darüber, dass die Heilsarmeeleute dafür ihre<br />

Freizeit opferten, und dafür keine Entschädigung<br />

erwarten konnten, allerdings kannte das Heim<br />

für solche Fälle eine spezielle Kasse. Das Geld<br />

ging aber nicht in die Taschen der Musiker,<br />

sondern war ausschließlich für gemeinnützige<br />

Zwecke bestimmt.<br />

Wie Erwin befürchtete, spielte die Musik<br />

vorwiegend religiöse und Endzeit schwangere<br />

Musik, und statt hochsommerliche, kam eher<br />

weihnachtliche Stimmung auf.<br />

Aber was soll es? Man musste den guten willen<br />

dieser selbstlosen Menschen anerkennen und<br />

das war ein Applaus wert.<br />

Nostalgiestimmung kam auf, und manche fragten<br />

sich, wer <strong>von</strong> ihnen in einem Jahr noch dabei<br />

sein konnte? Ein jedes Mal, wenn die Musik<br />

aufspielte, fehlten wieder einige Gesichter vom<br />

Vorjahr, aber sie wurden <strong>von</strong> neuen Gesichtern<br />

ersetzt, ob die Bläser das überhaupt realisierten?<br />

51


Die Lebensmühlen mahlten langsam aber sicher,<br />

es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen.<br />

Frau Seiler dankte im Namen aller<br />

Heimbewohner, und überreichte dem Oberbläser<br />

feierlich einen Umschlag. Dann wollte auch noch<br />

Frau Birnbaum das Wort ergreifen, mit der linken<br />

Hand streckte sie die Bibel hoch, und mit der<br />

echten Hand zeigte sie auf die vielen Teufeln um<br />

ihre Person herum. Das Heimpersonal führte sie<br />

vom Platz und damit konnte sie ihre Hasstiraden<br />

nicht anbringen.<br />

Die Vorstellung war um 17.35 beendet, und um<br />

18 Uhr war Nachtessen.<br />

Gerührt, manche mit Tränen in den Augen, zogen<br />

sich die Leute wieder ins Haus zurück.<br />

Am andern Morgen wachte Erwin leicht frustriert<br />

auf, er hatte den Eindruck, diese Anstalt wäre<br />

eine einzige Vorbereitungsstufe auf den Tod.<br />

Die Halbfreiheit und das kasernenähnliche Leben,<br />

war gewöhnungsbedürftig, er empfand plötzlich<br />

ein Engegefühl und permanente Bevormundung.<br />

Das begann mit den Mahlzeiten, Frühstück nur<br />

bis 9 Uhr, und was ist, wenn er um 10 Uhr<br />

frühstücken will? Da kriegt er wohl erst einen<br />

Anschiss <strong>von</strong> Frau Amsler, oder sogar einen<br />

Verweis. Nach dem Morgenessen, fühlte er sich<br />

wie ein eingefangener Mustang, er wollte<br />

ausbrechen, weg <strong>von</strong> hier!<br />

52


Am Mittwoch war Stammtischtag, also, auf und<br />

da<strong>von</strong>.<br />

Er zählte sein Taschengeld nach, das musste<br />

ausreichen für Bus und Eisenbahn! Auch damit<br />

musste er nun sehr knapp durch, die Heimkosten<br />

sogen alle seine Ersparnisse und auch die<br />

Renten auf. Mit dem monatlichen Taschengeld,<br />

konnte sich bestenfalls einmal im Monat zu<br />

seinen Stammtischkollegen begeben, mehr lag<br />

nicht drin, und das Bordell konnte er gänzlich<br />

vergessen. Wie sagte doch der Sozialhelfer der<br />

Gemeinde, als er ins Altersheim kam?<br />

Ah, ja: „ damit Sie keine erotische Triebe mehr<br />

plagen, wird man ihnen dort geeignete Tabletten<br />

verordnen“. Er sollte also zum Eunuchen<br />

umgewandelt werden! Er hatte einmal gehört,<br />

dass man das auch mit läufigen Hunden tat.<br />

Als er aus dem Gebäude lief, traf er den<br />

Hauswart, Jakob Grob an: „Jakob, ich melde<br />

mich bis heute Abend ab, kannst Du das weiter<br />

leiten?“<br />

„Da bin ich nicht zuständig, das muss man der<br />

Frau Amsler melden“, rief ihm der Jakob nach.<br />

Aber Erwin war schon weg und hörte gar nicht<br />

erst zu.<br />

Um 13.30 traf er bei seinen ehemaligen Kollegen<br />

ein, diese staunten nicht schlecht, als sie den<br />

Erwin erblickten. Und Erwin musste erzählen,<br />

53


wie seinerzeit als er Soldat wurde, natürlich<br />

übertrieb er noch etwas, und statt einem<br />

Indianer, gab es einen ganzen Stamm, und<br />

verrückte Mitbewohner fast eine Hundertzahl.<br />

Der Hanspeter rechnete dann aus, wenn so viele<br />

Irre dort lebten, musste ja der Erwin auch dazu<br />

zählen. Und Erwin wurde ernst: „Ihr glaubt es<br />

nicht, aber wenn man ständig um diese irren<br />

Leute sein muss, spinnt man am Ende selber<br />

auch!“<br />

Und seine ehemaligen Kollegen waren einhellig<br />

der Ansicht, Erwin habe in dieser kurzen<br />

Zeitspanne, bereits etwas <strong>von</strong> diesem Übel<br />

aufnehmen können!<br />

Diese Feststellungen nahm der Erwin aber<br />

durchaus nicht auf die leichte Schulter: „Recht<br />

habt Ihr, und will Euch verraten, dass ich<br />

wirklich daran denke, wieder auszuziehen“.<br />

Die Kollegen schauten sich gegenseitig fragend<br />

an. Und weil der Erwin Ehrengast war, gingen<br />

alle Getränke auf Kosten der Kollegen.<br />

Um 17 Uhr, musste Erwin den Rückweg antreten,<br />

er hatte sich die Fahrzeiten <strong>von</strong> der Serviererin<br />

aufschreiben lassen. Da machte ihm der Roland<br />

einen Vorschlag: „ Bleib noch eine Stunde, dann<br />

fährt Dich meine Frau ins Altersheim, ich komme<br />

mit, mit meinen Promillen kann ich leider nicht<br />

mehr ein Auto steuern!“ Das war ein Angebot,<br />

54


und so fuhr die Marianne schließlich gegen 18.30<br />

an, den mittelschwer angetrunkenen Erwin,<br />

konnte sie und Roland, um 19.30 in seinem Heim<br />

absetzen.<br />

Und im Korridor begegnete er der Frau<br />

Birnbaum:“ Verschwinde Du alte Hexe“ rief er ihr<br />

entgegen. „Sie sind ja betrunken, sie<br />

Unhold“ entgegnete sie ihm frech.<br />

Erwin: „Ich bin der Sioux Häuptling „Wilder<br />

Hengst“ und der große Manitu ist mein Gott“.<br />

Frau Birnbaum: „ Jetzt sind Sie aber wirklich<br />

vom Teufel besessen, Satan geh mir aus dem<br />

Weg!“<br />

Der Lärm ließ einige Bewohner aufkreuzen,<br />

aber auch Schwester Monika und Frau Amsler,<br />

erkundigten sich nach dem Problem.<br />

Während Frau Birnbaum ein wirres Gebet vom<br />

Stapel ließ, lallte Erwin: „Diese Apfelbirne wollte<br />

mich beleidigen, sie nannte mich den wahren<br />

Teufel“.<br />

Frau Amsler: „Das dürfen Sie nicht persönlich<br />

nehmen, Frau Birnbaum ist eben sehr religiös“.<br />

Erwin: „Religiös, das ist aber ein milder<br />

Ausdruck für eine Verrückte!“<br />

Frau Amsler: „ Herr Brunner, seien Sie froh, sind<br />

wenigstens Sie noch normal, und jetzt gehen alle<br />

in ihre Zimmer, mit Ihnen Herr Brunner habe ich<br />

noch etwas zu besprechen“.<br />

55


Erwin: „Sprechen Sie nur los, Sie Vogel, Amseln<br />

sind doch Vögel, oder nicht?“<br />

Frau Amsler: „ Ich bitte um mehr Respekt, Herr<br />

Brunner, zudem haben Sie sich heute nicht<br />

abgemeldet, und jetzt sind Sie alkoholisiert<br />

zurück, das darf nicht mehr passieren, ich hoffe,<br />

wir haben uns verstanden, Herr Brunner!“<br />

Erwin: „Das stimmt nicht, ich habe mich beim<br />

Jakob Grob abgemeldet, aber der Kerl hat das<br />

vermutlich nicht weiter geleitet“.<br />

Frau Amsler: „Der Hauswart ist nicht dafür<br />

zuständig, das müssen Sie mir oder einer<br />

Schwester melden.“<br />

Erwin: „ Da war aber keine weit und breit zu<br />

erreichen und ich musste mich beeilen, damit<br />

ich den Vorortsbus noch schaffen konnte.“<br />

Frau Amsler: „Gut, aber beim nächsten Mal gibt<br />

es Strafpunkte ab!“<br />

Erwin: „Ah ja, ich verstehe, Strafexerzieren und<br />

Kampfbahn, wie im Militär!“<br />

Frau Amsler:“ Nein, nicht ganz, aber zum<br />

Beispiel Cafeteriadienst, Parkreinigung und<br />

dergleichen, da sind Sie doch Meister!“<br />

Erwin: „ Danke, Sie können mir doch“.<br />

Und Erwin lief weg in sein Zimmer.<br />

Frau Amsler ging mit leicht gerötetem Gesicht in<br />

ihr Büro zurück: “Nur nicht aufregen“, murmelte<br />

56


sie vor sich hin. Sie überlegte sich, ob sie den<br />

Vorfall mit Frau Seiler besprechen sollte?<br />

Auch diese Frau Birnbaum sorgte täglich für<br />

Ärger, ob die wohl reif für das Irrenhaus war?<br />

Das war eine eher heikle Frage, Glaube und alles<br />

was mit Religion zu tun hat, ist eine heilige Kuh,<br />

das konnte man täglich erleben, und es konnte<br />

lebensgefährlich werden, Religionsfanatiker als<br />

verrückt zu erklären. Selbst<br />

Sittlichkeitsverbrechen, waren unter dem Mantel<br />

der Religiosität, bis vor kurzer Zeit noch ein<br />

Tabu!<br />

Auch wenn es offensichtlich war, dass Frau<br />

Birnbaum geistige Störungen aufwies, solche<br />

wie sie, gab es noch unzählige, und sie alle<br />

einsperren, das war ein Ding der Unmöglichkeit.<br />

Und der Erwin befand sich noch in der Probezeit<br />

und Anpassungsperiode, am Anfang sind viele<br />

Senioren etwas störrisch!<br />

Bei den „hohen Tieren“ figurierte Frau Seiler<br />

ganz oben, aber da war noch der Verwalter der<br />

gesamten Liegenschaft, inklusive aller<br />

Nebengebäude, Park, Hof und Gärten, ein<br />

gewisser Albert Haller. Dieser war beinahe so<br />

schwierig zu sprechen, wie der heilige Vater in<br />

Rom, aber an schönen sonnigen Tagen konnte<br />

man ihm im Park begegnen, mit einer dicken<br />

Zigarre im Mundwinkel. Den Erwin kannte er<br />

57


noch aus der Zeit, als dieser bei der Gemeinde<br />

angestellt war, und sich um die öffentlichen<br />

Blumenanlagen kümmerte. Sie waren aber nicht<br />

per „DU“, weil der Albert, als „eidg. dipl.<br />

Immobilientreuhänder“, einer höheren Gilde<br />

angehörte, er zählte sich zum vornehmen<br />

Mittelstand. Und seinen Stand unterstrich er mit<br />

einer eigenen Villa und einem BMW in der<br />

Garage. Aber Albert hatte noch eine<br />

proletarische Ader, sein Vater war seinerzeit<br />

Fabrikarbeiter, und er musste sich mühsam nach<br />

oben arbeiten. Erst eine Lehre als Schlosser,<br />

danach noch eine kaufmännische<br />

Ausbildung, die es ihm später ermöglichte, einen<br />

höheren eidgenössischen Titel zu kriegen.<br />

Dann begann er auf einem Büro der<br />

Liegenschaften Branche, wurde Prokurist und<br />

schließlich Geschäftsleiter. Und jetzt schiebt er<br />

mit 63, eine etwas ruhigere Kugel um das<br />

Altersheim Sonnenschein. Erwin kam, nach einer<br />

Gehirnwäsche mit Frau Künzle, aus der Cafeteria<br />

und wollte im Park etwas Luft schnappen. Was<br />

diese Frau Künzle nicht alles wusste: Frau Gina<br />

Brocoli, hatte nicht nur Heimweh nach „Bella<br />

Italia,“ sondern litt auch noch an einer schwerer<br />

Demenz, Adelheid Morger kam schon mit MS ins<br />

Heim, Brigitte Thoma und Frau Irma Munsch<br />

litten an Alzheimer,<br />

58


die Berta Schönenberger und auch Sarah Müller<br />

mussten ihre Brüste entfernen lassen, und beide<br />

tragen Perücken. Gilberte Übersax und Martha<br />

Hungerbühler, ließen sich ihre Gesichter „liften“.<br />

Ursula Schmied hat vorgestern ihre dritten<br />

Zähne irrtümlich in den Mülleimer geworfen, nun<br />

muss sie auf Ersatz warten. Heidi Steiner, ist<br />

eigentlich Millionärin, als ihr Mann, ein<br />

Bankdirektor, starb, vermachte er sein ganzes<br />

Vermögen ihr, nun leidet sie aber an einer<br />

schweren Form <strong>von</strong> Parkinson, das Vermögen<br />

wird nun vom Vormund verwaltet, sie braucht<br />

sich keine Sorgen zu machen, ihr Vermögen<br />

erlaubt ihr einen Aufenthalt im Sonnenschein bis<br />

zum 125. Lebensjahr! Und Diana Liebermann,<br />

Sonia Peter und Annemarie Dubach, bildeten<br />

einen spirituellen Zirkel, sie sind die<br />

friedlichsten Heimbewohnerinnen! All das ging<br />

dem Erwin durch den Kopf, als er im Park<br />

plötzlich den Albert Haller antraf: „Guten Tag<br />

Herr Haller“, sagte er eher förmlich. „Ach was,<br />

Sie sind auch da“,<br />

antworte jener etwas lässig. „Erwin: „Ja, aber<br />

als Heimbewohner, nicht beruflich wie Sie“.<br />

„Das ist mir bewusst, Herr Brunner“ erwiderte er,<br />

im Ton wie ein General zu seinem Gefreiten.<br />

Dann kam der Haller gleich zum Thema: „Herr<br />

Brunner, Sie sind genau der richtige Mann für<br />

59


unsere Gartenanlage, und ich zahle Ihnen auch<br />

einen guten Lohn dafür“.<br />

Erwin: „ Da ist doch dieser Schlatter zuständig,<br />

oder nicht?“<br />

Haller: „ Ja schon, aber Sie sind ein Profi, und<br />

direkt mir unterstellt!“<br />

Erwin: „Da sehe ich aber schwarz, der spielt<br />

doch den Chef heraus“.<br />

Haller: „Kein Problem, versuchen Sie es einfach<br />

einmal, ich werde mit ihm reden“.<br />

Erwin: „Gut, ich werde erst einmal die Rosen<br />

dort drüben schneiden, die sehen ja fürchterlich<br />

aus“.<br />

Haller: „Holen Sie sich die Werkzeuge im<br />

Gerätehaus, und schreiben Sie einfach die<br />

Zeit auf, am Ende eines Monats rechen wir dann<br />

ab“.<br />

Erwin: „Gut, morgen Nachmittag werde ich es<br />

versuchen“.<br />

Haller: „Sehr gut Herr Brunner, das freut mich,<br />

ich werde den Hauswart noch anweisen, Ihnen<br />

die Werkzeuge auszuhändigen“.<br />

Erwin verabschiedete sich vom A. Haller, er<br />

hatte nun den Segen <strong>von</strong> ganz oben, und der<br />

Schlatter wird sicher echt dumm dreinschauen,<br />

wenn er das erfährt.<br />

Am folgenden Nachmittag, war Erwin tatsächlich<br />

mit Eifer und voller Konzentration am<br />

60


Rosenstöcke zurechtschneiden. Er tat das<br />

professionell und mit Überzeugung, bisher<br />

wurden diese Stöcke stümperhaft geschnitten,<br />

das zeigte sich an den Blüten, weil die Äste zu<br />

lang waren, wurden die Rosen weniger groß und<br />

üppig! Als er schon bald am Ende der Anlage<br />

eintraf, erschien plötzlich der Schlatter und zog<br />

sogleich mit seiner Besserwisserei drauflos: „Sie<br />

schneiden die Rosenstöcke ja viel zu knapp, sie<br />

benötigen dann eine Ewigkeit, bis sie wieder<br />

grün sind und blühen“.<br />

Das war zuviel für Erwin: „Sie verdammter Idiot,<br />

Sie haben ja keine Ahnung wie man Rosen<br />

richtig schneidet, hauen Sie ab, sonst nehme ich<br />

Sie in die Mange!“<br />

Schlatter: „Ich verbiete Ihnen diesen Ton, ich bin<br />

der Chef hier und nicht Sie, ein dahergelaufener<br />

Alkoholiker!“<br />

Erwin: „Du elendes Arschloch, hier die Schere,<br />

mach weiter, mich wirst Du nie mehr hier an der<br />

Arbeit antreffen, Du eingebildeter Dummkopf!“<br />

Eigentlich wollte er dem Schlatter noch eine<br />

runter hauen, aber er ließ es beim Wortschatz.<br />

Damit war die handwerkliche Vorstellung im<br />

Heim, für den Erwin ein für alle Male<br />

abgeschlossen, die knappe Stunde Arbeit wollte<br />

er dem Sonnenschein schenken. Er benötigte<br />

nun einen starken Kaffee,<br />

61


den es in der Cafeteria nur halbherzig gab, jetzt<br />

war er es, der welcher der Frau Künzle eine<br />

Geschichte erzählte, die vom Gärtnermeister,<br />

welcher vom Rosenschneiden keine blasse<br />

Ahnung hatte. Er war sich der Sache sicher, am<br />

folgenden Tag wussten alle Bescheid. Und ihm,<br />

dem Gemeindegärtner <strong>von</strong> früher, glaubte man<br />

sicher. Zudem war dieser Schlatter für ihn<br />

gestorben, fortan war der für ihn Luft oder noch<br />

weniger. Und er befand sich hier im Ruhestand<br />

und nicht auf Arbeitssuche, soll sich der<br />

Besserwisser Schlatter doch einen dümmeren<br />

suchen. Um 17 Uhr war Turnen angesagt, da<br />

wollte er schauen, was man so für Übungen<br />

anbot. Verlangt war ein Trainingsanzug, Erwin<br />

benutzte diesen aber als Pyjama, aber das<br />

spielte wohl keine große Rolle.<br />

Als Vorturnerin wirkte Schwester Emma, sie war<br />

etwas vollschlank und wollte so vermutlich<br />

abnehmen?<br />

Im Saal befanden sich gerade einmal sechs<br />

Insassen, auch zwei in Rollstühlen, bei den<br />

Armübungen konnten Letztere munter<br />

mitmachen, bei den Beinübungen mussten sie<br />

natürlich passen. Erwin machte etwas<br />

oberflächlich mit, seine Arm und Beinarbeit<br />

ließen zu wünschen übrig, er war müde<br />

geworden, eine Stunde Arbeit,<br />

62


ging eben nicht spurlos an ihm vorbei. Und mit<br />

75 ist man nicht 25, das muss man nun einmal<br />

akzeptieren, wer das ignoriert, betrügt sich<br />

selber. Die Trainingsleiterinnen sind angewiesen,<br />

keine Höchstleistungen zu verlangen, wichtig ist<br />

die Teilnahme. Jene, welche am Turntraining<br />

regelmäßig teilnehmen, und auch täglich<br />

mindestens 20 Minuten spazieren gehen, sind<br />

einhellig der Ansicht, dass ihnen diese Tätigkeit<br />

gut tut, und dass sie dadurch auch noch besser<br />

schlafen. Dabei ist der Wanderweg, welcher am<br />

kleinen Bach entlang führt, ganz besonders<br />

beliebt. Auch die Alzheimer und Demenzträger,<br />

finden so meistens den Nachhauseweg wieder,<br />

weil sie einfach dem Bachweg entlang laufen<br />

müssen, bis sie wieder vor dem Heim stehen.<br />

Am späten Abend herrscht Aufregung im Heim,<br />

Frau Judith Morgenbesser, ist überfällig, sie ging<br />

um 14 Uhr aus dem Gebäude, zuletzt wurde sie<br />

am Bachweg gesehen. Frau Morgenbesser hatte<br />

Alzheimer, Diabetes und Inkontinenz, es war<br />

bekannt, dass sie oft austreten musste und sich<br />

im Gebüsch erleichterte. Und obwohl der Bach<br />

relativ wenig Wasser führte, konnte eine betagte<br />

Frau <strong>von</strong> 86 Jahren, doch darin ertrinken. Um 21<br />

Uhr wurde Alarm ausgelöst, sechs Angestellte<br />

begaben sich mit Taschenlampen und einer<br />

Tragbare auf die Suche. Gleichzeitig wurde auch<br />

63


die Polizei alarmiert. Abwechslungsweise wurde<br />

in die Nacht hinaus gerufen: „Frau<br />

Morgenbesser!“ Aber nur die Kröten und Frösche<br />

antworteten <strong>von</strong> den Bachufern her, <strong>von</strong> Frau<br />

Morgenbesser keine Spur!<br />

Dann klingelte plötzlich das Handy <strong>von</strong> Herrn<br />

Grob, am anderen Ende sprach Frau Amsler, Frau<br />

Morgenbesser sei soeben <strong>von</strong> der Polizei bei ihr<br />

abgeliefert worden, man möge doch schnellstens<br />

zurück finden.<br />

Frau Morgenbesser war gut fünf Kilometer<br />

gelaufen, als sie völlig erschöpft auf eine Bank<br />

sank und dort wartete. Die Wanderer wurden auf<br />

sie aufmerksam, als sie fromme Lieder sang.<br />

Sie konnte aber nicht sagen, wo sich ihr<br />

Zuhause befand. Da alarmierte ein Passant die<br />

Polizei, und diese erkannte sogleich die<br />

Vermisste vom Altersheim. Damit war die Welt<br />

im Sonnenschein wieder in Ordnung, zumindest<br />

bis zum nächsten Zwischenfall.<br />

Erwin war nun bereits seit zwei Wochen im<br />

Altersheim, und er hatte in dieser kurzen Zeit<br />

schon sehr viel <strong>von</strong> seiner Selbstständigkeit<br />

eingebüßt. Es war wie ein lautloser Tod, der sich<br />

ihm da näherte, keine Eigenverantwortung mehr,<br />

nur noch Weisungen und Anordnungen befolgen.<br />

Erwin vermisste die Freiheit, seine<br />

Stammtischkollegen, den Alkohol, und ab und zu<br />

64


einen Ausflug ins Bordell. Es war die<br />

Abwechslung, welche ihm das Leben vorher bot,<br />

und darauf sollte er nun für immer verzichten,<br />

denn hier war Endstation, wer das Heim verließ,<br />

tat dies unfreiwillig, und meistens in einer<br />

rechteckigen Kiste.<br />

Wo waren die Kinder, die Jungendlichen, und die<br />

vielen Menschen im arbeitsfähigem Alter<br />

geblieben?<br />

Nur noch diese Greise und Kranken um sich, die<br />

einen auch nicht positiv motivieren konnten,<br />

sondern vielmehr negativ. Und immer wieder<br />

diese Gespräche über Gebrechen und Leiden,<br />

das musste ja abfärben!<br />

Am Vortag traf er den Heinrich Loser im Park,<br />

sie saßen den ganzen Nachmittag auf einer Bank<br />

und durchsprachen ihr Leben.<br />

Sie hatten etwas gemeinsam, beide verloren ihre<br />

Gattinnen infolge Krebsleiden!<br />

Heinrich Loser begann wieder mit seiner<br />

Prostataoperation: „Noch ist unklar, ob mein<br />

Prostatageschwür gut- oder bösartig war. In<br />

unserem Alter eilt das ja anscheinend nicht mehr.<br />

Ich bin auf alles gefasst, und ich bin fest da<strong>von</strong><br />

überzeugt, dass ein Organ, welches man brach<br />

liegen lässt, viel eher krebsanfällig ist. Das war<br />

nämlich so, meine Veronika und ich, ja, wir<br />

hatten schon seit 20 Jahren kein Intimleben<br />

65


mehr. Und was ist geschehen, Veronika starb an<br />

einem Unterleibskrebs, ich bin fest da<strong>von</strong><br />

überzeugt, wenn wir beide auch nur einmal die<br />

Woche intim gewesen wären, sie würde noch<br />

immer leben, und ich hätte auch kein<br />

Prostatageschwür gehabt!“<br />

Erwin: „Das kannst Du aber nicht beweisen,<br />

sondern nur ahnen, und noch eine Frage, Du<br />

sprichst recht gebildet, warst Du Anwalt?“<br />

Heinrich: „Nein, nicht ganz, ich war Lehrer,<br />

Primarlehrer in der Oberstufe.“<br />

Erwin: „ Ach ja, und ich dachte schon, hier gibt<br />

es lediglich ein intellektuelles Proletariat?“<br />

Heinrich: „Da liegst Du leider nicht falsch,<br />

deshalb verbringe ich die meiste Zeit in der<br />

Bibliothek, oder in meinem Zimmer, dort kann<br />

ich mir klassische Musik abspielen lassen, und<br />

es lenkt auch etwas ab!“<br />

Erwin: „ Recht hast Du, ich traf bisher fast nur<br />

verrückte an, gestern, zum Beispiel, kommt mir<br />

in der Cafeteria eine Frau mit ihrem Tablett<br />

entgegen, plötzlich wirft sie mit lauten halleluja<br />

das ganze zur Decke hoch, Frau Moni lacht nur<br />

und wischt das Zeug auf.“<br />

Heinrich: „Das war die Frau Annamarie Dubach,<br />

sie leidet an manischen Depressionen, wenn sie<br />

ein Hoch verzeichnet, kann es vorkommen, dass<br />

sie die Suppe zur Decke hoch schmeißt. Sonst<br />

66


ist sie aber völlig harmlos, darum lässt man sie<br />

gewähren“.<br />

Erwin: „ Ja, ob man mich auch gewähren lässt,<br />

wenn ich einmal einen Ausrutscher habe?“<br />

Heinrich: „ Bei uns Männern liegt die<br />

Schmerzgrenze weiter unten, hier haben wir es<br />

eben mit einem Frauenregiment zu tun“.<br />

Erwin: „Diesen Eindruck habe ich auch<br />

bekommen, man hält uns doch eher für<br />

impotente Eunuchen, Waschlappen und Zombies.<br />

Wir werden ja sehen, wenn ich auch einmal so<br />

eine manische Depression kriege, ob man mir<br />

dann kündigt?“<br />

Heinrich: „Das würde ich gar nicht erst<br />

versuchen, vor einem halben Jahr wurde der<br />

Erich weg gewiesen, angeblich griff er der Frau<br />

Künzle an die beiden Brüste. Gesehen hat das<br />

aber niemand, und wir zweifeln an deren<br />

Richtigkeit, aber Frau Seiler kennt da kein<br />

Pardon, Erich lebt nun wieder draußen, er<br />

schlägt sich recht gut durch“.<br />

Jetzt beginnt Heinrich <strong>von</strong> seiner Zeit als Lehrer<br />

zu erzählen; „Bin ich froh, nicht mehr<br />

unterrichten zu müssen, früher, da war ein<br />

Lehrer noch eine Respektsperson, sowohl bei<br />

den Kindern, wie auch bei den Eltern und<br />

Behörden, das hat sich alles geändert, heute ist<br />

der Lehrer der Prügelknabe für alles!<br />

67


Und wenn er auch nur mit der Hand einen<br />

leichten Klaps versetzt, ist er seine Stelle schon<br />

los. Für die Schüler ist er der Clown, für die<br />

Eltern der Schuldige, wenn ihre Sprösslinge<br />

versagen und für die Behörde ein<br />

Manipulierobjekt, das man willkürlich<br />

umherdirigieren kann. Du darfst mir glauben,<br />

lieber würde ich auf dem Bau arbeiten, als<br />

nochmals Lehrer zu spielen, wenn ich noch<br />

einmal <strong>von</strong> vorne beginnen müsste.“<br />

Erwin: „Nun ja, Du bist ja in der glücklichen Lage,<br />

es nicht mehr wiederholen zu müssen!“<br />

Heinrich: „Du warst doch Gärtnermeister, das<br />

wäre auch noch ein Job im nächsten Leben!“<br />

Erwin: „Ich würde das wieder erlernen, der<br />

Kontakt mit der Natur, den Blumen, ist etwas<br />

Herrliches! Die Blumen enttäuschen Dich nie,<br />

besonders die Rosen, die sind nun einmal die<br />

Königinnen aller Blumen in unseren<br />

Breitengraden, und ihre Farben und die Parfüms<br />

sind einmalig. Und sie wissen die gute Pflege zu<br />

schätzen, sie belohnen das mit einer grandiosen<br />

Blütenpracht, welche oft während Monaten<br />

anhält! Auch Pflanzen und Blumen sind<br />

Lebewesen, und Du kannst mit ihnen mental<br />

sprechen, wenn sie Dich mögen, dann zeigen sie<br />

es Dir, mit einem einmaligen Blütenzauber. Und<br />

wie alle Lebewesen, riechen sie erst dann<br />

68


schlecht, wenn sie verfault der Erde übergeben<br />

werden.“<br />

Heinrich: „Das hört sich sehr interessant an, ich<br />

denke, Deine Arbeit brachte mehr Dankbarkeit<br />

als die meine!“<br />

Erwin: „Das nehme ich auch an, wenn Du mit der<br />

Natur lebst und arbeitest, bist Du dem realen<br />

Leben viel näher, als etwa beim Ungang mit dem<br />

Menschen, der sich immer weiter <strong>von</strong> der Natur<br />

entfernt.“<br />

Hermann: „Richtig, deshalb gingen früher viele<br />

Lehrer mit den Kindern in die Natur hinaus, in die<br />

Wälder und die Seeufer, aber das wurde im Lauf<br />

der Zeit abgeschafft, weil man die Kinder nur<br />

noch mit totem Wissen voll stopfen will, aber das<br />

ist ein großer Irrtum, die Natur kann man nicht<br />

überspringen, und auch nicht ignorieren, auch<br />

der Mensch ist ein integrierter Teil da<strong>von</strong>, wer<br />

das nicht wahrhaben will, muss eines Tages<br />

dafür bitter büßen!“<br />

Erwin: „Das sehe ich auch so, aber leider sind<br />

da viele Leute anderer Ansicht, und es sieht<br />

absolut nicht gut aus für unsere Jugend!“<br />

Heinrich: „Es hat mich gefreut, unsere<br />

Unterhaltung war sehr interessant, wir werden<br />

uns hier sicher noch oft treffen wenn Gott will,<br />

nun muss ich noch den Meier 12 aufsuchen, er<br />

will mir eine Geschichte <strong>von</strong> früher erzählen, und<br />

69


ich sei der erste Mensch, dem er dieses<br />

Geheimnis anvertraue, da muss ich doch wohl<br />

oder übel mitmachen, vermutlich geht es wieder<br />

um einen Doppelmord!“<br />

Erwin: „Ja sicher, den er natürlich alleine gelöst<br />

hat“<br />

Hermann: „Er ist ja nicht bösartig, aber<br />

manchmal mühsam, weil er wirklich glaubt, was<br />

er sagt“.<br />

Erwin: Dann noch einen schönen Rest“<br />

Hermann: „Danke gleichfalls und ein andermal“<br />

Langweilig wurde es nie im Heim, kaum ein Tag<br />

ohne einen Zwischenfall, und so erlebte Erwin<br />

auch an diesem Abend wieder eine Abwechslung.<br />

Während dem Nachtessen gerieten Frau<br />

Birnbaum und Frau Künzle aneinander. Obwohl<br />

der Frau Birnbaum ein kleiner Einzeltisch<br />

zugewiesen war, konnte sie es nicht unterlassen,<br />

wieder einmal ihr Evangelium zu verkünden: „Um<br />

mich habe ich nur Antichristen und Ketzer, ihre<br />

werdet alle ein sehr böses Ende nehmen, und in<br />

aller Ewigkeit in der Hölle schmoren.“<br />

Das ist nicht richtig Frau Birnbaum,<br />

argumentierte Erwin: „Daran müssen Sie uns<br />

nicht jeden Tag erinnern, wir sind uns doch alle<br />

bewusst, dass wir hier auf unserer aller letzen<br />

Station im Leben befinden, auch Sie Frau<br />

Birnbaum. Und der „Einsame Wolf“ kommt in die<br />

70


ewigen Jagdgründe, das ist das Indianerparadies.<br />

Und die Gina Brocoli in den Spaghettihimmel“.<br />

Frau Birnbaum: „Mit Ihnen habe ich nicht geredet,<br />

Herr Brunner, Sie sind der Satan in Person“.<br />

Da meldet sich Frau Künzle: „Aber Frau<br />

Birnbaum, so was dürfen Sie doch nicht sagen,<br />

das können Sie doch gar nicht beurteilen“.<br />

Jetzt wird Frau Birnbaum noch aggressiver, sie<br />

macht rundum Schläge und zu Frau Künzle: „Sie,<br />

Frau Künzle, sie sind die perfekte Hexe, eine<br />

Ausgeburt der Hölle!“ Dabei wirft sie der Frau<br />

Künzle die Bibel mitten ins Gesicht, Frau Künzle<br />

blutet aus der Nase, hält sich eine<br />

Papierserviette vor die Nase und rennt in die<br />

Toilette.<br />

Nun erscheint auch Frau Amsler mit zwei<br />

Schwestern, sie führen Frau Birnbaum ins Büro<br />

der Frau Seiler. Dieser Übergriff wiegt schwer,<br />

aber Frau Birnbaum führt Provokation ins Feld,<br />

Sie lebe gänzlich im Einklang mit der Lehre <strong>von</strong><br />

Jesus und es seien die andern, welche<br />

Schwierigkeiten machten. Frau Seiler ruft auch<br />

die drei Schwestern aus dem Esszimmer zu sich,<br />

aber viel können auch sie nicht zur Klärung<br />

beitragen. Die Hetztiraden der Frau Birnbaum<br />

sind bekannt. Frau Seiler droht ihr jetzt aber mit<br />

einer möglichen Einweisung in eine<br />

psychiatrische Anstalt an, Frau Birnbaum<br />

71


eagiert mit Empörung, dass der jüngste Tag<br />

bald komme und dann alle die Sünder aus dem<br />

Sonnenschein, ein elendes Ende<br />

erdulden müssen. Frau Seiler hat aber genug:<br />

„Sie sorgen täglich für Unfrieden im Haus,<br />

das können wir nicht länger tolerieren, Frau<br />

Birnbaum, ich muss Sie der<br />

Vormundschaftsbehörde melden, diese wird<br />

dann entscheiden, was mit ihnen geschehen<br />

soll.“<br />

„Das sind alles Antichristen und Ungläubige,<br />

Jesus wird sich ihnen nicht beugen“, antwortete<br />

Frau Birnbaum. Und Sie hatte noch mehr auf<br />

Lager: „Fluch und Schande wird auf Sie<br />

zukommen, auch Sie werden in der Hölle<br />

schmoren, die Menschheit ist schlecht, grausam<br />

und krank“.<br />

„Sie sagen es, und jetzt gehen Sie bitte auf Ihr<br />

Zimmer“, sagte Frau Seiler und wies Frau<br />

Birnbaum die Tür.<br />

Diese Birnbaum war ein harter Brocken, als Frau<br />

Seiler einmal den Dorfpfarrer betsellte, weil sie<br />

hoffte, dieser hätte mehr Einfluss auf die<br />

Birnbaum, empfing sie ihn mit Schimpf und<br />

Schande, bezeichnete ihn als Verräter am<br />

Christentum und als elenden Ketzer!<br />

72


Andererseits waren die psychiatrischen<br />

Anstalten auch nicht sehr geneigt, religiöse<br />

Spinner aufzunehmen, schließlich herrschte<br />

Glaubens- und Gewissensfreiheit, und darunter<br />

war ein breites Spektrum <strong>von</strong> Abarten und<br />

Perversionen eingeschlossen. Und aus religiösen<br />

Motiven, wurden nur in den ausgesuchten<br />

Diktaturen Menschen hinter Gitter versetzt,<br />

niemals aber in einer echten Demokratie!<br />

Die Situation war für alle beteiligten sehr<br />

kritisch zu beurteilen und es gab kaum eine gute<br />

Lösung dafür. Für einmal war Erwin nicht<br />

involviert, und er konnte sich als passiver<br />

Zuseher betätigen.<br />

Am nächsten Morgen erklang die<br />

Geburtstagsmelodie „Happy birthday.....“<br />

und das Geburtstagskind hieß: „Maria Hurni“<br />

oder die schöne Maria, sie feierte heute ihr 85.<br />

Lebensjahr! Bekanntlich litt die Maria an<br />

Inkontinenz, oder einfacher ausgedrückt, an<br />

schwachen, unkontrollierbaren Muskelgeweben<br />

bei der Harnblase und am Darmausgang. Eine<br />

äußerst üble Sache, aber sonst war sie noch bei<br />

ordentlich guter Gesundheit.<br />

Und die schöne Maria hatte ihren Übernamen<br />

nicht umsonst gehabt, in jungen Jahren war sie<br />

Air Hostess bei der nationalen Fluggesellschaft.<br />

73


Weil aber unter Hostess, oft falsche<br />

Vorstellungen aufkamen, wurde dieser Job bald<br />

einmal in Stewardess umgetauft, als dann auch<br />

an dieser Bezeichnung Kritik aufkam, ging man<br />

zum „Flight Attendant“ über, oder Flugbegleiterin.<br />

Und wie immer man es nennen wollte, die Arbeit<br />

war immer die gleiche, eine Servierfrau in der<br />

Luft.<br />

Die schöne Maria war sehr begehrt, sowohl bei<br />

den Passagieren, wie auch bei den Piloten. Aber<br />

sie verkaufte ihre Schönheit teuer,<br />

möglicherweise zu teuer?<br />

Natürlich war der Mann, den sie heiraten wollte,<br />

bereits mit einer anderen Frau verheiratet. Und<br />

anstatt ihre jungen Jahre zu genießen,<br />

verstrickte sie sich in ein jahrelanges<br />

Liebesdrama, aus welchem sie als Siegerin<br />

hervorgehen wollte. Sie brachte es fertig, den<br />

Prinzen, den sie nun einmal haben wollte, hörig<br />

werden zu lassen!<br />

Eine jahrelange und unheilvolle Kampfscheidung<br />

war dann die Folge, eine Abfindung an Frau und<br />

Kinder, die den Piloten nahezu in den Konkurs<br />

trieben, und darüber hinaus noch den ewigen<br />

Fluch seiner Ex-Frau im Nacken!<br />

Endlich konnte die Maria ihren Helmut ehelichen,<br />

der Honig Mond verlief, wie bei den meisten<br />

Paaren, zur beiderseitigen Befriedigung aus.<br />

74


Helmut wurde zum Flugkapitän befördert, und<br />

alles schien in bester Ordnung!<br />

Maria wollte ein Kind haben, sie quittierte ihren<br />

Job als Flugbegleiterin, führte den Haushalt,<br />

noch konnte sich Helmut kein eigenes Haus<br />

Leisten, deshalb mietete er sich eine Villa an<br />

guter Lage. Aber nach einem Jahr war Maria<br />

immer noch nicht schwanger geworden, und das<br />

Problem lag eindeutig bei ihr, Helmut hatte ja<br />

bereits zwei Kinder mit der Ex gezeugt.<br />

Wie bei den Kühen, ordnete der Arzt an, wie oft<br />

am Tag, die beiden verkehren sollten und auch in<br />

welcher Stellung! Aber es brachte keinen Erfolg.<br />

Jetzt versuchte es der Arzt mit einer hormonalen<br />

Kur, angeblich mit 80% Erfolgschancen.<br />

Helmut war nicht abergläubisch, aber der Fluch<br />

seiner Ex machte ihm trotzdem zu schaffen, und<br />

er traute sich der Maria an, aber diese lachte nur<br />

und schob das Ganze ins Reich des<br />

Aberglaubens.<br />

Die Kur war noch nicht abgeschlossen, als sich<br />

alles änderte, Helmut flog mit seiner DC8, einen<br />

regnerisch-stürmischen Flughafen an, es war<br />

ihm nicht wohl dabei, aber er befand sich bereits<br />

zu tief unten um wieder durchzustarten, also<br />

riskierte er die Landung bei Sturm und Regen!<br />

Die Landung missglückte, sein Flugzeug wurde<br />

<strong>von</strong> der Piste weggefegt, rammte ein dort<br />

75


parkiertes Flugzeug! Fazit; sechs tote<br />

Passagiere, rund 20 Verletzte, vom Personal<br />

überlebten alle unverletzt, auch er.<br />

Aber er hatte seinen Job für immer los!<br />

Und weil der schwarze Peter bei ihm lag, war die<br />

Abfindung auch winzig klein ausgefallen.<br />

Helmut war nun arbeitslos, frustriert und<br />

depressiv, und damit war er auch nicht mehr<br />

vermittlungsfähig, wurde gar zum Sozialfall,<br />

Und statt ein Leben als Diva zu verbringen,<br />

musste die Maria wieder eine Arbeit suchen, und<br />

sie war für den Hostessenberuf nun zu alt, weil<br />

sie aber immer noch hübsch war, durfte sie<br />

einen Job beim „Check-In“ übernehmen.<br />

Helmut starb an einem Selbstunfall mit seinem<br />

Auto, es hieß, die Bremsen hätten versagt. Die<br />

schöne Maria, mietete sich eine<br />

Einzimmerwohnung und wollte nie wieder<br />

heiraten. Und jetzt glaubt auch sie, dass am<br />

Fluch der Ex Frau <strong>von</strong> Helmut, doch etwas dran<br />

ist. Und an ihrem 85. Geburtstag, darf sie nur<br />

nicht vergessen, ihre Beutel festzumachen, weil<br />

das sonst bei der Geburtstagstorte einen<br />

fremden Geschmack einbringen könnte.<br />

Happy Birthday schöne Maria! Obwohl die Maria<br />

nie eigene Kinder hatte, kamen zahlreiche<br />

Verwandte zum Geburtstagsfest, als Tante und<br />

Großtante war sie auch begehrt, die Kinder<br />

76


ildeten einen Kreis um sie und sagten Gedichte<br />

auf. Mit ängstlichen Mienen schauten sie zu den<br />

alten Leuten hinüber, so, als wären diese <strong>von</strong><br />

einer bösen Krankheit befallen. Und die Kleinen<br />

waren glücklich, als es wieder nach Hause ging.<br />

Für manche Jugendliche, aber auch Erwachsene,<br />

war ein Besuch im Altersheim eher ein<br />

Kulturschock, nur alte betagte Menschen<br />

anzutreffen, mit allen den<br />

großen und kleinen Bobos. Der kleine Neffe der<br />

Maria fragte nicht ganz grundlos: „Großtante<br />

Maria, sag mal, sind hier alle Leute Krank?“<br />

Maria lacht und versucht zu klären: “Lieber<br />

Bruno, nicht alle, aber viele haben ein Leiden,<br />

manche sogar mehrere, das ist leider oft so im<br />

Alter“.<br />

Und auf dem Nachhauseweg, musste Brunos<br />

Vater noch nachhaltige Fragen beantworten,<br />

und Bruno meinte dazu: „Vater, ich möchte nie in<br />

ein solches Haus, es ist doch eine Belastung,<br />

wenn man nur noch kranke und alte Menschen<br />

um sich hat!“<br />

Dazu konnte der Vater keine befriedigende<br />

Antwort erteilen und schlug seinem Sohn vor,<br />

die Dinge einfach so zu nehmen, wie sie sind,<br />

weil man das leider nicht ändern kann.<br />

77


Erwin war der festen Überzeugung, dass der<br />

„Einsame Wolf“ spinnt, wie sonst konnte dieser<br />

zu einer derart abartigen Idee kommen, und sich<br />

als Indianer aufführen? Ein normaler Mensch<br />

kam doch nie auf so eine dumme Masche!<br />

Und mit dieser Ansicht war er durchaus nicht<br />

allein, praktisch alle Heimbewohner teilten seine<br />

Meinung. Weil er jedoch niemanden belästigte,<br />

konnte man ihm seine Rituale nicht verbieten, es<br />

war sozusagen seine Religion. Nur der Ex-Lehrer<br />

Heinrich Loser, war anderer Ansicht, und als<br />

Erwin den Einsamen Wolf mit dem Heinrich Loser<br />

auf einer Parkbank bei einer eifrigen Diskussion<br />

antraf, setzte er sich sogleich dazu und horchte<br />

mit.<br />

Es handelte sich um das Thema Umweltschutz,<br />

und Erwin war als ehemaliger Gärtner sehr daran<br />

interessiert, auch er wollte die Natur erhalten<br />

und schützen helfen.<br />

Der Einsame Wolf war Wortführer und hielt nun<br />

den beiden eine Ansprache:<br />

„Da werden an den schönsten Badestränden der<br />

Welt, Brasilien, Mexiko, etc. Konferenzen<br />

abgehalten, wie man den grünen Planeten noch<br />

retten könne. Ganze Kompanien <strong>von</strong> Delegierten<br />

reisen an, fressen und saufen, diskutieren endlos<br />

was man tun sollte, aber sie denken dabei an die<br />

andern, sie selber wollen rein nichts dazu<br />

78


eisteuern. Sie wohnen in den teuersten Hotels,<br />

fliegen erste Klase, und kosten eine Menge Geld,<br />

damit tun sie genau das, was man verhindern<br />

sollte, sie belasten auf unnötige Art und Weise<br />

die Umwelt!<br />

Dabei sollten sie doch Vorbild für den Rest der<br />

Welt sein!<br />

Seit vielen Jahren kennt man die Videokonferenz,<br />

das wäre für solche Anlässe das einzig Richtige.<br />

Hier beginnt bereits das Problem, dass unser<br />

kapitalistisches Wirtschaftssystem genau das<br />

Gegenteil hervorbringt, war schon den Indianern<br />

Vor 150 Jahren bekannt. Der Weiße Mann eilt nur<br />

dem materiellen Wohlstand nach, er will alles für<br />

sich haben, das Land, die Seen, die Wolken, und<br />

zerstört dabei die Umwelt. Und diese<br />

Wegwerfgesellschaft ist ein Verbrechen, die Zeit<br />

wird kommen, da werdet ihr nichts mehr<br />

wegwerfen, sondern alles behalten und dafür<br />

Sorge tragen. Mehr als die Hälfte der Menschen<br />

könnte ohne ein Auto auskommen, aber niemand<br />

möchte darauf verzichten, wie wollt ihr so die<br />

Umwelt schützen? Das sind alles nur leere Worte,<br />

wenn ihr nicht kürzer treten wollt, wird das Ende<br />

des grünen Planeten schon bald kommen! Der<br />

weiße Mann kennt nur die restlose Ausbeutung<br />

der Erde, er nennt das Wachstum, aber die Erde<br />

wächst nicht, sie bleibt immer gleich groß!<br />

79


Wachsen tut nur die Bevölkerung, und desto<br />

mehr Bewohner umso größer die<br />

Umweltzerstörung! Wir Indianer wurden als<br />

primitiv und rückständig bezeichnet, weil wir mit<br />

der Natur lebten und nicht gegen sie.<br />

Auch die Indianerfrauen waren auf ihre Art<br />

emanzipiert, aber auf einer absolut natürlichen<br />

Ebene und nicht wie das bei uns im Westen<br />

gehalten wird, wo die Weiber sich wie Männer<br />

aufführen und ihre natürliche Rolle ignorieren.<br />

Die Indianerfrau war Herrin im Wigwam, und<br />

selbst am Lagerfeuer wurde sie bei den<br />

Beratungen angehört. Ihre Rolle war nicht<br />

zweitklassig, sondern Männer und Frauen hielten<br />

sich an die angeborene Rollenverteilung. Und<br />

halbe Frauen und halbe Männer, wie wir das<br />

heute auf Schritt und Tritt antreffen, existierten<br />

nicht. Zwittergeburten wurden liquidiert, weil<br />

man sie nirgends zuteilen konnte. Und die<br />

jahrzehntelangen Kriege mit den weißen<br />

Eindringlingen, erforderten starke Krieger,<br />

Weichlinge gab es keine! Wisst ihr, dass<br />

Geronimo während 51 Jahren, sowohl gegen die<br />

USA, wie auch gegen Mexiko, einen<br />

vernichtenden und erfolglosen Krieg führte?<br />

Am Ende, 1986, ergab er sich mit einem<br />

Restbestand <strong>von</strong> kaum noch 15 Kriegern.<br />

80


Er wurde dabei <strong>von</strong> mehreren Divisionen<br />

Kavallerie ununterbrochen verfolgt, er konnte<br />

aber immer wieder entkommen und dabei die US-<br />

Armee empfindlich treffen.<br />

Und ein Indianer kennt auch den Zeitpunkt, an<br />

dem er in die ewigen Jagdgründe einziehen kann.<br />

Der alte Indianer erhält im Traum eine Nachricht:<br />

„Heute ist ein guter Tag zum sterben“, und am<br />

frühen Morgen wiederholt er die Nachricht und<br />

steigt auf den nahen Hügel. Unter einem großen<br />

Baum legt er sich sitzend hin, kreuzt seine Arme<br />

und wartet meditierend auf sein Ableben.<br />

Dazwischen summt er einen monotonen<br />

spirituellen Gesang. Ganz langsam verlässt er<br />

seinen alten, ausgemergelten Körper, und gegen<br />

Abend herrscht absolute Ruhe, nur die Geier<br />

kreisen um den Ort. Nur selten gelingt die<br />

Ablösung nicht, und der Todesanwärter kehrt<br />

wieder zu den Lebenden zurück.“<br />

Erwin hatte dem Monolog interessiert zugehört:<br />

„Das ist ja sehr interessant, was Du das sagst,<br />

da kann ich Dir als Gärtner nur zustimmen.“<br />

Dann begaben sich der Heinrich Loser und der<br />

Erwin, zurück ins Heim. Erwin fragte den<br />

Heinrich: „ Dieser einsame Wolf spinnt ja gar<br />

nicht, was er da sagte macht durchaus Sinn“.<br />

Heinrich: „Das stimmt, der Wolf war beruflich ein<br />

erfolgreicher Informatiker, aber seine Umgebung<br />

81


trieb ihn soweit, sich so zu äußern, der ist<br />

normaler als die meisten in diesem Heim“.<br />

Erwin: „Ja, so kann man sich täuschen!“<br />

Danach trennten sich die beiden, Erwin wollte<br />

sich etwas ausruhen, die Worte vom Wolf<br />

hinterließen tiefe Eindrücke bei ihm.<br />

Erwin fiel am folgenden Morgen in ein tiefes<br />

Loch, schon als er erwachte, erinnerte er sich an<br />

den Spruch: „Du hast keine Chance, also nutze<br />

sie!“ Richtig, er hielt sich auf einem sinkenden<br />

Schiff auf, und laufend gingen Passagiere über<br />

Bord, wann war seine Stunde gekommen?<br />

Das einzig tröstende war die Tatsache, dass es<br />

allen genau gleich ergehen wird, für einige <strong>von</strong><br />

ihnen, war das möglicherweise sogar die<br />

Erlösung.<br />

Die Erlösung vom Leiden, endlich den<br />

schmerzenden Körper ablegen können, ihn für<br />

immer verlassen, aber was dann?<br />

Ohne seinen Körper, war er doch nicht mehr der<br />

Erwin Brunner, und wenn die Seele weiter<br />

existierte, wie nützlich war das für ihn?<br />

Wie sagte doch die verrückte Frau Birnbaum:<br />

„Ihr kommt alle in die Hölle, Ihr elenden Sünder!“<br />

Also, woher wollte dieses Gespenst das wissen?<br />

War das nicht Psychoterror vom Feinsten?<br />

Da kommt er halbwegs gut gelaunt zum<br />

Frühstück, und was muss er sich anhören, die<br />

82


dummen Sprüche der Frau Birnbaum. Wenn die<br />

nur jünger wäre, ja, dann würde er sich als Jesus<br />

verkleiden und sie einmal so richtig dran nehmen.<br />

Aber auch das blieb Wunschdenken.<br />

Nein, es gab kein Ziel mehr, oder war der Tod ein<br />

Ziel? Das konnte es nicht sein, das Ende als<br />

Zielsetzung, wo blieb da die Motivation, und<br />

lohnte es sich überhaupt noch, diese Zeit zu<br />

verleben?<br />

Das Leben war doch anders, mit 18, ja, da war<br />

der Berufsabschluss und die Volljährigkeit ein<br />

Ziel, dann die berufliche Laufbahn und die<br />

Familie. Kinder wurden gezeugt, die wieder den<br />

gleichen Lebensablauf einschlagen werden, und<br />

in der Lebensmitte war der Ruhestand ein<br />

Thema, ein Ziel, das zu erreichen sich lohnte.<br />

Wie war es doch bei ihm, er und seine Erika<br />

planten zahlreiche Reisen, fremde Länder sehen,<br />

das Leben genießen, und nun war er da, in dieser<br />

Vorhölle! Eine trostlose Sache, ob er das noch<br />

lange aushalten konnte?<br />

Schon mehrmals erschien die Erika ihm im<br />

Traum, und sie war glücklich und optimistisch,<br />

auch nicht alt, etwa um die 40 Jahre, mit ihren<br />

schönsten Kleidern am Körper. Aber jedes Mal,<br />

wenn Erwin im Traum Fragen stellen wollte,<br />

verschwand sie und er erwachte dabei.<br />

83


Er erzählte seine Traumerlebnisse der Frau<br />

Künzle, und diese wusste auch eine Antwort<br />

dazu: „Sie müssen Ihre Frau auf dem Friedhof<br />

besuchen, dann hat sie wieder Ruhe!“<br />

Erwin wurde sich bewusst, dass er schon seit<br />

vielen Monaten nicht mehr bei der Grabstätte<br />

war, somit war ein Besuch längst fällig<br />

geworden. Der Friedhof befand sich aber rund<br />

zehn Kilometer entfernt, somit machte sich<br />

Erwin gleich nach dem Frühstück auf den Weg.<br />

Nach einer knappen Stunde, erreichte er mit<br />

dem Vorortsbus das Friedhof Areal. Das Wetter<br />

war ihm gut gestimmt, die Sonne strahlte<br />

freundlich auf die unzähligen Grabsteine, außer<br />

dem Friedhofgärtner, befand sich kein Mensch<br />

im Komplex, es herrschte eine unheimliche Stille.<br />

Erwin steuerte direkt auf das Grab seiner Erika<br />

zu, er deponierte die mitgebrachten Blumen und<br />

entfernte die Unkräuter. Der Grabunterhalt hatte<br />

er der Friedhofgärtnerei abgetreten, aber es gab<br />

trotzdem immer noch etwas zu bereinigen.<br />

Ein seltsames Gefühl kam in ihm hoch,<br />

Emotionen mischten sich mit Hoffnungslosigkeit<br />

und Trauer. Da stand er nun und durchlebte das<br />

ganze Elend dieser Welt, weshalb musste es so<br />

kommen, warum war es nicht umgekehrt, er im<br />

Grab und Erika mit Tränen auf Besuch?<br />

84


Er schaute über die zahlreichen Grabsteine<br />

hinweg, welch eine Ruhe, kein Krieg, kein Streit,<br />

kein Ungemach, Friede herrschte!<br />

Und eines Tages kam auch seine Stunde,<br />

eigentlich wäre er am besten gleich geblieben,<br />

einfach liegen und alles vergessen, aus dem<br />

Körper austreten und ihn so liegen lassen. Er<br />

dachte an den einsamen Wolf, unter dem Baum<br />

warten bis der Tod eintrifft. Er würde sich dort<br />

drüben auf den Rasen legen, die Augen schließen<br />

und nicht mehr aufwachen. Warum nicht jetzt,<br />

wenn doch der sichere Tod einmal<br />

kommt? Dann hat er es hinter sich, es ging doch<br />

nur darum, die Sache hinter sich zu bringen!<br />

Wie war es doch, was getan werden muss, tut<br />

man am besten gleich, dann hat man es für<br />

immer geschafft. Während er nachsinnte,<br />

schreckte ihn der Lärm einer Gießkanne, welche<br />

mit Wasser aufgefüllt wurde, in die Wirklichkeit<br />

zurück. Eine uralte Frau begoss die Blumen auf<br />

einem anderen Grab, und Erwin dachte<br />

unwillkürlich, diese wäre auch bald soweit, und<br />

könnte sich um eine Dauerresidenz im Areal<br />

umsehen. Aber da konnte er sich<br />

möglicherweise täuschen, diese Weiber wurden<br />

im Schnitt viel älter als ihre männlichen<br />

Kollegen. Und vielleicht lag er bereits im Grab,<br />

85


wenn die alte Frau immer noch mit der<br />

Gießkanne herumhantierte?<br />

Er schaute sich noch die näher liegenden<br />

Grabsteine an, dabei schreckte ihn auf, dass<br />

viele Männer bereits im Alter <strong>von</strong> 55 bis 65<br />

starben, während die meisten Frauen 80 und<br />

mehr Jahre aufwiesen. Nachteilig ist die<br />

Tatsache, dass nicht hervorgeht, welches die<br />

Todesursachen waren. Aber solche Fragen kann<br />

wohl nur ein lebender Mensch stellen.<br />

Erwin sprach halblaut zu seiner Erika,<br />

entschuldigte sich für seine Fehltaten im ganzen<br />

Leben, hob dabei die Vorzüge der Erika hervor,<br />

ja, er entschuldigte sich sogar dafür, nicht Wort<br />

gehalten zu haben, weil er immer sagte: „In ein<br />

Altersheim gehe ich nie!“<br />

Erwin wartete auf eine Antwort, ein Zeichen,<br />

aber außer einem Singvogel auf dem nahen<br />

Gebüsch, herrschte Grabesstille. Oder war die<br />

Seele der Erika in den Vogel geschlüpft?<br />

Eher unwahrscheinlich, dachte sich Erwin.<br />

Gegen die Mittagszeit belebte sich der Friedhof,<br />

ganze Familien erschienen mit Kindern und<br />

Blumen, aber viele alte Leute mischten sich<br />

dazwischen, hauptsächlich alte Frauen, Männer,<br />

wie der Erwin, bildeten die Ausnahme.<br />

Offensichtlich die zurück gebliebenen Ehefrauen!<br />

86


Nach dem Friedhofbesuch blieben die Träume<br />

mit der Erika aus, zumindest vorläufig, dafür<br />

erlebte er nun erotische Träume, welche er aber<br />

nicht ausleben konnte. Einige seltsame Vögel im<br />

Heim hatte er bereits kennen gelernt, der<br />

einsame Wolf, Frau Birnbaum, Frau Künzle, um<br />

nur die wichtigsten zu nennen.<br />

Eine kleine Gruppe zählte sich zu überzeugten<br />

Vegetarier, die Heimküche machte es sich<br />

einfach, wer fleischlos essen wollte, erhielt die<br />

Mahlzeit ohne Fleisch, dafür mit mehr Gemüse<br />

und Teigwaren zum Ausgleich. Damit konnten<br />

sich die Vegetarier in der Regel abfinden, am<br />

extremsten war Frau Adelheid Morger, sie<br />

weigerte sich sogar Fleischbrühen und Soßen zu<br />

konsumieren. Und sie unterließ keine<br />

Gelegenheit, ihre Mitbewohner über den<br />

schädlichen Fleischgenuss zu informieren.<br />

Erwin war absolut kein Fleischverächter.<br />

Ein saftiges Steak war für ihn wie ein<br />

Ersatzorgasmus, er mochte zartes Fleisch und<br />

auch ab und zu Frischfleisch.<br />

Er hatte sich noch nie im Leben Gedanken über<br />

die Tiere gemacht, er empfand es als größte<br />

Selbstverständlichkeit, dass man sich das<br />

Tierfleisch auf den Tisch servieren ließ.<br />

Vermutlich beobachtete Frau Morger ihn, wie er<br />

87


genüsslich und gierig einen Schweinebraten<br />

verzehrte, sie wollte den Erwin über<br />

vegetarisches Denken und Leben informieren.<br />

Jeder Mensch, den sie vom Fleischverzehr<br />

abbringen konnte, war ein kleiner Beitrag an die<br />

Tierhumanität!<br />

Erwin war vom Friedhofbesuch noch etwas<br />

angeschlagen, oder besser niedergeschlagen,<br />

darum begrüßte er eine Ablenkung. Er traf Frau<br />

Morger in der Cafeteria an, und Frau Morger<br />

begann sogleich mit ihrem Anliegen: „Die<br />

Menschen versündigen sich an der Tierwelt,<br />

Tiere sind Lebewesen wie die Menschen, sie<br />

werden gezeugt und geboren, haben rotes Blut<br />

und fühlen Ängste und Schmerzen, genau gleich<br />

wie wir Menschen. Es ist eine große Heuchelei,<br />

Haustiere heran zu züchten und sie dann brutal<br />

abzuschlachten, nur um deren Fleisch zu essen.<br />

Jeder Schlachthof ist ein Horror, und jede Fahrt<br />

dorthin die Hölle für die Tiere, Tiere sind beseelt<br />

und sind sensibel. Die meisten Tiere wissen<br />

bereits vorher, wohin sie gebracht werden, und<br />

was mit ihnen geschieht. Und die zwangsweise<br />

Abfütterung der Gänse, wie man das in<br />

Frankreich, Ungarn und anderen Ländern kennt,<br />

ist dazu noch elende Tierquälerei! Und das einzig,<br />

damit die Gourmets Leute sich mit<br />

Gänsefettlebern voll stopfen können!<br />

88


Tierversuche sind eine Schande für die<br />

Menschheit, sie sind überflüssig und unnötig.<br />

Man lebt sehr gut und gesund, ohne<br />

Fleischprodukte. Zudem gibt es mit Soja auch<br />

Fleischersatzangebote.“ „Das kann man ja nicht<br />

essen, kein Ersatz für Fleisch“ argumentierte<br />

Erwin.<br />

Frau Morger: „Das sind Vorurteile, wenn man<br />

diese Speisen gut zubereitet, sind sie sehr<br />

schmackhaft und wirklich ein Ersatz für Fleisch.<br />

Solange der Mensch sich an den Tieren vergeht,<br />

werden wir Kriege kennen, das ist so sicher wie<br />

der Sonnenuntergang im Westen.<br />

Der Mensch ist auch ein Tier, und dazu erst<br />

noch ein sehr brutales und gefährliches, das<br />

allerschlimmste Lebewesen auf dieser Erde!“<br />

Erwin konnte wenig dazu sagen, aus dieser<br />

Warte hatte er das noch nie betrachtet, darum<br />

bedankte er sich vorerst bei Frau Morger, konnte<br />

aber nicht versprechen, dass er nun ein<br />

überzeugter Vegetarier wird.<br />

Der folgende Morgen wurde mit einer<br />

Todesnachricht eröffnet, Frau Myrtha Müller,<br />

starb im Alter <strong>von</strong> 88 Jahren. Erwin kannte die<br />

Dame nicht, sie lag bereits im Spital als er im<br />

Heim eintraf. Heinrich Loser hatte sie kürzlich<br />

besucht, und er konnte den interessierten<br />

Leuten erklären, was er dabei erlebte: „Frau<br />

89


Müller war an diversen Schläuchen und<br />

Apparaten angeschlossen, kaum ein<br />

Körperorgan funktionierte noch selbständig,<br />

aber im Kopf war sie noch halbwegs präsent! Für<br />

den Besucher war der Anblick ein wahrer Horror,<br />

alle diese Geräte und darunter der völlig<br />

desolate Körper der Frau Müller. Das Ende war<br />

nahe, und es ist gar nicht einfach, dabei noch ein<br />

Thema anzuschlagen das ankommt. Halbwegs<br />

schaute sie bereits ins Jenseits, und wie es in<br />

diesem Zustand nicht anders zu erwarten ist,<br />

blieb ihr einzig noch ihr Glaube als letzter Trost<br />

übrig.<br />

Daran klammern sich alle, ob etwas dabei real<br />

wird, bleibe anheim gestellt. Hauptsache, es<br />

beruhigt die betroffene Person.<br />

Dass der ausgelaugte Körper ausgedient hat, ist<br />

meistens auch den extremsten Optimisten<br />

bewusst. Frau Müller war nur noch ein Zombie,<br />

eine künstlich am Leben erhaltene Halbleiche.<br />

Vor zwei Tagen kam dann der Entschluss, alle<br />

hatten genug, die Verwandten, die<br />

Krankenversicherung, das Spital und nun auch<br />

Frau Müller! Alle Geräte wurden abgestellt, und<br />

schon war die Leidenszeit der Myrtha Müller für<br />

immer beendet!“<br />

Im Altersheim Sonnenschein, wurde ein Zimmer<br />

frei, die Warteliste war mit Aspiranten und<br />

90


Aspirantinnen, lang genug. Der Kreislauf konnte<br />

weiter gehen, aber Erwin dachte gar nicht daran,<br />

dass auch seine Zeit einmal kommt, er dachte<br />

lediglich, das betreffe nur die andern. Damit<br />

lebte er wie ein Hund, dieser macht sich auch<br />

keine Gedanken über seinen Tod, weil er soweit<br />

nicht denken kann. Der Hund lebt ewig!<br />

Erwin war erstaunt, mit welcher<br />

Selbstverständlichkeit, die Heimbewohner die<br />

Todesmeldung entgegen nahmen, so, als habe<br />

man das längst erwartet. Dieser Automatismus<br />

war richtig beängstigend, es war wie eine<br />

Kapitulation vor dem Tod! Wenn man ihm nicht<br />

entgehen konnte, musste man sich mit ihm<br />

verbünden. Oder nach dem Sprichwort: „Du hast<br />

keine Chance, also nutze sie!“<br />

Für Erwin war diese Feststellung frustrierend,<br />

musste er sich dieser Kreislaufmühle ergeben?<br />

War da wirklich keine Alternative vorhanden?<br />

Er musste eingestehen, dass zwar eine Flucht<br />

möglich wäre, aber es blieb dabei, die Realität<br />

würde ihn eines Tages einholen, weil es keine<br />

Ausnahmen gibt!<br />

Die ganze Atmosphäre im Heim fand er zum<br />

Kotzen, diese Gestalten in den Rollstühlen,<br />

welche wie Gespenster wirkten, der spezielle<br />

Geruch, der irgendwie zum Heim gehörte, die<br />

Einsicht, zu einer randständigen Gruppe zu<br />

91


gehören, die gekünstelte Freundlichkeit des<br />

Personals, welche lediglich eintrainiert war!<br />

Wenn eine der Schwestern sein Zimmer<br />

aufräumte und die Bettwäsche wechselte,<br />

war die Begrüßung immer gleich gehalten:<br />

„Guten Tag Herr Brunner, haben Sie gut<br />

geschlafen?“ Und wenn einmal eine <strong>von</strong> der<br />

Routine abwich und sagte: „Guten Tag Herr<br />

Brunner, ein schöner Tag heute!“<br />

Dann war das bereits ein Aufsteller für ihn.<br />

Dabei hatte der Erwin andere, eher natürliche<br />

Interessen, die er aber nicht ausleben durfte.<br />

Besonders Schwester Monika hatte es ihm<br />

angetan, sie war jung und voll im Saft, und wenn<br />

er ihre Oberschenkel sehen konnte, wurde es im<br />

Kopf des Erwin stürmisch, und wenn Monika<br />

während dem Betten erkannte, dass der Erwin<br />

auf dem Sofa nervös hin und her rutschte, sagte<br />

Monika beruhigend: “Aber Herr Brunner, möchten<br />

Sie nicht lieber an die frische Luft?“<br />

Das wirkte auf ihn wie eine kalte Dusche, konnte<br />

sich dieses junge Ding nicht vorstellen, dass<br />

auch ein Senior noch Wünsche hat?<br />

Die Schwestern waren die einzigen Wesen,<br />

welche ihn daran erinnerten, dass außer den<br />

Alten im Heim, noch andere Menschen<br />

existierten.<br />

92


Die Damen des spirituellen Zirkels, trafen sich<br />

sporadisch im Leseraum der Bibliothek.<br />

Frau Dubach war bekanntlich manisch depressiv,<br />

wenn sie aber ihre Tabletten regelmäßig<br />

einnahm, entsprach ihr Verhalten durchaus dem<br />

mitteleuropäischen Kulturverständnis, das heißt,<br />

sie wirkte absolut normal.<br />

Als überzeugte New Age Anhängerinnen oder<br />

Esoterikerinnen, hielten sie sich an die<br />

ethischen Grundsätze ihrer Theorien, dazu<br />

gehört auch, dass man nicht missioniert, wer<br />

sich hingegen für die Thesen interessiert, wird<br />

gerne orientiert. Die drei Frauen zündeten eine<br />

Riesenkerze, hinten im Zimmer meditierten sie<br />

leise für die verstorbene Frau Myrtha Müller.<br />

Sie begleiteten mental den Astralkörper der<br />

Myrtha in die Lichtregionen des Universums, wer<br />

im Licht bleiben kann, erlebt paradiesische<br />

Zustände, wird dabei <strong>von</strong> den dunklen<br />

Wesenheiten verschont und bewegt sich dem<br />

Nirwana entgegen. Erwin schaute dem Treiben<br />

interessiert zu, er empfand Sympathie für diesen<br />

selbstlosen Akt. Plötzlich wurde das Ritual mit<br />

einem Geschrei unterbrochen, Frau Birnbaum<br />

kreiste um die drei Frauen, die Bibel schwingend<br />

rief sie: „Das ist Teufelswerk, nur Jesus kann<br />

helfen, er wird Euch strafen, stellt dieses<br />

satanische Werk ein, ich werde für Eure Seelen<br />

93


eten“. Da platzte dem Erwin der Kragen, er<br />

fasste Frau Birnbaum am Nacken und schmiss<br />

sie aus dem Zimmer. Der Krach alarmierte das<br />

Aufsichtspersonal, Frau Birnbaum wetterte mit<br />

hochrotem Kopf gegen den Erwin: „Dieser da hat<br />

mich vergewaltigt, und aus der Bibliothek<br />

geschmissen, der Unhold.“<br />

„Was ist passiert?“ fragte Frau Amsler. Erwin<br />

ergriff das Wort: „Ich habe diese unverschämte<br />

Person aus der Bibliothek geworfen, sie hatte<br />

uns übel beschimpft und terrorisiert, das lassen<br />

wir uns nicht bieten!“<br />

Nachdem Frau Amsler auch <strong>von</strong> den drei Frauen<br />

die genau gleiche Auskunft erhalten hatte,<br />

richtete sie sich an Frau Birnbaum:“ Frau<br />

Birnbaum, ich muss Sie unbedingt daran erinnern,<br />

dass es unzulässig ist, religiöse Aggressionen zu<br />

entfalten. Gehen Sie bitte auf Ihr Zimmer, wir<br />

werden den Vorfall besprechen und Sie<br />

orientieren“.<br />

Die drei Frauen bedankten sich bei Erwin für<br />

seinen selbstlosen Beistand, und sie schlugen<br />

ihm vor, ihren Seancen beizuwohnen, sofern er<br />

sich dafür interessiere. Erwin war nicht<br />

abgeneigt, und sagte dankend zu.<br />

Was er dabei mitbekam, war größtenteils<br />

Neuland für ihn, und er blieb daher auch eher<br />

kritisch.<br />

94


Das Wort hatte Frau Liebermann: „Es gibt viel<br />

mehr zwischen Himmel und Erde, als was wir<br />

kleine Menschen jemals zu erfassen vermögen.<br />

Wir leben in der materiellen Welt, und was wir<br />

sehen und wahrnehmen, das nehmen wir als<br />

existierend auf, dabei ignorieren wir aber die<br />

restlichen 90%, welche wir nicht sehen und<br />

erkennen können.<br />

Es gibt hellsichtige Menschen und Tiere, diese<br />

können Wesen aus Parallelwelten erkennen.<br />

Besonders Katzen sind hellsichtig, sie können<br />

aber auch Deine Aura lesen und deuten, und<br />

wenn diese dunkle Wellen ausstrahlt, dann wird<br />

sie sich kaum in Deine Nähe getrauen. Im Prinzip<br />

bringt jeder Mensch die Voraussetzungen dafür<br />

mit, aber unsere widernatürliche Zivilisation und<br />

Kulturwelt, hat uns da<strong>von</strong> distanziert, unsere<br />

Sinne sind verkümmert. Aber nicht nur negative<br />

Wesenheiten werden erkannt, auch die so<br />

genannten „Engeln“, welche wir als Lichtwesen<br />

bezeichnen, können erfasst werden.“<br />

Erwin fragt: „Wie lange leben diese Lichtwesen<br />

und was geschieht mit ihnen später?“<br />

Frau Peter: „Das ist eine sehr gute Frage, Herr<br />

Brunner, sehen Sie, wenn sich diese nicht<br />

wieder in einem irdischen Körper inkarnieren,<br />

kann das unendlich lang sein.“<br />

Und Frau Dubach fügt hinzu: „Also, ich möchte<br />

95


in einem Land mit warmen und freundlichem<br />

Klima wiedergeboren werden, zudem sollte das<br />

Land an einem großen Meer liegen. Ansonsten<br />

ist es besser, auf der anderen Ebene zu<br />

verbleiben.“<br />

Leises Gelächter.<br />

Erwin fragt erneut: „Und wenn ich auf einem<br />

anderen Planeten wiedergeboren werden möchte,<br />

wie muss ich dann vorgehen?“<br />

Frau Liebermann: „Auch das ist machbar, zum<br />

Beispiel auf die Plejaden, dort sollen humane<br />

Zivilisationen existieren, dann visualisieren Sie<br />

jeden Tag auf dieses Ziel hin, und wenn der<br />

Zeitpunkt des irdischen Abschieds gekommen<br />

ist, müssen Sie ganz einfach nur noch diesen<br />

Wunsch mitnehmen, vergessen Sie alles andere,<br />

und es wird gelingen!“<br />

Erwin: Danke, das hört sich ja relativ einfach an,<br />

und wer garantiert mir, dass es dann so ist?“<br />

Frau Dubach: „Sehen Sie, Glaube ist Glaube und<br />

Wissen ist Wissen, und wenn Sie lange genug an<br />

etwas glauben, dann wird es zur Gewissheit!“<br />

Frau Liebermann fügte noch hinzu: „ Wir haben<br />

Leute, welche ihren Astralkörper ins All<br />

aussenden können, sie können die<br />

Marsoberfläche überfliegen, die Plejaden<br />

besuchen, ja, manche schaffen es zu weit<br />

entfernten Sternen. Und sie kommen immer<br />

96


wieder zurück, Ausnahmen bestätigen auch da<br />

die Regel. Ich möchte das an den tragischen<br />

Unfall einer spiritistischen Gruppe am Seeufer<br />

erinnern, ihr Medium wurde auf eine lange Reise<br />

geschickt, und schaffte es nicht mehr, in ihren<br />

Körper zurück zu kehren! Und wir kennen auch<br />

den Grund dafür, sie war körperlich einfach zu<br />

schwach und kränklich, und es war leichtsinnig,<br />

mit ihr solche Versuche zu unternehmen, aber<br />

sie war leider die einzige Person, welche diese<br />

Technik beherrschte.“<br />

Erwin hatte da<strong>von</strong> gehört: „ Ja, ich erinnere mich<br />

ganz genau an diese endlose Geschichte, statt<br />

die Polizei zu informieren, legte man die Tote<br />

einfach in ein Waldstück nahe dem Seeufer.<br />

Und die wahre Todesursache wurde nie genau<br />

festgestellt, immerhin wurden die Leute des<br />

Zirkels nicht wegen Mordes angeklagt.“<br />

Frau Peter: „ Das ist richtig, wir hatten damals<br />

große Mühe, den Ermittlungsbehörden den Fall<br />

zu erläutern, und wir mussten viele Zeugnisse<br />

und Erfahrungen beibringen, aus welchen<br />

hervorging, dass solche Unfälle ab und zu<br />

geschehen, und dass man deswegen die<br />

Teilnehmer nicht anklagen kann oder darf“.<br />

Erwin: „Das Ganze kommt mir echt mysteriös vor,<br />

97


wenn diese Astralreisen wirklich möglich sind,<br />

weshalb beschäftigt sich die Wissenschaft nicht<br />

öffentlich damit?“<br />

Frau Liebermann: „Da liegen Sie richtig, weil<br />

sich viele Erfahrungen nicht systematisch<br />

wiederholen lassen, will man dieses<br />

Wissensgebiet nicht angehen, es ist unbequem!<br />

Aber viele Geheimdienste, besonders jene der<br />

USA, halten <strong>von</strong> diesen Astralreisen, welchen sie<br />

die Bezeichnung „Remote Viewing“ gaben, sehr<br />

viel. Und es gibt darüber bereits eine Menge<br />

Literatur, viele auch bereits in deutscher<br />

Übersetzung. Leider findet sich in unserer<br />

Bibliothek kein einziges Buch darüber. Dabei<br />

wäre das doch gerade für unsere Jahrgänge ein<br />

sehr aktuelles Thema, meine ich“.<br />

Erwin ist etwas überfordert, deshalb fragt er<br />

direkt: „Hand aufs Herz, glaubt Ihr an all das,<br />

was Ihr soeben erzählt habt?“<br />

Frau Peter: „Glauben ist das falsche Wort, wir<br />

sind überzeugt und wissen es, wir machen es<br />

wie die Sufis und Buddhisten, wir erhalten die<br />

Antworten in tiefer Meditation, nicht <strong>von</strong> einem<br />

Guru, sondern <strong>von</strong> unserem Selbst“.<br />

Erwin: „Wollen Sie sagen vom<br />

Unterbewusstsein?“<br />

98


Frau Peter: „Sie können es so nennen, im Prinzip<br />

ist es aber eher das Überbewusstsein, welches<br />

über unser Unterbewusstsein antwortet.<br />

Und das Überbewusstsein ist mit dem<br />

universalen Geist verbunden!“<br />

Erwin: „Das ist für mich ein spanisches Dorf, da<br />

kann ich nicht mehr mitkommen!“<br />

Frau Liebermann: „Kein Problem, wenn Sie sich<br />

interessieren, habe ich Ihnen zahlreiche <strong>Bücher</strong><br />

zur Auswahl, ich leihe sie Ihnen gerne aus.<br />

Erwin: „Gerne, aber bitte eines, das ich<br />

verstehen kann, ich möchte ja Ihre Thesen nicht<br />

einfach als Unsinn und Aberglaube abtun, aber<br />

ich habe natürlich schon meine Vorbehalte. Ich<br />

darf Euch jedoch versichern, Eure Art ist mir viel<br />

sympathischer als die <strong>von</strong> Frau Birnbaum, das ist<br />

unverschämt, was die sich erlaubt!“<br />

Frau Dubach: „ Sehen Sie, alle Leute, welche<br />

unsicher sind, versuchen es mit Aggressivität,<br />

indem sie versuchen, andere Menschen zu<br />

bekehren. Ich gebe Ihnen einen guten Rat,<br />

lassen Sie alle diese Propheten und<br />

Besserwisser links liegen, es sind echte<br />

Blindgänger, Schädlinge und Störenfriede.“<br />

Erwin: „Da haben Sie vollkommen recht, diese<br />

Zeugen Jehovas oder Scientologen, sind<br />

ekelhafte Zeitgenossen, man sollte solche<br />

Erscheinungen verbieten!“<br />

99


Frau Liebermann: „Ja, aber das geht unter<br />

„Religionsfreiheit“, und wir erleben hier auch,<br />

was man darunter versteht und ungestraft tun<br />

darf, ohne ins Irrenhaus zu kommen!“.<br />

Erwin lacht und antwortet: „ Sie sagen es, Frau<br />

Liebermann, Narrenfreiheit erlaubt nur die<br />

religiöse Toleranz.“<br />

Frau Peter: „So ist das Herr Brunner, Sie haben<br />

es richtig gesagt, man verlangt oft viel<br />

Verständnis für Dummheit. Und sehen Sie, es<br />

gibt doch fast gleich viele Religionen, wie es<br />

Menschen gibt.“<br />

Erwin: „Da kann ich Ihnen nur beipflichten, aber<br />

jetzt möchte ich mich <strong>von</strong> Euch verabschieden,<br />

gerne werde ich mich bei anderer Gelegenheit<br />

wieder melden.“<br />

Erwin lief nachdenkend in sein Zimmer, noch vor<br />

zehn Jahren hätte er so etwas ins Reich der<br />

Märchen abgetan, und bestenfalls ein mildes<br />

Lächeln übrig gehabt. Aber jetzt, nach all den<br />

Erfahrungen mit seiner Frau und danach, sowie<br />

der Tatsache, dass er auch bereits ein<br />

beachtliches Alter erreicht hatte, empfand er die<br />

Theorien der drei Damen aus einem völlig<br />

anderen Blickwinkel. Und im Gegensatz zu den<br />

farblosen Sprüchen der Frau Birnbaum, fand er<br />

die Erklärungen der Spiritistinnen interessant,<br />

und er machte sich auch Gedanken darüber.<br />

100


Ja, die Möglichkeit, mit der Aura im Licht weiter<br />

zu existieren, empfand er wie einen Lichtblick in<br />

der traurigen Zukunftsvision. Nichts als negative<br />

Begebenheiten um ihn herum, so war gestern<br />

schon wieder eine Vermisstenmeldung zu<br />

verzeichnen. Diesmal war es der Ulrich Zimmer,<br />

der an Alzheimer litt, er ging am Nachmittag auf<br />

den nahen Friedhof, um das Grab seiner<br />

verstorbenen Frau zu besuchen.<br />

Obwohl der Friedhof kaum ein Kilometer entfernt<br />

lag, war der Ulrich am Abend noch nicht wieder<br />

im Heim. Ulrich war noch unter den jüngeren im<br />

Heim, und er war gut zu Fuß. Da konnte etwas<br />

nicht stimmen, eine Suchaktion wurde<br />

eingeleitet, der Ulrich war wie vom Erdboden<br />

verschwunden, die Polizei erließ einen Aufruf im<br />

Lokalradio. Die Suche verlief erfolgreich, der<br />

Ulrich wurde auf einer Bank entlang eines<br />

Wanderweges gefunden, er hatte fünfzehn<br />

Kilometer zurückgelegt. Den Friedhof konnte er<br />

problemlos finden, aber dort holte ihn der<br />

Alzheimer ein, er hatte plötzlich keine Ahnung<br />

mehr, wo er sich aufhielt. Und so lief er einfach<br />

auf dem Wanderweg weiter, immer in der<br />

Hoffnung, bald ins Heim zu kommen. Aber er lief<br />

in eine völlig falsche Richtung, und die Leute<br />

fragen war auch nicht möglich, er hatte<br />

schlichtweg vergessen wie das Heim hieß.<br />

101


So betrachtet, war das Leben im Altersheim mit<br />

Abwechselungen voll gespickt, und trotzdem<br />

fühlte sich Erwin wie ein Affe im Zoo.<br />

Er hatte Unterkunft und Verpflegung, genau<br />

gleich wie der Gorilla im Käfig, mit dem kleinen<br />

Unterschied, dass er noch einen relativ freien<br />

Ausgang hatte, aber was nützte ihm diese<br />

Möglichkeit bei seinem mickerigen Taschengeld?<br />

Das wenige Geld, das ihm blieb, reichte nur für<br />

kleine Extras, und sonst für rein nichts. Eben so<br />

gut hätte er in einer Gefängniszelle leben können,<br />

der Unterschied war gering.<br />

Und wie im Knast, kam auch hier ein Seelsorger<br />

vorbei, ein ökumenisch orientierter<br />

Seelenbetreuer. Im Heim gab es nahezu alle<br />

Glaubensrichtungen, es fehlten nur noch die<br />

Hindus und Muslime. Frau Birnbaum war<br />

ursprünglich Jüdin, konvertierte aber zum<br />

Katholizismus, oder genauer, sie wurde<br />

Anhängerin einer extremen Sekte. Und sie wollte<br />

keinen professionellen Seelsorger sehen, der<br />

war vom Teufel geschickt worden!<br />

Erwin mochte aber den Pfarrer auch nicht treffen,<br />

er erinnerte ihn an seinen schweren Unfall, als<br />

er mit der Mähmaschine, statt das Gras, seinen<br />

Fuß durch sägte! Im Spital kam dann der<br />

Gemeindepfarrer, um den schwer verunfallten<br />

102


Mann zu trösten. Das war ja ein schöner Zug <strong>von</strong><br />

ihm, aber hier, war das doch eher ein Vorbote ins<br />

Jenseits. Einem Jenseits, aus welchem er immer<br />

weniger klug wurde, und worüber er so viele<br />

Meinungen hörte, wie er Leute kannte.<br />

Nein, er mochte diesem Jenseits nicht mehr<br />

nachsinnen und auch nicht andauernd daran<br />

erinnert werden! Aber wie wollte er dem<br />

ausweichen, in diesem Sterbelaboratorium?<br />

Eine Trotzreaktion stieg in ihm hoch, er wollte<br />

ausreißen, die Flucht ergreifen, weg <strong>von</strong> hier!<br />

Er begann alles um ihn zu hassen, die<br />

Heimbewohner wie auch das Personal, bei der<br />

Leiterin empfand er eine versteckte Arroganz,<br />

sie war zu sachlich und hatte eine gekünstelte<br />

Freundlichkeit, wie es auch das restliche<br />

Personal an den Tag legte. Für sie war das ein<br />

Beruf, sie waren die Hirten und die Alten die<br />

Schafe. Und der Hauswart mit den<br />

Kantinenleuten, waren die Hirtenhunde, welche<br />

ständig aufpassten, dass kein Schaf ausscherte.<br />

Und die Schwestern taten, als wäre er ein<br />

sexneutrales Wesen, ohne Lust und Trieb:<br />

„Guten Tag Herr Brunner, haben sie gut<br />

geschlafen?“ das kam automatisch und völlig<br />

ohne Gefühl. Da war ein Unterton dabei, und am<br />

liebsten hätten sie vermutlich gesagt: So, Du<br />

alter Knacker, lebst Du immer noch?“ Dabei<br />

103


waren einige der Schwestern durchaus voll im<br />

Saft, und Erwin konnte sich virtuell gut<br />

vorstellen, wie er mit seinen Händen die Kurven<br />

der Monika abtastete. Erwin hatte da noch ein<br />

kleines menschliches Geheimnis, beim Ausgang<br />

zu seinen Kollegen, machte er einen Abstecher<br />

in den Erotik Shop, dabei erstand er sich einige<br />

harte Pornohefte. Diese hatte er im<br />

Wandschrank versteckt, und immer, wenn er<br />

romantische Gedanken aufkommen hatte, griff er<br />

zu den Heften. Und nicht selten, musste er sich<br />

danach erleichtern, dabei gefiel es ihm, auch<br />

echte Lustschreie zu produzieren. Das führte<br />

dann zu einem kleinen Missverständnis mit<br />

Folgen. Schwester Monika war daran, das<br />

Zimmer nebenan zu besorgen, als sie die Schreie<br />

hörte und sofort panikartig ins Zimmer <strong>von</strong> Erwin<br />

rannte. Erwin saß splitternackt auf dem Sofa und<br />

befriedigte sich immer noch, Schwester Monika<br />

lief hochrot an und rannte da<strong>von</strong>, direkt ins Büro<br />

<strong>von</strong> Frau Seiler!<br />

Erwin war sich bewusst, dass er das Kriegsbeil<br />

ausgegraben hatte, und dass er sicher ins Büro<br />

<strong>von</strong> Frau Seiler musste!<br />

Und kaum hatte er diese Gedanken hinter sich,<br />

klingelte auch schon das hausinterne Telefon:<br />

„Herr Brunner, kommen Sie unverzüglich in mein<br />

Büro“, das klang nicht nach einer freundlichen<br />

104


Einladung.<br />

Frau Seiler zeigte nie zuvor viel Achtung oder<br />

Respekt gegenüber dem Erwin, das war ihm vom<br />

ersten Tag an bewusst. Er kam sich eher vor wie<br />

ein großer Hund, den man andauernd in die<br />

Schranken weisen musste. Der Empfang im Büro<br />

war auch entsprechend: „Setzen Sie sich Herr<br />

Brunner“, sagte Frau Seiler etwas schnippisch.<br />

Danach begann Frau Seiler mit ihrem Laudatio:<br />

„So geht das nicht Herr Brunner, wir sind ein<br />

Alters- und Pflegeheim und kein Freudenhaus.<br />

Sie haben Schwester Monika schwer schockiert,<br />

weshalb schließen Sie Ihr Zimmer nicht ab?“<br />

Erwin: „Tagsüber, wenn ich im Zimmer bin,<br />

schließe ich nicht ab, zudem habe ich die Monika<br />

nicht gerufen, sie kam <strong>von</strong> sich aus ohne<br />

anzuklopfen!“<br />

Frau Seiler: „Ja, weil sie dachte, Sie riefen um<br />

Hilfe und wären in Gefahr, schämen Sie sich Herr<br />

Brunner, Sie in Ihrem hohen Alter, das ist doch<br />

etwas für junge Leute, haben Sie keine anderen<br />

Interessen?“<br />

Erwin: „Sex war schon immer eines meiner<br />

Hobbies, Sie, Frau Seiler haben es gut, Sie haben<br />

einen Mann zu Hause, aber meine Frau starb an<br />

Krebs und ließ mich alleine zurück, umgeben <strong>von</strong><br />

lauter Ignoranten, wie Sie es sind. Kürzlich war<br />

eine Fernsehsendung, da gibt es doch<br />

105


tatsächlich moderne Altersheime, die spezielle<br />

Prostituierte zulassen, Frauen, die sich nur um<br />

das Triebleben der Senioren kümmern, und ihnen<br />

eine kleine Freude zukommen lassen!“<br />

Frau Seiler: „Da<strong>von</strong> habe ich auch gehört, aber<br />

wir sind kein Freudenhaus, sondern ein Heim mit<br />

vielen kranken Menschen, und Sie sind bei uns<br />

eine Ausnahme, die meisten Bewohner haben<br />

gänzlich andere Probleme, Ihnen, Herr Brunner,<br />

werden wir geeignete Tabletten beschaffen,<br />

damit Sie sich beruhigen werden!“<br />

Erwin: „Genau das habe ich mir gedacht, Sie<br />

möchten mich zum Eunuchen und Zombie<br />

machen, damit ich, wie viele hier, nur noch wie<br />

eine Halbleiche umherschleiche, dann<br />

verschreiben Sie mir doch gleich die EXIT<br />

Tablette, das wäre einfacher.“<br />

Frau Seiler: „Das geht leider nicht, unser Institut<br />

wird nach christlich-ethischen Grundsätzen<br />

geführt. Deshalb können wir auch keine sexuelle<br />

Ausschweifungen dulden!“<br />

Erwin: „Ich habe verstanden, ich soll mich den<br />

verlogenen religiösen Ansichten beugen,<br />

vergessen Sie es, ich habe es wie der Andrian<br />

Von Bubenberg, als es bei der Schlacht <strong>von</strong><br />

Murten rief: „Solange in uns noch ein Tropfen<br />

Blut fließt, geben wir nicht auf!“<br />

Frau Seiler: „Und was hat das mit uns zu tun?“<br />

106


Erwin: „Bubenberg gewann die Schlacht gegen<br />

die Burgunder, verstehen Sie das?“<br />

Frau Seiler: „Verstehe, und Sie sind der<br />

Bubenberg, aber ich muss Ihnen klar mitteilen,<br />

noch einmal ein derartiger Vorfall, und wir<br />

müssen uns trennen, ist das klar Herr Brunner?“<br />

Erwin: „Ich werde es mir noch überlegen!“<br />

Frau Seiler: „Da gibt es rein nichts zu überlegen,<br />

und jetzt will ich Sie heute nicht mehr sehen,<br />

guten Tag Herr Brunner“.<br />

Erwin erinnerte sich an die Schulzeit, als er<br />

einmal vor die Tür gewiesen wurde, aber damals<br />

fühlte er sich schuldig, hatte er doch dem Lehrer<br />

eine Büroklammer an den Nacken geknallt.<br />

Aber jetzt kam er sich echt gedemütigt vor,<br />

wie ein Straßenköter, den man verscheucht.<br />

Und er dachte gar nicht daran, sich zu ändern,<br />

vielmehr befand er sich nun auf dem Kriegspfad.<br />

Schwester Monika tauschte mit der kleinen<br />

Käthi, Monika schämte sich, dem Erwin zu<br />

begegnen, deshalb übernahm Käthi die<br />

Besorgung des Zimmers <strong>von</strong> Erwin. Käthi war<br />

neu im Heim, sie war etwas scheu, aber<br />

freundlich und zurück haltend. Erwin mochte<br />

diese Sorte Frau, er hasste Emanzen und<br />

Mannsweiber. Käthi hatte bereits dreimal sein<br />

Zimmer aufgeräumt und das Bett hergerichtet,<br />

zur vollen Zufriedenheit <strong>von</strong> Erwin.<br />

107


Erwin konnte sich an diesem jungen<br />

unschuldigen Ding so richtig satt sehen, dabei<br />

kamen ihm wieder Gedanken auf, die er besser<br />

nicht hätte aufkommen lassen! Und er wurde <strong>von</strong><br />

seinem Naturgeist überwältigt, indem er sich auf<br />

dem Sofa einmal mehr befriedigte, die Käthi war<br />

an der Arbeit, als sie seine seltsamen Laute<br />

vernahm, schaute sie zu ihm hin, sie stieß einen<br />

Schrei aus, und rannte wie ein aufgescheuchtes<br />

Huhn aus dem Zimmer. Erwin lachte nur über<br />

diese Prüderie, machte weiter bis zum<br />

Höhepunkt.<br />

Natürlich landete auch die Käthi bei Frau Seiler<br />

und erzählte völlig entsetzt, was vorgefallen war.<br />

Diesmal fand sie es nicht für nötig, den Erwin<br />

sogleich wieder in ihr Büro zu zitieren. Für sie<br />

war es sonnenklar, dass der Erwin beim<br />

nächsten Mal auch Hand an der Schwester<br />

anlegen werde, da kannte sie sich aus.<br />

Erwin war provisorisch aufgenommen worden,<br />

und er hatte den Bogen überzogen, er musste<br />

das Heim verlassen!<br />

Erwin war sich der Konsequenzen voll bewusst,<br />

er schlug darum den Sprung nach vorne ein,<br />

indem er seinem Rausschmiss zuvorkam.<br />

Er setzte sich ans Haustelefon und wählte die<br />

Nummer <strong>von</strong> Frau Seiler: „Das Suppenhühnchen<br />

hat Sie sicher bereits orientiert, darum nehmen<br />

108


Sie hiermit zur Kenntnis, dass ich Ihre<br />

Zwingburg auf Ende des Monats verlassen<br />

werde.“<br />

Damit legte Erwin den Hörer, ohne die Antwort<br />

abzuwarten, auf die Gabel zurück. Eine Welle der<br />

Erleichterung durchfuhr ihn dabei, bald war er<br />

wieder ein freier Mann, und konnte tun und<br />

lassen was er wollte.<br />

Er fühlte sich um Jahre jünger und munterer.<br />

Und diesmal war das Glück auf seiner Seite,<br />

Walter, ein Stammtisch Kollege, teilte ihm<br />

telefonisch mit, dass in seinem Miethaus, auf<br />

den ersten des folgenden Monats eine<br />

Einzimmerwohnung frei werde, da es sich um<br />

eine Genossenschaftssiedlung handelte, war der<br />

Mietzins äußerst günstig, zudem wurden Rentner<br />

oder Rentnerinnen bevorzugt. Und da der Erwin<br />

auch noch den Verwalter kannte, war ihm die<br />

Wohnung auf sicher zugeteilt, er musste nur<br />

noch einen Genossenschaftsanteil kaufen, und<br />

die Sache war perfekt.<br />

Im Altersheim war man froh, den unbequemen<br />

Gast loszuwerden, darum erhielt er seinen Anteil,<br />

abzüglich die aufgelaufenen Gebühren für den<br />

Aufenthalt zurück gezahlt.<br />

Bekanntlich musste Erwin, seine ganzen<br />

Ersparnisse über rund 25.000.- Franken<br />

hinterlegen, da<strong>von</strong> wurden nur 5000.- gebraucht,<br />

109


und Erwin war wieder stolzer Besitzer seiner<br />

vormaligen Ersparnisse!<br />

Wer in ein Altersheim aufgenommen wird, kann<br />

in der Regel, mit wenigen Ausnahmen der gut<br />

Betuchten, die hohen Monatsgebühren nicht mit<br />

der eigenen Rente leisten, deshalb werden vorab<br />

die Ersparnisse erfasst, wenn diese<br />

aufgebraucht sind, begleicht das Sozialamt die<br />

Differenz. Dem Heimbewohner verbleibt dann<br />

noch ein sehr bescheidenes Taschengeld, damit<br />

sich dieser einige Extras leisten kann. Oftmals<br />

verhelfen aber die Verwandten zu einem Aufgeld,<br />

welches in der Regel zu etwas mehr Ausgaben<br />

verleiht. Bei Erwin war das aber bislang nicht<br />

der Fall, seine beiden Kinder lebten weit weg<br />

und konnten ihn noch nicht besuchen.<br />

Im Heim zirkulierten nun die unmöglichsten<br />

Gerüchte, es hieß, er habe sich an einer der<br />

Schwestern sexuell vergreifen wollen, und Frau<br />

Birnbaum wusste zu berichten, er habe es auch<br />

bei ihr versucht, der Unhold, dabei verwies sie<br />

auf angebliche Würgespuren, bekanntlich griff<br />

Erwin sie im Nacken und warf sie aus der<br />

Bibliothek, dabei hinterließ er Spuren im Nacken.<br />

Erwin wurde nun zum Exot, um den man einen<br />

Bogen machte wenn er auf kreuzte. Dem Erwin<br />

war es scheißegal, in zwei Wochen war er weg,<br />

110


sollten die doch denken und schwatzen was sie<br />

wollten. Erwin sah nun Licht am Ende des<br />

Tunnels, das Leben machte wieder Sinn und<br />

Spaß, nicht mehr jeden Tag das Trauerspiel mit<br />

den Leidensgenossinnen und Genossen, wieder<br />

unter normalen Leuten sein, vorab jüngere, die<br />

ihn nicht ständig ans sichere Ende erinnerten.<br />

Damit Erwin den Genossenschaftsanteil und die<br />

erste Rate Mietzins leisten konnte, war er darauf<br />

angewiesen, dass man ihm sein Guthaben<br />

unverzüglich freigab, und das wurde durchaus<br />

kulant vorgenommen, weil man froh war, ihn<br />

möglichst bald loszuwerden. Ferner musste er<br />

auch geeignete Möbel kaufen, aber das war<br />

problemlos, die Wohnung war leer, die vormalige<br />

Mieterin hatte sich ins Jenseits abgemeldet, das<br />

allerdings im vornehmen Alter <strong>von</strong> 94 Jahren!<br />

Das war Musik in den Ohren <strong>von</strong> Erwin, da<br />

konnte er ja noch auf nahezu 20 weitere Jahre<br />

blicken. Wobei ihm aber bewusst war, dass er<br />

sich <strong>von</strong> Freund Alkohol trennen musste, die<br />

Vormieterin habe es mit Tees und wenig fettiger<br />

Nahrung geschafft! Ob er das auch konnte?<br />

Erwin freute sich kindlich auf seine kleine<br />

Wohnung, sie war genau richtig, wenig Aufwand<br />

für Reinigung und trotzdem war alles da, WC,<br />

Dusche, Küche, Vorraum, Abstellraum, Balkon,<br />

und das große Wohn-Schlafzimmer, und all das<br />

111


für einen unschlagbaren Mietpreis, und als<br />

Genossenschafter, konnte er sich wie ein<br />

Eigentümer fühlen, musste nicht riskieren, dass<br />

ihm gekündigt wird. Dass zuvor eine Tote im<br />

Zimmer lag, das konnte ihm absolut nichts<br />

anhaben, da war er nun abgehärtet, und die<br />

Wohnung wurde gründlich gereinigt und<br />

desinfiziert. Aber das Beste war die Tatsache,<br />

dass ihm nach Abzug aller Kosten, wie Miete und<br />

Nebenkosten, Versicherungen, Nahrungsmittel,<br />

etc. immer noch ein ansehnlicher Betrag zur<br />

Verfügung blieb. Das reichte sogar noch für<br />

einen Bordellbesuch einmal im Monat!<br />

Und er konnte seine Mahlzeiten wieder selber<br />

zubereiten, <strong>von</strong> diesem eintönigen Heimfraß<br />

hatte er mehr als genug. Und zu den Mahlzeiten<br />

konnte er sich wieder einen guten Tischwein<br />

einschenken, und nicht mehr diesen Heimfusel<br />

runter leeren. Der Heinrich argumentierte: „Wenn<br />

Du aber pflegebedürftig bist, dann ist das auch<br />

keine gute Lösung!“<br />

Erwin: „Das stimmt nur halbwegs, die Mieterin<br />

vor mir, konnte bis zu ihrem Tod selbstständig<br />

bleiben, zudem haben wir im Haus einen Lift.“<br />

Heinrich: „Damit ist aber das Problem auch<br />

nicht gelöst, stell Dir vor, Du bist im Rollstuhl,<br />

was dann?“<br />

Erwin: „Ich weiß nicht, weshalb die Leute immer<br />

112


nur negativ sehen, das muss absolut nicht sein,<br />

kann aber auch nie ausgeschlossen werden, das<br />

Leben ist immer ein Risiko. Und sterben muss<br />

jeder und jede einmal, also wozu soll man sich<br />

darüber laufend ängstigen?“<br />

Heinrich: „ Stimmt auch, auf jeden Fall bringt es<br />

uns rein nichts!“<br />

Erwin: „ Das ist richtig, und es ist besser, wir<br />

kennen unser Ende nicht, dass es kommen wird,<br />

das ist sicher, aber wann und wie, das bleibt<br />

offen“.<br />

Erwin war voller Enthusiasmus, er fühlte sich<br />

wie neugeboren, frei wie ein Vogel, oder<br />

zumindest halbwegs.<br />

Aber jede Medaille hat bekanntlich zwei Seiten,<br />

eine positive und eine negative Version.<br />

Einerseits war er bereits an das gänzlich passive<br />

Leben im Heim gewohnt, ein Dasein, welches<br />

auch die Soldaten und Häftlinge kennen, und<br />

wenn sie entlassen werden, dann begegnen sie<br />

Unmengen <strong>von</strong> Problemen, die sie zuvor nicht<br />

kannten. Es ist, als würde man sich nackt in<br />

einem Urwald befinden, unzählige Gefahren<br />

lauern allerorts, Gefahren, die man oft nicht<br />

gleich als solche erkennen kann. Er musste<br />

seine Rente wieder selber verwalten, und<br />

schauen, dass er damit auskam.<br />

113


Auch die Verpflegung lag wieder gänzlich bei<br />

ihm, das war aber das kleinste Problem, weil<br />

kochen ihm Spaß machte. Da gab es größere<br />

Schwierigkeiten zu überwinden, wobei der<br />

größte Feind sicher „Freund Alkohol“ war, ins<br />

Bordell ging er ja nur, wenn er noch etwas Geld<br />

übrig hatte. Nun ja, es galt nun, sich selber im<br />

Zaun zu halten, und sollte er abstürzen, dann<br />

wollte es das Schicksal vermutlich so haben.<br />

Ein Schicksal, das er durchaus steuern konnte,<br />

sofern er die erforderliche Kraft und Disziplin<br />

dafür aufbringen konnte.<br />

Die letzten Tage im Altersheim Sonnenschein,<br />

zogen sich endlos lang dahin, aber der Tag war<br />

dann doch plötzlich erreicht, und Erwin konnte<br />

geräuschlos wie er gekommen war, die<br />

Heimstätte wieder verlassen. Kollege Walter<br />

holte ihn mit dem Auto ab, einige Insassen<br />

winkten den beiden nach, als sie aus dem Areal<br />

fuhren. Erwin fühlte sich leichter, so. als hätte er<br />

einen schweren Rucksack abgelegt, die Episode<br />

Altersheim lag hinter ihm und er war um eine<br />

Erfahrung reicher geworden.<br />

$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$<br />

114


6<br />

Gut zwei Monate Altersheim lagen wie ein<br />

Albtraum hinter Erwin, und nun war er wieder<br />

draußen in der Zivilisation. Und am Stammtisch<br />

war er der absolute Exot in der Runde, er wurde<br />

als „Abtrünniger“ freudig empfangen und musste<br />

natürlich <strong>von</strong> seinen Erlebnissen berichten:<br />

„Glaubt mir, Du bist nur noch ein halber Mensch<br />

im Altersheim, einerseits möchte man Dich am<br />

liebsten gleich im Jenseits sehen, aber<br />

andererseits ist das eine Industrie. Es bildet sich<br />

aber eine Zweiklassengesellschaft, hier das<br />

Personal und dort die Insassen, und wehe, Du<br />

machst einer der jungen Schwestern ein<br />

Kompliment, das wird sogleich als sexuelle<br />

Belästigung empfunden, weil ein alter Mann<br />

keine sexuellen Wünsche und Regungen mehr<br />

haben darf!<br />

Du bist zum Eunuchen degradiert, ein Zombie,<br />

der schon bald das Zeitliche segnen wird.<br />

Und sie mischen schlappmachende Chemikalien<br />

in das Essen, damit den Leuten die Lebenslust<br />

gründlich vergeht. Und die Verpflegung bleibt<br />

monoton und langweilig, wie alles um Dich<br />

herum. Mehr als die Hälfte spinnt, zum Teil<br />

hochgradig, und das wirkt ansteckend. Das<br />

115


erlaubt den Betroffenen, allerlei Unfug zu bieten,<br />

nur eines darfst Du nicht, sexuelle Wünsche<br />

äußern, dann bist Du ein Unhold und wirst<br />

rausgeschmissen!“<br />

Hermann: „ Aha, jetzt wissen wir wenigstens,<br />

weshalb Du wieder da bist!“<br />

Erwin: „ Also, damit keine falschen Gerüchte<br />

kursieren, ich habe selber gekündigt!“<br />

Walter: „Da hat mir aber der Hauswart eine<br />

andere Geschichte vorgetragen, als ich Dich im<br />

Heim abholte, er führte aus, man habe Dich<br />

gefeuert, und zwar wegen sittlichen Vergehen!“<br />

Erwin: „Was, das hat dieser Kerl gesagt, da seht<br />

Ihr, wie man Dich dort verarscht, und der<br />

Hausabwart war auch nicht mein Freund, darum<br />

findet er es vermutlich für nötig, mich zu<br />

verleumden! Als mir das Ganze zuviel wurde,,<br />

habe ich der Verwalterin telefonisch gekündigt,<br />

natürlich war sie hocherfreut, weil sie mich<br />

schon am ersten Tag nicht mochte, ich hielt mit<br />

meiner Meinung nicht zurück. Das mögen diese<br />

Leute nicht, sie wollen dressierte und kritiklose<br />

Kunden, Du bist das Meerschweinchen, welchem<br />

man schauen muss und sein Gehege reinigt,<br />

wenn aber das Schweinchen aktiv wird, dann ist<br />

das unerwünscht!“<br />

Leopold: „Ich kann mir gut vorstellen, dass diese<br />

Umgebung demoralisierend wirkt, besonders<br />

116


dann, wenn man sich bewusst wird, dass man<br />

diese Stätte nur im Sarg verlassen wird“.<br />

Erwin: „Richtig, es drückt täglich auf Dein Gemüt,<br />

und es wird noch bestätigt, wenn wieder ein<br />

Todesfall eintrifft! Du lebst in einem wahren<br />

Teufelskreis, und Du kannst Dich nicht<br />

da<strong>von</strong>machen, weil das Alter Dich immer wieder<br />

einholt.“<br />

Die Kollegen waren nach einem langen<br />

Unterbruch endlich wieder vollzählig<br />

zusammengekommen.<br />

Erwins Geschichten hörten sich an, wie die aus<br />

einem Konzentrationslager oder eines<br />

Gefängnisses. Er musste doch seine Rückkehr<br />

mit harten Fakten untermauern. Er stand im<br />

Mittelpunkt der Stammtischrunde, und selbst die<br />

Gäste an den andern Tischen lauschten ihm<br />

interessiert zu.<br />

Eine Weile verlief alles gut, Erwin genoss seine<br />

neu erlangte Freiheit in vollen Zügen. Aber wie<br />

es so geht, wenn der Mensch keine großen<br />

Probleme hat, dann schafft er sich welche.<br />

Und es gibt immer wieder Zeitgenossen, die Dir<br />

gerne das Bein stellen, sozusagen zum<br />

Zeitvertreib. Im Fall <strong>von</strong> Erwin, war es der Walter,<br />

er fuhr nochmals zum Altersheim, dort traf er<br />

den Schlatter, nicht unbedingt ein Freund <strong>von</strong><br />

Erwin. Walter wollte <strong>von</strong> ihm vernehmen, ob der<br />

117


Erwin wirklich aus freien Stücken das Heim<br />

verließ? Schlatter zog sämtliche Register, und er<br />

addierte noch viel Erfundenes dazu. Beim<br />

nächsten Stammtisch packte der Walter aus:<br />

„Ich fuhr rein zufällig beim Heim vorbei, da traf<br />

ich den Schlatter, ich fragte ihn, ob es zutreffe,<br />

dass der Erwin <strong>von</strong> sich aus kündigte?<br />

Der Schlatter lachte schallend laut, und sagte:“<br />

Hat der Kerl das so gesagt, das stimmt natürlich<br />

nicht, er wurde hochkantig hinausgeworfen,<br />

nachdem er ein zweites Mal eine junge Pflegerin<br />

vergewaltigen wollte. Und er vergriff sich auch<br />

an einer Frau Birnbaum, indem er sie am Hals<br />

würgte.“<br />

Erwin lief rot an und wurde wütend: „Was für<br />

einen Unsinn erzählst Du da, Du Arschloch.<br />

Das ist alles erstunken und erlogen, Du bist der<br />

größte Schuft, ein Idiot!“<br />

Erwin ließ sein ganzes Repertoire an<br />

Schimpfwörtern auf den Walter niederprasseln,<br />

er war derart laut, dass sich die Gäste erstaunt<br />

dem Stammtisch zuwandten, und als es immer<br />

bunter wurde, verwies der Wirt den Erwin aus<br />

dem Lokal, das machte alles noch schwieriger.<br />

Erwin war stinksauer, fortan werde er diesen<br />

Schuppen meiden. Es bildeten sich zwei Gruppen,<br />

die Pro Walter Gruppe und die Pro Erwin Gruppe.<br />

118


Erstere blieb dem Lokal treu, die Gruppe Erwin<br />

suchte sich ein anderes Lokal.<br />

Die Gruppe Erwin nistete sich dann in der<br />

Vorstadt-Kneipe ein, man traf sich dort<br />

sporadisch und ungeplant, einer war fast immer<br />

anwesend.<br />

Weil aber das intellektuelle Niveau im unteren<br />

Bereich lag, entwickelten sie nie anspruchsvolle<br />

Diskussionen, vielmehr blieben diese meistens<br />

unter der Gürtellinie. In politischen Fragen war<br />

man sich aber einig, besonders was die<br />

Asylpolitik anbetraf, und jeder war der Ansicht,<br />

dass diese Scheinflüchtlinge lediglich<br />

Arbeitssuchende waren, das heißt, Arbeit war<br />

ihnen versperrt, ihnen wurde Unterkunft und<br />

Verpflegung gewährt, dazu erhielten sie ein<br />

Taschengeld, und das war höher, als was der<br />

Erwin im Altersheim zugesprochen erhielt.<br />

Noch mehr störte aber, dass diese Horden sich<br />

tagtäglich im Viertel herumtrieben, mit Drogen<br />

handelten, Leute ausraubten und dadurch ein<br />

Klima der Unsicherheit schafften. Erwin kaufte<br />

sich darum einen Pfefferspray, damit wollte er<br />

sich vor Überfällen zur Wehr setzen.<br />

Erwin traf der Fluch, dass er über ausreichende<br />

Renteneinnahmen verfügen konnte, das erlaubte<br />

ihm, sich tagsüber in den Kneipen aufzuhalten,<br />

und dadurch nahm er den Weg nach Hause fast<br />

119


immer mehr oder weniger beduselt unter die<br />

Füße. Freund Alkohol hatte ihn wieder fest im<br />

Griff, eine Folge der großen Leere, der er stets<br />

ausgesetzt blieb. Die Kollegen Hans und Alfred,<br />

konnten sich das nicht leisten, ihre Renten<br />

reichten nicht aus, deshalb kauften sie sich ihre<br />

Biere im Laden, und genossen dann die Getränke<br />

zu Hause, damit wurden sie als Alkoholiker kaum<br />

erkannt. Beim Erwin wusste aber bereits das<br />

ganze Haus, dass er süchtig war.<br />

Immerhin, schaffte er den Weg nach Hause ohne<br />

fremde Hilfen.<br />

Es war an einem trüben Spätnachmittag, Erwin<br />

war einmal mehr stark beduselt auf dem<br />

Heimweg.<br />

Eine Gruppe dunkelhäutiger Asylbewerber kam<br />

ihm entgegen, Erwin war stinksauer und ließ<br />

eine Hetztirade auf diese losprasseln, und<br />

plötzlich wurde ihm buchstäblich schwarz vor<br />

den Augen. Als er wieder erwachte, lag er auf<br />

dem Gehsteig und weit und breit kein Mensch!<br />

Der Schädel brummte wie ein Bienenschwarm,<br />

mühsam richtete er sich auf, das war im<br />

alkoholisierten Zustand gar nicht einfach zu<br />

bewerkstelligen, und als er nach dem<br />

Portemonnaie greifen wollte, war dieses auch<br />

weg! Viel Geld war nicht mehr drinnen, aber die<br />

Geldbörse hatte er erst kürzlich erstanden und<br />

120


nicht wenig dafür bezahlt. Sicher war sein<br />

Portemonnaie jetzt bei einem dieser Halunken,<br />

ob er zur Polizei gehen sollte?<br />

Aber er war sich bewusst geworden, dass er in<br />

seinem alkoholisierten Zustand, noch<br />

zusätzliche Probleme kreieren könnte, und man<br />

ihm gar nicht glauben würde. Kollege Müller<br />

wurde auch betrunken ausgeraubt, und als er zur<br />

Polizei ging und Anzeige machen wollte, wurde<br />

ihm erläutert, er habe in seinem Zustand die<br />

Räuber provoziert, was soviel hieß, es war seine<br />

Schuld, wenn er überfallen wurde, also, da<br />

verzichtete er doch lieber auf eine Anzeige, die<br />

mit großer Sicherheit, außer Ärger nichts<br />

gebracht hätte. Man lebte nun einmal in einer<br />

völlig pervertierten Zeit, und niemand wollte mit<br />

dem Gesindel aufräumen, vielmehr fanden sich<br />

immer wieder Winkeladvokaten, die sich einen<br />

Spaß daraus machten, diesem kriminellen Pack<br />

den Aufenthalt im Land zu ermöglichen. Erwin<br />

und seine Kollegen sprachen daher Klartext, und<br />

sie waren einhellig der Ansicht, die Zeit sei<br />

längst überfällig, dass man eine<br />

Todesschwadron bilde und das Gesindel<br />

systematisch erschieße, man war sich auch<br />

einig, dass, wenn einmal damit begonnen würde,<br />

sich dann die noch lebenden <strong>von</strong> selbst<br />

121


da<strong>von</strong>machen. Aber keiner wollte den Anfang<br />

machen, darum blieb alles wie es war.<br />

Um die Langeweile zu bewältigen, trieb sich<br />

Erwin auch in den Einkaufszentren herum, so,<br />

wie es viele Rentner täglich taten, er saß<br />

stundenlang in einer Cafeteria und schaute dem<br />

Treiben der Leute zu. Manchmal nahm er<br />

Kontakt mit einem andern Rentner auf, aber<br />

diese Diskussionen blieben immer bei banalen<br />

Themen stecken. Jeder wollte seine Sorgen<br />

loswerden, einfach jemanden erzählen, das<br />

erleichtert das Gemüht, aber der andere<br />

interessiert sich einen Deut darum. Ob nun die<br />

Gattin des anderen an Krebs starb oder aber<br />

sich <strong>von</strong> ihm scheiden ließ, was machte das<br />

schon aus? Er, Erwin, hatte doch auch seine<br />

Vergangenheit, wozu alles weiter erzählen, die<br />

freuten sich doch nur, wenn es dem andern auch<br />

nicht besser erging. So ist das nun einmal, das<br />

Leid des andern ist Dein Trost. Du täuscht<br />

Anteilnahme vor, aber grundsätzlich ist es Dir<br />

scheißegal, zählen tut nur, was Dich betrifft,<br />

weil am Ende Du allein da stehst, und auch allein<br />

das Zeitliche segnen musst. Das Sterben kannst<br />

Du nicht delegieren, da bist Du dran!<br />

Der Raubüberfall hatte auf Erwin doch noch ein<br />

Nachspiel zur Folge. Weil auch seine<br />

122


Identitätskarte dabei war, beantragte er einen<br />

neuen Ausweis bei der Gemeindekanzlei.<br />

Dort meldete er den Tatbestand, worauf man ihm<br />

nahe legte, in solchen Fällen, wie Raub,<br />

Diebstahl und anderen Verlusten, werde für die<br />

Ausstellung einer neuen Ausweiskarte, ein<br />

Polizeirapport verlangt. Erwin fluchte in allen<br />

Tönen über diese Bürokratie, völlig unnötige<br />

Schikane, wo lag da der Unterschied, ob er nun<br />

hier oder bei der Polizei den Verlust meldete?<br />

Das war Arbeitsbeschaffung pur!<br />

Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als die<br />

Vorschriften zu befolgen, als einzelner Bürger<br />

war man machtlos, dem Amtsschimmel<br />

ausgeliefert!<br />

Auf dem Polizeiposten bediente ihn eine<br />

blutjunge Polizistin, und wenn diese nicht derart<br />

machohaft aufgetreten wäre, er hätte sich mehr<br />

für ihre unterdrückte Weiblichkeit interessiert.<br />

So aber, war sie nur ein Sex neutrales Wesen,<br />

das ihn nun mit Fragen bestürmte: „Also Herr<br />

Brunner, und wie ist Ihr Vorname?“<br />

“Erwin“, nur Erwin, ich habe nicht sieben<br />

Vorfnamen.“<br />

Polizistin (P): „Geboren?“<br />

Erwin (E): „Ja“<br />

P: “Das nehme ich an, aber ich will das Datum<br />

haben“.<br />

123


E: „Erster April 1973“<br />

P: „Das soll wohl ein Witz sein, machen Sie keine<br />

dummen Sprüche, meine Zeit ist knapp!“<br />

E: „Das ist kein Aprilscherz, 1.4.37!“<br />

P: „Das ist eher glaubhaft“.<br />

E: „Ich kann auch nichts dafür, dass es der erste<br />

April war“.<br />

P: „Adresse?“<br />

Auch diese konnte Erwin problemlos aus dem<br />

Ärmel schütteln, dann ging die Befragung weiter:<br />

„Also Herr Brunner, Sie führen aus, dass Sie<br />

niedergeschlagen wurden, und dass Ihr<br />

Portemonnaie mit dem ganzen Inhalt geraubt<br />

wurde. Weshalb sind Sie nicht gleich zu uns<br />

gekommen?“<br />

E: „Also, ich habe noch nie gehört, dass einem<br />

Opfer das Geld und die anderen Wertsachen<br />

jemals zurück gegeben wurden, und ich hatte<br />

gelesen, dass die Polizei nur gerade 2% aller<br />

Taten aufklären kann, also, wozu sollte ich Sie<br />

aufsuchen?“<br />

P: „Das ist wichtig für unsere Abklärungen, und<br />

wir finden mehr als nur 2% der Täterschaft.<br />

Schildern Sie mir kurz den Tathergang“.<br />

E: Ich war auf dem Weg nach Hause, als mir drei<br />

Neger entgegen kamen“:<br />

P: „Das heißt nicht Neger, sondern Farbige oder<br />

Schwarze“.<br />

124


E: „Als ich die Schule besuchte, sprach unser<br />

Lehrer nur <strong>von</strong> den Negern in Afrika, und dabei<br />

bin ich geblieben“.<br />

P: „Das glaube ich Ihnen gerne Herr Brunner,<br />

aber das ist ein halbes Jahrhundert her, und nun<br />

ist Neger zum Schimpfwort geworden, ja, es ist<br />

sogar strafbar gemäß dem neuen<br />

Rassismusgesetz“.<br />

E: „Aber es waren keine Farbigen, sondern<br />

brandschwarze Neger, oder Schwarze wie Sie<br />

wollen, für mich gibt es da keinen Unterschied.<br />

Und als diese Neger auf meiner Höhe waren,<br />

wurde es mir schwarz vor den Augen, und als ich<br />

wieder erwachte, lag ich am Straßenrand.<br />

Das ist alles was ich aussagen kann“.<br />

P: „Und wie Sie ausführten, soll Ihre Geldbörse<br />

geraubt worden sein?“<br />

E: „Ja natürlich, was sonst?“<br />

P: „Weil wir eine anonyme Meldung erhielten, wo<br />

vermerkt wurde, dass Sie einen Vollrausch<br />

hatten, und die Schwarzen vermutlich nur<br />

vortäuschten“.<br />

E: „Das ist eine elende Verleumdung, sicher war<br />

es dieser Walter, der Riesenschweinehund!“<br />

P: „Ja, es war eine männliche Stimme, aber den<br />

Namen wollte er uns nicht nennen, deshalb wir<br />

solche Anzeigen nur mit Vorbehalten annehmen“.<br />

125


E: „Dieser Walter kommt noch dran, das<br />

versichere ich Ihnen“.<br />

P: „Machen Sie sich nicht strafbar, Herr Brunner,<br />

Sie haben ja keinerlei Beweise, zudem wurde<br />

uns bestätigt, dass Sie Alkoholiker sind!“<br />

E: „ Das hat Ihnen vermutlich auch dieser Kerl<br />

gesagt, nehme ich an?“<br />

P: „Nein, wir haben uns anderweitig erkundigt,<br />

deshalb sind wir etwas vorsichtig mit Ihren<br />

Angaben“.<br />

E: „Das ist doch die absolute Höhe der Frechheit,<br />

da wird man <strong>von</strong> Asylsuchenden überfallen,<br />

ausgeraubt und bewusstlos geschlagen, und<br />

dann sagt die Polizei, Dein Freund und Helfer,<br />

man habe alles nur erfunden und sei stock<br />

besoffen gewesen. Sicher, ich hatte ein Glas<br />

zuviel getrunken, aber ich war voll bei Sinnen,<br />

und ich kann schwören, es waren drei Neger!“<br />

P: „Gut Herr Brunner, ich bestätige Ihnen nun<br />

den Verlust Ihres Ausweises, und damit können<br />

Sie gehen“.<br />

Erwin verabschiedete sich grollend, es war<br />

genau so, wie er sich das vorgestellt hatte.<br />

Ergebnislos mit den üblichen Vorurteilen der<br />

Polizei, und am Schluss bist Du der Schuldige!<br />

Und die Beule am Kopf, die hatte er sich wohl<br />

auch selber besorgt? Er war um eine negative<br />

Erfahrung reicher geworden. Wie üblich, erzählte<br />

126


Erwin seine Eindrücke den Kollegen am<br />

Stammtisch, natürlich fügte er noch Diverses<br />

hinzu, das war bei solchen Anlässen die Regel.<br />

Schließlich lügen uns die Politiker und die<br />

Medien auch fortlaufend an, und die Mehrzahl<br />

der Filmproduktionen basiert nur noch auf frei<br />

erfundene Geschichten, vermutlich deshalb, weil<br />

die Realität einfach zu langweilig wirkt. Und die<br />

Leute wollen betrogen werden, besonders wenn<br />

das Thema Liebe angegangen wird. Die<br />

Liebesfilme, Romane und was da alles geboten<br />

wird, sind reine Mogelpackungen, erstunken und<br />

erlogen. Aber die Leute finden dabei meistens<br />

das, was ihnen verwehrt blieb, etwas abseits der<br />

Realität. Darum interessieren sich unzählige<br />

Zeitgenossen für die Lebensläufe der Adligen,<br />

Geldmagnaten, und ähnlichen schlechten<br />

Vorbildern, statt sie zu verachten, himmeln sie<br />

sie an, kaufen jede nur mögliche Schundliteratur,<br />

um sich daran zu ergötzen. Damit ist es auch<br />

verständlich, dass bei derartigen<br />

Wertvorstellungen, sich die Menschheit nicht<br />

vorwärts entwickeln kann. So betrachtet,<br />

bewegten sich die Diskussionen am Stammtisch,<br />

schon eher auf einem bescheidenen Niveau.<br />

Stolz verkündete Erwin: „Hört mal Ihr Herren, im<br />

Paradies Club erhalten Senioren jetzt 10%<br />

Ermäßigung auf alle Dienstleistungen, und das<br />

127


habe ich mit der Chefin ausgehandelt. Eine<br />

Stunde Vollservice kosten daher statt 400.-<br />

Franken, nur noch 360.- Franken!“<br />

„Du spinnst doch, was wollen wir Rentner in so<br />

einem teuren Puff, ich habe das viel billiger, auf<br />

dem Drogenstrich zahle ich für ein Quickie nur Fr.<br />

50.-, ja, ich habe auch schon nur 30.- oder sogar<br />

20.- Franken bezahlt. Dazu sind diese Girls willig<br />

und unkompliziert“, argumentierte Karl.<br />

Erwin: „Wo findet man diese Diskonthuren, das<br />

sind ja Superpreise!“<br />

Karl: „Geh einfach in den Stadtpark, dort siehst<br />

Du die Drogenhändler, meistens Neger und<br />

andere Exoten, diese beliefern Unterhändler,<br />

das sind drogensüchtige Burschen, und um diese<br />

findest Du die willigen Frauen, Du musst nur dort<br />

vorbeigehen, und schon quatscht Dich eine an:<br />

„Papi willst Du ein Quickie?“, dann handelst Du<br />

den Preis aus, aber mehr als Fr. 80.- würde ich<br />

nicht zahlen.“<br />

Erwin: „ Das werde ich mir ansehen, danke für<br />

den Hinweis!“<br />

Dann wurde das Thema Potenz vom Freddy<br />

aufgeworfen: „Also, bei mir läuft rein nichts mehr,<br />

und Viagra Tabletten sind viel zu teuer, darum<br />

kann ich mir das Geld ersparen!“<br />

Karl: „Das hat auch Vorteile, aber ich kann da<br />

noch viermal die Nacht“.<br />

128


Freddy: „Du Angeber, ja, viermal urinieren die<br />

Nacht, das kenne ich auch“.<br />

Aber Freddy wollte nicht <strong>von</strong> seiner Behauptung<br />

abweichen, und so entstand eine wilde<br />

Diskussion, mit einem Wortschatz, der weit unter<br />

der bekannten Gürtellinie lag. Als dann der Emil<br />

die Runde noch wissen ließ, dass die Anita vom<br />

„Escort Club“, erst kürzlich sagte, als sie beim<br />

Freddy war, sei da rein nichts daraus geworden,<br />

weil nicht einmal der Hauch einer Erektion<br />

möglich war. Verließ der Freddy die Runde und<br />

er wurde nicht mehr gesichtet, sein Image vom<br />

Alphamännchen war völlig im Eimer.<br />

Der Spott der Kollegen war ihm sicher.<br />

Erwin wollte nun die Billigvariante für Sex<br />

ausprobieren, er befand sich wieder in einer Art<br />

<strong>von</strong> sexuellem Notstand. Und immer nur Hand<br />

anlegen sollte die Hirnmasse schädigen, ja, das<br />

sagte doch seinerzeit der Klassenlehrer, und<br />

anfänglich glaubte Erwin daran, dass das<br />

Sperma tatsächlich direkt vom Hirn kam.<br />

Später schämte er sich, dass er diesen Unsinn<br />

jemals ernst nehmen konnte.<br />

An einem späten Nachmittag kaufte er sich eine<br />

Fahrkarte für die Straßenbahn, die ihn in die<br />

Stadt bringen sollte. Schnurstracks lief er in den<br />

genannten Park, schon <strong>von</strong> weitem erkannte er<br />

kleine Ansammlungen, er schaute dem Treiben<br />

129


aus einer gewissen Distanz zu. Er sah, wie kleine<br />

Plastiksäckchen ausgetauscht wurden, dann lief<br />

ein Bursche hinüber zu den vier Frauen auf der<br />

Bank. Drei <strong>von</strong> ihnen kauften Stoff, die vierte<br />

sagte halblaut: „Ich habe heute noch nichts<br />

verdient“. Das war das Zeichen für Erwin, er<br />

näherte sich langsam der Bank, inzwischen<br />

verließen die drei anderen die Bank und<br />

verzogen sich nach hinten, und schon sprach ihn<br />

die Frau an:“ Magst Du ein Quickie, ich brauche<br />

unbedingt Geld für Stoff!“<br />

Erwin fragte nach dem Preis, und sie wollte 100.-<br />

Franken, aber Erwin war informiert: „mehr als<br />

50.- habe ich nicht auf mir“, sagte er knapp.<br />

Damit war der Handel abgeschlossen, aber wo<br />

sollte die Ausführung stattfinden?<br />

Erwin wollte die junge Frau eigentlich<br />

mitnehmen, nach Hause in sein Zimmer, aber<br />

das wollte sie unter keinen Umständen, sie<br />

musste ja Stoff haben und zwar sofort!<br />

Sie führte den Erwin hinter die Büsche, und dort<br />

breitete die Agnes, wie sie sich nannte, eine<br />

Gummimatte aus. Das war nicht nach dem Gusto<br />

<strong>von</strong> Erwin, aber was konnte sonst noch in Frage<br />

kommen? In ein Hotel? Das war unrealistisch,<br />

erstens kostete ein Zimmer um die 150.- Franken,<br />

und zweitens würden die ja doch nur die Polizei<br />

anrufen, weil die Frau vermutlich minderjährig<br />

130


war. Also rein ins Abenteuer, ängstlich schaute<br />

er sich um, um allfällige Zuschauer zu eruieren.<br />

Er konnte nichts sehen, und die Agnes beruhigte<br />

ihn, alle ihre Drogenkolleginnen erledigten ihre<br />

Geschäfte hier, das gehe absolut in Ordnung.<br />

Aber dem Erwin wollte es trotz dem Notstand<br />

nicht richtig gelingen, die Agnes legte daher<br />

Hand an. Und das trübte seine Stimmung noch<br />

mehr, aber es sollte bei diesem einen<br />

Experiment bleiben!<br />

Kaum hatte die Agnes das Geld, war sie auch<br />

schon beim Dealer. Und als aufrechter Bürger,<br />

empfand Erwin seine Handlungsweise auch nicht<br />

zur Wiederholung geeignet, mochte der Karl das<br />

tun, für ihn war es keine Alternative, auch das<br />

gekaufte Liebesleben hatte seine Grenzen.<br />

Dieser Drogenstrich entsprach nicht seinen<br />

Vorstellungen, er kam sich vor, wie ein läufiger<br />

Hund.<br />

Beim nächsten Stamm Treff informierte er Karl<br />

entsprechend, doch dieser lachte ihn lediglich<br />

aus, er sei eben noch ein blutiger Anfänger, ein<br />

Grünhorn!<br />

Die Tage gingen vorüber, es gab wenig<br />

Abwechslung, und Erwin gönnte sich mehr<br />

Alkohol, als ihm zuträglich war.<br />

Dann weckte ein tragischer Vorfall die monotone<br />

Situation, der Willi, ein Stammtischkollege,<br />

131


wurde <strong>von</strong> kriminellen Jugendlichen auf dem<br />

Heimweg Spitalreif geschlagen! Der invalide Willi,<br />

welcher nur mit Stöcken gehen konnte, lief<br />

abends um 21 Uhr durch die einsame Gasse, als<br />

ihm drei Burschen den Weg versperrten, sie<br />

waren mit Baseballschlägern ausgerüstet, ohne<br />

Vorwarnung schlugen sie ihn nieder. Und nicht<br />

genug damit, schlugen sie weiter auf ihn ein, als<br />

er bereits am Boden lag, und erst dann, als eine<br />

Gruppe Soldaten im Ausgang, sich näherte<br />

ließen sie <strong>von</strong> ihm ab. Seine Brieftasche und die<br />

Uhr nahmen sie mit. Die beherzten Soldaten<br />

riefen die Polizei und die Sanität. Der Willi wurde<br />

bewusstlos ins Spital eingeliefert, die erste<br />

Nacht verbrachte er auf der Intensivstation.<br />

Es wurden mehrere Rippenbrüche und<br />

Quetschungen, sowie eine schwere<br />

Hirnerschütterung, diagnostiziert.<br />

Und wenn die Soldaten nicht aufgekreuzt wären,<br />

man hätte das Schlimmste befürchten müssen!<br />

Natürlich konnte die Polizei rein nichts eruieren,<br />

der Alte war wohl selber schuld, weshalb geht er<br />

um diese Zeit durch diese Gasse?<br />

Für Erwin war das aber eindeutig zuviel, es<br />

konnte nicht angehen, dass Jugendliche<br />

ungestraft solche Verbrechen ausführen konnten.<br />

Und wer alt genug ist, Verbrechen zu begehen,<br />

ist auch alt genug die Konsequenzen daraus zu<br />

132


tragen. Ohne sich mit seinen Kollegen<br />

abzusprechen, plante Erwin ein Zeichen zu<br />

setzen, damit das Gesindel ein für alle Male<br />

genug kriegt. Er erinnerte sich dabei an einen<br />

Film mit Charles Bronson, „Death Wish“ oder so<br />

ähnlich, hieß er, und dort räumte einer mit den<br />

Kriminellen auf seine Art auf! Nachdem er einige<br />

Gauner ins Jenseits befördert hatte, ging das<br />

Verbrechertum um mehr als 50% zurück.<br />

Kollege Hanspeter war ein Sportschütze und<br />

Waffensammler, einige Wochen zuvor, kaufte er<br />

ihm einen Revolver ab, und damit konnte er<br />

bestens umgehen, denn Erwin war früher<br />

ebenfalls Sportschütze mit Faustfeuerwaffen.<br />

Als er den Willi im Spital besuchte, fragte er so<br />

nebenbei, wie die drei Halunken ausgesehen<br />

hatten, Willi überreichte ihm eine Zeichnung,<br />

denn Willi war <strong>von</strong> Beruf Zeichner, er arbeitete<br />

früher als Karikaturist für die Zeitungen. Und für<br />

die Polizei fertigte er nun diverse Zeichnungen<br />

an, damit fiel ihm gar nicht auf, dass Erwin eine<br />

Skizze mit sich nahm. Ohne <strong>von</strong> seinem<br />

Vorhaben etwas verlauten zu lassen,<br />

verabschiedete er sich vom Willi, dieser befand<br />

sich auf dem besten Weg zur Besserung.<br />

Erwin spielte das Ganze zuerst gedanklich<br />

mehrmals durch, er legte sich eine Tasche zu,<br />

die er auf der Brust tragen wollte, darin der<br />

133


schussbereite Revolver mit acht Schüssen<br />

geladen. Er wollte abends, um etwa die gleiche<br />

Zeit, wie zuvor der Willi, durch diese Gasse<br />

laufen, und sobald die Verbrecher vor ihm waren,<br />

ganz einfach schießen, bevor die ihn<br />

niederschlagen konnten. Theoretisch lief das<br />

alles glatt ab, ob aber die Realität auch so war?<br />

Nun ja, schlimmstenfalls konnte er sich<br />

freischießen, sollte etwas schief laufen, dafür<br />

nahm er ein zweites voll geladenes Magazin mit.<br />

Und er zählte auf den Überraschungsmoment,<br />

und der war auf seiner Seite. Von nun an, trug<br />

Erwin stets eine schwarze Tasche vor die Brust<br />

gehängt, und das störte niemanden.<br />

Wichtig war für ihn, dass niemand auch nur eine<br />

leise Vermutung haben konnte, weil er wusste,<br />

wenn zwei ein Geheimnis zusammen hüten, dann<br />

weiß es einer zuviel. Und den Revolver wollte er<br />

danach in einem Waldversteck unterbringen, so,<br />

dass es bei ihm nichts zu finden gab!<br />

Wichtig war auch, dass man ihn nicht erkannte<br />

und verfolgen konnte. Dafür hatte er eine<br />

schwarze Pelerine mit Kapuze, die er kürzlich<br />

auf eine Bank im Park fand und gleich mitlaufen<br />

ließ. Zudem hatte er einen Oberlippenbart zum<br />

Aufkleben gebastelt. Sollten dabei etwelche<br />

Zeugen dabei sein, dann wollte er nicht gleich<br />

erkannt werden! Wobei er sich bewusst war,<br />

134


dass zwischen einem Gefängnis und dem<br />

Altersheim kein wesentlicher Unterschied<br />

bestand. Die Einzelzellen waren etwas kleiner<br />

als im Heim, dafür war der Aufenthalt kostenlos,<br />

und die Mahlzeiten waren auch nicht schlechter.<br />

Aber er suchte das nicht unbedingt, weil er die<br />

Freiheit doch noch bevorzugte.<br />

Er lief nun schon dreimal die Gasse entlang,<br />

ohne aber auf jemanden zu stoßen. Vermutlich<br />

hielten sich die Verbrecher auch eine Weile <strong>von</strong><br />

der Gasse fern, aber sie würden mit großer<br />

Sicherheit schon bald wieder aufkreuzen, das<br />

war so sicher wie der nächste Morgen.<br />

Er hatte es sich gut überlegt, manchmal wollte<br />

er sein Vorhaben stornieren, aber dann erinnerte<br />

er sich wieder an den Willi und an sein eigenes<br />

Erlebnis, und dabei stieg eine Riesenwut in ihm<br />

hoch, die er aber auch auf die Polizei mit ihrer<br />

totalen Unfähigkeit abwälzte, und auch auf die<br />

Gesellschaft, die es zuließ, dass solche<br />

Zustände möglich waren!<br />

Einer musste doch einmal ein Zeichen setzen,<br />

und das war er. Um seine Treffsicherheit zu<br />

testen, übte er in einer verlassenen Kiesgrube,<br />

der Revolver arbeitete einwandfrei, keine<br />

Ladestörungen, das konnte er nicht in Betracht<br />

135


ziehen. Erwin verlegte seine abendlichen Touren<br />

auf 22 bis 23 Uhr, und schon beim zweiten<br />

Anlauf wurde er fündig.<br />

Wieder kamen ihm drei junge Halunken entgegen,<br />

er griff in seine Brusttasche und entsicherte den<br />

Revolver. Rund zehn Meter vor der Gruppe, blieb<br />

er im Dunkeln stehen, die drei kamen näher, jetzt<br />

erkannte er die Baseball Schläger und einer<br />

schwang ein langes Messer!<br />

Der vorderste Kerl rief: „Geld her Du Trottel,<br />

sonst knallst!“<br />

Und es knallte, drei Mal Volltreffer, alle drei<br />

lagen am Boden und röchelten noch leicht, bis<br />

sie <strong>von</strong> ihrem elenden Dasein erlöst wurden.<br />

Es war ein Akt <strong>von</strong> fünf Sekunden, drei gezielte<br />

Schüsse jeweils in die linke Brust, das war wie<br />

früher ein Wettschießen.<br />

Erwin schaute sich um, er konnte niemanden<br />

sehen und lief normalen Schrittes da<strong>von</strong>. Die<br />

Pelerine legte er in eine Mülltonne, den<br />

Schnurbart in die Hosentasche, nun war er<br />

wieder der Erwin auf dem Heimweg.<br />

Am nächsten Morgen verstaute er den Revolver<br />

und die Munition in einer wasserdichten<br />

Plastikbox, dann ging er in den kleinen Wald am<br />

Rand der Vorstadt. Dort versteckte er die Waffe<br />

in einer kleinen Felswand. Das Versteck konnte<br />

nur durch Zufall entdeckt werden.<br />

136


Die Zeitungen meldeten eine Abrechnung unter<br />

Jugendbanden, aber dann meldete sich doch<br />

noch ein Zeuge bei der Polizei. Dieser saß auf<br />

einem Balkon eines Mehrfamilienhauses, als die<br />

Schüsse fielen, aber er konnte nur <strong>von</strong> einem<br />

einzelnen Mann berichten, welcher in die andere<br />

Richtung in der Dunkelheit verschwand.<br />

Der Mann habe ausgesehen wie Zoro der Rächer,<br />

aber mehr konnte er auch nicht erkennen. Das<br />

war immerhin ein Hinweis, dass es sich nicht um<br />

zwei Banden handelte. Dafür kam die Vermutung<br />

auf, da habe jemand aufzeigen wollen, wie man<br />

mit dem Gesindel umgeht. Das war ein Fressen<br />

für die Medien, und die Polizei tappte, wie immer,<br />

im Dunkeln.<br />

Erwin ging am Nachmittag zum Stammtisch,<br />

und wusste natürlich <strong>von</strong> allem nichts.<br />

Er war sich bewusst, dass, wenn auch nur ein<br />

Hauch <strong>von</strong> Verdacht auf ihn fallen würde, die<br />

lieben Kollegen den Mund nicht halten könnten.<br />

Das ist nun einmal menschlich.<br />

Die Zeitungen meldeten, dass einer der Ganoven<br />

aus dem Balkan stammte, ein zweiter war aus<br />

Nordafrika, und der dritte war ein Landsmann,<br />

ein achtzehnjähriger Schwererziehbarer, der aus<br />

einem Heim geflohen war und sich seit Monaten<br />

mit Raubüberfällen hervortat!<br />

137


Seine beiden Kollegen befanden sich illegal im<br />

Land, auch sie lebten <strong>von</strong> Diebstahl und Raub.<br />

Bei den Leuten gab es zwei Lager, das eine<br />

Lager begrüßte diese Art <strong>von</strong> Problemlösung<br />

und gratulierten dem unbekannten Rächer, das<br />

andere Lager war der Meinung, man könne diese<br />

Zustände anders lösen, und die Selbstjustiz<br />

entspreche nicht den Gepflogenheiten einer<br />

humanen Gesellschaft. Allerdings wussten diese<br />

auch keine bessere Lösung.<br />

Für Erwin war der Fall erledigt, er hatte ein<br />

Zeichen gesetzt, und es hat seine Wirkung nicht<br />

verfehlt.<br />

Die Polizei hatte keine blasse Ahnung, wo sie mit<br />

den Ermittlungen beginnen sollte. Sie vernahmen<br />

aber alle Leute, welche in den vergangenen<br />

Monaten Opfer derartiger Überfälle<br />

wurden, aber ohne den Erwin, weil er seinerzeit<br />

keine Anzeige erstattete. Hingegen besuchten<br />

sie auch den Willi, dieser war inzwischen aus<br />

dem Spital entlassen worden, ging aber immer<br />

noch an Krücken. Dass er nicht der Gesuchte<br />

sein konnte, war selbst der Polizei klar<br />

geworden, er lief an Krücken und konnte nicht<br />

der Schütze sein. Auch der Hanspeter wurde<br />

geprüft, er war kein Opfer, sondern als<br />

Waffensammler und Sportschütze bekannt,<br />

hingegen war er nicht Teilnehmer am<br />

138


Stammtisch. Erwin kannte ihn noch aus der Zeit<br />

im Schützenverein. Die Polizei wollte <strong>von</strong> ihm<br />

auch wissen, ob er jemandem eine Waffe<br />

verkauft habe. Natürlich verneinte er das,<br />

erinnerte sich aber, dass er dem Erwin einen<br />

Revolver vermittelt hatte, das blieb aber<br />

Privatsache! Deshalb rief er den Erwin an, und<br />

erzählte ihm <strong>von</strong> der polizeilichen Untersuchung,<br />

aber Hanspeter hatte ein Alibi, am fraglichen<br />

Tag, war bis zum nächsten Tag mit einer<br />

Seniorengruppe im Ausland unterwegs.<br />

Hanspeter wollte wissen, ob der Erwin den<br />

Revolver noch besitze?<br />

Nun griff Erwin zu einer Notlüge, er antwortete:<br />

„Nein, die ist mir abhanden gekommen, und zwar<br />

im Winter, als meine Lammfellpelzjacke in der<br />

Kneippe geklaut wurde, zurück blieb eine andere<br />

Jacke, darin steckte ein Schlüsselbund, aber<br />

seltsamerweise meldete sich der Besitzer nicht,<br />

vermutlich war er mit dem Revolver mehr als<br />

zufrieden?“<br />

Und die Geschichte war nicht erfunden, nur war<br />

der Revolver nicht in der Jacke. Dass er den<br />

Revolver nicht mehr hatte war auch richtig!<br />

Hanspeter glaubte die Geschichte, umso mehr,<br />

als er ja in der Kneippe nachfragen konnte.<br />

Hanspeter sagte zum Abschied: „Dann ist ja alles<br />

klar, ich dachte schon, Du wärst der<br />

139


Meisterschütze, weil Du seinerzeitig bei den<br />

Schnellfeuerübungen immer treffsicher warst.“<br />

Erwin: „Das stimmt, aber das war vor vierzig<br />

Jahren, wenn Du sehen könntest, wie meine<br />

Hände zittern, würdest Du schon gar nicht auf<br />

solche Gedanken kommen“.<br />

Damit räumte Erwin jeden Verdacht weg, und<br />

Hanspeter hatte eine plausible Erklärung<br />

erhalten.<br />

Auch diese Feststellung war nur halbwegs<br />

richtig, wie bei jedem Alkoholiker, zitterten<br />

Erwins Hände wie Espenlaub, aber nur dann,<br />

wenn er nüchtern war! Sobald sein Körper die<br />

fehlende Flüssigkeit erhielt, wurden die Hände<br />

wieder ruhig, und damals waren sie sehr ruhig,<br />

aber das blieb sein Geheimnis.<br />

Mit großer Genugtuung, stellte Erwin fest, dass<br />

nun seit längerer Zeit im fraglichen Quartier<br />

keine Überfälle mehr erfolgten! Der Vorfall hatte<br />

unter den Ganoven einen großen Respekt<br />

ausgelöst.<br />

Erwin suggerierte sich nun ein, dass er gar nicht<br />

der Schütze war, das war insofern <strong>von</strong> großer<br />

Wichtigkeit, dass er sich in einem Vollrausch<br />

versprechen könnte. Dabei war die<br />

Volksmeinung ganz auf seiner Seite, in<br />

Leserbriefen wurde der unbekannte Rächer<br />

sogar für eine Auszeichnung vorgeschlagen.<br />

140


Und manche wünschten sich noch mehr<br />

derartige Einsätze, weil nur solche Eingriffe<br />

wirksam sind. Andere schlugen vor, all das<br />

Gesindel, welches Eisenbahnwagen zerstörte,<br />

Autos demolierte, Schaufenster einschlugen, und<br />

dergleichen mehr, auf einer Alp hinter<br />

Stacheldraht zu platzieren sei, mit<br />

Maschinengewehrposten, und wer flüchten<br />

wollte, sollte abgeknallt werden.<br />

Erwin war jedes Mal froh, wenn am Stammtisch<br />

ein anderes Thema aktuell war, weil er<br />

befürchtete, er könnte sich plötzlich verraten.<br />

Und er war um jeden Tag froh, welcher vorüber<br />

war. Die Polizei suchte einen rund<br />

fünfzigjährigen Mann als Täter, weil der einzige<br />

Zeuge der festen Meinung war, der Mann<br />

mittlerer Statur, wäre zwischen 40 und 60 Jahre<br />

alt. Und auch die Kapuze wies eher auf eine<br />

jüngere Person hin. Damit waren die<br />

Stammtischkollegen aus dem engeren Kreis der<br />

Verdächtigen heraus. Sie wurden deshalb auch<br />

nicht befragt oder damit konfrontiert.<br />

Und der Fall wurde bei der Polizei schon sehr<br />

bald zu den ungelösten Fällen abgelegt.<br />

Das war gut so, aber Erwin musste weiterhin<br />

vorsichtig bleiben, nachdem er sein Bewusstsein<br />

entlastet hatte, begann der da<strong>von</strong> zu träumen.<br />

141


Und es waren keine angenehmen Träume,<br />

vielmehr Horrorerlebnisse. Dabei sah er immer<br />

die aufgerissenen Augen der drei Täter, und im<br />

Traum verfolgten sie ihn mit ihren Messern und<br />

Baseballschlägern, er befand sich ständig auf<br />

der Flucht. Und das Allerschlimmste dabei war,<br />

er konnte darüber mit niemandem reden.<br />

Er suggerierte sich ein, dass er der Menschheit<br />

einen guten Dienst erwiesen habe, und deshalb<br />

eher eine Medaille verdient hätte, das war<br />

übrigens auch die Meinung der meisten Leute.<br />

Und danach wurden die Albträume milder und<br />

erträglicher. Dafür plagten ihn neue<br />

Beschwerden, die Nieren, wie auch die Leber,<br />

waren angeschlagen, der permanente<br />

Alkoholkonsum zeigte Wirkung!<br />

Besonders der Zustand seiner Leber war<br />

alarmierend, sie war hoffungslos geschrumpft,<br />

und selbst gänzliche Abstinenz, hätte sie nicht<br />

mehr heilen können. Und Lebertransplantationen<br />

waren höchst umstritten und sehr aufwändig.<br />

Das konnte er abschreiben, somit blieb ihm nur<br />

noch die Möglichkeit offen, wie bisher weiter zu<br />

trinken. Ein Kollege, welcher kürzlich verstorben<br />

war, hatte die gleiche Krankheit, auch er trank<br />

während Jahren zuviel Alkohol, als er vernahm,<br />

dass die Leber in einem sehr schlechten Zustand<br />

142


war, wurde er zum Abstinenzler, aber das<br />

erschwerte nur sein Leben, und er litt an<br />

unerträglichen Schmerzen, bis ihn der Tod da<strong>von</strong><br />

erlöste.<br />

Bei Erwin lautete die ärztliche Diagnose auf<br />

„Leberzirrhose“, und das hörte sich an wie ein<br />

Todesurteil! In seinem Fall war es eine<br />

alkoholische Zirrhose, die am häufigsten<br />

vorkommende Variante, gefolgt <strong>von</strong> der<br />

Virushepatitis. Die Leberzirrhose bildet das<br />

Endstadium der Lebererkrankung, welche sich<br />

über viele Jahre hinziehen kann. Sie gilt daher<br />

als unheilbar, jedoch kann man mittels strikter<br />

Abstinenz und gesunder Lebensweise, einen<br />

gewissen Stillstand erreichen und dadurch das<br />

Leben verlängern. Aber Erwin dachte nicht daran,<br />

auf Freund Alkohol zu verzichten, er vertraute<br />

auf die Pharmaindustrie, welche es ihm<br />

ermöglichen sollte, möglichst schmerzfrei zu<br />

leben. Abends war er meistens besser gelaunt,<br />

als am frühen Morgen, weil er morgens nüchtern<br />

war und so sein Elend besser erkennen konnte,<br />

abends ging er stets mit einem mittelmäßigen<br />

Rausch ins Bett.<br />

Tagsüber traf er seine Kollegen und fand so<br />

Ablenkung, natürlich ist in solchen Kreisen die<br />

Anteilnahme bescheiden, weil jeder noch<br />

zusätzlich seine eigenen Probleme in den<br />

143


Vordergrund stellt. Schließlich ist sich jeder<br />

selbst der Nächste, und die letzte Reise muss<br />

man auch selber antreten. Ausnahmen<br />

bestätigen die Regel, etwa bei einem Amokläufer,<br />

welcher auch die Menschen in seiner Umgebung<br />

mitnimmt. Oder wenn Du im Flugzeug bist und<br />

dieses stürzt ab, auch hier bist Du nicht allein.<br />

Ob das aber ein Trost ist, das bleibe<br />

dahingestellt. Erwin tröstete sich damit, dass ja<br />

jeder einmal gehen muss, also bestand kein<br />

Grund zur Panik, in seinem Fall war der Termin<br />

vermutlich etwas früher, aber wer konnte das<br />

schon wissen? Nachts wachte er oft auf, weil er<br />

auf der Leber einen Schmerz verspürte, er<br />

konnte diesen mit etwas Druck auf die Stelle<br />

zum verschwinden bringen, dabei erinnerte er<br />

sich an Napoleon, <strong>von</strong> dem man sagte, er hätte<br />

seine Hand stets auf die Leber gerückt, weil<br />

auch er eine Lebererkrankung hatte, das war<br />

zwar ein kleiner Trost, aber er verfehlte seine<br />

positive Wirkung nicht. Und wenn der Schmerz<br />

nicht behoben werden konnte, griff er zu einer<br />

Tablette, sein Arzt hatte ihm eine ganze Auswahl<br />

da<strong>von</strong> verschrieben, mildere, wenn der Schmerz<br />

gering war, mittlere, wenn er stärker, und starke<br />

wenn er unerträglich wurde. Aber Erwin<br />

schluckte immerzu nur die starke Ausgabe.<br />

144


Weil auch die Nieren nur noch minimal<br />

arbeiteten, hatte er auch oft Wasser in den<br />

Beinen, aber auch dafür erhielt er eine Medizin.<br />

Es lebe die Pharmaindustrie, wie der Alkohol, ist<br />

sie Dein Freund und Helfer. Zu diesen Übeln<br />

gesellte sich auch noch permanente Diabetes.<br />

Manchmal überlegte Erwin, ob er nicht selber<br />

Schluss machen sollte, um damit den<br />

„Countdown“ zu umgehen? Er hatte <strong>von</strong> einer<br />

Organisation „EXIT“ gehört, wer dort Mitglied<br />

wurde, durfte sich mit einer Tablette ins<br />

Jenseits befördern lassen. Aber er wollte nicht<br />

erneut Mitglied in einem Verein werden, wo er<br />

sich doch erst kürzlich <strong>von</strong> jedem Vereinsleben<br />

losgesagt hatte. Und man konnte sich ja auch<br />

die Pulsadern aufschneiden, nur benötigte man<br />

dafür etwas Überwindung. Dann erinnerte er sich<br />

an die Leidenszeit seiner Erika, sie wäre gar<br />

nicht auf den Gedanken gekommen, sich so aus<br />

dieser Welt zu verabschieden. Somit beschloss<br />

Erwin, sich gedanklich mehr bei ihr zu bewegen,<br />

das beruhigte ihn etwas, es war wie eine Art <strong>von</strong><br />

Solidarität! Erika hatte alles hinter sich, was ihm<br />

noch bevorstand, und damit wollte und musste<br />

er sich abfinden können. Erwin war sich gewiss,<br />

dass er <strong>von</strong> der Stammtischrunde, sicher der<br />

nächste Kandidat für das Jenseits sein werde!<br />

145


Aber erstens kommt es anders, und zweitens als<br />

man denkt.<br />

Die Meldung schlug ein wie Blitz und Donner, der<br />

behinderte Willi wurde das Opfer eines<br />

Autorasers!<br />

Willi überquerte den Zebrastreifen, er war jedoch<br />

etwas langsam, und die Ampel für ihn war<br />

bereits auf „ROT“, als er erst in der Straßenmitte<br />

weilte, Willi erkannte die Gefahr und wollte<br />

zurück, aber er war zu langsam, ein Autofahrer<br />

näherte sich mit übersetzter Geschwindigkeit<br />

aus der Seitenstrasse! Willi wurde in die Luft<br />

gewirbelt und brach sich das Genick, die<br />

Gehhilfen flogen wie Speere umher, Aus und<br />

Amen! Der Fahrer hatte grün und hatte das Recht<br />

auf seiner Seite, aber er fuhr etwas über dem<br />

erlaubten Limit. Weshalb ihm Fahrlässigkeit<br />

unterstellt wurde, aber das machte den Willi<br />

auch nicht mehr lebendig.<br />

Einmal mehr wurde die Frage aufgeworfen, ob<br />

die Fußgängerampeln nicht zu kurze Zeit auf<br />

grün bleiben, weil Invalide und Kinder oft kaum<br />

genügen Zeit erhalten, die Strasse zu<br />

überqueren. Für Willi erübrigte sich diese Frage,<br />

er war seinen Kollegen vorausgegangen.<br />

Sämtliche Stammtischmitglieder gingen an die<br />

Bestattungsfeier <strong>von</strong> Willi, Erwin durfte einen<br />

allerletzten Blick auf den verstorbenen Willi<br />

146


werfen, in Gedanken sprach er vor sich hin: „Du<br />

hast mich also geschlagen, deshalb Dein<br />

Lächeln, auf wieder sehen Willi im Jenseits“.<br />

Dabei glaubte Erwin, der Willi habe seine Lippen<br />

bewegt, aber das war vermutlich pure Fantasie.<br />

Und als er sich vorstellte, dass er vermutlich der<br />

nächste Kandidat war, und möglicherweise<br />

schon bald die Stelle <strong>von</strong> Willi einnehmen könnte,<br />

durchfuhr ihn ein seltsames Gefühl. Nicht Angst,<br />

sondern eine unglaubliche Ruhe kam in ihm hoch.<br />

War das Leben nur die zweitbeste Wahl, und der<br />

Tod die Erlösung, oder die erste Wahl?<br />

Am liebsten hätte er sich sogleich neben den<br />

Willi gelegt, die Leute um ihn herum waren nur<br />

noch Statisten. Das Leben erschien ihm wertlos<br />

und voller Sorgen und Qualen, ja, die Lösung war<br />

wohl der Tod? Und anscheinend war nur ein<br />

Toter Mensch auch ein guter Mensch?<br />

So wie damals im Wilden Weste, wo man sagte,<br />

nur ein Toter Indianer sei ein guter Indianer. Klar,<br />

je weniger Indianer es gab, desto mehr Land<br />

konnten sich die weißen Siedler aneignen.<br />

Beim Willi war der Fall ähnlich, halblaut sagte<br />

Erwin am Grab: „ Danke Willi, auch im Namen der<br />

Versicherung, welche nun Deine Rente einsparen<br />

kann“. „Aber das sagt man doch nicht“, rief eine<br />

Frau neben ihm aus. Natürlich nicht, aber man<br />

denkt es!“ antwortete Erwin.<br />

147


In Tat und Wahrheit, war es für jede<br />

Sozialversicherung eine gute Nachricht, wenn<br />

einer weniger auf der Bezügerliste war, und es<br />

ist reine Heuchlerei, wenn man diese Tatsache<br />

nicht offen ausspricht. Aber es fügt sich in<br />

unzählige andere Scheinheiligkeiten in unserem<br />

Alltag ein. In einer Firma, bewegt sich der CEO<br />

durch die Abteilungen, dabei fragt er die<br />

Angestellten so ganz nebenbei, weshalb sie in<br />

seiner Unternehmung tätig sind?<br />

Und 95% werden ihm antworten, dass sie aus<br />

purer Firmentreue und Freude an der Arbeit<br />

mitwirken. Und kaum einer wird ihm sagen, dass<br />

er arbeite, um seinen Lebensunterhalt zu<br />

finanzieren. Der nicht ganz weltfremde CEO kann<br />

sich selber eine Meinung bilden, ob er sich lieber<br />

schmeicheln lassen, oder aber die Wahrheit<br />

hören möchte. Aber Tatsachen sind nicht immer<br />

angenehm, deshalb sind Notlügen in solchen<br />

Fällen durchaus vertretbar.<br />

Erwin schaute sich in der kleinen<br />

Trauergemeinde um, und es schien ihm, dass die<br />

Gesichter der Teilnehmer, bei jeder Beerdigung<br />

ähnlich sind, das mochten die<br />

Trauerbekleidungen ausmachen?<br />

Oder die Machtlosigkeit des Menschen, vor den<br />

Naturgesetzen, oder vor dem Willen Gottes.<br />

148


Letzterer war jedoch kein Mensch, weshalb auch<br />

nicht nach menschlichen Normen gehandelt<br />

wurde. Für das Universum hatte ein Leben<br />

aufgehört und sich wieder in den Kreislauf der<br />

Natur integriert, mehr nicht. Und wenn der<br />

verstorbene für Nachkommen gesorgt hatte,<br />

dann hatte der Mohr seine Pflicht erfüllt und<br />

konnte gehen. Er hatte damit auch einen Beitrag<br />

an die Unsterblichkeit seiner Gene geliefert.<br />

Und damit unterschieden sich die Menschen<br />

nicht <strong>von</strong> der Tier- und Pflanzenwelt, obwohl sich<br />

der Mensch diesen hoch überlegen fühlt.<br />

Von solchen Gedanken war der Willi befreit,<br />

er war nur noch ein Kadaver, seelenlos und ohne<br />

Leben, ein toter Gegenstand.<br />

Der Geistliche betonte die besonderen Unfall-<br />

Anfälligkeiten im Leben des Willi.<br />

Schon während seiner Schulzeit erlitt er Arm-<br />

und Beinbrüche, krachte mit seinem Fahrrad in<br />

ein fahrendes Auto. Und später heiratete er eine<br />

Frau, die absolut nicht zu ihm passen konnte.<br />

Nachdem sich das ungleiche Paar fünfzehn<br />

Jahre lang einen gnadenlosen Grabenkrieg<br />

leistete, ließ sich Willi <strong>von</strong> seiner Allerliebsten<br />

scheiden. Die beiden Kinder wurden seiner<br />

Exfrau zugesprochen, und Willi zu<br />

Alimentenzahlungen verdonnert. Alles wurde ihm<br />

149


genommen, die Wohnung, die Kinder und sein<br />

kleines Vermögen!<br />

In seiner Verzweiflung baute er einen<br />

Selbstunfall mit seinem Auto, die Absicht dazu<br />

konnte ihm nicht nachgewiesen werden.<br />

Willi wurde mit schweren Verletzungen ins Spital<br />

eingeliefert, und er blieb gehbehindert bis ans<br />

Lebensende. Die wenigen Trauergäste horchten<br />

betroffen, und Erwin gratulierte sich selber,<br />

er war richtig froh, dass er die Schläger, welche<br />

den Willi Spitalreif schlugen, rächen konnte.<br />

Gerne hätte er das Geheimnis dem Willi mit ins<br />

Grab mitgegeben, aber das war nun nicht mehr<br />

möglich. Erwin blieb allein die Genugtuung übrig.<br />

Und schon bald würde er ihm folgen, und wenn<br />

die Seele weiterlebte, wer weiß, ob er es ihm<br />

nicht noch melden konnte? Beinahe freute er<br />

sich darüber. Danach begleitete er seine<br />

Stammtischkollegen in das Restaurant nahe<br />

beim Friedhof. Und als diese nach Hause gingen,<br />

blieben nur noch ein paar wenige Leute zurück.<br />

So war also das Begräbnis eines „Nobody“, aber<br />

was machte es schon aus, ob Tausende dabei<br />

waren,<br />

oder nur einige wenige Leute? Den Toten konnte<br />

das nicht mehr stören, und für die Lebenden war<br />

es auch nicht <strong>von</strong> Bedeutung.<br />

150


Der Manfred schlug vor, man wolle nun das<br />

Kapitel Willi M. abschließen, und besser ein<br />

anderes Thema wählen. Erwin machte sich<br />

Gedanken darüber, aber was brachte das schon,<br />

nun noch in Tränen auszubrechen? Höchstens<br />

Selbstmitleid!<br />

Nein, man beschloss, das Elend zu vergessen,<br />

und was half dabei am besten?<br />

Natürlich Freund Alkohol. Und weil man etwas<br />

weit <strong>von</strong> zu Hause war, ließen sich die Kollegen<br />

am Abend mit einer Taxe nach Hause bringen.<br />

Erwin war so voll, dass er sich sogleich samt<br />

seiner Kleider aufs Bett legte und den Schlaf des<br />

Gerechten antrat.<br />

Der Alkohol half auch mit, die Schmerzen in<br />

Leber und Nieren weitgehend zu dämpfen.<br />

Am folgenden Vormittag wachte Erwin mit einem<br />

Brummschädel auf, er war sich nicht ganz klar,<br />

ob der Willi wirklich nicht mehr da war, oder<br />

aber, er nur einen bösen Traum gehabt hatte?<br />

Erst als er den Kopf mit kaltem Wasser abspülte,<br />

kamen seine Sinne in die Realität zurück.<br />

„Der Nächste bin ich“ sagte er laut vor sich hin<br />

und lachte.<br />

Er hatte sich vorgenommen, den ganzen Tag zu<br />

Hause zu verbringen.<br />

Am späteren Nachmittag läutete jemand an<br />

seiner Tür. Er öffnete und schaute in zwei<br />

151


seltsame Gesichter: „Wir müssen unbedingt mit<br />

Ihnen sprechen, sie befinden sich in größter<br />

Gefahr, bald schlägt Ihre Stunde und Ihnen<br />

wartet die Hölle!“, sagte der ältere <strong>von</strong> den<br />

beiden mit besorgter Mine.<br />

„Wer seid Ihr?“ fragte Erwin etwas unwirsch.<br />

„Wir sind <strong>von</strong> den Zeugen Jehovas, und wir<br />

wollen Ihnen helfen!“ fügte der jüngere Mann<br />

hinzu.<br />

„Ich brauche Ihr Hilfe nicht, verschwinden Sie!“<br />

war die Antwort <strong>von</strong> Erwin.<br />

Aber so schnell lassen sich diese<br />

Seelenverkäufer nicht abschieben. In bekannter<br />

Manier bearbeiteten sie den Erwin. Und sie<br />

wussten offenbar auch über seine<br />

gesundheitlichen Probleme mehr als ihm lieb<br />

war? Sicher plauderte da jemand im unteren<br />

Stock und sagte: „Gehen Sie doch nach oben zu<br />

Herrn Brunner, der ist schwerkrank!“<br />

So wurde er zum Fressen für die Geier!<br />

Und die Seelenhändler zogen alle Kapitel ihres<br />

Könnens hervor, um dem Erwin tüchtig<br />

einzuheizen. Über die wahnsinnigen Qualen, die<br />

ihn in der Hölle erwarteten, und er hatte absolut<br />

keine andere Wahl, als sich unverzüglich in die<br />

rettenden Arme der Zeugen zu werfen. Nur sie<br />

konnten ihn noch da<strong>von</strong> retten. Nun wurde es<br />

152


ihm aber zu bunt, er griff zu einem Stock, den er<br />

vorsichtshalber neben der Tür abgelegt hatte, er<br />

rief: „Nun reichst aber Ihr Lumpenpack,<br />

entweder Ihr verschwindet oder es knallt!“<br />

Erst als er den Stock zum Schlag hochhielt,<br />

verzogen sich die Halunken.<br />

Er hatte sie los, aber die inquisitiven Worte<br />

verdarben ihm den ganzen Tag. Ob da doch<br />

etwas dran sein konnte? Nun ja, bald konnte er<br />

das ja selber abklären. Aber dieser Vorfall,<br />

welcher voll gespickt war mit Drohungen, konnte<br />

er nicht einfach so wegstecken, es betraf<br />

immerhin seine nachtödliche Zukunft, sofern es<br />

eine solche überhaupt gab?<br />

Diese religiösen Wahnvorstellungen waren<br />

durchaus geeignet, einem Menschen das Leben<br />

zu versauern. Da stellte sich die Frage, ob es<br />

nicht viel einfacher wäre, wenn mit dem Tod<br />

einfach alles zu Ende ginge! Wie sagte doch Karl<br />

Marx: „Religion ist Opium für das Volk!“<br />

Ja, es war wie Freund Alkohol, dem Erwin<br />

täglich seine Stoßgebete widmete. Und an<br />

diesem „Ruhetag“, waren seine<br />

Entzugserscheinungen besonders stark. Weshalb<br />

er sich an die Schnapsflasche heranmachte,<br />

eines seiner bewährten Medikamente. Und damit<br />

verschwand sein Trübsal <strong>von</strong> vorher, er war<br />

wieder in seinem Element. Vergessen waren die<br />

153


eiden Seelenterroristen, und weg der ziehende<br />

Leberschmerz, er befand sich in einem<br />

berauschenden Zustand, und darin wollte er<br />

bleiben, wenn möglich bis an sein Ende. Mochte<br />

sein Arzt Zepter und Hallo rufen, es war nicht<br />

sein Leben, der wollte ihn doch nur am Leben<br />

erhalten, damit er noch einen Kunden mehr hatte,<br />

oder Patienten, wie man das in dieser Branche<br />

nannte. Und Ärzte waren auch keine Vorbilder<br />

für langes Leben, sein früherer Hausarzt segnete<br />

bereits das Zeitliche mit 58 Jahren! Trotzdem<br />

sind die Götter in weiß, immer noch für<br />

zahlreiche Bürger zumindest Halbgötter<br />

geblieben. Wobei die Zauberlehrlinge eher die<br />

Ausnahme <strong>von</strong> der Regel bilden, weil sich ein<br />

Arzt grundsätzlich auf seine akademische<br />

Ausbildung beruft, und alles was da nicht<br />

hineinpasst, das lehnt er als dubios ab.<br />

Dennoch gilt der Arztberuf als besonders<br />

stressverdächtig. Erwin konnte vom Hausarzt<br />

wenig Hilfe erwarten, die größte Hilfe bestand<br />

darin, ihm möglichst viele Tabletten zu<br />

verschreiben. Wenn er frühmorgens mit einem<br />

Brummschädel aufwachte, waren es in der Regel<br />

die starken Leberschmerzen, die ihm den<br />

Wecker ersetzten. Und er empfand dabei eine<br />

große Unruhe, am liebsten wäre er für immer<br />

eingeschlafen, oder er hoffte, bis zum Abend<br />

154


einen Zeitsprung machen zu können, weil die<br />

Schmerzen kaum zu ertragen waren. Dafür gab<br />

es die Tabletten, und nachdem er sich eine<br />

doppelte Menge runter gespült hatte, kam auch<br />

schon die Erlösung, bis in den frühen Nachmittag<br />

blieb er schmerzfrei. Es war wie ein Wettlauf mit<br />

dem Unvermeidlichen, und am Ende siegte der<br />

Tod über das Leben. So musste es sein, und<br />

nicht umgekehrt. Nur empfand er es als eine<br />

Zumutung, dass er nun einfach dahinsiechen<br />

musste, und das ohne etwas dagegen tun zu<br />

können. Das Leben war brutal und unerbittlich!<br />

Aber es nützte absolut nichts, sich vor dem<br />

nahenden Tod zu fürchten, ob er sich fürchtete<br />

oder nicht, er ließ sich nicht verhindern!<br />

Er war lediglich ein Sandkorn auf dieser Erde,<br />

und alles Leben ging weiter, so, als hätte es ihn<br />

gar nie gegeben! Das konnte er auch jedes Mal<br />

bei seinen verstorbenen Kollegen feststellen,<br />

wenn der Hans nicht mehr zum täglichen Einkauf<br />

ging, niemanden fiel auf, dass er ausblieb, nicht<br />

einmal die Kassiererin im Supermarkt, mit<br />

welcher er immer einen Kurzschwatz führte.<br />

Und wenn er sich vorstellte, dass es bei ihm<br />

genau gleich ablaufen wird, überkam ihn ein<br />

seltsames Gefühl <strong>von</strong> Machtlosigkeit und<br />

Depression.<br />

155


Das unterschied ihn vom Hund, der Hund weiß<br />

nicht, dass seine Stunde bald geschlagen hat,<br />

er genießt das Leben bis zum letzten Atemzug.<br />

Aber er als Mensch muss seinen sicheren Tod<br />

demütig abwarten.<br />

Erwin war felsenfest überzeugt, dass er der<br />

nächste Todeskandidat der Stammtischrunde<br />

sein wird. Aber er sollte sich täuschen, da war<br />

dieser Roland, nahezu zehn Jahre jünger als er,<br />

und spindeldürr, also kerngesund und nicht<br />

dickbäuchig wie seine Kollegen. Seit bald zwei<br />

Jahren klagte er aber über ständige<br />

Magenschmerzen, und sein Arzt verschrieb ihm<br />

ausreichend Tabletten. Aber er brachte diese<br />

Plage nicht weg, deshalb leitete der Arzt ihn<br />

weiter an einen Spezialisten. Und schon bald<br />

musste er die Diagnose: „Krebs im Endstadium“<br />

entgegennehmen, für den sehr aktiven Roland<br />

brach eine Welt zusammen. Ja, die Nachricht<br />

wirkte wie eine Bombe, nach wenigen Tagen sah<br />

er aus wie ein Zombie, nur noch ein Häufchen<br />

Elend. Sein Ende kam mit Riesenschritten, nur<br />

ein Monat nach dem negativen Bescheid, wurde<br />

Roland zu Grabe getragen. Für Erwin war das<br />

kein Trost, er wunderte sich nur, wie schnell<br />

man in diesem Leben abgebucht wird. Fast<br />

beneidete er den Roland wegen seinem raschen<br />

156


Abschied. Der hatte es hinter sich, und einmal<br />

mehr musste Erwin an einer Bestattung<br />

teilhaben, welche nicht die seine war.<br />

Die Abdankung unterschied sich in nichts <strong>von</strong><br />

allen den vorangehenden, nur die Leute waren<br />

nicht die gleichen. Und auch der Friedhof war<br />

woanders. Als Erwin sich die neuen Gräber<br />

neben dem Roland näher anschaute, fiel ihm<br />

beim zweiten Grab ein Namen auf, den er kennen<br />

musste: “Waldemar Bünzli“! Der Grabstein fehlte<br />

noch, und war provisorisch durch ein einfaches<br />

Holzkreuz gesetzt. Und hinter den Blumen war<br />

eine kleine Holztafel angebracht: „Einsamer<br />

Wolf“, und in etwas kleinerer Schrift:<br />

„Ehrenhäuptling der Sioux Indianer“.<br />

Erwin war erneut betroffen, der „Einsame Wolf“<br />

war doch kerngesund, als er die Anstalt verließ!<br />

Er rief seinen Kollegen Heinrich Loser an, und<br />

dieser wusste folgendes zu vermelden: „Ja, der<br />

„Einsame Wolf“ hat uns plötzlich verlassen und<br />

ist in die „Ewigen Jagdgründe“ verreist. Es ist<br />

schon bald ein Monat her, als er eines Morgens<br />

beim Frühstück sagte: „Heute ist ein guter Tag<br />

zum Sterben“, aber niemand nahm ihn ernst, er<br />

sagte das doch oft. Aber an diesem Tag geschah<br />

ein Unglück, nach dem Sonnentanz kletterte er<br />

auf den großen Lindenbaum, weit oben, es<br />

mochten sicher sechs Meter sein, legte er sich<br />

157


auf einen Ast und meditierte. Vermutlich befand<br />

er sich in sehr tiefer Trance oder war sogar<br />

eingeschlafen? Er fiel Kopf voran in die Tiefe und<br />

brach sich das Genick!“<br />

„Das passt ja genau zum „Einsamen Wolf“, wie er<br />

lebte, so starb er, und wer hat die Tafel am<br />

provisorischen Grab beschriftet“, fragte Erwin.<br />

„Das war ich“ antwortete Heinrich.<br />

Erwin: „Das hast Du aber gut gemacht, und das<br />

mit dem Ehrenhäuptling stimmt doch wohl<br />

nicht?“<br />

Heinrich: „Falsch geraten, in seinem Zimmer<br />

hatte er eine Urkunde hängen, darauf stand in<br />

englischer Sprache genau das geschrieben, mit<br />

Siegel und Unterschriften, vom Stamm der<br />

Lakota Sioux!“<br />

Erwin: „Kaum zu glauben, aber nun ist er in den<br />

„Ewigen Jagdgründen“ und glücklich“.<br />

Heinrich: „Das will ich auch hoffen“.<br />

Erwin: „Ich bin der nächste Kandidat, meine<br />

Nieren sind am Ende, und die Leber ist auch<br />

futsch, das ist kein Leben mehr!“<br />

Heinrich: „Übertreibe nicht, Du kannst es noch<br />

lange schaffen“.<br />

Erwin: „Nein, diesmal ist die Sache sehr ernst,<br />

mein Arzt will mich an ein Dialysegerät<br />

anschließen, aber das mache ich nicht mit, das<br />

ist doch reiner Horror!“<br />

158


Heinrich: „Stimmt, bei uns müssen zwei ins<br />

Spital, es geht nicht mehr ohne das Gerät.“<br />

„Ohne mich“ sagt Erwin entschlossen, und<br />

Heinrich ist überzeugt, der macht lieber Schluss<br />

als sich noch Wochen und gar Monate quälen zu<br />

lassen. Heinrich hatte noch weitere<br />

Informationen: „Seit Deinem Abgang sind hier<br />

fünf Leute gestorben, da ist einmal der „Einsame<br />

Wolf“, sodann Meier 12, sein Prostatakrebs<br />

hinterließ Ableger, und er hatte keine Chance<br />

auf Heilung. Ulrich Zimmer und Harald Bommer,<br />

die beiden Alzheimerkranken, haben sich auch<br />

abgemeldet, und bei den Frauen die Annemarie<br />

Dubach“.<br />

Erwin: „Danke für die Auskunft, und ich melde<br />

mich hiermit bei Dir ab“.<br />

Heinrich, „Du hast es aber eilig!“<br />

Erwin: „Ich mache mir keine Illusionen“.<br />

Damit war das Gespräch beendet, es sollte das<br />

letzte Mal sein, dass sich die zwei sprechen<br />

konnten.<br />

Der Krug geht zum Brunnen bis er bricht.<br />

Manche brechen früher, andere sehr viel später,<br />

ja, oft denkt man, die halten es ewig aus.<br />

Doch, da gibt es absolut keine Ausnahme.<br />

Und das realisierte auch Erwin, sein Interesse an<br />

der Umgebung ließ nach, Ablenkung brachten<br />

nur noch Freund Alkohol und die vielen Pillen.<br />

159


Das Leben verabschiedete sich langsam aber<br />

sicher aus ihm, noch konnte er sich<br />

selbstständig bewegen, aber wie lange noch?<br />

Sein Dasein vollzog sich <strong>von</strong> einem Rausch zum<br />

nächsten. Und er hoffte, dass er an einem<br />

schönen Morgen einfach nicht mehr erwachen<br />

werde. Aber das Schicksal wollte es ihm nicht<br />

derart einfach erlauben, als er den Arzt<br />

aufsuchte, kriegte dieser Sorgenfalten. Der<br />

Blutzuckergehalt war viel zu hoch, Erwin sollte<br />

sich im Spital einer Dialysebehandlung<br />

(Blutwäsche) unterziehen, und das zweimal<br />

monatlich.<br />

Aber Erwin winkte ab, ohne ihn!<br />

Trotzdem, der Arzt war nun überfordert, er<br />

wies Erwin dem Bezirksspital zu.<br />

Es war offensichtlich, sobald er dort eintraf,<br />

wollte man ihn sicher gleich behalten, aber er<br />

hatte keine Wahl, er benötigte Tabletten, und die<br />

erhielt er nur mit einer ärztlichen Rezeptur.<br />

Er blieb noch etwas beim Hausarzt, dieser<br />

machte missmutig mit. Erwin ging nur noch<br />

selten an die Stammtischtreffs, er hatte das<br />

Gefühl, als Todeskandidat, der ganz zuoberst auf<br />

der Abschussliste stand, nehme man ihn nicht<br />

mehr ernst, für seine Kollegen sei er praktisch<br />

schon gestorben. Natürlich sagte er das nicht,<br />

die hätten es nie und nimmer zugegeben!<br />

160


Er betrank sich darum mehr und mehr zu Hause,<br />

als einsamer Trinker. Wobei es völlig egal war,<br />

ob da noch Leute um ihn herum waren oder nicht,<br />

er befand sich nahezu während 24 Stunden in<br />

einem berauschten Zustand. Erneut rief er bei<br />

der Organisation „EXIT“ an, man möge ihn doch<br />

eine Todespille abgeben. Aber er wurde nicht<br />

fündig, die gesetzlichen Vorschriften erlaubten<br />

nur die Abgabe an Mitglieder!<br />

Erwin plante deshalb eine andere Lösung, er<br />

schleppte sich mühsam in den Wald, dort, wo er<br />

seinen Revolver versteckt hielt. So ein Schuss in<br />

die Schläfe, war mindestens so effizient wie<br />

diese Pille! Gut, für die Aufräumleute war es<br />

weniger lustig, aber die waren sich ja gewohnt<br />

an solche Anblicke.<br />

Unterwegs wurde ihm übel und schwindlig, und<br />

mehrmals musste er sich auf eine der Bänke<br />

setzen, weil er nahezu bewusstlos war. Aber der<br />

größte Schreck traf ihn erst, als er am Versteck<br />

ankam, der Stein vor der Höhle war weg, und der<br />

Revolver ebenfalls!<br />

Und die Füchse, die nebenan einen Bau<br />

bewohnten, waren vermutlich auch nicht die<br />

Räuber!<br />

Von einem Waffenfund im Wald, war nie etwas zu<br />

hören, deshalb vermutete Erwin, seine Waffe<br />

liege nicht bei der Polizei, sondern viel eher bei<br />

161


einem, welcher sich dort ebenfalls ein Versteck<br />

suchte? Oder möglicherweise <strong>von</strong> Pfadfindern<br />

entdeckt wurde, die dort oft campierten?<br />

Tatsache war, der Revolver ist weg!<br />

Damit war der Suizidplan mit dem Revolver auch<br />

nicht mehr aktuell. Im Wald gab es viele Pilze,<br />

die meisten <strong>von</strong> ihnen ungenießbar und giftig.<br />

Vom Fliegenpilz war bekannt, dass sein<br />

Giftpotential nicht ausreichte um ins Jenseits zu<br />

kommen, und lediglich Magenkrämpfe waren<br />

auch nicht gefragt. Aber als sehr wirksam gilt<br />

der Grüne Knollenblätterpilz, aber <strong>von</strong> dieser<br />

Sorte konnte Erwin keine sehen, sie hielten sich<br />

vermutlich versteckt?<br />

Erwin quälte sich den Waldweg entlang, stets<br />

auf der Suche nach dem rettenden Giftpilz.<br />

Plötzlich drehte sich alles um ihn herum, und er<br />

verlor das Bewusstsein.<br />

Als er nach Stunden wieder zu sich kam, lag er<br />

in einem Zimmer und starrte an die weiße Decke.<br />

Neben dem Bett saß eine junge Frau in Weiß,<br />

eine Krankenschwester, sie schaute ihn mit<br />

graublauen Augen wortlos an. Als sie erkannte,<br />

dass der Patient das Bewusstsein erlangte, rief<br />

sie umgehend eine Kontaktperson und meldete:<br />

„Schwester Ursula, PX ist erwacht“.<br />

„Wo bin ich hier?“ fragte Erwin die Frau.<br />

162


„Sie liegen auf der Intensivabteilung des<br />

Bezirksspitals“, war ihre kurze Antwort.<br />

Und bereits gesellte sich eine ganze Gruppe<br />

weißer Gestalten ins Zimmer. Ein baumlanger<br />

älterer Mann, neben ihm ein kleinerer etwas<br />

jüngerer, und die waren flankiert <strong>von</strong> zwei<br />

Schwestern. „Oberarzt Baumberger, und das ist<br />

mein Assistent“ auf den kleineren Mann zeigend,<br />

begann der lange Mann.<br />

Dann führte er aus: „Man hat sie im Wald<br />

aufgelesen, Herr Brunner, sie hatten eine akute<br />

Unterzuckerung, vermutlich hatten Sie zu viele<br />

Tabletten eingenommen?“<br />

Jetzt erinnerte sich Erwin, dass er eine<br />

dreifache Ration Blutzuckertabletten schluckte,<br />

weil er befürchtete, auf seiner Waldwanderung<br />

eine Überzuckerung zu erleiden. Erwin hatte nur<br />

seine Identitätskarte auf sich, vorerst wurde<br />

seine Adresse und die Krankenversicherung<br />

erfasst. Erwin wurde nun auf Lungen und Nieren<br />

untersucht, und die Ergebnisse ließen den<br />

Oberarzt besorgt äußern: „Herr Brunner, es steht<br />

ganz und gar nicht gut mit Ihrer Gesundheit, wir<br />

müssen Sie an ein Dialysegerät anschließen, Ihre<br />

Nieren versagen gänzlich!“<br />

Erwin verwarf die Hände: „Niemals, Herr<br />

Oberarzt, ich mag das nicht!“<br />

163


„Dann benötigen wir Ihre Unterschrift, weil Sie in<br />

wenigen Tagen bei den Engeln sind, und wir<br />

können dann keinerlei Verantwortung tragen“,<br />

antwortete der Oberarzt.<br />

„Kein Problem“, sagte Erwin.<br />

Wenig später erschien der Spitalseelsorger an<br />

seinem Bett, Erwin lag bereits wieder in einem<br />

Halbrausch, diesmal durch Tabletten verursacht.<br />

Er mochte nicht mit diesem<br />

„Seelentröster“ plaudern, das brachte doch nur<br />

noch mehr Frust!<br />

Aber er wünschte noch einmal seine beiden<br />

Kinder zu sehen, und das konnte der Mann<br />

organisieren. Erwin wurde in ein kleines<br />

Einzelzimmer gebracht, seinem Wunsch folgend<br />

ohne lebensverlängernde Behandlungen, nur<br />

großzügig mit Tabletten versorgt, ein<br />

Sterbezimmer!<br />

In seinem beduselten Zustand empfing er den<br />

Sohn und die Tochter, seine Nachfolger auf<br />

Erden, die dafür sorgten, dass seine Gene weiter<br />

lebten. Es war ein kurzer Abschied in Tränen,<br />

Erwins Kontakte mit seinem Nachwuchs waren<br />

eher bescheiden, das war nun eher <strong>von</strong> Vorteil.<br />

Und zum erben gab es kaum etwas, was an<br />

Vermögen blieb, genügte knapp, um die<br />

Bestattungskosten zu decken.<br />

164


In seinem beduselten Zustand, fiel dem Erwin<br />

der Abschied leichter, er befand sich schon<br />

halbwegs im Jenseits.<br />

Der Lebenswille war wie eine Flamme erloschen.<br />

Erwin empfand nur noch Bewegungen im Zimmer,<br />

und die Tabletten wurden ihm eingeflösst wie<br />

den Mastgänsen das Futter. Windeln wechseln<br />

und Körperwaschen nahm er nur noch<br />

schleierhaft wahr. Nur mit größter Anstrengung<br />

realisierte er, dass er sich noch auf der Welt<br />

aufhielt, in einem kleinen Zimmer, und die<br />

Erde drehte sich weiter um die Sonne,<br />

gleichgültig, ob er da war oder nicht!<br />

Er vegetierte dahin, <strong>von</strong> Lebensqualität war<br />

keine Spur mehr vorhanden, aber es störte ihn<br />

nicht, ihm war alles gleichgültig geworden.<br />

Und drei Tage später meldete die Schwester<br />

frühmorgens:<br />

„Hier Schwester Regula auf Station 35, PX ist<br />

<strong>von</strong> seinen Leiden erlöst worden“. Am andern<br />

Ende: „Danke Schwester, wir kommen sogleich,<br />

Sie können danach in die Pause gehen“.<br />

Ende<br />

$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$<br />

165


Über den Autor:<br />

<strong>Rolf</strong> <strong>Bahl</strong>, (Kürzel <strong>von</strong> Vor- und Nachname)<br />

geboren am 24. August 1938 in Bern.<br />

Autodidakt.<br />

Verbrachte die ersten 10 Lebensjahre<br />

mit seinen Eltern in Südwestfrankreich.<br />

Begann mit 15 Jahren eine Lehre zum<br />

„Bau- Kunst- und<br />

Konstruktionsschlosser“, bei der LWB<br />

Bern. Übersiedelte ein Jahr später in die<br />

Ostschweiz, wo er als Bau- und<br />

Fabrikarbeiter tätig war.<br />

Im Alter <strong>von</strong> 17 Jahren, absolvierte er<br />

eine Ausbildung zum Postbeamten, in der<br />

Freizeit bildete er sich mittels<br />

Fernstudium und autodidaktisch weiter,<br />

Diplom als Journalist, etc.<br />

Meldete sich vorzeitig als Infanterist in<br />

die Rekrutenschule, die er mit<br />

achtzehneinhalb Jahren bereits hinter<br />

sich brachte.<br />

Mit 19, verlässt er die Post und reist<br />

erstmals allein nach Nordafrika.<br />

166


Danach stellt er auf den Büroberuf um,<br />

holt nebenberuflich die kaufmännische<br />

Lehrabschlussprüfung nach, arbeitet vier<br />

Jahre bei „Coop Schweiz“, danach<br />

kommen wieder Auslandaufenthalte und<br />

ein Jahr in Genf bei einer Privatbank.<br />

Sodann folgen die „Swissair AG, Kloten“,<br />

sowie die „Union International London“.<br />

1968 verbringt er in Spanien als „Free-<br />

Lance“ Sprachlehrer. Nach seiner<br />

Rückkehr wird er Hauptbuchhalter bei<br />

einer Bautreuhandfirma, wird sehr krank<br />

und muss vor seiner Abreise nach Liberia,<br />

wo er eine Stelle als Geschäftsleiter<br />

hatte, mehrere Wochen ins Spital.<br />

Die Karrierepläne waren aus, die Ärzte<br />

schlugen vor, einen weniger stressigen<br />

Job zu finden, sonst werde er bald bei<br />

den Engeln landen, meinte der Oberarzt<br />

etwas sarkastisch! Die höheren, zum Teil<br />

staatlichen Fachdiplome, waren damit<br />

überflüssig geworden.<br />

Und wie es der Zufall so wollte, fand er<br />

eine Stelle bei der OSEC (Office Suisse<br />

167


d´expansion Commerciale), ganz<br />

stressfrei war der Job auch nicht, aber er<br />

konnte überleben!<br />

Im Jahr 1997, ging er in den beruflichen<br />

Ruhestand, seither lebt er in den kalten<br />

Monaten in Südostasien, und im Sommer<br />

in der Schweiz.<br />

Seit 1968, ist er zudem auch<br />

„Hobbyautor“ und zeitweise Verleger,<br />

(siehe auch<br />

Verzeichnis der <strong>Publikationen</strong>).<br />

$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$$<br />

168


<strong>Publikationen</strong> <strong>von</strong><br />

<strong>Rolf</strong> <strong>Bahl</strong>:<br />

(<strong>Gedruckte</strong> <strong>Bücher</strong>)<br />

Einmal die Ferne<br />

sehen, ARUBA-VERLAG 1968<br />

Zwischen 1957 und 1966, reist der Autor etappenweise,<br />

und mit wenig Geld um die Welt. (Vergriffen)<br />

Weltuntergang, 2000<br />

Ende oder Wende?<br />

R. Fischer-Verlag Frankfurt 1992<br />

Der Autor, widmete sich während Jahren der<br />

Parapsychologie, hier versuchte er die<br />

Untergangsprognosen für das Jahr 2000 zu<br />

verharmlosen! Zu recht, wie wir heute wissen. (Nach<br />

2000 vom Verlag aus dem Handel gezogen).<br />

Hinweis: Beide Schriften können in der Schweiz bei:<br />

Schweiz. Nationalbibliothek, CH-3003 Bern, Mail: slbbns@slb.admin.ch,<br />

in Ausleihe gelesen werden.<br />

169


TIMO, der schwarze<br />

Kater, ROBA-VERLAG<br />

Die Geschichte einer Katze<br />

(Neuauflage 2011, jetzt auch als E-Book !)<br />

Schatten im Paradies,<br />

Leben und Sterben in Pattaya<br />

ISBN 974-93004-7-5<br />

Erlebnisse im Rentnerparadies<br />

Flucht aus Manila, ISBN<br />

974-93864-5-0<br />

Ein Tourist gerät in die Fänge einer Erpresserbande!<br />

Die Prinzessin <strong>von</strong><br />

Kalasin, ISBN 974-94967-8-7,<br />

Thailandroman<br />

Eine junge Frau aus dem armen Isaan, zeigt auf, wie<br />

man in kurzer Zeit viel Geld verdienen kann.<br />

170


Daengs Abenteuer, ISBN<br />

978-974-09-8990-5<br />

Der Traum vom sorgenlosen Leben im Farangland<br />

(Westen), wird für Daeng zum wahren Albtraum.<br />

Thailandroman<br />

Sumalis Rache,<br />

Sumali überlebt das „Killing Field“ der „Roten Khmer“,<br />

später rächt sie sich an einem ihrer Peiniger, welcher<br />

nun als Menschenhändler in Thailand aktiv wurde.<br />

Hans im Glück<br />

Als Rentner in Thailand, ISBN 978-974-<br />

367-1 Roman<br />

Rückblick unter<br />

Palmen, ISBN 978-616-903-4,<br />

eine mosaikähnliche<br />

171


Zusammenfassung aus der<br />

Vergangenheit<br />

(Auch als E-Book erhältlich)<br />

Weltvertrieb für obige <strong>Bücher</strong>:<br />

info@farang.co.th, oder www.derfarang.co.th<br />

Bye – Bye Tiluk, eine<br />

seltsame Love Story aus Thailand, nur<br />

in englischer Sprache erhältlich bei:<br />

ROBA-Verlag<br />

Ackerstrasse 4, CH-8604 Volketswil<br />

auch als E-Book bei: Freebook, de<br />

Schriften, welche nur als Ebooks<br />

erhältlich sind:<br />

Blick Zurück,<br />

Autobiographie <strong>von</strong> <strong>Rolf</strong> <strong>Bahl</strong>, nur als<br />

E-Book (890 Seiten)<br />

172


Tod im Barrio Chino,<br />

Barcelona während der Franco<br />

Diktatur.<br />

Nur als E-Book erhältlich<br />

Kurzgeschichten die<br />

das Leben schrieb.<br />

25, zum Teil dramatische Erzählungen<br />

aus dem Leben. Nur als E-book<br />

Nie wieder las Vegas!<br />

Wer sich leichtsinnig dort zweimal<br />

verheiratet, muss später dafür schwer<br />

büßen. Nur als E-Book<br />

173


Der Urgroßvater<br />

die Nachforschungen<br />

in die Vergangenheit, führten zu<br />

erstaunlichen Ergebnissen!<br />

Nur als E-Book<br />

Monikas Stimme<br />

Kriminalroman<br />

nur als E-Book<br />

So sprach<br />

Buddha<br />

ein Versuch, mit westlichem<br />

Verständnis, die Thesen des<br />

Buddhismus zu verstehen.<br />

nur als E-Book<br />

174


Partnerschaft<br />

Vom Wunschdenken zur Realität<br />

Unkonventionelle Ansichten zum Thema<br />

Partnerschaften.<br />

nur als E-Book<br />

Ungültiger<br />

Jahrgang!<br />

Über Altersdiskriminierung und<br />

andere Missstände im Alltag.<br />

nur als E-Book<br />

Butterfly und Nonne<br />

die Fortsetzung <strong>von</strong> Bye Bye<br />

Tiluk<br />

nur als E-Book<br />

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