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Erste Staatsexamensarbeit ––– 1997 ––– föpäd. net www.foepaed.net Anja Oehme Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer Arbeit für den Literaturunterricht unter Berücksichtigung von Prävention bzw. Abbau von Verhaltensstörungen

Erste Staatsexamensar<strong>bei</strong>t<br />

––– 1997 –––<br />

<strong>föpäd</strong>.<br />

<strong>net</strong><br />

www.foepaed.<strong>net</strong><br />

Anja Oehme<br />

Möglichkeiten und Grenzen<br />

bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong><br />

für den Literaturunterricht unter<br />

Berücksichtigung von Prävention<br />

bzw. Abbau von Verhaltensstörungen


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Oehme, Anja: Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> für den<br />

Literaturunterricht unter Berücksichtigung von Prävention bzw. Abbau von<br />

Verhaltensstörungen.<br />

Online im Inter<strong>net</strong>: URL: http://www.foepaed.<strong>net</strong>/volltexte/oehme/bibliotherapie.<strong>pdf</strong>.


Gliederung<br />

Gliederung<br />

1. Einleitung 5<br />

2. Darstellung der Bibliotherapie 9<br />

2.1 Definition 9<br />

2.2 Geschichte 12<br />

2.2.1 Mittelalter und Neuzeit 12<br />

2.2.2 Entwicklungen im 20. Jahrhundert 15<br />

2.2.3 Differenzierung Biblio- und Poesietherapie 17<br />

2.3 Menschenbild - Methoden und Techniken - Anwendungsgebiete 18<br />

2.3.1 Menschenbild und theoretische Grundlagen 19<br />

2.3.2 Methoden und Techniken 24<br />

2.3.3 Anwendungsgebiete 27<br />

2.3.4 Integrative Poesietherapie 28<br />

2.4 Fazit 30<br />

3. Literaturunterricht 32<br />

3.1 Wesen und Ziele des Unterrichts 32<br />

3.2 Ziele des Literaturunterrichts 33<br />

3.3 Kriterien einer Literaturpädagogik 34<br />

3.4 Literaturbegriff 34<br />

3.5 Gegenstand des Literaturunterrichts 35<br />

3.6 Das Lesen in der Schule 36<br />

3.7 Abgrenzung des Unterrichts von Therapie 39<br />

4. Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen<br />

Umgang mit ihnen 41<br />

4.1 Begriffsbestimmung 41<br />

4.2 Definition 42<br />

4.2.1 Definition nach Havers 42<br />

4.2.2 Definition nach Bach 43<br />

4.2.3 Definition nach Speck 44<br />

4.2.4 Fazit 44<br />

4.2.5 Erscheinungsformen und Ursachen von Verhaltensstörungen 45<br />

4.2.6 Prävention und Abbau von Verhaltensstörungen im schulischen<br />

Bereich 47<br />

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3


Gliederung<br />

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4.2.6.1 Prävention 47<br />

4.2.6.2 Abbau von Verhaltensstörungen in der Schule 48<br />

4.2.7 Der Unterricht an der Schule für Kinder mit Verhaltensstörungen 50<br />

4.2.7.1 Besonderheiten der Situation im Unterricht 50<br />

4.2.7.2 Forderungen an Unterricht und Didaktik 51<br />

5. Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld 54<br />

5.1 Gemeinsamkeiten von Literaturunterricht, Bibliotherapie und Unterricht im<br />

Rahmen der Verhaltensgestörtenpädagogik 54<br />

5.2 Erfahrungen in der bibliotherapeutischen <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> 56<br />

5.2.1 Bibliotherapeutische <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern und Jugendlichen 57<br />

5.2.2 Modelle der Bibliotherapie und Biblioprophylaxe nach Ehrenberger<br />

und Sedlak 59<br />

5.2.3 Prinzipien bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern<br />

nach Rhea Joyce Rubin 61<br />

5.2.4 Ilse M. Lehner: Die Verwendung Kinder- und<br />

Jugendliteratur in der Schule 62<br />

5.2.5 Udo Kittler: Unterrichtsplanung „Bibliotherapie“ 63<br />

5.3 Literaturdidaktische Modelle 64<br />

5.3.1 Modell der Rezeptionsästhetik (3-Phasen-Modell) 65<br />

5.3.2 4-Phasen-Modell nach Kreft 66<br />

5.4 Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> für den<br />

Literaturunterricht 67<br />

5.4.1 Möglichkeiten 67<br />

5.4.2 Grenzen 71<br />

5.5 Ein Beispiel bibliotherapeutisch ausgerichteter <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im Literatur- bzw.<br />

Leseunterricht anhand der Geschichte „Kannst du nicht schlafen,<br />

kleiner Bär?“ 72<br />

6. Konsequenzen 77<br />

7. Zusammenfassung 79<br />

8. Literatur 80<br />

9. Anhang 86<br />

I Wortlaut der Geschichte „Kannst du nicht schlafen, kleiner Bär?“<br />

von Martin Waddell und Barbara Firth<br />

II Paper „Das fröhliche Krankenzimmer e.V.“<br />

III Grafik: Modell „Bibliotherapie“ nach Ehrenberger und Sedlak,<br />

Phase A, B und C<br />

4


Einleitung<br />

1 Einleitung<br />

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Wenn sie ein Buch beginnt,<br />

betritt sie durch Säuleneingänge große Innenhöfe.<br />

Michael Ondaatje<br />

Ondaatjes sprachliches Bild im Zitat beschreibt zwei wesentliche Prozesse, die mit uns<br />

geschehen, wenn wir zu lesen beginnen. Sie sind unsere Intention, das bewußte oder<br />

unbewußte Ziel <strong>bei</strong>m Aufschlagen eines (freilich nicht Sach-) Buches. Dennoch bleibt<br />

dieses Ziel manchmal nur ein Wunsch.<br />

Die Heldin „betritt“ einen Ort, indem sie ein Buch aufschlägt. Dieses Betreten steht als<br />

Metapher für eine geistige Bewegung. Nicht im geographischen Sinne findet eine<br />

Positionsänderung statt. Ein Mensch wird geistig aktiv.<br />

Warum geschieht dies? Auch eine Antwort auf diese Frage findet sich.<br />

Der Ort, an den sich die Leserin durch ein Buch verführen läßt, ist für sie neu. Ondaatje<br />

spricht von „große(n) Innenhöfe(n)“ und deutet damit eine Vielzahl an. Es ist nicht<br />

immer der gleiche Ort, an den sich die Leserin begibt. Er ist so verschieden, wie große<br />

Innenhöfe mit Säuleneingängen verschieden sein können. Doch gemein haben sie alle<br />

eine Differenz zum bisherigen Standort(-punkt). Der neue Ort ist zugleich ein weiter,<br />

unbekannter Raum und dennoch nur ein Ausschnitt. Begrenzt durch die Hofmauer und<br />

relativiert durch die vielen anderen Höfe, die es noch zu sehen gäbe.<br />

Der Raum ist ebenso charakterisiert durch ein Geheimnis: Vor dem Säuleneingang<br />

stehend, weiß man nicht, was einem nach dem ersten Schritt erwartet. Langsam nur<br />

erschließt er sich dem Betrachter. 1<br />

Die Differenz der Orte erzeugt Aktivität. In erster Linie wird dies ein Vergleich sein:<br />

Wo gefällt es mir besser? Da, wo ich wirklich bin? Oder da, wo ich im Geiste sein<br />

kann? Das Geheimnis aber ist die Motivation für den Schritt hinein. Für den Schritt<br />

durch den Säuleneingang auf die erste Seite hinter dem Buchdeckel.<br />

Quelle des Eingangszitates: Michael Ondaatje (1997, 105)<br />

1 Mit Rücksicht auf die Lesbarkeit des Textes wird im folgenden für Personenbezeichnungen die<br />

männliche Form gewählt. Sie gelten für Frauen / Mädchen in weiblicher Form.<br />

5


Einleitung<br />

Das Lesen unterscheidet sich von visuellen Medien dadurch, daß es in einem hohen<br />

Maße die Phantasie anregt. Der Leser ist sein eigener Regisseur. Er dreht seinen Film im<br />

Kopf, mit seinen Figuren und seinen unterschiedlichen Akzentsetzungen. Daher ist man<br />

auch oft von einem Film enttäuscht, wenn man das zugrunde liegende Buch bereits<br />

gelesen hat. Dennoch scheint das Lesen im Zuge des kommunikationselektronischen<br />

Fortschritts unmodern geworden zu sein. Audiovisuelle Medien verdrängen das Buch,<br />

so daß es besonderer Mittel bedarf, um nicht nur Kinder- und Jugendliche wieder zum<br />

Lesen zu führen.<br />

„Schock` deine Eltern, lies ein Buch!“ Dieser ironische Satz, auf einem Plakat an der<br />

Tür einer Schulbibliothek zu lesen, wirbt auf eine witzige Art für das Lesen. Der<br />

Werbespruch fordert Kinder und Jugendlichen auf, mit dem Lesen von Büchern gegen<br />

den vermeintlichen gesellschaftlichen Konsens des Nichtlesens und damit auf eine<br />

wirksame Weise gegen die „modernen“ Erwachsenen zu opponieren.<br />

In der Bibliotherapie jedoch existiert eine Psychotherapie, die dem Lesen eine ganz<br />

besondere Bedeutung <strong>bei</strong>mißt und ein weiteres Argument liefert, ihm Aufmerksamkeit<br />

zu widmen. Grundannahme ist, daß die Literatur eine heilkräftige Wirkung in sich trägt<br />

und <strong>bei</strong> der Bewältigung schwerwiegender Lebensereignisse hilfreich sein kann.<br />

Lebenskrisen sind zumeist gekennzeich<strong>net</strong> durch eine scheinbare Ausweglosigkeit.<br />

Deren Überwindung ist eine Voraussetzung für Fortentwicklung. Im Märchen wird dies<br />

vorgeführt. Zu Beginn herrscht oft eine Krise. Die Not ist groß, ein ganzes Land wird<br />

von einem Drachen bedroht, die Königstochter wurde geraubt oder Kinder werden von<br />

zu Hause fortgeschickt. Wird jetzt nicht geholfen, geschieht eine Katastrophe. Immer<br />

jedoch wagt sich ein Mensch vor, zieht in die Ferne, tötet den Drachen. Es scheint, als<br />

bräuchte es eine solche Herausforderung, um versteckte Kräfte und Möglichkeiten<br />

freizusetzen, die sonst brach lägen.<br />

Die Vertreter der Bibliotherapie gehen davon aus, daß solch ein Prozeß der Freisetzung<br />

von Ressourcen durch Literaturrezeption initiiert werden kann. Über eine Identifikation<br />

oder Distanzierung mit Stoff und Inhalt, Personen und Problemen aus der Literatur<br />

können Emotionen freigesetzt und Handlungsmöglichkeiten antizipiert werden. Das<br />

Betreten neuer Räume durch Lektüre, wie es im Eingangszitat geschildert wird, die<br />

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6


Einleitung<br />

Einnahme einer anderen Perspektive regt die Reflexion über die eigene Befindlichkeit<br />

an. Insofern erlangt der Leser Einsicht 2 , vorausgesetzt der Text berührt ihn.<br />

Noch nicht genannt ist da<strong>bei</strong> die horizontvergrößernde und entlastende Funktion von<br />

Literatur. Eigene Leseerfahrungen liefern oft ein beredtes Zeugnis davon, wie tief man<br />

in einen Lesestoff versinken und wie bedingungslos da<strong>bei</strong> einen tristgrauen Sonntag<br />

oder andere Widrigkeiten vergessen kann. Wie oft ist man als Kind in solchen<br />

Situationen mit den Helden Karl Mays durch den Wilden Westen geritten.<br />

Macht man sich diese Potenzen von Literatur bewußt, so ist es um so naheliegender, sie<br />

im pädagogischen Feld hinsichtlich des Gebietes zu betrachten, in dem Kinder und<br />

Jugendliche mit Texten in Berührung kommen. Dies ist im Literaturunterricht der Fall,<br />

der leider oft der einzige Bereich ist, in dem dies geschieht.<br />

In dieser <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> soll der Frage nachgegangen werden, welche Bedeutung Bibliotherapie<br />

für den Literaturunterricht haben kann. Da Unterricht und Psychotherapie nicht<br />

gegeneinander austauschbar sind, soll das Augenmerk auf der Frage liegen, inwieweit es<br />

möglich ist, bibliotherapeutisches Denken in den Unterricht einzubeziehen und nutzbar<br />

zu machen.<br />

Die Ausführungen sollen außerdem den Literaturunterricht an Schulen für<br />

Erziehungshilfe berücksichtigen. Die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen<br />

bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> wird ebenso hinsichtlich der Pädagogik <strong>bei</strong><br />

Verhaltensstörungen betrachtet. Grundlage dafür bildet die Vermutung, daß<br />

bibliotherapeutisch motivierte <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im Literaturunterricht dort dazu <strong>bei</strong>trägt, der<br />

Individualität der Schüler in einem noch größeren Maße gerecht zu werden und so den<br />

Abbau von Verhaltensstörungen zu unterstützen.<br />

Zunächst werden Bibliotherapie, Literaturunterricht und Pädagogik <strong>bei</strong><br />

Verhaltensstörungen ausführlich dargestellt. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass eine<br />

Zusammenschau der Ziele und Inhalte dieser drei Gebiete, wie sie in Kapitel 5 erfolgen<br />

soll, dadurch plastischer wird. Es erfolgt der Versuch alle drei Bereiche miteinander zu<br />

verknüpfen. Da<strong>bei</strong> werden zunächst Erfahrungen in der bibliotherapeutischen <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit<br />

2 Eine Heilung durch Einsicht bezeich<strong>net</strong> im psychologischen Sinne die „Entdeckung von<br />

Zusammenhängen zwischen aktuellen Symptomen und deren vergangenen Ursprüngen“ (Zimbardo<br />

1995, 660).<br />

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7


Einleitung<br />

Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen gesichtet und bibliotherapeutische<br />

Konzepte nach Aussagen zur Vorgehensweise befragt. Anschließend wird auf<br />

literaturdidaktische Modelle eingegangen und die Frage behandelt, ob diese überhaupt<br />

Raum für bibliotherapeutisches Denken bieten.<br />

Zusammenfassend werden Möglichkeiten und Grenzen für ein bibliotherapeutisch<br />

orientiertes Vorgehen im Literaturunterricht und im schulischen Bereich überhaupt<br />

erörtert und Leitgedanken dazu aufgestellt. Den Abschluß bildet ein Beispiel<br />

bibliotherapeutisch ausgerichteter <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> für den Leseunterricht in der Grundschule.<br />

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8


Darstellung der Bibliotherapie<br />

2 Darstellung der Bibliotherapie<br />

2.1 Definition<br />

Den zahlreichen Definitionen von Bibliotherapie wohnt der Grundgedanke inne,<br />

Literatur zur Unterstützung der Therapie in Medizin und Psychiatrie zu verwenden. Sie<br />

sind unterschiedlich weit gefaßt. Zunächst werden die Termini „Bibliotherapie“ und<br />

„Poesietherapie“ synonym verwendet, auf eine Differenzierung soll später noch<br />

eingegangen werden. Dietrich von Engelhardt definiert Bibliotherapie, wie auch Kittler<br />

und Munzel (1987), als Interventionsmöglichkeit <strong>bei</strong> Lebenskrisen und betont deren<br />

Einsetzbarkeit <strong>bei</strong> der Rehabilitation und Prävention:<br />

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„Bibliotherapie heißt Heilung und Beistand durch das Buch. Literarische Texte können die<br />

Therapie unterstützen, können zu einem Instrument der Psychotherapie werden, können<br />

präventiv und rehabilitativ wirken und allgemein eine Hilfe sein, mit Leiden, Krankheit und<br />

Tod, mit Lebensproblemen umzugehen. Auch das eigene Schreiben kann in dieser Hinsicht<br />

hilfreich wirksam werden. Bibliotherapie gehört zur bereits etablierten Musik- und<br />

Maltherapie; wie diese Ansätze entspricht sie dem Menschen als einem Natur- und Geistwesen<br />

und erinnert die Medizin an ihren Doppelcharakter einer naturwissenschaftlichen und<br />

anthropologischen Disziplin wie an ihre zweifache Aufgabe, nicht nur für die Krankheit,<br />

sondern ebenfalls für die Gesundheit zuständig zu sein.“<br />

(v. Engelhardt, 1987, 5)<br />

Da<strong>bei</strong> haben nach Munzel (1985) das Gespräch über die Literatur und die durch sie<br />

ausgelösten Emotionen und Reaktionen für den therapeutischen Prozeß eine besondere<br />

Bedeutung. Es läßt sich präzisieren, daß <strong>bei</strong>des die Bedeutung von Bibliotherapie ist,<br />

nämlich Freisetzung und Bewußtmachung von Gefühlen durch Anregung zum<br />

Gespräch über sie durch Literatur. Arthur Lerner beschreibt Literatur in diesem Sinne<br />

als ein „...eklektisches und begleitendes Phänomen in der therapeutischen Praxis, durch<br />

das jedes herrschende Psychotherapieverfahren ergänzt werden kann“ (1994, 901).<br />

Damit betont er die Hilfsfunktion von Literatur für Therapie, der in dieser Weise nicht<br />

alle Autoren zustimmen. Therapie mit Hilfe von Literatur kann nach Lerner aus<br />

Einzelbehandlung, Gruppentherapie oder aus <strong>bei</strong>dem bestehen.<br />

Hilarion Petzold und Ilse Orth halten die Sprache und besonders die zu einem Text<br />

gestaltete Sprache deshalb für ein geeig<strong>net</strong>es Medium in der Therapie, da es „wie kein<br />

anderes mit dem Wesen des Menschseins verbunden ist“ (1985, 22). In der Tat finden<br />

9


Darstellung der Bibliotherapie<br />

sich sehr frühe Versuche und Praktiken der Heilung durch Sprache, auf die zu einem<br />

späteren Zeitpunkt noch eingegangen werden soll. Als die „Verar<strong>bei</strong>tung mehr oder<br />

minder belastender Erlebnisse und Eindrücke“ durch die Verwendung von Literatur<br />

innerhalb eines therapeutischen Prozesses konkretisieren Ehrenberger und Sedlak den<br />

Ansatz der Bibliotherapie. Weiterhin führen <strong>bei</strong>de den Begriff der „Biblioprophylaxe“<br />

ein, unter dem sie die „vorbeugende Auseinandersetzung mit wichtigen Lebensfragen<br />

durch Einsatz von Lektüre“ (1987, 86) verstehen.<br />

Der Terminus „Bibliotherapie“ ist für Rhea Joyce Rubin zu begrenzt im heutigen<br />

multimedialen Zeitalter. Ihrer Meinung nach haben alle audiovisuellen Medien die<br />

gleichen Potenzen für eine „Selbstentwicklung“ und sollten ebenso eingesetzt werden.<br />

Auch hält sie den Begriff der „Therapie“ für unglücklich gewählt, da sich eine Tendenz<br />

der ungehemmten Vermehrung von als Therapie bezeich<strong>net</strong>en Techniken abzeichne.<br />

Bibliotherapie sei weder eine Psychotherapie noch irgendeine andere. Sie wolle nicht<br />

heilen, vielmehr „im wahrsten Sinne des Wortes `aufklären`“ (1985, 106).<br />

Rubin wählt allerdings keinen anderen Terminus, erweitert aber die Definition und sieht<br />

Bibliotherapie als „Programm für Aktivitäten auf der Basis der Interaktionsprozesse<br />

zwischen den Medien und ihren Konsumenten. Gedrucktes und nichtgedrucktes,<br />

imaginatives und informatives Material wird unter der Mitwirkung eines Therapeuten<br />

erfahren und besprochen“ (Rubin 1978, zit. nach Rubin 1985, 103). Sie unterscheidet<br />

weiterhin drei Formen der Bibliotherapie, da diese in vielen Bereichen Anwendung<br />

findet. Da<strong>bei</strong> klassifiziert sie nach Setting, Leitern, Teilnehmern, Techniken und Zielen<br />

in institutionelle, klinische und entwicklungsfördernde Bibliotherapie.<br />

Die institutionelle Bibliotherapie ist gekennzeich<strong>net</strong> durch den Einsatz von vorwiegend<br />

didaktischer Literatur <strong>bei</strong> stationären Patienten. Rubin zählt auch das Anbieten von<br />

psychohygienischer Literatur für psychisch kranke Menschen dazu, deren Ziel<br />

Information und Wiederherstellung ist. Auch dehnt sich dieser Begriff auf die<br />

Anwendung von Literatur durch niedergelassene Ärzte aus. Diese Form der<br />

Bibliotherapie entstand wohl am Anfang dieses Jahrhunderts aus den Bestrebungen von<br />

kranken Menschen, die über ihre Krankheit informiert werden wollten.<br />

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10


Darstellung der Bibliotherapie<br />

Als klinische Bibliotherapie versteht Rubin „die Verwendung vor allem erzählender<br />

Literatur <strong>bei</strong> Gruppen von Patienten mit emotionalen oder Verhaltensstörungen“ (ebd.,<br />

104). Da<strong>bei</strong> ist die Teilnahme meist freiwillig, in der Regel ar<strong>bei</strong>ten Ärzte und<br />

Bibliothekare zusammen, Einsicht oder gar Verhaltensänderung werden angestrebt.<br />

Die Sitzungen finden in der jeweiligen Institution oder in anderen kommunalen<br />

Einrichtungen statt, <strong>bei</strong>spielsweise in Nachsorgeeinrichtungen für entlassene<br />

Psychiatriepatienten.<br />

Zum Ziel der „gesunden Entwicklung, der Selbstverwirklichung und der Erhaltung der<br />

seelischen Gesundheit“ (ebd.) ar<strong>bei</strong>tet die entwicklungs- oder wachstumsfördernde<br />

Bibliotherapie mit gesunden Teilnehmern. Da<strong>bei</strong> wird imaginative und didaktische<br />

Literatur verwendet, die Gruppen von Vertretern helfender Berufe (Lehrer etc.) betreut.<br />

Ziel ist es, das Klientel zu befähigen, gesellschaftliche Aufgaben und persönliche<br />

Probleme (z.B. Trennung, Tod, Schwangerschaft) besser zu meistern. Zu dieser Form<br />

der Bibliotherapie gehören Schülergruppen, die von Lehrern geleitet werden, Gruppen<br />

von Erwachsenen die auf kommunaler oder privater Ebene durchgeführt werden und<br />

deren Leitung von Bibliothekaren übernommen wird.<br />

Rubin grenzt deutlich die nicht als Bibliotherapie zu wertenden Aktivitäten ab. Dies sind<br />

„eigenmotivierte persönliche Lektüre oder die Interaktion eines Bibliothekars oder<br />

Therapeuten mit einem Leser oder Klienten oder das Konzept der öffentlichen<br />

Bibliotheken als neutrale, beruhigende Zentren“ (ebd.). Sie schätzt jedoch ein, daß alles<br />

das wohl therapeutisch wirken kann. Hier ist anzumerken, daß zwar der private Umgang<br />

mit Literatur und die Angebote der Bibliotheken keine Therapieformen sind, daß Rubin<br />

jedoch die Möglichkeit einer Einzeltherapie oder Einzelar<strong>bei</strong>t im Gegensatz zu Lerner<br />

und anderen Autoren offenbar nicht in Betracht zieht.<br />

Im Rahmen dieser <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> soll der Begriff der Bibliotherapie die Behandlung seelischer<br />

Erkrankungen im Therapiesetting, die Begleitung und Erleichterung von Lebenskrisen<br />

innerhalb und außerhalb einer Therapie und die Prävention von seelischen und<br />

psychosomatischen Erkrankungen sowie Verhaltensstörungen mit Hilfe von<br />

Literaturrezeption umfassen.<br />

Die klinische und die entwicklungs- und wachstumsfördernde Bibliotherapie nach<br />

Rubin entsprechen diesem Konzept. Der Ansatz der entwicklungs- und<br />

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11


Darstellung der Bibliotherapie<br />

wachstumsfördernden Bibliotherapie umschreibt vorgreifend, was im Kapitel 5.1 zur<br />

Prävention von Verhaltensstörungen behandelt werden soll.<br />

2.2 Geschichte<br />

2.2.1 Mittelalter und Neuzeit<br />

Liest man Wilhelm Hauff, in dessen „Wirtshaus im Spessart“ (o.J.) sich die Reisenden<br />

nachts Geschichten erzählen, um Furcht und Schlaf zu vertreiben, läßt man sich von<br />

Rafik Schami (1992) nach Damaskus entführen, dessen „Erzähler der Nacht“ durch ihre<br />

Geschichten ihren Freund Salim von der Stummheit befreien oder blättert man in<br />

Theodor Fontanes Lebensgeschichte, der sich nach dem klugen Rat seines Arztes in<br />

einer schweren Lebenskrise mit Lebenserinnerungen gesund schrieb (Nürnberger 1993,<br />

145-147) - die Zeugnisse einer heilenden oder verhaltensändernden 3 Wirkung gestalteter<br />

Sprache sind so vielfältig wie traditionsreich.<br />

Schon seit Jahrhunderten ist man sich der Macht und Stärke des Wortes bewußt. Es wird<br />

besprochen, wahrgesagt, angerufen, beschworen, gebetet, es werden Ereignisse<br />

her<strong>bei</strong>geführt, gewünscht, abgewendet, erkannt, Mächte beschwichtigt, Fehler und<br />

Sünden gebüßt. Der Möglichkeiten gibt es viele. Als einfachstes Ausdrucksmittel neben<br />

dem Gesang war und ist das Wort immer und überall verfügbar. Eine schlichte<br />

Gutenachtgeschichte wirkt Wunder. Zauber, Segen, Fluch, Bann und Beschwörung<br />

bilden die ursprünglichsten Formen der Machtausübung auf sprachlicher Ebene.<br />

Sprache ermöglicht den verbalen oder ideellen Zugriff auf das Benannte oder führt es<br />

her<strong>bei</strong> 4 , die Benennung führt andererseits zum Verfügen über oder zu einer<br />

Bemächtigung von Dingen. Der Name trägt eine besondere Bedeutung, er ist Omen oder<br />

Fluch. Weiß man Dinge <strong>bei</strong> ihrem Namen zu nennen, so stellt sich eine unmittelbare<br />

Verbindung zwischen dem Benennendem und dem Benannten dar, wie das Märchen<br />

vom Rumpelstilzchen symbolisch zeigt.<br />

3 Man denke an die läuternde Wirkung des Erzählens der „Märchen aus 1001 Nacht“ durch Scherezade.<br />

4 Wie das Sprichwort verdeutlicht: Wenn man vom Teufel spricht, dann ist er nicht weit. Daher darf man<br />

den Teufel auch oft nicht <strong>bei</strong> seinem Namen nennen.<br />

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12


Darstellung der Bibliotherapie<br />

Der Volksaberglaube kennt das Wort „besprechen“, welches bezaubernde,<br />

entzaubernde, und verzaubernde Wirkung hat:<br />

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„Unter b.(esprechen) im Sinne von e n t z a u b e r n [...] versteht man nach antikem wie<br />

christlichem Glauben das Vertreiben eines Dämons, der in einem Menschen, Tiere oder<br />

Gegenstand hausend als die unsichtbare Ursache eines dort vorkommenden oder von dort<br />

ausgehenden Übels angesehen wird.“ (Bächtold-Stäubli 1987, 1158)<br />

Die Bibliotherapie als psychotherapeutisches Verfahren nutzt diese entdämonisierende<br />

Wirkung des Besprechens ebenfalls, wenn auch auf andere Weise.<br />

Besprochen werden in der Frühzeit nicht nur innere und äußere Erkrankungen, Wunden,<br />

Kinderkrankheiten und Unfälle. Auch Dämonen und Feuer können durch das<br />

Besprechen vertrieben werden, Pferde her<strong>bei</strong>gerufen, Waffen am Losgehen gehindert<br />

und nicht zuletzt kann auch die Liebe erzeugt werden (Bächtold-Stäubli 1987). Spruch-<br />

und Segensheiler gehören keineswegs der Vergangenheit an, sondern finden sich auch<br />

heute noch in ländlichen Gebieten. Bächtold-Stäubli nennt als Erklärung der immer<br />

noch weiten Verbreitung des Besprechens dessen suggestive Wirkung, für das das<br />

Fixieren der Aufmerksamkeit und der Glaube an die Heilkraft Voraussetzungen sind.<br />

Das Verfügen über Wort, Sprache und Schrift ist wichtiges Kennzeichen der Macht.<br />

Gegen Fluch und Bann können im Märchen selbst die eigentlichen Machthaber wenig<br />

ausrichten und auch heute noch bezeich<strong>net</strong> der Begriff „Wortführer“ das Maß des<br />

Einflusses. Weiterhin führen Petzold und Orth das aristotelische Konzept der Katharsis<br />

an, welches <strong>bei</strong>nhaltet, daß der Mensch „durch eine Verwandlung oder Läuterung seiner<br />

Gefühle sein inneres Gleichgewicht wiederfinden kann“ (1985, 24 f.). Allerdings wirken<br />

hier nicht nur Sprache und deren Gestaltung, sondern auch die dramatische Darstellung<br />

einer Handlung auf der Bühne läuternd. Als weiteren wichtigen Aspekt gestalteter<br />

Sprache führen die Autoren die literarische Gattung der Trostschriften an.<br />

Ergänzt werden muß hier ebenfalls die Erbauungsliteratur, die vorwiegend im<br />

christlichen Altertum, Mittelalter und Barock Verbreitung fand. Diese umfaßt neben<br />

sogenannten Seelengärtlein, Trost- und Sterbebüchlein auch religiöse Literatur wie<br />

Gebetbüchlein, Andachtsbücher und Heiligenlegenden, die Anweisungen zu einem<br />

rechten christlichen Leben geben sollten, eine innere Religiosität pflegen und damit<br />

13


Darstellung der Bibliotherapie<br />

nicht nur den Glauben, sondern ebenfalls den Leser stärken und trösten (vgl. Wilpert<br />

1989).<br />

Die meisten Versuche des Einsatzes von Literatur zur Heilung finden sich in der <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong><br />

mit psychisch kranken Menschen und in Krankenhäusern überhaupt. Rubin erwähnt<br />

zunächst die Griechen und Römer, die ihre Bibliotheken „als Arsenale der<br />

`Seelenmedizin´“ (1985, 107) betrachteten bzw. das Lesen großer Reden für<br />

gesundheitsfördernd hielten. Das älteste Zeugnis einer bibliotherapeutischen <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong><br />

stammt aus dem Al-Mansur Hospital in Kairo, dessen medizinische Behandlungen<br />

schon 1272 durch Lesungen des Korans unterstützt wurden. Auch in Bibliotheken von<br />

Gefängnissen und Psychiatrien war religiöse Literatur deren Hauptbestandteil, es sollten<br />

religiöse Inhalte vermittelt werden (vgl. Rubin 1985, Engelhardt 1987). Offenbar sprach<br />

man dieser eine läuternde Funktion zu. Wie Engelhardt feststellt, wurde „<strong>bei</strong><br />

Operationen [...] während des Mittelalters und noch nach Beginn der Neuzeit aus den<br />

Evangelien oder Märtyrerlegenden vorgelesen. In Badekuren, <strong>bei</strong> Aderlässen und der<br />

Behandlung psychischer Erkrankungen werden literarische Werke von Ärzten zur<br />

Unterstützung herangezogen“ (1987, 10). Diese anästhesierende Wirkung tritt mit<br />

zunehmendem medizinischen Fortschritt in den Hintergrund.<br />

Ein bedeutender Schritt für Biblio- und Poesietherapie war die Humanisierung der<br />

Behandlung von psychisch kranken Menschen, die in Europa gegen Ende des 18.<br />

Jahrhunderts mit der Bewegung der Philanthropen einsetzte (vgl. Rubin 1985). Mit<br />

dieser wurde neben anderen rekreativen Maßnahmen auch das Lesen in Anstalten<br />

eingeführt. Wenig später setzten sich diese Reformen auch in Amerika durch. Dort<br />

empfahl Benjamin Rush als erster das Lesen und das eigene Schreiben zur Heilung von<br />

körperlich und seelisch Kranken (vgl. ebd.). Schon 1853 veröffentlichte der Amerikaner<br />

John Minson Galt <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong>en über die heilende und unterstützende Wirkung von Literatur.<br />

Darin werden nicht nur unterschiedliche Patiententypen betrachtet, sondern ebenfalls<br />

verschiedene Textarten. Als Funktionen der Literatur hält er fest: „Ablenkung von<br />

krankhaften Gedanken, Zeitvertreib und Aufheiterung, Information, Demonstration des<br />

Anstaltsinteresses am Wohlergehen des Patienten, Verbesserung der<br />

Therapiebereitschaft“ (Galt 1853, zit. in Engelhardt 1987, 17).<br />

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14


Darstellung der Bibliotherapie<br />

Dem Pfarrer Samuel McCord Crothers (1906, zit. ebd., 18) wird die Bezeichnung<br />

„Bibliotherapie“ zugeschrieben, er entwickelte ein Programm der Nutzung von Literatur<br />

<strong>bei</strong> physischen und psychischen Störungen. Da<strong>bei</strong> traf er keine Vorauswahl der<br />

Literatur, vielmehr sollte der emotionale Zugang der Patienten, der sich auf Aktivität,<br />

Passivität und Stimmung auswirkt, ausschlaggebend sein.<br />

2.2.2 Entwicklungen im 20. Jahrhundert<br />

Nach einer Blütezeit der Bibliotherapie Mitte des 19. Jahrhunderts erhält diese in der 1.<br />

Hälfte des 20. Jahrhunderts einen erneuten Aufschwung.<br />

Während des 1. Weltkrieges erfahren die bibliotherapeutischen Bestrebungen eine<br />

traurige Bestätigung ihres Nutzens, da sowohl amerikanische, als auch englische<br />

Lazarette gezielt mit Büchern versorgt werden und deutlich wird, daß Bücher<br />

Verwundeten eine große Hilfe sein können (vgl. Engelhardt 1987). Nach dem Krieg<br />

werden diese Initiativen in Zivilkrankenhäusern fortgesetzt. In verschiedenen Ländern<br />

richtet man Fortbildungskurse für Bibliothekare ein, baut Patientenbibliotheken auf,<br />

führt internationale Kongresse für Krankenhausbibliotheken durch (1936 Paris, 1938<br />

Bern). Bibliographien mit Literaturempfehlungen werden herausgegeben, die „für die<br />

moralische und psychische Entwicklung von Kindern für sinnvoll gehalten werden“,<br />

ferner entstehen ebensolche für Kranke bzw. mit Hinweisen über die Verwendung <strong>bei</strong><br />

„spezifischen Situationen, Ereignissen und emotionalen Bedürfnissen“ (ebd., 19 f.).<br />

Die 30er Jahre stellen die Hochzeit der Biblio- und Poesietherapie dar. In den folgenden<br />

Jahren gründen sich bibliotherapeutische Vereinigungen, werden Workshops angeboten<br />

und Forschungsprojekte durchgeführt.<br />

Aus den USA hat die Untersuchung von W. Menninger (1937, zit. in Petzold / Orth<br />

1985) in seiner Menninger-Klinik hat eine besondere Bedeutung, da sie die erste<br />

empirische Studie ist, die über den Nutzen der Bibliotherapie Aussagen treffen soll.<br />

Weiterhin legt die Dissertation von Caroline Shrodes (1949, zit. ebd.) den theoretischen<br />

Grundstein für die heutige Bibliotherapie. Der Ansatz von Shrodes wurde von<br />

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15


Darstellung der Bibliotherapie<br />

verschiedenen Autoren weiterentwickelt. Bedeutende Veröffentlichungen stammen von<br />

Jack J. Leedy (1969) und R.J. Rubin (1978).<br />

In der DDR wurde 5 , von der sowjetischen Forschung beeinflußt, besonders die Wirkung<br />

von Literatur <strong>bei</strong> der Krankenbetreuung untersucht. Es finden sich Ansätze in der<br />

Zusammenar<strong>bei</strong>t von Bibliotheks- und Gesundheitswesen zur Verbesserung der<br />

Ausstattung von Patientenbibliotheken. Dazu veröffentlichte der Bibliotheksverband der<br />

DDR eine Auswahlbibliographie (1977) bibliotherapeutisch nutzbarer Texte. Die <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong><br />

von Hans-Jürgen Leonhardt (1989) beschäftigt sich mit der Anwendung von<br />

Bibliotherapie in der <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Kittler und<br />

Munzel (1987) zitieren weiterhin die Untersuchung von Dorthee Kleber aus dem Jahr<br />

1983 6 , die Bibliotherapie in der Therapie von psychisch kranken Menschen einsetzt.<br />

Neben der kulturellen Entwicklung nicht nur des gesunden Menschen nahmen in der<br />

DDR Überlegungen zur ideologischen Beeinflussung durch Literatur einen breiten<br />

Raum ein.<br />

In der Bundesrepublik Deutschland 7 haben sich besonders Euler, Peseschkian, Kittler<br />

und Munzel, Petzold und Engelhardt mit der Nutzbarmachung von Literatur zu<br />

Heilungszwecken beschäftigt 8 . Euler setzte schon seit 1958 in der Krankenhausseelsorge<br />

gezielt Lektüre als Therapeutikum ein. Peseschkian verwendet orientalische<br />

Geschichten in der Behandlung psychisch gestörter Erwachsener. Kittler und Munzel<br />

versuchen, Texte verschiedenen Krisenbereichen zuzuordnen. Hilarion Petzold und Ilse<br />

Orth ar<strong>bei</strong>ten am Fritz-Perls-Institut bibliotherapeutisch vorwiegend mit alten und<br />

psychisch kranken Menschen. Engelhardt widmet seine Aufmerksamkeit hauptsächlich<br />

der historischen Entwicklung der Bibliotherapie.<br />

Zu den praktischen Erprobungen der Bibliotherapie gehört der Modellversuch vom<br />

Deutschen Ärztinnenbund e.V. „Das fröhliche Krankenzimmer e.V.“, der seit 1981 an<br />

der Universitätskinderklinik München durchgeführt wird. Aus der Erkenntnis heraus,<br />

daß fröhliche Kinder schneller gesund werden, wurden Bücher als „magische Medizin“<br />

5 Vgl. im Folgenden Kittler / Munzel 1987.<br />

6 Die genauen Quellenangaben fehlen <strong>bei</strong> Kittler / Munzel.<br />

7 Vgl. im Folgenden Kittler / Munzel 1987, genaue Quellenangaben fehlen.<br />

8 Siehe auch spätere Ausführungen.<br />

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16


Darstellung der Bibliotherapie<br />

eingesetzt. Als deutlich wurde, daß eine herkömmliche Ausleihe von Büchern nicht die<br />

gewünschte heilende Wirkung zeigte, begann man damit, die Lektüre unter<br />

literaturpädagogischen Gesichtspunkten auszuwählen, Gespräche anzubieten und<br />

Zuwendung in den Mittelpunkt der seelischen Betreuung der Kinder zu stellen. 9<br />

Eine Systematisierung und Koordinierung dieser zahlreichen Ansätze scheint jedoch zu<br />

fehlen. 10<br />

2.2.3 Differenzierung Biblio- und Poesietherapie<br />

An dieser Stelle soll kurz auf den Begriff und Ansatz der Poesietherapie anhand der<br />

Ausführungen Petzold und Orth (1985) eingegangen werden, da sich häufig<br />

unterschiedliche Verwendungen <strong>bei</strong>der Begriffe finden.<br />

Petzold und Orth treffen zunächst keine Unterscheidung und verwenden nur den Begriff<br />

der Poesietherapie 11 , die „Heilung durch gestaltetes Wort“ (ebd. 22) schafft.<br />

Erst später differenzieren sie zwischen Biblio- und Poesietherapie. Da<strong>bei</strong> meint<br />

Bibliotherapie das Rezipieren von Texten und Poesietherapie das Verfassen von eigenen<br />

Texten mit dem Ziel des Selbstausdrucks.<br />

Die Poesietherapie hat Gemeinsamkeiten mit Ansätzen dramatischer Therapie, wie der<br />

des Psychodramas von Moreno (1946, zit. ebd.). Ein weiterer Ansatz, der Literatur für<br />

die Therapie verwendet und von Petzold und Orth als Vorläufer der Poesietherapie<br />

gewertet wird, ist das „Therapeutische Theater“ des russischen Mediziners,<br />

Psychologen und Philosophen Vladimir N. Iljine (1942, zit. ebd.). Dieser schrieb zu<br />

Beginn dieses Jahrhunderts Rahmenstücke für seine Patienten, in die deren Konflikte<br />

eingear<strong>bei</strong>tet wurden. Später sollten die Patienten ihre eigenen Stücke schreiben.<br />

Hintergrund dieser Formen von Therapie ist das Ziel, durch eigene Aktivität und<br />

9<br />

Vgl. Paper „Das Fröhliche Krankenzimmer e.V.“ im Anhang.<br />

10<br />

Weitere Angaben zu einzelnen Veröffentlichungen zum Thema und zu Organisationen, <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong>skreisen<br />

etc.<br />

finden sich <strong>bei</strong> Engelhardt (1987, 20 - 23) und Rubin (1985, 108), Hinweise zur Ausbildung und zu<br />

Kursen<br />

<strong>bei</strong> Petzold und Orth (1985, 413 ff.) und Lerner (1995, 903 f.).<br />

11<br />

Vgl. auch Lerner (1994), der einheitlich von Poesietherapie spricht.<br />

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17


Darstellung der Bibliotherapie<br />

Produktion der Patienten Gefühle freizusetzen, die vorher nicht zum Ausdruck gebracht<br />

werden konnten.<br />

In der Mitte der 60er Jahre wurde die Theorie Iljines durch seinen Schüler Petzold<br />

vertieft und fortan ganze Therapiesequenzen mit Hilfe von Poesie gestaltet.<br />

Die Poesietherapie in diesem Sinne hat ebenfalls Vorläufer <strong>bei</strong> der Behandlung<br />

psychisch kranker Menschen. So wurde schon im vorigen Jahrhundert in psychiatrische<br />

Kliniken mit der sprachlichen Gestaltung gear<strong>bei</strong>tet. Einen wichtigen Beitrag zu<br />

modernen Poesietherapie leistete, so betonen Petzold und Orth, Eli Greifer (1963, zit.<br />

ebd.). Er ar<strong>bei</strong>tete mit retardierten Kindern und in Werkstätten in Poesiegruppen. Sein<br />

Werk wurde von Jack Leedy fortgesetzt, der Behandlungen mit Hilfe von Poesie in<br />

Kliniken durchführte. So gehört die Poesietherapie heute zu den anerkannten<br />

„expressive therapies“, es liegen Erfahrungsberichte aus verschiedenen Bereichen vor.<br />

Später unterscheiden Petzold und Orth die Ansätze der Poesietherapie in einen<br />

rezeptiven und einen produktiven. Der rezeptive Ansatz entspricht dem oben<br />

verwendeten Terminus „Bibliotherapie“. Er geht davon aus, daß die Klienten Gedichte<br />

lesen oder vorgelesen bekommen. Da<strong>bei</strong> erzeugt der Text Emotionen, über die sich im<br />

anschließenden Gespräch ausgetauscht wird. Die produktive Ansatz ist gleichzusetzen<br />

mit dem Begriff „Poesietherapie“ und verfolgt das Ziel, über den schöpferischen<br />

Ausdruck mittels eines selbstverfertigten Textes ebenfalls Gefühle hervorzurufen. Diese<br />

werden wiederum zur Vermittlung von Einsicht im therapeutischen Gespräch<br />

verwendet. Die Autoren entwerfen ferner einen integrativen Ansatz der Poesietherapie,<br />

auf den im Kapitel 2.3.4 eingegangen wird.<br />

2.3 Menschenbild - Methoden und Techniken - Anwendungsgebiete<br />

Oben wurde dargelegt, daß in der Verwendung der Begrifflichkeit Unterschiede<br />

bestehen. An dieser Stelle soll festgelegt werden, daß in dieser <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> der Terminus<br />

„Bibliotherapie“ für das Rezipieren von Texten verwendet wird. Der Begriff<br />

„Poesietherapie“ soll als Ausdruck für den produktiven Ansatz dieser <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> zugrunde<br />

liegen. Beide haben zum Teil die gleichen theoretischen Grundlagen, was nicht<br />

gesondert dargestellt werden soll. Der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen liegt<br />

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18


Darstellung der Bibliotherapie<br />

auf der Bibliotherapie, wo<strong>bei</strong> jedoch, durch die Nähe <strong>bei</strong>der Formen begründet, auch auf<br />

die Poesietherapie eingegangen wird.<br />

Zunächst sollen anhand der Ausführungen von Petzold und Orth (1985) grundlegende<br />

Konzepte des Menschenbildes dargestellt, im Folgenden auf Methoden und Techniken<br />

eingegangen und schließlich Anwendungsgebiete betrachtet werden. Den Abschluß<br />

bilden kurze Betrachtungen zum Integrativen Ansatz.<br />

Es muß betont werden, daß die Grenzen der theoretischen Darstellung der Therapieform<br />

darin liegen, daß in der Regel nur Erfahrungsberichte und keine empirisch gesicherten<br />

Aussagen vorliegen. Auch finden sich nach Petzold und Orth keine systematisierten<br />

Aussagen zum Verfahren, keine Persönlichkeitstheorie oder Neurosenlehre. Im Kapitel<br />

5.2.1 werden einzelne Versuche einer Systematisierung vertiefend dargestellt.<br />

2.3.1 Menschenbild und theoretische Grundlagen<br />

Therapie, gleich welcher Art, ist Geschehen zwischen Menschen. Dieses vollzieht sich<br />

in einer Gruppe oder zwischen zwei Personen in der Einzeltherapie. Die Frage nach dem<br />

Konzept einer Therapie schließt folglich immer die nach den Grundannahmen über<br />

menschliches Sein, über das Wesen des Menschen ein.<br />

Biblio- und Poesietherapie ar<strong>bei</strong>ten mit einem Medium, der gestalteten Sprache, das<br />

zwischen den Klienten und Therapeuten tritt. Dieses Medium wird als Projektionsfläche<br />

verwendet, auf der die Befindlichkeit des Patienten erscheint. In der Poesietherapie<br />

durch den gestaltet-sprachlichen und damit poetischen Selbstausdruck. Im<br />

bibliotherapeutischen Verfahren durch den Ausdruck von Emotionen, die durch<br />

gelesene Literatur freigesetzt werden sollen. Beides setzt eine enge Beziehung des<br />

Patienten zur Sprache voraus, die Fähigkeit des Verstehens, des Umgangs mit ihr, der<br />

Deutung und Verwendung von sprachlichen Bildern, des In-Beziehung-Tretens 12 . Auch<br />

erfordert die Gestaltung von Sprache eine Verbildlichung und Verdichtung und damit<br />

12 Dies deshalb, weil das Ich bereit ist, <strong>bei</strong>m Lesen zu dem Autor in Beziehung zu treten. Das Schreiben<br />

ist auf die Rezeption durch ein anderes Ich angelegt, und sei es auch „nur“ das eigene Ich, das plötzlich<br />

von außen schauen kann.<br />

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19


Darstellung der Bibliotherapie<br />

die Umwandlung von Emotion in Text oder umgekehrt das Zulassen von Gefühlen, die<br />

durch Text erzeugt werden.<br />

Voraussetzung dafür ist das Vorhandensein von Emotionen. Das ist immer der Fall, nur<br />

der Ausdruck dieser ist meist verschüttet oder behindert und muß neu gewonnen<br />

werden. Petzold und Orth (1985, 31 f.) unterscheiden vier Annahmen über das Wesen<br />

menschlichen Daseins, die für Biblio- und Poesietherapie grundlegend sind:<br />

1. der Mensch ist seinem Wesen nach schöpferisch<br />

2. sein Leben vollzieht sich aus dem Dialog heraus<br />

3. gestalteter sprachlicher Ausdruck ist eine Grundeigenschaft des menschlichen<br />

Wesens und Teil seiner Entwicklung<br />

4. das emotionale Leben des Menschen ist zentral für seine Gesundheit<br />

Diese vier Aspekte sind eng miteinander verbunden. Sprachlicher Ausdruck schafft<br />

nicht nur einen Dialog und damit Kommunikation, sondern ist gleichzeitig ein kreativer<br />

Prozeß. Durch Poesie oder gestaltete Sprache, neben anderen kreativen Formen wie<br />

Tanz etc., findet die schöpferische Kraft des Menschen ihren Ausdruck. Sprache wird<br />

ebenso als die tiefste Ausdrucksform angesehen, über die der Mensch verfügt, um seine<br />

Emotionen freizusetzen. Kommunikation und Emotionen beeinflussen sich<br />

wechselseitig. Mit Petzold und Orth läßt sich zusammenfassen, daß „Emotionalität,<br />

Kreativität und Kommunikation sowie die Fähigkeit zur Symbolisierung [...] als<br />

anthropologische Grundkonzepte“ (1985, 33) verwendet werden. Diese sind für die<br />

Konstitution von Sinn, Selbstfindung und Selbstverwirklichung des einzelnen<br />

Menschen bedeutsam. In der Umkehrung dessen ist Sprache also in der Lage, durch<br />

Vorstellungs- und Begriffsbildung, durch In-Beziehung-Setzen Sinn zu konstituieren<br />

und zu erhalten. Wie gravierend der Sinnverlust in der heutigen Zeit ist, beschreibt<br />

Viktor E. Frankl mit den Worten:<br />

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„Denn die Massenneurose von heute ist charakterisiert durch ein weltweit um sich greifendes<br />

Sinnlosigkeitsgefühl. Heute ist der Mensch nicht mehr so sehr wie zur Zeit Sigmund Freuds<br />

sexuell, sondern existentiell frustriert. Und heute leidet er weniger als zur Zeit von Alfred Adler<br />

an einem Minderwertigkeitsgefühl, sondern an einem Sinnlosigkeitsgefühl, das mit einem<br />

Leeregefühl einhergeht, mit einem existentiellen Vakuum.“ (Frankl, 1975/1990<br />

20


Darstellung der Bibliotherapie<br />

Im Rückgriff auf die anthropologischen Grundlinien der Biblio- und Poesietherapie<br />

formulieren Petzold und Orth folgende theoretische Grundlagen.<br />

Der Poesie wohnt eine besondere Kraft inne. Gestaltete Sprache ist einerseits dem<br />

Wesen des Menschen entwicklungsgesetzlich verbunden und damit andererseits in der<br />

Lage, Emotionen als zentrale Bestandteile menschlichen Seins zu erzeugen. Dieser<br />

Prozeß wird mit dem kathartischen Effekt in der griechischen Tragödie verglichen, der<br />

über das Hervorrufen von Emotionen wie Mitleid, Jammer oder Schauder Reinigung<br />

von diesen Leidenschaften bzw. Läuterung erzielt. Da Poesie also am Innersten des<br />

Menschen zu rühren vermag, liegt die Annahme nahe, daß auch unbewußte Anteile ins<br />

Schwingen gebracht und zutage gefördert werden können. Nach Petzold und Orth geht<br />

damit der Gewinn von Sinn einher, dessen Verlust sowohl zu Entfremdung von der<br />

Umwelt und sich selbst, als auch zur Desintegration führt.<br />

Die Möglichkeit der Projektion, d.h. hier der Übertragung von unbewußten Anteilen in<br />

sprachliche Bilder, scheint <strong>bei</strong> der Poesietherapie größer zu sein. Doch liegen <strong>bei</strong>m<br />

Prozeß der Rezeption von Texten in der Bibliotherapie durch die Teilnahme an<br />

Erkenntnis- und Problemlöseprozessen des Autors bzw. Protagonisten die Potenzen in<br />

der Einsicht in relevante und ggf. unbewußte Themen des eigenen Lebens. Ein<br />

Wiedererleben kann stattfinden und die damit verbundenen Emotionen können befreit<br />

und ausgedrückt werden.<br />

Als weiteren Aspekt führen die Autoren die Vermittlung von Einsicht an: durch<br />

sprachlichen Ausdruck und kathartischen Effekt wird die Wahrnehmungsfähigkeit<br />

verstärkt, der Leser ist in der Lage, für sich bedeutungsvolle Aussagen herauszugreifen<br />

und so emotionale Erfahrung mit Erkenntnissen zu verbinden. Durch das Phänomen des<br />

Angesprochenseins durch den Text wird die Deutung nicht durch den Therapeuten<br />

angeboten, sondern vom Klienten selbst vorgenommen. Weiterhin verhindert die<br />

Symbolsprache im Text, daß die Widerstände des Klienten übergangen werden, denn<br />

dieser sucht sich das ihm entsprechende, für ihn geltende Symbol heraus und wird nicht<br />

gezwungen, einen Sinn zu erkennen. Um so mehr wird es in der Poesietherapie<br />

bedeutsam für den Therapeuten, mit dem Klienten in wirkliche Kommunikation zu<br />

treten.<br />

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21


Darstellung der Bibliotherapie<br />

Neben diesen tiefenpsychologisch orientierten Aspekten von Biblio- und Poesietherapie<br />

betonen die Autoren den Aspekt der Selbstverwirklichung wie er in der humanistischen<br />

Psychologie zu finden ist. So besitzt die Literatur die Kraft, Menschen <strong>bei</strong> der Suche<br />

nach Selbstverständnis zu unterstützen, was nicht zuletzt darin begründet liegt, daß<br />

Literatur oft allgemeinmenschliche Konflikte beschreibt.<br />

Letztlich kann also Poesie- und Bibliotherapie „...zu dem Ergebnis einer<br />

Wiederbelebung und Stärkung des Selbst führen, indem es ihm ein ganzheitliches<br />

Bewußtsein ermöglicht - eine Integration von Emotion, Kognition und Bildwelt - , durch<br />

das persönlicher Sinn erhalten und gefunden werden kann“ (Stainbrook 1978, zit. in<br />

Petzold / Orth 1985, 36).<br />

Rhea Joyce Rubin (1985) führt die Theorie von Caroline Shrodes aus dem Jahr 1950 13<br />

als psychologische Basis der Bibliotherapie an. Shrodes verstehe die menschliche<br />

Reaktion auf Literatur als einen Prozeß der Eingliederung von Literatur in die<br />

Erfahrungswelt des Individuums durch Symbolisierung. Da<strong>bei</strong> können gefühlsmäßige<br />

Anteile der Literatur zu Symbolen eigener Erlebnisse, Gefühle, Stimmungen werden.<br />

Damit ist offenbar der Prozeß gemeint, den man sonst diffuser mit „der Text spricht<br />

mich an“ umschreibt. Durch diese Nähe von Wirklichkeit und Symbol rufe dieses die<br />

gleichen Affektreaktionen hervor. Es spiegele Aggressionen, Angst und Frustrationen<br />

aber auch positive Emotionen wider und sei mit dem tatsächliche Erlebnis austauschbar.<br />

So treten Leser und Text in Kommunikation, ihre Spannungszustände korrespondieren.<br />

Weiterhin entspräche die Erfahrung und Integration von Literatur den wichtigsten<br />

Phasen der Psychotherapie: der Identifikation, Projektion, Abreaktion, Katharsis und<br />

Einsicht. Mit Shrodes beschreibt Rubin diese Schritte, deren Reihenfolge nicht<br />

zwingend ist und die keineswegs immer <strong>bei</strong> der Lektüre eines Buches stattfinden, wie<br />

folgt:<br />

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„Identifikation schließt Affekte zu einem der Charaktere, Übereinstimmung bzw. Kritik an<br />

dessen Ansichten, Anteilnahme an seinem Schicksal ein. Projektion meint die Interpretation der<br />

Beziehungen und Motive der Charaktere, Rückschlüsse auf die Intentionen des Autors,<br />

Erklärungen der Zusammenhänge auf dem Hintergrund der eigenen Philosophie und die<br />

Überlagerung der Geschichte mit der eigenen Person. Die Katharsis kann die Form<br />

verbalisierter Emotion oder Aggression, früher Erinnerungen oder der Übertragung annehmen.<br />

13 Engelhardt (19 85) und Petzold & Orth (1985) geben für die Dissertation Shrodes` das Jahr 1949 an.<br />

22


Darstellung der Bibliotherapie<br />

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Einsicht ist in der Regel das Ziel der Bibliotherapie. Sie umfaßt Selbsterkenntnis, Verständnis,<br />

Toleranz und das Akzeptieren anderer, Motivationsanalysen, Inkorporation neuer Inhalte und<br />

die Integration dieser gelernten Inhalte in das eigene Selbst.“<br />

(Rubin 1985, 111f.)<br />

Emotionalität, Reflexivität, Fähigkeit zur Selbsterkenntnis, Akzeptanz und Aktivität<br />

bzw. Veränderungsfähigkeit aufgrund von Einsicht bestimmen also Shrodes<br />

Grundannahmen über menschliches Dasein.<br />

2.3.2 Methoden und Techniken<br />

Wie oben schon angeführt, kann Bibliotherapie in der Gruppen- oder Einzelsituation<br />

durchgeführt werden.<br />

Da<strong>bei</strong> steht in der Einzeltherapie die Beziehung zwischen dem Patienten und dem<br />

Therapeuten im Mittelpunkt, durch das Medium Text vermittelt. In der Gruppentherapie<br />

erlangen gruppendynamische Prozesse eine Bedeutung. Eine Verbindung <strong>bei</strong>der<br />

Therapieformen scheint günstig zu sein, da sie den verschiedenen Seiten des Menschen<br />

eher gerecht wird (vgl. Petzold / Orth 1985). So werden Individualität und Kollektivität<br />

des Klienten wechselweise angesprochen.<br />

Die Art der Durchführung und der Erfolg hängen auch davon ab, ob Biblio- oder<br />

Poesietherapie als Hilfs- und Ergänzungsmethode zu psychotherapeutischen Verfahren<br />

oder als eigenständige Methode angewendet werden, sie richten sich nach dem Setting<br />

und den theoretischen Hintergründen der Therapeuten. Dazu treten<br />

krankheitsspezifische Unterschiede der Klienten, wie die Einnahme von<br />

Psychopharmaka, die <strong>bei</strong>spielsweise die <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit psychotischen Patienten erschweren<br />

können oder ganz und gar unmöglich machen.<br />

Das methodische Vorgehen wird vom gewählten Ansatz bestimmt. Bei biblio-<br />

therapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> steht im Gegensatz zur Poesietherapie der Therapeut stärker im<br />

Blick, da er zunächst die Auswahl der Literatur vornimmt.<br />

Er sollte nach dem Vorschlag Leedys da<strong>bei</strong> nach dem ISO-Prinzip verfahren (vgl. ebd.).<br />

Das ist der Musiktherapie entlehnt und bedeutet, daß das Medium der Kommunikation<br />

in seiner Charakeristik mit der des Patienten übereinstimmen sollte. Das Sich-<br />

23


Darstellung der Bibliotherapie<br />

verstanden-Fühlen ist also erster Anlaß zur Auseinandersetzung mit dem Text. Dieser<br />

sollte jedoch nicht so gewählt werden, daß er in negativer Grundstimmung verbleibt,<br />

sondern Auswege zeige und ggf. Hoffnungen wecke, da sich sonst destruktive<br />

Tendenzen verstärken.<br />

Reaktionen von Patienten auf Texte sind dennoch unterschiedlich und offenbar von<br />

ihrem Krankheitsbild abhängig ist. Auch wird z.T. eine Selbstauswahl der Literatur<br />

durch die Patienten in Betracht gezogen, wie sie <strong>bei</strong>spielsweise in<br />

Krankenhausbibliotheken ohnehin stattfindet.<br />

In der Literatur finden sich Werke, die versuchen, Geschichten bestimmten<br />

Problemkreisen, wie Krankheit, Tod und Sterben, Alleinsein etc. zuzuordnen. Während<br />

Kittler und Munzel (1989 u. 1994) und Elisabeth Lukas (1996) Geschichten für<br />

Erwachsene zusammenstellen, schreibt Gerlinde Ortner (1995 u. 1996)<br />

bibliotherapeutisch orientierte Kindergeschichten. Den in verschiedenen Werken<br />

dargelegten Fall<strong>bei</strong>spielen war zu entnehmen, daß sich sowohl in der Einzel- als auch in<br />

der Gruppentherapie an das Lesen der Texte, das zu Hause oder während der<br />

Therapiesitzung geschehen kann, das therapeutische Gespräch anschließt. In diesem<br />

werden die emotionalen Reaktionen der Teilnehmenden auf den Text besprochen.<br />

Abhängend vom Ansatz und der Kreativität des Therapeuten werden verschiedene<br />

Methoden und Techniken eingesetzt, die in der Literatur nicht näher dargelegt sind. In<br />

einer psychoanalytisch orientierten Therapie wird so der Augenmerk auf Beziehungen<br />

zum Unbewußten liegen, in der Gestalttherapie auf der zwischen `Hier und Jetzt` und<br />

`Dort und Damals` usw. .<br />

Literarische Texte und besonders Gedichte werden nicht nur als eine Möglichkeit<br />

gesehen, die Gefühle zu erinnern bzw. auszuleben, sie zu „überdenken“ und zu<br />

objektivieren und so zu einer Katharsis zu gelangen. Sie regen ebenfalls zu einem<br />

Gespräch an, welches in der Gruppentherapie den Zusammenhalt fördert und<br />

ermöglichen es dem Einzelnen „im Schutz des Gedichtes“ (Petzold und Orth 1985, 38)<br />

über sich selbst zu sprechen.<br />

Die durch Literatur in Bewegung gebrachten heilenden Prozesse fassen Ehrenberger<br />

und Sedlak (1987) wie folgt zusammen:<br />

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24


Darstellung der Bibliotherapie<br />

Durch <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit schriftlichen Medien wird ein größerer Abstand von der eigenen<br />

emotionalen Betroffenheit erreicht. Die Autoren bezeichnen dies als Distanzierung und<br />

Objektivierung. Die Ratsuchenden werden in die Lage versetzt, über die sie belastenden<br />

Erlebnisse und ihre Probleme zu sprechen. Dies geschieht über die Identifikation der<br />

Klienten mit den Handlungsträgern und Ereignissen der Lektüre, die oft als Vorbild<br />

wirken und damit eine Fähigkeit zur Bewältigung vermitteln bzw. Anstoß zur Suche<br />

nach eigenen Lösungsmöglichkeiten bilden. So findet eine Kompetenzvermittlung statt.<br />

Nicht zu unterschätzen wäre da<strong>bei</strong> auch die Erfahrung, daß sich andere Menschen in<br />

ähnlichen Situationen befinden, was eine Entlastung bewirke und somit Ventilfunktion<br />

habe. Insgesamt stelle dies eine Rückbesinnung auf sich selbst dar und trüge dadurch<br />

einen dynamisierenden Charakter: „Zugang zu eigenen Ressourcen (zu) finden<br />

erfordert, daß man sich selber in den Blick bekommt, Abgedrängtes und Abgekapseltes<br />

wieder ansieht“. Schließlich soll die Therapie über das Bewußtwerden zum<br />

Engagement, d.h. zur konkreten Handlungskonsequenz führen.<br />

Weiterhin wird beschrieben (vgl. Petzold / Orth 1985), daß das Auswendiglernen von<br />

kleinen Gedichten wie das Gebet eine mutmachende und angstlösende Funktion haben<br />

kann. So finden sich auch <strong>bei</strong> der Beschreibung des rezeptiven Ansatzes vielfältige<br />

Möglichkeiten des Umgangs mit dem Material, <strong>bei</strong>spielsweise das gemeinsame<br />

Rezitieren von Gedichten oder das Schreiben eines Antwortgedichtes auf ein gelesenes<br />

Gedicht etc.<br />

Grundlegend für Umgang mit selbstgeschriebenen Texten ist, daß sich sowohl<br />

Therapeut, als auch die Gruppenmitglieder einer ästhetischen Wertung oder moralischen<br />

Einschätzung enthalten. Dies liegt darin begründet, daß es sich nicht um eine<br />

literaturwissenschaftliche Betrachtung von Texten handelt, sondern der persönliche<br />

Zugang zu ihnen therapeutisch genutzt wird.<br />

Als Vorteile des Schreibens von Gedichten oder Texten wie Tagebüchern, Briefen,<br />

Erinnerungen wird betont, daß diese einen Dialog mit sich selbst ermöglichen, die<br />

Patienten lernen, sich mit dem Schreiben zu entlasten und dies auch außerhalb der<br />

Therapie zu nutzen. Weiterhin ist das Schreiben ein schöpferischer Akt, der<br />

Gestaltungskraft als positives Erlebnis vermittelt, was besonders für länger<br />

hospitalisierte Patienten von Bedeutung ist.<br />

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25


Darstellung der Bibliotherapie<br />

Als Therapietechniken werden solche genannt, die den Gruppenzusammenhalt fördern,<br />

die Aktivität anregen, oder Gefühle und Gedanken hervorrufen. Anwärmphasen,<br />

Wortspiele, Phantasiereisen usw. sind hier zu nennen. Gedichte eignen sich für den<br />

Einstieg sehr gut, da Rhythmus, Reim und Dichte der sprachlichen Bilder einen<br />

stimulierenden Charakter haben.<br />

Auch die Beziehung zwischen dem Therapeuten und Klienten ist in der Bibliotherapie<br />

vom therapeutischen Ansatz abhängig. So wird hauptsächlich zwischen dem Ansatz der<br />

humanistischen Psychologie und dem tiefenpsychologischen unterschieden. Der Erstere<br />

hat den Gedanken der Begegnung zwischen dem Therapeuten und Patienten zum Inhalt,<br />

der letztere die klassischen Phänomene der Übertragung, Gegenübertragung und des<br />

Widerstandes. Dessen therapeutische Beziehung besitzt eine hierarchische Struktur.<br />

2.3.3 Anwendungsgebiete<br />

Wie die Ausführungen zur Geschichte der Biblio- und Poesietherapie zeigen, liegen die<br />

Wurzeln der Verwendung von Literatur zu therapeutischen Zwecken in der<br />

Krankenbetreuung, besonders in der Betreuung psychisch kranker Menschen. Aus<br />

diesen Bereichen liegen die meisten Berichte und Erfahrungen vor.<br />

Da<strong>bei</strong> steht <strong>bei</strong> der <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit kranken Menschen und besonders mit denen, die schon<br />

lange hospitalisiert sind, der Gedanke im Vordergrund, diese Patienten dazu zu<br />

stimulieren, geistig interessiert und aktiv zu bleiben, sie zu motivieren und zu<br />

verhindern, daß sie zu viel an ihre Krankheit denken. Weiterhin wird durch<br />

Informationsvermittlung und Einsichtsgewinn besonders <strong>bei</strong> chronisch Kranken<br />

angestrebt, das Akzeptieren des eigenen Schicksals zu erreichen. 14<br />

In der Betreuung psychisch Kranker geht es vor allem darum, eine Eingliederung in die<br />

Gruppe oder den stationären Alltag zu erzielen, zu erheitern und erziehen sowie<br />

bestimmten Tendenzen, wie Rückzug etc., gegenläufige Impulse gegenüber zu stellen.<br />

Der Erziehungsanspruch scheint allerdings fraglich. Auf diesen Gebieten liegen<br />

bemerkenswerte Untersuchungen vor, die hier nicht weiter ausgeführt werden sollen.<br />

14 Vgl. im Folgenden Petzold und Orth 1985, 48-51.<br />

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26


Darstellung der Bibliotherapie<br />

Inzwischen haben sich weitere Einsatzgebiete für die Therapie mit Literatur eröff<strong>net</strong>. Es<br />

wird über die <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Drogenabhängigen, im Strafvollzug, mit alten Menschen und<br />

Sterbenden sowie mit Kindern und Jugendlichen berichtet.<br />

Bei der <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit drogenabhängigen Menschen und im Strafvollzug wurde erreicht,<br />

daß die Teilnehmer in Kontakt kamen und Gefühle wie Wut, Ärger, Einsamkeit, Trauer,<br />

aber auch Sexualität, Phantasie und Wünsche ausgedrückt werden konnten.<br />

Bibliotherapeutische <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit alten Menschen unterscheidet sich von anderen<br />

Therapieformen dadurch, daß nicht Krankheit und Gebrechen im Vordergrund stehen,<br />

sondern in erster Linie eine ästhetische Rezeption. So wird alten Menschen die<br />

Möglichkeit eröff<strong>net</strong>, neuen Lebensmut zu gewinnen, wieder Freude zu erleben,<br />

verdrängte Gefühle aufzuar<strong>bei</strong>ten und somit Isolation, Hilflosigkeit, Depression und<br />

anderen Altersproblemen entgegenzuwirken.<br />

In der Sterbebegleitung spielt die trostspendende Wirkung von Literatur eine große<br />

Rolle. So kann die Verwendung von Gedichten eine intensive Beziehung zwischen dem<br />

Sterbenden und dem Angehörigen oder Betreuer herstellen. Da<strong>bei</strong> wirkt entlastend, daß<br />

Befindlichkeiten über das Medium Text ausgetauscht werden können und in dieser<br />

extrem belastenden Situation nicht direkt geäußert werden müssen. Literatur kann<br />

ebenfalls <strong>bei</strong> Trauerprozessen Hilfe für Hinterbliebene leisten. Der kreative Ausdruck<br />

von Gedanken und Gefühlen als Moment der aktiven Gestaltung spielt für Sterbende<br />

eine große Rolle und kann Ohnmachtsgefühle mindern helfen.<br />

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß in jeder Form der biblio- und<br />

poesietherapeutischen <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> die Herstellung von Kontakt und Kommunikation ein<br />

zentraler Bestandteil ist. Dies gehört unabdingbar zum menschlichen Dasein und ist<br />

wichtigste Voraussetzung für seelische und, wie die psychosomatische Medizin zeigt,<br />

körperliche Gesundheit. Zustände körperlichen und seelischen Leidens lassen sich<br />

mildern und dadurch die Lebensqualität auch in Ausnahmesituationen verbessern.<br />

Erfahrungen <strong>bei</strong> der <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern und Jugendlichen sollen im Kapitel 5.2<br />

ausführlicher dargestellt werden.<br />

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27


Darstellung der Bibliotherapie<br />

2.3.4 Integrative Poesietherapie<br />

Abschließend soll kurz auf wesentliche Gedanken des Ansatzes der Integrativen<br />

Poesietherapie nach Petzold und Orth (1985) eingegangen werden, da er wichtige<br />

Aspekte für die <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern und Jugendlichen enthält.<br />

Die Integrative Poesietherapie wird als eine psychodynamisch ausgerichtete<br />

Behandlungsform von seelischen und psychosomatischen Erkrankungen beschrieben.<br />

Neben der heilenden Funktion der Literatur wird die präventive Wirkung dieser betont.<br />

Integratives Vorgehen heißt, daß die Sprache mit ihrer schöpferischen Kraft durch<br />

andere Ausdrucksmedien, wie Farbe, Musik etc. ergänzt wird. Petzold und Orth<br />

verstehen die Poesietherapie als Methode neben anderen. Die Präferenz einer<br />

bestimmten Vorgehensweise, der Hauptmodus der Therapie, wird dem Therapeuten<br />

überlassen und ist sowohl abhängig von dessen Kompetenz, Ausbildung und Erfahrung,<br />

als auch von den Adressaten, deren individuellen Neigungen und den<br />

Rahmenbedingungen.<br />

Die Überlegungen von Petzold und Orth enthalten einen neuen Aspekt, der bisher noch<br />

nicht gesehen wurde. Der sprachlichen Sozialisation wird eine große Bedeutung<br />

<strong>bei</strong>gemessen. Ist diese pathogen, so können die Gesundheit gefährdet und Krankheit<br />

möglich werden. Herkömmliche Psychotherapien widmeten dieser Tatsache bislang<br />

wenig Aufmerksamkeit. Die Autoren betonen, daß gerade Biblio- und Poesietherapie<br />

deformierenden Spracherfahrungen und defizitärer sprachlicher Sozialisation<br />

entgegenwirken können. Über neue Leseerlebnisse und ungestörte Kommunikation<br />

können gewalttätige Spracherfahrungen bear<strong>bei</strong>tet, neue als Wahlmöglichkeiten<br />

erfahren werden. Die Veränderung des Sprachstils ermögliche nach der Auffassung der<br />

Autoren die Veränderung des Lebensstils, nachdem der Patient Mut zu seiner Sprache<br />

gefunden hat. Grundlegend ist weiterhin die Auffassung von der engen Verbindung von<br />

Sprache als Handlung und Kommunikation mit dem handelnden Subjekt, dem eigenen<br />

Leib.<br />

Die Therapietheorie, Methodik und Praxis der Integrativen Poesietherapie sollen an<br />

dieser Stelle nicht näher dargestellt werden. Einzelheiten finden sich <strong>bei</strong> Petzold und<br />

Orth (1985, 58-88).<br />

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28


Darstellung der Bibliotherapie<br />

Wesentlich für die weiteren Ausführungen zur Verbindung von Bibliotherapie und<br />

Literaturunterricht ist die Betonung der Bedeutung der sprachlichen Sozialisation und<br />

der Integration verschiedener Methoden und Medien in das Therapiekonzept. So ist es<br />

gerade in der <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern und Jugendlichen von Wichtigkeit, verschiedene<br />

Ausdrucksformen zuzulassen und anzubieten, um der kindlichen Kreativität besser<br />

gerecht zu werden bzw. Schüler auf mehreren Ebenen zur Textbetrachtung zu<br />

motivieren. Geschieht dies <strong>bei</strong>spielsweise durch ein eindrucksvolles Musikstück oder<br />

Bild, so wird vielleicht auch <strong>bei</strong> Kindern Aufmerksamkeit geweckt, die sonst nicht<br />

lesen. Literaturunterricht hingegen leistet, wie noch gezeigt wird, einen wichtigen<br />

Beitrag zur sprachlichen Sozialisation.<br />

2.4 Fazit<br />

Die Bibliotherapie stellt sich dar als eine Methode oder eigenständige Therapieform. Sie<br />

kann als Psychotherapie, als unterstützendes Verfahren einer solchen und zur Prävention<br />

von Störungen oder Krankheit, gleichsam als Unterstützung der Entwicklung und<br />

Entfaltung der Persönlichkeit eingesetzt werden. Dies erfolgt je nach den Adressaten<br />

und ihren spezifischen Problemen, nach der Ausbildung der Therapeuten, deren<br />

theoretischem Hintergrund und den institutionellen Möglichkeiten in verschiedenen<br />

Settings. Es finden sich stark klientenzentrierte Ansätze, in denen sich die Teilnehmer<br />

selbst Literatur auswählen, um über ihre Emotionen zu sprechen, oder Ansätze, die eine<br />

hierarchische Beziehung zwischen Klienten und Therapeuten aufweisen, wie<br />

psychoanalytische Verfahren. Neben dem historischen Anwendungsfeld der Betreuung<br />

körperlich und seelisch kranker Menschen hat die Bibliotherapie mittlerweile in nahezu<br />

alle Bereiche Eingang gefunden, in denen Lebenskrisen und Verunsicherungen<br />

existentielle Bedeutung erlangt haben. So wird mit drogenabhängigen und<br />

alkoholkranken Menschen, mit Psychiatriepatienten, alten Menschen oder auffälligen<br />

Kindern und Jugendlichen gear<strong>bei</strong>tet.<br />

Bibliotherapie meint die Nutzung geschriebener Texte für therapeutische Zwecke, im<br />

Gegensatz zur Poesietherapie, die einen stärker kreativen und schöpferischen Ansatz hat<br />

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29


Darstellung der Bibliotherapie<br />

und das Schreiben von Texten anstrebt. Ein integrativer Ansatz vereint verschiedene<br />

Medien und Ausdrucksformen, Lesen und Schreiben werden gemeinsam eingesetzt.<br />

In der Bibliotherapie wird die Sprache als Medium verwendet. Da<strong>bei</strong> wird ausgenutzt,<br />

daß diese zu den ureigensten Formen menschlichen Ausdrucks gehört und nicht nur<br />

unverzichtbar für Begriffsbildung und Denken ist, sondern eng zur menschlichen<br />

Sozialisation gehört. Sie schafft Eindruck und Ausdruck. Die Erlebnisse, Stimmungen,<br />

Emotionen und Ansichten eines Dritten, des Autors oder Protagonisten, werden vom<br />

Klienten aufgenommen, er fühlt sich verstanden, bestätigt oder zum Widerspruch<br />

angeregt; Symbolisierungen lassen verschüttete Emotionen wiederaufleben. Diese<br />

können zugelassen, neu erlebt oder modifiziert werden. Den Klienten wird ermöglicht<br />

durch das Medium Text auch über ihre Person ins Gespräch zu kommen, zu einer neuen<br />

Kommunikation zu finden.<br />

Aus der engen Verknüpfung von Sprache mit dem inneren Erleben, der Bedeutung der<br />

sprachlichen Sozialisation und der oben beschriebenen Potenzen von Sprache überhaupt<br />

folgt die Vermutung, daß bibliotherapeutische Erkenntnisse evtl. nicht nur in<br />

therapeutischen, sondern ebenfalls in pädagogischen Handlungsfeldern genutzt werden<br />

könnten. Besonders in jenen, die sich, wie der Literaturunterricht, ohnehin mit<br />

gestalteter Sprache beschäftigen. So sollen zunächst Wesen und Zielsetzungen des<br />

Literaturunterrichts betrachtet werden. Da<strong>bei</strong> wird das Lesen und sein Stellenwert im<br />

Unterricht näher betrachtet. Ferner wird eine Unterscheidung zwischen Unterricht und<br />

Therapie vorgenommen.<br />

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30


Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

3 Literaturunterricht<br />

3.1 Wesen und Ziele des Unterrichts<br />

Neben dem Elternhaus und Vorschuleinrichtungen ist für Kinder die Schule wichtigster<br />

Ort der Sozialisation. Nicht nur Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen werden vermittelt<br />

und ausgebaut und so die Persönlichkeit des Kindes entwickelt, auch soziale Normen<br />

und Regeln erlernt und geübt. Letztere umfassen nicht nur interindividuelle<br />

Umgangsformen, sondern ebenfalls auch den Umgang mit sich selbst, wie die Pflege<br />

und Gesunderhaltung des Köpers und des Geistes durch Aktivität und<br />

Selbstwertschätzung. Ästhetisches Empfinden und Reflexivität werden geschult. All<br />

dies gehört zur Entfaltung der Persönlichkeit, die neben dem Wecken von Interesse,<br />

dem Erschließen wesentlicher Bereiche der Kultur, der Allgemein- und<br />

berufsvorbereitenden Bildung und der Befähigung zu einer verantwortlichen Gestaltung<br />

des Lebens zum Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule gehört 15 . Ziele des<br />

Unterrichts sind außerdem die Unterstützung eines jeden Schülers <strong>bei</strong> der Bewältigung<br />

seiner Lebensprobleme, <strong>bei</strong>m Gewinn gültiger Maßstäbe und der Suche nach<br />

Lebenssinn. Neben der Vermittlung von Wissen sollen die Schüler zu selbständigem<br />

Urteilen, eigenverantwortlichem Handeln und zu schöpferischer Tätigkeit befähigt<br />

werden.<br />

Unterricht ist seinem Wesen nach ein kommunikativer Prozeß. Historisch gesehen war<br />

diese Kommunikation bestimmt durch ein hierarchisches Verhältnis zwischen Lehrern<br />

und Schülern. Mittlerweile ist auch das Gespräch zwischen den Schülern, <strong>bei</strong>spielsweise<br />

im Projektunterricht, zum anerkannten Bestandteil des Unterrichts geworden.<br />

15 Die Ausführungen beziehen sich auf den Bereich der Mittelschule. Einzelheiten sind dem Bildungs- und<br />

Erziehungsauftrag im Sächsischen Lehrplan für Mittelschulen, Fach Deutsch, entnommen.<br />

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31


Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

3.2 Ziele des Literaturunterrichts<br />

Der Literaturunterricht stellt eine besondere Form des Unterrichts dar: es vollzieht sich<br />

sprachliche Sozialisation, wie in keinem anderen Fach. Zwei Ebenen der<br />

Kommunikation prägen den Literaturunterricht: einerseits das Unterrichtsgespräch,<br />

andererseits die versteckte Kommunikation zwischen Autor und Leser bzw. Hörer. Ziel<br />

des Umgangs mit literarischen Texten in der Schule ist es 16 , die Lesemotivation der<br />

Schüler zu wecken und zu fördern. Ihre Bereitschaft und das Bedürfnis, über Texte und<br />

Gehörtes oder Gesehenes zu sprechen soll durch eine Auswahl, die den Interessen der<br />

Schüler entspricht, und eine erlebnisbetonte Erschließung literarischer Texte gesteigert<br />

werden. Da<strong>bei</strong> lernen die Schüler verschiedene Beispiele der deutschen Literatur und<br />

unterschiedliche Zugangsweisen kennen, sollen Inhalte mit ihren Erfahrungen zu<br />

vergleichen. Freude an der Literatur und deren Verstehen wird angestrebt, die sich<br />

anhand einer bedürfnisbetonten <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> ausbilden. Der Lehrplan stellt ebenfalls fest, daß<br />

der Umgang mit Literatur phantasieanregend sein soll, die Vorstellungsfähigkeit fördert<br />

und vielfältige Verhaltensmuster und Wertvorstellungen anbietet.<br />

Der Deutschunterricht generell soll kommunikative und kognitive Fähigkeiten und<br />

Fertigkeiten schulen, welche die Voraussetzungen für alle anderen Fächer bilden.<br />

Im Wesentlichen werden hier die grundsätzlichen Eigenschaften und Potenzen<br />

gestalteter Sprache gesehen, wie sie auch bibliotherapeutischen Überlegungen zugrunde<br />

liegen.<br />

Die Bewältigung von Lebensproblemen, Suche nach Lebenssinn, Befähigung zu<br />

eigenverantwortlichem Handeln, schöpferische Tätigkeit und der Gewinn gültiger<br />

Maßstäbe als Ziele des Literaturunterrichts sind Themen der Bibliotherapie, wie auch<br />

die anderer kreativer Therapien.<br />

Da sich verschiedene Zielstellungen von Literaturunterricht mit den Grundlagen der<br />

Bibliotherapie überschneiden, liegt es nahe, <strong>bei</strong>de miteinander zu verbinden. In Kapitel<br />

5 wird dies versucht.<br />

16 Vgl. Sächsischer Lehrplan: Deutschunterricht an der Mittelschule<br />

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32


Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

3.3 Kriterien einer Literaturpädagogik<br />

An dieser Stelle sollen Grundlinien einer Literaturpädagogik skizziert werden, um das<br />

Gebiet konkreter zu umreißen. Das Kapitel lehnt sich an die Ausführungen von Stocker<br />

(1987) an.<br />

Stocker unterscheidet fünf Kriterien. Schülergemäßer Umgang mit Literatur wird<br />

vorausgesetzt.<br />

Zunächst wird differenziertes Vorgehen angestrebt, häufig jedoch mit dem<br />

Vorhandensein unterschiedlicher Schulformen abgetan. Grundsätzlich sollte sich die<br />

Differenzierung auf die Einbeziehung jedes einzelnen Schülers richten, also eine rein<br />

äußerliche überschreiten. In der Förderpädagogik ist dieser Ansatz durch das Prinzip der<br />

Feststellung des individuellen Förderbedarfs gegeben. Weiterhin sollten<br />

unterschiedliche Sozial- und Übungsformen genutzt werden. Darüber hinaus muß ein<br />

Wechsel an Unterrichtssituationen stattfinden. Dies meint, daß sich spontane und<br />

vorbereitete Begegnungen mit dem Text abwechseln. Literaturunterricht muß<br />

desweiteren zu einem wissenschaftlichen <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong>en befähigen und <strong>bei</strong>spielsweise das<br />

Benutzen von Sekundärliteratur lehren. Letztendlich sollte er durch ein „Lernen durch<br />

Einsicht“ (ebd., 238) im Sinne eines forschenden Lernens gekennzeich<strong>net</strong> sein,<br />

problemslösendes Denken fördern und entdeckende Denkverfahren herausbilden.<br />

Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts existiert der Begriff Literaturunterricht. Er<br />

trägt einen Doppelcharakter, denn er ist künstlerisches und wissenschaftliches Fach<br />

zugleich. Diese <strong>bei</strong>den Ebenen sollten sich daher gegenseitig befruchten.<br />

Darüber hinaus muß sein fächerübergreifender Charakter gesehen und genutzt werden.<br />

3.4 Literaturbegriff<br />

Die Definition von Literatur geht mit dem unterschiedlichen Verständnis von<br />

Literaturunterricht einher. Am Anfang des Jahrhunderts stand noch das Erleben der<br />

Literatur im Vordergrund, dessen Ziel die Empathie bis zur Identifikation darstellte.<br />

Da<strong>bei</strong> beschränkte sich der Begriff der Literatur auf die Klassiker. Dieser auf das<br />

Erleben orientierte Unterricht wurde vom fachwissenschaftlichen abgelöst, dessen Ziel<br />

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33


Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

die Übertragung von Werkstrukturen auf den Unterricht war. Literarische Kompetenz<br />

sollte also <strong>bei</strong>spielsweise durch einen dramatischen Stundenaufbau erworben werden.<br />

Das darauffolgende Konzept des kritischen Literaturunterrichts bewegte sich in den<br />

Spuren der Frankfurter Schule und hatte zum Ziel, mit Hilfe von Literatur den Alltag zu<br />

durchschauen und zu verändern.<br />

Die Behandlung von Literatur in der Schule beschränkte sich bis in die 60er Jahre dieses<br />

Jahrhunderts auf die Klassiker der Literatur, also auf lyrische, epische und dramatische<br />

Texte der Belletristik. Meist waren ganze Werke Gegenstand der Betrachtung.<br />

Mit den 70er Jahren begann eine Orientierung am Schüler als Leser, der weite<br />

Literaturbegriff wurde durchgesetzt, die Kinder- und Jugendliteratur fand Eingang in<br />

den Unterricht. Der Inhalt des Literaturunterrichts wurde mit dem tatsächlichen<br />

Lesestoff der Kinder und Jugendlichen verglichen und schließlich erkannt, daß in der<br />

Literaturpädagogik die Lesewirklichkeit der Zielgruppe ausschlaggebend sein muß.<br />

Der Begriff „Literatur“ <strong>bei</strong>nhaltet nun neben den fiktionalen Texten der National- und<br />

Weltliteratur, Kinder- und Jugendliteratur, Frauenliteratur und den Texten von Schülern<br />

auch nichtfiktionale, wie Sekundärliteratur, Sachtexte, methodologische Texte,<br />

Äußerungen von Autorinnen und Autoren, mediale Texte und Trivialliteratur als<br />

Gegenstände der Auseinandersetzung. Neben Texten, die der sogenannten Hochliteratur<br />

entstammen, finden so ebenfalls für trivial erklärte, die der Gebrauchsliteratur<br />

entstammen, im Unterricht Eingang. Auf diese Weise wird an die Lesegewohnheiten der<br />

Rezipienten angeknüpft und dadurch die Kommunikationsbereitschaft der Schüler<br />

gefördert.<br />

3.5 Gegenstand des Literaturunterrichts<br />

Gegenstand des Literaturunterrichts ist der epische, lyrische oder dramatische Text. Der<br />

Lehrplan legt einen Literaturkanon, d.h. verbindlich ausgewählte Literatur, fest, der sich<br />

mittlerweile von einem starr festgelegten Inhalt hin zu einem Leseplan mit einem festen<br />

Kern und offenen Grenzen gewandelt hat. So regelt der sächsische Lehrplan, daß ein<br />

Drittel der zur Verfügung stehenden Unterrichtszeit für nicht aufgeführte Literatur<br />

verwendet werden kann.<br />

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34


Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

Aus dem Kerncurriculum und der „freien Literatur“ ist nach den Kriterien der<br />

Exemplarizität, Potentialität, Sequenzqualität und Aktualität auszuwählen. Die<br />

Exemplarizität stellt die Frage nach Repräsentativität für eine Epoche, Gattung oder ein<br />

Lebensgefühl. Die unmittelbare Wirkung, die ein Text für Kinder und Jugendliche<br />

ausstrahlt, die ihm eingeschriebene Appellfunktion und andere Textstrategien, wie das<br />

Ansprechen des Lesers im Text, werden unter dem Begriff der Potentialität<br />

zusammengefaßt. In diesen Bereich gehören ebenfalls die Emotionen, die primär<br />

angesprochen werden. Die Sequenzqualität entscheidet darüber, ob der ausgewählte<br />

Text in eine Unterrichtssequenz paßt. Ob ein Text den Horizont des Schülers berührt, ist<br />

die Frage nach der Aktualität. Diese kann sicherlich nicht für jeden Einzelnen<br />

beantwortet werden, jedoch zeichnen sich u.U. Themen in der Klasse ab, die alle oder<br />

mehrere Schüler betreffen.<br />

Von Seiten der Schüler entscheiden die Möglichkeit der Identifikation oder<br />

Distanzierung, das Auslösen von Mitleid oder Empathie, das Bieten von Entdeckungen,<br />

Darstellung von Glück, Harmonie, befriedigender Lösungen, aber auch der Misere<br />

menschlichen Lebens über die Aktualität von Literatur.<br />

3.6 Das Lesen in der Schule<br />

Das Lesen ist, verkürzt gesagt, ein Prozeß des Decodierens von encodiertem Material. 17<br />

Nicht selten wurde institutionalisierte Decodierung (<strong>bei</strong>spielsweise in der Schule) zum<br />

Handlanger gesellschaftlicher Leitbilder gemacht, wie sie das Geben von Lebenshilfe,<br />

Führung oder Geleit, das Erzeugen von Emanzipation der Schüler oder die<br />

Untermauerung politischer Überzeugungen darstellen. Auf diese Weise wurde<br />

Textmaterial nach den Kriterien „konzeptionsgemäß“ und „nicht konzeptionsgemäß“<br />

vorsortiert, was eine Manipulation der Textauswahl und Überakzentuierung bestimmter<br />

moralischer Grundsätze darstellt.<br />

Solche Funktionalisierungen geschahen bzw. geschehen und gefährden das eigentliche<br />

Ziel des Lesens, dem Schüler ein möglichst getreues Bild der literarischen Realität in<br />

17 Vgl.im Folgenden Baumgärtner (1990)<br />

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35


Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

der Vielfalt ihrer Erscheinungsform zu vermitteln und ihn zur Auseinandersetzung mit<br />

möglichst allen diesen Erscheinungsformen zu befähigen.<br />

Der Sinn des Lesens konstituiert sich nur von der Literatur selbst und ihrer Bedeutung<br />

für den Menschen. Allen Texten ist die sprachliche Fassung von Denkergebnissen und<br />

Wirklichkeitserfahrungen, dem gemeinsamen Niederschlag von Erfahrenem und<br />

Erdachtem gemeinsam. Zweck des Verfassens von Texten ist eine Mitteilung und<br />

Aufbewahrung. In synchronischer Sicht, auf gleicher Zeitebene, ist Literatur ein Mittel<br />

der intra- und interpersonalen Kommunikation, während auf der diachronischen Ebene,<br />

der historischen Sicht, Lesen als die Voraussetzung für das Weitertragen kultureller<br />

Erfahrungen und Einsichten zu werten ist. Das Lesen ist demnach Teilhabe an dem, was<br />

andere Menschen erfahren, empfunden und erdacht haben und bietet damit die<br />

Möglichkeit, sich über eigene Grenzen und die jeweilige intellektuelle, emotionale und<br />

apperzeptive Kapazität hinwegzusetzen.<br />

So erhält man nicht nur Informationen, die der eigenen Erfahrung entzogen sind,<br />

sondern kann ebenfalls fremde Perspektiven spielerisch erproben. Über die Wirkung,<br />

die das Gelesene <strong>bei</strong>m Rezipienten erzielt, ist damit jedoch noch keine Aussage<br />

getroffen.<br />

Ziel eines jeden Lesenlehrens in der Schule müßte es also sein, die Schüler zur<br />

Teilnahme an jeder menschlichen Kommunikation zu befähigen, die sich mit Hilfe<br />

literarischer Texte vollzieht und damit die Voraussetzung für die Erweiterung und<br />

Differenzierung der Erfahrungs-, Denk- und Empfindungsmöglichkeiten zu schaffen.<br />

Dies schließt allerdings eine kritische Betrachtung literarischen Materials ein. Die<br />

Schüler müssen die Relativität des Textverstehens erkennen und sowohl kritisches als<br />

auch selbstkritisches Lesen erlernen.<br />

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß reflektiertes Lesen die folgenden Funktionen<br />

haben kann: die passive und wahrscheinlich auch die aktive Sprachkompetenz wird<br />

erhöht, die Bedeutung literarischer Strukturen für die Realisierung von<br />

unterschiedlichen Aussageabsichten kann erkannt werden, die Erfahrungs-, Denk- und<br />

Empfindungsmöglichkeiten können erweitert werden. Darüber hinaus kann Lesen<br />

Einsicht in die Beziehung zwischen Autor und Text geben, historische Bedingtheiten<br />

von Literatur und von Intentionalität literarischer Aussagen erfahrbar machen und damit<br />

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36


Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

Manipulationsabsichten durchsichtig werden lassen. Schließlich kann es Anlaß zur<br />

Reflexion von Leseprozessen und deren Ergebnissen sein.<br />

Baumgärtner (1990) betont, daß diese Funktionen des Lesens literarischer Texte nicht<br />

<strong>bei</strong> unreflektiertem Umgang mit Texten wirksam werden. So trügen Sammeln, Ordnen<br />

und Ergänzen von Sprachmaterial, die Verwendung in neuen Zusammenhängen,<br />

syntaktische Operationen und das Nach- und Umgestalten von Texten bzw. das<br />

Wiederherstellen der richtigen Textordnung aus einzelnen Sätzen auf der Basis<br />

gelesener literarischer Texte zur Erweiterung der Sprachkompetenz <strong>bei</strong>. Durch das<br />

Entwerfen von Parallel- oder Kontrasttexten würden die kognitiven Möglichkeiten<br />

erweitert. Beides ziele auf die Verbesserung des Tetxverständnisses ab und sei<br />

Teilschritt auf dem Weg zur Interpretation. Die literarische Kompetenz der Schüler<br />

ergebe sich durch das Herausar<strong>bei</strong>ten von Strukturen des Textes, „durch die Klärung<br />

von Inhalt-Struktur-Beziehungen, von Textsortenspezifika und ihrer Funktion sowie von<br />

Autorenintentionen, durch eine Klärung der Beziehungen zwischen Texten und den<br />

historischen Gegebenheiten ihrer Entstehungszeit, ihrer Stellung innerhalb bestimmter<br />

Traditionen oder ihrer Prägung durch die Bedingungen des Mediums ihrer Verbreitung“<br />

(ebd. 483). Die Autoren stellen weiterhin fest, daß die Reflexion des Lesens ebenfalls<br />

Ziel des Unterrichts geworden ist, da man sich dadurch eine Differenzierung und<br />

Veränderung des Leseverhaltens und einen höheren Grad der Bewußtheit <strong>bei</strong>m Leser<br />

erhofft. Die fördere die Einsicht in die Relativität des Textverständnisses und der<br />

Textaussage und erzeuge Selbstkritik und Toleranz.<br />

Die genannten Ziele sind jedoch nicht mit der Behandlung jedes Textes gleichermaßen<br />

zu erreichen, sondern vielmehr abhängig von Zeit, Lesemotivation, Unterrichtsansätzen<br />

und Methoden. Baumgärtner mißt darüber hinaus dem „einfache (n) Lesen eines<br />

Textes“ (ebd. 484) und dem freien Gespräch darüber, besonders für die Hinführung zum<br />

Lesen überhaupt, große Bedeutung zu. Das kann jedoch nicht die Gesamtheit des<br />

Unterrichts bilden.<br />

3.7 Abgrenzung des Unterrichts von Therapie<br />

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37


Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

Wenn später auf die Verwendung bibliotherapeutischer Erkenntnisse für die <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im<br />

Literaturunterricht eingegangen werden soll, so ist es von Bedeutung, an dieser Stelle<br />

auf die Unterscheidung von Therapie und Unterricht hinzuweisen.<br />

Psychotherapie, zu der die Bibliotherapie gerech<strong>net</strong> wird, soll definiert werden als<br />

„Methode zur Behandlung psychischer (oder auch körperlicher) Störungen, die die<br />

Veränderung des unangemessenen Verhaltens oder Erlebens durch Intervention auf der<br />

psychologischen Ebene zum Ziel hat. Psychologische Behandlungsmethoden<br />

konzentrieren sich auf die Veränderung der unangemessenen Verhaltensweisen, die wir<br />

erlernt haben, sowie der Wörter, Gedanken, Interpretationen und Rückmeldungen, die<br />

unsere Strategien im Leben lenken“ (Zimbardo 1995, 687).<br />

Therapie findet in einem bestimmten Settig statt, in Einzel- oder Gruppensitzungen nach<br />

einem Therapieplan. Die Zeit der Sitzungen ist begrenzt. Die Beziehung zwischen dem<br />

Therapeuten und Klienten richtet sich nach dem Ansatz der Therapie und kann<br />

horizontal (d.h. auf Kooperation angelegt) oder vertikal (d.h. hierarchisch strukturiert)<br />

sein. Die verwendeten Methoden und Techniken sind ebenfalls von der Therapieform<br />

abhängig. Die Klienten kommen aufgrund eines Problems in die Therapie, das sie meist<br />

am „normalen“ Vollzug ihres Alltags hindert. Im Gegensatz zum Unterrichtsprozeß zielt<br />

Therapie, wie oben beschrieben, auf eine unmittelbare Verbesserung der Lebensqualität<br />

durch Heilung psychischer Krankheit und Störungen ab.<br />

Unterricht (vgl. Böhm 1994) kann als ein planmäßiges, absichtsvolles Vermitteln von<br />

Kenntnissen, Einsichten, Fähigkeiten und Fertigkeiten gesehen werden, das meist<br />

professionalisiert und institutionalisiert erfolgt. Ziel das Unterrichts ist es,<br />

weitestgehend auf Wissen bezogene Verhaltensdispositionen zu verändern. Im<br />

Unterschied zu gelegentlichen, absichtsvollen Belehrungen wird im Unterricht der<br />

Lebenszusammenhang, in dem konkrete Lernanlässe auftreten, verlassen. Unterricht ist<br />

ein spezieller Modus der Erziehung, da die Veränderung der Verhaltensdisposition von<br />

einer erzieherischen Intention getragen wird. Er muß immer der Selbstverwirklichung<br />

und Weltorientierung der Schüler dienen. Als Einflußfaktoren gelten individuelle<br />

Eigenschaften des Lehrers, der Schüler (kognitive und soziale Komponente) und des<br />

schulischen Umfeldes.<br />

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38


Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

Es steht außer Frage, daß sich die Aufgaben von Lehrer und Therapeuten unterscheiden.<br />

So wie der Lehrer im Unterricht das Lernen im weitesten Sinne organisieren und<br />

gewährleisten muß und eine erzieherische Tätigkeit ausübt, ist der Therapeut zuständig<br />

für absichtsvolle Interventionen auf psychischer Ebene. Dies ist nicht Ziel des<br />

Unterrichts.<br />

Dennoch nähern sich <strong>bei</strong>de Gebiete an, da psychische Dispositionen der Schüler den<br />

Unterricht wesentlich mitbestimmen. Dieser Tatsache findet in zunehmendem Maße<br />

Eingang in didaktischen Überlegungen. So existieren <strong>bei</strong>spielsweise didaktische<br />

Modelle, die <strong>bei</strong>de Ebenen zu verknüpfen suchen. 18<br />

Trotzdem lassen sich psychotherapeutische Methoden und Techniken nicht gänzlich auf<br />

Unterricht übertragen, zumal Lehrer in der Regel nicht über eine entsprechende<br />

Ausbildung verfügen.<br />

Da jedoch, wie oben festgestellt wurde, Literaturunterricht und Bibliotherapie gleiche<br />

Ziele aufweisen, soll untersucht werden, ob sich bibliotherapeutische Methoden und<br />

Techniken auf einer weniger tiefgreifenden Ebene für den Unterricht nutzen lassen. Als<br />

wichtige Voraussetzung für solche Überlegungen kommt hinzu, daß der präventive<br />

Charakter der Bibliotherapie oft betont wird. Hilfe für die Bewältigung von<br />

Lebensproblemen und Krisen durch die bibliotherapeutisch orientierte <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit<br />

Literatur dürfte also nicht nur für Schule überhaupt, sondern ebenso für den Unterricht<br />

mit Kindern mit Verhaltensstörungen von Bedeutung sein.<br />

4 Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im<br />

pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

4.1 Begriffsbestimmung<br />

Ähnlich, wie in anderen Bereichen der Förderpädagogik, <strong>bei</strong>spielsweise der<br />

Geistigbehindertenpädagogik, ist die genaue Bezeichnung der Zielgruppe in der<br />

Verhaltensgestörtenpädagogik von der Angst vor Stigmatisierung bestimmt. Die Reihe<br />

der Versuche einer Begriffsfindung ist auch dort sehr lang und führt über Begriffe wie<br />

18 Vgl. <strong>bei</strong>spielsweise die Verbindung von strukturierten und schülerzentrierten Ansätze <strong>bei</strong>m Unterricht<br />

mit Kindern mit Verhaltensstörungen ( Goetze/ Neukäter 1984, Kap.3).<br />

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39


Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

„psychopathisches Verhalten“, „Asozialität“, „Dissozialität“,<br />

„Entwicklungsgestörtheit“, „Verhaltensschädigung“, „neurotisches Verhalten“,<br />

„Sozialauffälligkeit“, „Gemeinschaftsschwierigkeit“, „Verwahrlosung“ hin zu dem<br />

Terminus „Verhaltensstörung“. Dieser findet zunehmend Verbreitung (vgl. Benkmann<br />

1992).<br />

Die Feststellung eines als abweichend geltenden Verhaltens - es soll später noch<br />

deutlicher werden - ist einer großen Subjektivität unterlegen und von den Werten und<br />

Normen, den inneren Einstellungen dessen abhängig, der eine Bezeichnung vornimmt.<br />

In der Verhaltensgestörtenpädagogik scheint eine besondere Diskrepanz zwischen der<br />

Sicht der Bezeichnenden und der der Bezeich<strong>net</strong>en zu bestehen, denn letztere fassen ihr<br />

Verhalten meist nicht als auffällig, sondern als von einer inneren, für sie geltenden<br />

Logik bestimmt, auf. Insofern trifft auch der Begriff „Verhaltensstörung“ nicht den<br />

Kern der Sache. Neuere Bestrebungen in Österreich versuchen mit dem Terminus<br />

„Verhaltensoriginalität“ diesem Problem aus dem Wege zu gehen. Er betont zwar<br />

immer noch die Sicht der Beurteilenden, jedoch in einer für die Betroffenen eher positiv<br />

assoziierten Weise. Für Kritiker dürfte dieser jedoch zu verharmlosend und zu weit<br />

gefaßt klingen. In den folgenden Ausführungen soll in Ermangelung eines geeig<strong>net</strong>eren<br />

der Terminus „Verhaltensstörung“ verwendet werden, da dieser auch Vorteile hat, die<br />

jedoch an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden sollen (vgl. ebd.). 19<br />

4.2 Definition<br />

In diesem Kapitel sollen drei Definitionsansätze von Verhaltensstörungen vergleichend<br />

gegenübergestellt werden, um einen kurzen Überblick über Erklärungsmöglichkeiten zu<br />

geben. Sie sind den Ausführungen von Benkmann (1992) entnommen.<br />

4.2.1 Definition nach Havers<br />

19 Die o.g. Ausführungen zur Bedeutung von Sprache und Bezeichnung unterstützen entgegen anderer<br />

Meinungen die Notwendigkeit einer Begriffsbildung zum Phänomen der Verhaltensstörung.<br />

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40


Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

Havers (1982, zit. in Benkmann 1992) beschreibt in seinem Konzept Verhaltensstörung<br />

als eine Regelabweichung, die vom Handelnden selbst oder von einem Beobachter, der<br />

mit Sanktionsmacht ausgestattet ist, als solche eingeschätzt wird. Als Unterbegriff wird<br />

die Bezeichnung „Erziehungsschwierigkeit“ verwendet, die Abweichungen von<br />

pädagogischen Regeln und Normen und deren Sanktionierung meint. Da<strong>bei</strong> bildet das<br />

soziologische Modell der Konstituierung abweichenden Verhaltens durch primäre und<br />

sekundäre Etikettierung die theoretische Grundlage. Dies <strong>bei</strong>nhaltet, daß besonders<br />

öffentliche negative Etikettierung oder die durch nahestehende Personen vorgenommene<br />

zur Übernahme des Etiketts in das Selbstbild des Beurteilten führt. Diese Übernahme,<br />

auch als sekundäre Etikettierung bezeich<strong>net</strong>, erzeugt eine negative, deviante Identität,<br />

der nahezu zwangsläufig eine abweichende Karriere folgt. Zahlreiche Kriterien, wie<br />

Anzahl, Häufigkeit und Schwere der Regelverletzung, Persönlichkeit der Schülers,<br />

insbesondere Alter, sozialer Status, Intelligenz, Erscheinungsbild sowie Toleranzgrenze,<br />

Weltanschauung, Normentreue des Lehrers entscheiden über das Erfolgen einer<br />

primären Etikettierung. Als Ursachen, die Erziehungsschwierigkeiten erzeugen werden<br />

also das Vorhandensein von Normen, deren Verletzung - in welchem Maße auch immer<br />

- und der anschließende Etikettierungsprozeß verstanden. Schulische<br />

Erziehungsschwierigkeiten beziehen sich nach Havers auf Verletzung von Normen und<br />

Regeln, die durch das Schulgesetz definiert und legitimiert werden. Nach Havers erfolgt<br />

jedoch nur dann eine Etikettierung als „verhaltensgestört“ durch den Lehrer oder<br />

schulischen Erzieher, wenn diese das Verhalten wahrnehmen und als zahlreich, intensiv,<br />

schwerwiegend und das tolerierbare Maß überschreitend einschätzen. Regelverstöße, die<br />

aufgrund mangelnder Intelligenz, Krankheit oder organisch bedingter Behinderung zu<br />

erklären sind, klammert Havers aus.<br />

4.2.2 Definition nach Bach<br />

Nur eindeutig Bezeich<strong>net</strong>es ist im Denken präsent und ruft eine Auseinandersetzung damit hervor.<br />

Leider ist die Gefahr einer Stigmatisierung immer gegeben.<br />

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41


Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

Heinz Bach (1993) wählt die Bezeichnung „Verhaltensbeeinträchtigung“ als<br />

Oberbegriff, dem die Termini „Pseudoverhaltensstörung“, „Verhaltensstörung“ und<br />

„Verhaltensbehinderung“ untergeord<strong>net</strong> sind. Der Begriff „Verhaltensbeeinträchtigung“<br />

ist insofern günstig, da er relativ wertneutral und umfassend ist. Darüber hinaus<br />

<strong>bei</strong>nhaltet er keine Theorien über Entstehung, Äußerung und Struktur der<br />

Beeinträchtigung, ist nicht auf den pädagogischen Bereich beschränkt und bezeich<strong>net</strong><br />

sowohl individuell wahrgenommene, als auch von außen definierte Beeinträchtigungen.<br />

Als Pseudoverhaltensstörungen bezeich<strong>net</strong> Bach Verhalten, das aufgrund von<br />

Beurteilungsfehlern als gestört bezeich<strong>net</strong> wird. Dazu zählt er Verhalten, das regelhaft<br />

ist, jedoch durch Mißdeutung oder durch Beobachtungsfehler als gestört erscheint, das<br />

aufgrund erhöhter Normvorstellungen des Betrachters als abweichend bezeich<strong>net</strong> wird<br />

oder zufällig und einmalig vom Regelverhalten abweicht. Verhalten aufgrund von<br />

eingeschränkten physischen oder intellektuellen Möglichkeiten, Orientierungs- und<br />

Probierverhalten sowie vorwiegend situativ bedingtes wird ebenfalls zu den<br />

Pseudoverhaltensstörungen gerech<strong>net</strong>. Streng betrachtet gehören diese nach Bach nicht<br />

in den Bereich der Verhaltensstörungen. In Abgrenzung davon werden<br />

Verhaltensstörungen als „diagnostisch objektivierbare Irregularitäten“ (Benkmann,<br />

1992, 21) aufgefaßt, die einen überdauernden Charakter haben, aber beeinflußbar sind.<br />

Verhalten, das häufiger, längerfristig und aus der Sicht verschiedener Beobachter vom<br />

allgemein erwarteten Regelverhalten gegenüber anderen Personen und/oder der eigenen<br />

Person und/oder gegenüber Sachen abweicht, wird als gestört bezeich<strong>net</strong>. Es kann<br />

bewußt oder unbewußt sein und mit oder ohne Leidensdruck und Skrupeln erfolgen. Die<br />

weniger oft vorkommenden Verhaltensbehinderungen unterscheidet Bach von den<br />

Verhaltensstörungen als Abweichungen, die mit größerem Schweregrad und langfristig<br />

anhaltend erfolgen, sehr komplex sind und nahezu alle Lebensbereiche umfassen. Dazu<br />

gehöre z.B. das Verhalten <strong>bei</strong> akuten Psychosen und solches, das psychosomatische<br />

Ursachen hat. Alle Formen der Verhaltensbeeinträchtigung sind innerhalb des sozialen<br />

und gesellschaftlichen Kontextes zu sehen und nicht als individuelles<br />

Persönlichkeitsmerkmal.<br />

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42


Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

4.2.3 Definition nach Speck<br />

Nach Speck (1979, zit. in Benkmann 1992) liegen Verhaltensstörungen vor, wenn eine<br />

sogenannte pädagogische Beurteilungsinstanz ein Abweichen vom definierten<br />

Regelverhalten als derart gravierend und die Schwelle der Erträglichkeit überschreitend<br />

einschätzt, daß sich besondere erzieherische Maßnahmen notwendig machen, „um<br />

soziale Integration zu ermöglichen“ (ebd., 24). Um abweichendes Verhalten sicher<br />

feststellen zu können, muß eine Entscheidung darüber in hohem Maße zwischen<br />

beurteilenden Individuen überprüfbar sein. Speck schlägt die Festlegung einer<br />

„Erträglichkeitsschwelle“ vor. Diese Definition ist insofern problematisch, als sich<br />

schwerlich eine verbindliche „Erträglichkeitsschwelle“ definieren läßt. Darüber hinaus<br />

geraten Verhaltensweisen aus dem Blickpunkt pädagogischer Beeinflussung, die nicht<br />

als störend registriert werden, jedoch als Abweichung aufgefaßt werden können, wie<br />

<strong>bei</strong>spielsweise regressives Verhalten.<br />

Weiterhin spricht sich Speck gegen die Attribuierung von Personen mit dem Wort<br />

„verhaltensgestört“ aus, da auf diese Weise die Störung als alleiniges Merkmal der<br />

Person erscheint. Er schlägt die Verwendung der Beschreibung „... mit<br />

Verhaltensstörung“ vor, um dies zu umgehen.<br />

4.2.4 Fazit<br />

Alle drei Definitionen von Verhaltensstörungen haben gemeinsam, daß jene nicht als<br />

isolierte individuelle Merkmale oder Charaktereigenschaften aufgefaßt werden, sondern<br />

im Zusammenhang mit der sozialen und gesellschaftlichen Umwelt, deren Normen und<br />

Zuschreibungsprozessen Beachtung finden. Da<strong>bei</strong> liegt der Akzent <strong>bei</strong> Havers auf<br />

Etikettierungsprozessen, die durch die Übernahme vom Etikettierten in dessen<br />

Selbstkonzept deviantes Verhalten manifestieren. Speck hingegen betont die<br />

Abhängigkeit der Zuschreibung einer Verhaltensstörung von einer<br />

Erträglichkeitsschwelle, die möglichst intersubjektiv angenähert werden sollte, um eine<br />

Fehlzuschreibung zu verhindern. Bachs Modell ist sehr komplex und umfaßt sowohl die<br />

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43


Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

Ebene des Beobachters, als auch die des Beobachteten. Beobachtungsfehler führen zur<br />

Zuschreibung von Abweichungen, die keine wirklichen Verhaltensstörungen sind.<br />

Die <strong>bei</strong>den weiteren Formen von Verhaltensbeeinträchtigungen, die Verhaltensstörung<br />

und -behinderung, unterscheiden sich durch Dauer, Schwere und Komplexität und<br />

müssen als solche durch mehrere Beobachter objektiviert werden.<br />

Es erscheint als wichtig, diese verschiedenen Blickwinkel auf den Bereich der<br />

Verhaltensstörungen nebeneinander stehen zu lassen. Auf eine weitere Diskussion der<br />

Definitionsansätze soll an dieser Stelle verzichtet werden, da diese den Rahmen der<br />

<strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> sprengen würde.<br />

4.2.5 Erscheinungsformen und Ursachen von Verhaltensstörungen<br />

Verhaltensstörungen können, wie deutlich geworden ist, als relativ überdauernde<br />

Zustände beschrieben werden, die von einer Beurteilungsinstanz aus einer<br />

Machtposition heraus als Abweichung von einer Norm oder Erwartung definiert und als<br />

störend oder gestört erfahren werden. Die Normen können legislativ festgeschriebene<br />

sein oder aber solche, die auf interindividuellen, unbewußten und unbewußten<br />

„Vereinbarungen“ beruhen und daher von der Mehrzahl der Personen durchgesetzt<br />

werden.<br />

Erscheinungsformen von Verhaltensstörungen werden untergliedert, indem man<br />

feststellt, welche Lebensbereiche von Störungen betroffen sind. Myschker (1977, zit. in<br />

Benkmann 1992) unterscheidet Störungen im sozialen, emotionalen, im Schul- und<br />

Körperbereich und stellt fest, daß Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen in<br />

mehreren oder allen Bereichen auffällig sind. Als Beispiele für Störungen auf sozialer<br />

Ebene werden u.a. Aggressionen, Egoismus, Regression, auf emotionaler Ebene<br />

Depressivität, Stimmungsschwankungen, große Angst, Brutalität usw. genannt. Im<br />

Bereich der schulischen Leistungen stellt Myschker fest, daß diese trotz<br />

durchschnittlicher Intelligenz hinter den Erwartungen zurückbleiben. Die betroffenen<br />

Kinder und Jugendlichen sind nicht mit den üblichen pädagogischen Maßnahmen wie<br />

Lob, Tadel oder Appell zu erreichen und zeigen Konzentrationsschwäche. Im<br />

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44


Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

körperlichen Bereich treten verstärkt psychosomatische Störungen wie Einnässen und<br />

Einkoten, Magenschmerzen usw. auf.<br />

Bestrebungen zur Klassifikation von Verhaltensstörungen sind zahlreich und vielfältig.<br />

Der Nutzen dieser für den Abbau und die Prävention von Störungen ist jedoch fraglich.<br />

Daher soll auf eine weitere Ausführung dieser Problematik verzichtet werden.<br />

Für die Erklärung von Ursachen, die zur Entstehung von Verhaltensstörungen führen,<br />

gibt es ebenfalls zahlreiche Ansätze. Sie unterscheiden sich im Wesentlichen durch eine<br />

tiefenpsychologische, biophysische bzw. medizinische, verhaltens-, kommunikations-<br />

oder lerntheoretische, sozialpsychologische oder interaktionstheoretische Sichtweise.<br />

Darüber hinaus gibt es noch weitere Erklärungsansätze. Mittlerweile löst sich die<br />

Forschung von der Aufstellung absoluter Bedingungsfaktoren, die isoliert und<br />

unausweichlich zur Entstehung von Verhaltensstörungen führen hin zu einer<br />

komplexeren Betrachtung 20 . Damit wird die Entstehung von Störungen durch das<br />

Zusammenwirken unterschiedlicher, verschieden stark in Gewicht fallender<br />

Bedingungsfaktoren erklärt. Dieser Bedingungskomplex umfaßt also verschiedene<br />

Wirkfaktoren, deren jeweiliger Anteil an der Ausprägung einer Verhaltensstörung nicht<br />

exakt bestimmt werden kann. Es läßt sich lediglich vermuten, daß sich mit zunehmender<br />

Anzahl und Stärke der Wirkfaktoren die Wahrscheinlichkeit der Entstehung von<br />

Störungen erhöht. Einflußfaktoren werden in folgende Gruppen unterteilt (Benkmann<br />

1992, 37-43):<br />

- Abweichungen und Schädigungen des Organismus, physische Schäden und<br />

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Funktionsstörungen<br />

- belastende Einflüsse im familiären Bereich ( Mangelerlebnisse in der<br />

frühkindlichen Sozialisation, Über- und Unterforderung, chronische Frustration,<br />

Fehlen von emotionaler Zuwendung, Anerkennung, Selbständigkeit und<br />

motorischer Aktivität, etc.)<br />

- belastende Einflüsse der Schulsituation (Lehrerverhalten, häufige<br />

Mißerfolgserlebnisse, Überforderung usw.)<br />

20 Die ausführliche Darstellung eines komplexen Ansatzes findet sich <strong>bei</strong> Bach (1992).<br />

45


Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

- Schichtzugehörigkeit (in dem einseitig an Mittelschichtnormen ausgerichteten<br />

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Schulsystem)<br />

- epochale Belastungen (Wohnqualität, Medien, Orientierungsunsicherheit der<br />

Jugendlichen in einer pluralistischen Lebenswelt, Einschränkung der Spielräume<br />

durch Infrastruktur, u.a.)<br />

Störungen im Bereich des Verhaltens oder Erlebens entstehen also weder einseitig durch<br />

Einflüsse von außen oder psychische oder physische Prädispositionen, sondern als<br />

Ergebnis von prozeßhaft verlaufenden Austauschbeziehungen zwischen Individuum und<br />

sozialer und materieller Umwelt. So können „gleiche“ Störungen <strong>bei</strong> unterschiedlicher<br />

Ausgangslage und umgekehrt <strong>bei</strong> vermeintlich gleicher Ausgangslage unterschiedliche<br />

Störungen entstehen.<br />

Eine Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen bzw. die<br />

Prävention erfordern also nicht nur eine komplexe Diagnostik, die möglichst früh<br />

einsetzt, sondern ebenfalls eine Beeinflussung der Belastungsfaktoren auf sozialer und<br />

familiärer Ebene. Als Voraussetzung dafür macht sich systemisches Denken notwendig.<br />

4.2.6 Prävention und Abbau von Verhaltensstörungen im schulischen Bereich<br />

4.2.6.1 Prävention<br />

Da sich Verhaltensstörungen im Bedingungskreis zahlreicher Faktoren konstituieren<br />

und nicht auf isolierte Gegebenheiten oder Einflüsse zurückzuführen sind, bleibt kein<br />

pädagogisches Setting von ihnen unberührt. Das Auftauchen der Thematik beschränkt<br />

sich also keineswegs auf den Förderschulbereich, in dem z.T. physische<br />

Einschränkungen einen großen Risikofaktor darstellen, sondern ist in allen Bereichen<br />

pädagogischer Einflußnahme zu finden. Dies deshalb, weil Kinder und Jugendliche<br />

weder isoliert von familiären, epochalen u.a. Faktoren existieren, noch weil Schule<br />

außerhalb des Risikobereiches zu suchen ist. Belastende schulische Einflüsse können,<br />

wie oben angeführt, zu wesentlichen Konstituenten von Störungen werden. Aus diesem<br />

Grunde beziehen sich auch Maßnahmen zur Verhinderung von Verhaltensstörungen<br />

46


Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

hauptsächlich auf die Aufklärung von Lehrern aller Schularten und der Öffentlichkeit<br />

überhaupt und die Anleitung zu einer pädagogischen Reflexion. Mutzeck (1995) nennt<br />

daher als präventive Maßnahmen die Organisation öffentlicher Vorträge zur Aufklärung<br />

und von Seminaren zu Erziehungsfragen für Eltern und die Einrichtung von<br />

<strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong>skreisen von Experten auf kommunaler Ebene, um belastende<br />

Lebensbedingungen möglichst positiv beeinflussen zu können. Außerdem sollten<br />

grundlegende Aspekte der Verhaltensgestörtenpädagogik in die Ausbildung von Lehrern<br />

aller Schularten eingeführt bzw. Fortbildungskurse und Supervisionsgruppen für Lehrer<br />

angeboten werden und auf schulorganisatorischer und gestalterischer Ebene<br />

Erkenntnisse der Forschung berücksichtigt werden. Letzteres betrifft <strong>bei</strong>spielsweise die<br />

Gestaltung eines Schulgebäudes, der Klassenräume, der personellen Besetzung und der<br />

organisatorischen, didaktischen und methodischen Struktur des Unterrichts im Hinblick<br />

auf die Erkenntnisse über bedingende Faktoren von Verhaltensstörungen. An dieser<br />

Stelle können Erkenntnisse der Bibliotherapie zum Tragen kommen, was in Kapitel 5<br />

ausgeführt werden soll.<br />

4.2.6.2 Abbau von Verhaltensstörungen in der Schule<br />

Viele der Maßnahmen, die zum Abbau von Verhaltensstörungen führen sollen, sind<br />

durchaus auch in der Prävention einsetzbar, wie die Forderung nach kleinen Klassen und<br />

wenigen Lehrern. Hier sollen zunächst die Erwähnung finden, die an der Schule für<br />

Erziehungshilfe eingesetzt werden. Mutzeck (ebd.) unterscheidet im Wesentlichen zwei<br />

Maßnahmengruppen:<br />

Die erste umfaßt die schulischen Rahmenbedingungen einschließlich organisatorischer<br />

und pädagogischer Fragen. Zu ihr zählen u.a. die Betonung musischer, handwerklicher<br />

und sportlicher Tätigkeiten, der Aufbau von prosozialen Klassengemeinschaften,<br />

differenzierter und individualisierter Unterricht. Weiterhin sind alle Aktivitäten<br />

eingeschlossen, die die Klassengemeinschaft, prosoziales Verhalten, realistische<br />

Selbsteinschätzung, Individualität und Gruppenfähigkeit, sowie die Bewältigung von<br />

Alltagsanforderungen fördern. Die zweite Maßnahmengruppe <strong>bei</strong>nhaltet Aufgaben der<br />

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47


Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

Beratung durch den Förderpädagogen. Der Lehrer der Verhaltensgestörtenpädagogik<br />

vereint alle Aufgaben der Diagnose, Beratung, pädagogisch-therapeutischer Förderung<br />

und Nachbetreuung in seiner Person. Die Kooperation mit sonderpädagogischen,<br />

schulpsychologischen, medizinischen und sozialpädagogischen Diensten und mit<br />

anderen Schulen ist eingeschlossen. Die Förderung zielt auf das „Verlernen von<br />

Verhaltensstörungen“ und „Erlernen von prosozialem Verhalten, von Gruppenfähigkeit<br />

und Selbstkontrolle“ ab (ebd., 50) und umfaßt neben der schulischen Förderung auch<br />

Trainingskurse. Beraten werden sollten neben den Schülern und Regelschullehrern auch<br />

die Eltern.<br />

Als weitere Maßnahmen zum Abbau von Verhaltensstörungen ist die Betreuung durch<br />

die Kinder- und Jugendpsychiatrie oder durch Psychologen zu nennen, die sich z.T.<br />

außerhalb der Schule vollzieht. Dies wird besonders dann notwendig, wenn Kinder und<br />

Jugendliche von besonders schweren Persönlichkeitsstörungen betroffen sind. Eine<br />

Selbst- oder Fremdgefährdung macht eine stationäre Unterbringung notwendig, eine<br />

Beschulung erfolgt dann dort. Der Möglichkeiten psychotherapeutischer Einflußnahme<br />

gibt es sehr viele. Systemische Familientherapie, Verhaltenstherapie,<br />

tiefenpsychologische Formen und kreative Therapien, wie die Musik- Gestalt-, Mal-<br />

oder Kunsttherapie werden praktiziert. An dieser Stelle ist auch die Biblio- und<br />

Poesietherapie einzuordnen. In jedem Fall ist es pädagogisch bedeutsam, zu wissen ob<br />

und welche Therapien Schüler außerhalb der Schule wahrnehmen, da sie die<br />

Persönlichkeit beeinflussen. Psychoanalytische Therapien <strong>bei</strong>nhalten <strong>bei</strong>spielsweise eine<br />

Aufar<strong>bei</strong>tung traumatisierender Erfahrungen der frühen Kindheit und können dadurch<br />

eine eher depressive Grundstimmung erzeugen bzw. unterstützen.<br />

4.2.7 Der Unterricht an der Schule für Kinder mit Verhaltensstörungen<br />

4.2.7.1 Besonderheiten der Situation im Unterricht<br />

Zur abschließenden Behandlung von Fragen zum Thema Verhaltensstörung und zur<br />

Pädagogik in Schulen für Erziehungshilfe, sollen Besonderheiten der Situation im<br />

Unterricht und daraus resultierende didaktisch-methodische Fragen behandelt werden.<br />

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48


Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

Da<strong>bei</strong> dienen die Ausführungen von Hußlein (1993) als Grundlage. Zum Unterricht als<br />

kommunikativem und interaktivem Prozeß wurden bereits in Kapitel 3 Ausführungen<br />

gemacht. Desweiteren ist er gekennzeich<strong>net</strong> durch die Anforderung an den Pädagogen,<br />

die Vermittlung von Wissen und Wissenserwerbstechniken mit der Lebenswelt der<br />

Schüler in Verbindung zu bringen. So müssen zum Großteil wissenschaftliche<br />

Erkenntnisse auf eine schülergemäße Ebene transformiert werden. Im Unterricht mit<br />

Schülern mit Verhaltensstörungen gestaltet sich dies sehr schwierig, da in einem hohen<br />

Maße Kommunikation und Interaktion erschwert sind. So kennzeichnen u.a. fehlende<br />

Werte und Sinnesperspektiven, Isolation und permanente Frustration den Lebensweg<br />

von Kindern mit Verhaltensstörungen. Hinzu kommt, daß diese Schüler, bevor sie in die<br />

Schule für Erziehungshilfe kommen meistens auf sehr negative Schulerfahrungen wie<br />

Leistungsdruck, Überforderung und ständige Mißerfolgserlebnisse zurückblicken<br />

müssen. Da Verhaltensstörungen als „relativ überdauernde Dispositionen“ (vgl. Bach)<br />

komplexe Bedingungsfaktoren haben, gehen sie nicht sofort mit Änderung der<br />

Schulsituation als einem Bedingungsfaktor verloren. Vielmehr ist ein Prozeß des Um-<br />

und Neulernens von Verhalten und Selbsteinschätzung notwendig. Aus den genannten<br />

Gründen wird Unterricht <strong>bei</strong> Schülern mit Verhaltensstörungen zu einem schwer<br />

kalkulierbaren Prozeß. Hußlein (ebd.) nennt als problematische Verhaltensweisen von<br />

Schülern aggressiv-distanzlose Angriffe gegen Lehrer und Mitschüler, Aggressionen<br />

gegen sich selbst, Zerstörung von Eigentum anderer und von Einrichtungsgegenständen,<br />

Lernunlust, Leistungsverweigerung, depressive Verstimmung, ängstliche<br />

Zurückgezogenheit und völlige Beziehungslosigkeit. Diese Reihe ließe sich fortsetzen.<br />

Die Schule für Kinder mit Verhaltensstörungen versteht sich als Durchgangsschule, die<br />

die Wiedereingliederung der Schüler in Regelschulen zum Ziel hat. Der Lehrplan der<br />

Regelschule ist maßgebend. Desweiteren gibt es zahlreiche Versuche, Kinder mit<br />

Verhaltensstörungen an Regelschulen zu belassen. Das setzt voraus, daß eine Betreuung<br />

der Schüler und Beratung der Regelschullehrer durch Sonderpädagogen gewährleistet<br />

ist. Neben dem Prinzip des Durchgangs nimmt die Erziehung an diesen Schulen einen<br />

vorrangigen Platz ein. Wie alle anderen Kinder und Jugendlichen auch, so betont<br />

Hußlein, haben Kinder mit Störungen die Förderung ihrer Persönlichkeit und ihrer<br />

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49


Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

sozialen Bezüge zum Bedürfnis. Da<strong>bei</strong> muß der Erziehung nicht unbedingt eine<br />

Therapie vorausgehen, sie stellt jedoch ein unterstützendes Begleitangebot dar.<br />

4.2.7.2 Forderungen an Unterricht und Didaktik<br />

Nach Hußlein (ebd.) existiert bislang noch keine eigens entwickelte Didaktik für<br />

Schulen für Erziehungshilfe. 21 Er stellt fest, daß die üblichen didaktischen Theorien<br />

jedoch den besonderen Anforderungen in diesen Schulen nicht gerecht werden, da ein<br />

idealer Bildungsprozeß vorausgesetzt wird. Dieser ist mehr auf die Entfaltung relevanter<br />

Wissensinhalte, als auf subjektive Befindlichkeit und unmittelbare Lebenswirklichkeit<br />

psychosozial beeinträchtigter Kinder ausgerichtet. Spezifische soziale<br />

Wechselverhältnisse finden in den lern- und informationstheoretischen Modellen keinen<br />

Platz, die „über die Operationalisierung von Lernzielen, die Optimierung von<br />

Lernprozessen und den Aufweis allgemeiner sozialer Wechselverhältnisse“ (Hußlein<br />

1993, 476) nicht hinaus reichen. Daher muß sich Unterricht an der Schule für<br />

Erziehungshilfe der allgemeinen Forderung nach einer Schülergemäßheit in einem<br />

besonderen Maße annehmen. Dies liegt nahe, wenn man bedenkt, wie wesentlich die<br />

Individual- und Soziallage der Schüler den Unterrichtsprozeß beeinflussen können. Als<br />

Komponenten besonderer Hilfe sieht Hußlein den Situationsbezug, die Zeitlichkeit, den<br />

Schweregrad, die Wechselhaftigkeit, Normabhängigkeit und Mehrdimensionalität.<br />

Unter Situationsbezug wird verstanden, daß ein der Situation der Schüler angemessenes<br />

Arrangement des Unterrichts diesen und die Schule von allen Beteiligten als weniger<br />

problembehaftet erleben läßt. Die Zeitlichkeit verweist auf den begrenzten Rahmen<br />

einer Verhaltensstörung, die nicht als überdauerndes Pesönlichkeitsmerkmal gelten darf,<br />

sondern als pädagogisch und therapeutisch beeinflußbare Größe.<br />

Hinsichtlich individueller und gemeinschaftsbildender Förderung durch z.B.<br />

Gruppenar<strong>bei</strong>t ist der Schweregrad einer Störung ausschlaggebend. Durch<br />

differenziertes Vorgehen im Blick auf die individuelle Problemlage eines Schülers kann<br />

21 Geht man allerdings von der These aus, daß eine gute Didaktik einem jeden Schüler gerecht wird, so<br />

muß<br />

das kein Mangel sein.<br />

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50


Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

diesem besser entsprochen werden. Aufgrund der Wechselhaftigkeit von<br />

Verhaltensstörungen hinsichtlich der Erscheinungsform und des Ausprägungsgrades<br />

sollte der Lehrer eine tragfähige emotionale Basis anbieten und das Lernumfeld<br />

möglichst reizmindernd organisiert sein. Verhaltensstörungen vollziehen sich als<br />

Abweichung von regelhaftem und normgerechtem Verhalten und sind insofern auch von<br />

den Normsetzungen betroffen. Lehrer müssen über den Unterricht hinaus<br />

Diskriminierungs- und Ausgrenzungsprozessen vorbeugen und ihr eigenes<br />

Rollenverständnis hinterfragen. Mehrdimensionalität umfaßt die Forderung nach<br />

interdisziplinärer Zusammenar<strong>bei</strong>t und Erfahrungsaustausch im Team, um der Tatsache<br />

Rechnung zu tragen, daß sich psychosoziale Störungen auf verschiedenste<br />

Lebensbereiche beziehen und aus komplexen Bedingungen heraus soziale Beziehungen<br />

verschieden konfliktträchtig sein können. 22 Generell lassen sich für den Unterricht mit<br />

Kindern mit Verhaltensstörungen zwei Forderungen aufstellen. Im Hinblick auf die<br />

Wiedereingliederung in die Regelschule müssen Lerndefizite und Verhaltensmängel<br />

abgebaut werden und darüber hinaus die<br />

Schüler zu einer neuen Leistungsmotivation und zu einem angemessenen Selbstbild<br />

ihrer Leistungsfähigkeit gebracht werden. Vorstellungen dazu im Hinblick auf<br />

Stoffauswahl und Fächerkanon finden sich <strong>bei</strong> Hußlein (ebd., 479 f.). Bei der<br />

Unterrichtsgestaltung sollten allgemeine didaktische und methodische Ziele durchaus<br />

übernommen und mit Blick auf die besondere Problematik der Kinder modifiziert<br />

werden. Allgemeine Ziele des Unterrichts wie Zielorientierung, Motivierung,<br />

Strukturierung, Aktivierung, Angemessenheit sowie Leistungssicherung und -kontrolle<br />

sind durch Hußlein (ebd.) überdacht worden, jedoch nicht von unmittelbarer Bedeutung<br />

für die Fragestellung dieser <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong>.<br />

Abschließend sollen pädagogisch-therapeutische Handlungsformen skizziert werden, in<br />

die Unterricht eingebettet werden sollte.<br />

Das Gewähren von Geborgenheit kann als ein wichtiges Ziel <strong>bei</strong>m Umgang mit<br />

Schülern mit Verhaltensstörungen angesehen werden. Diese sollen sich als Person mit<br />

22<br />

So kann man <strong>bei</strong>spielsweise <strong>bei</strong> einem Mädchen mit konflikthafter Beziehung zum Vater<br />

Schwierigkeiten mit<br />

männlichen Lehrkräften vermuten bzw. in die Überlegungen zu individuellen Voraussetzungen<br />

einbeziehen.<br />

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51


Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />

ihrer spezifischen Problematik uneingeschränkt anerkannt fühlen, was oft eine große<br />

Schwierigkeit für den Lehrer darstellt. Weiterhin müssen Schüler dahin geführt werden,<br />

ihre Gefühle zu verdeutlichen. Dies bildet eine erste Voraussetzung dafür, daß<br />

sich das Kind in seiner Seelenlage ernst genommen sieht. Bestärkung und Ermutigung<br />

sollen das oft mangelnde Selbstvertrauen sowie Selbstachtung erzeugen, ebenso wie<br />

körperliche Berührungen nicht vermieden werden sollten. Dies ist <strong>bei</strong> dem oft<br />

ambivalenten Verhalten der Schüler zwischen extremer Nähe und panischer<br />

Distanzierung nicht leicht zu realisieren. Schließlich muß auf das Aufstellen und<br />

Einhalten von Regeln Wert gelegt werden, auf einen äußeren Ordnungsrahmen und eine<br />

Rhythmisierung des Schulalltags, um eine Orientierung anhand von begründeten<br />

Grenzen zu ermöglichen und letztere einsichtig zu machen. Diese Formen pädagogisch-<br />

therapeutischen Handelns sind ebenso auf Regelschulen übertragbar.<br />

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Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

5 Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im<br />

pädagogischen Feld<br />

Nach der Beschreibung des Problemkreises der Verhaltensstörungen und dem<br />

Verdeutlichen spezifischer Fragen und Probleme des Unterrichtens von betroffenen<br />

Kindern kann festgehalten werden, daß in Schulen für Erziehungshilfe allgemeine<br />

didaktisch-methodische Grundsätze hinsichtlich einer größeren Bedeutung der<br />

Individualität und Subjektivität der einzelnen Schüler modifiziert werden. Im Folgenden<br />

sollen zusammenfassend die Berührungspunkte von Bibliotherapie, Literaturunterricht<br />

und Unterricht mit Kindern mit Verhaltensstörungen dargestellt werden.<br />

5.1 Gemeinsamkeiten von Literaturunterricht, Bibliotherapie und Unterricht im<br />

Rahmen der Verhaltensgestörtenpädagogik<br />

Die Ziele und Absichten von Bibliotherapie, Literaturunterricht und Unterricht im<br />

Rahmen der Verhaltensgestörtenpädagogik ergeben eine Schnittmenge, die sich<br />

folgendermaßen darstellen läßt:<br />

Ziel von Bibliotherapie wie von Literaturunterricht ist es, literarische Texte mit dem<br />

eigenen Erleben in Verbindung zu bringen. Das sollte zu einer Auseinandersetzung mit<br />

Lebensfragen führen oder aufgrund von Lebensfragen und Lebensereignissen<br />

geschehen. In <strong>bei</strong>den Bereichen wird Literaturrezeption also dem unmittelbaren<br />

Lebenszusammenhang untergeord<strong>net</strong>. Diese Verbindung zu speziellen Ausschnitten aus<br />

der eigenen Lebenswelt schafft nicht nur einen kognitiven Vergleich des dargestellten<br />

Geschehens mit eigenen Erfahrungen, sondern ebenfalls einen emotionalen Zugang zum<br />

Text. Im Literaturunterricht stellt dieser eine Motivationsquelle dar. In der<br />

Bibliotherapie wird er darüber hinaus für weitere psychische Interventionen benutzt, da<br />

ausgenutzt wird, daß über die Rezeption von Literatur verdrängte Emotionen freigesetzt<br />

werden können. So soll Einsicht, als die Verbindung aktueller Konflikte mit verdrängten<br />

Anteilen, erreicht werden.<br />

Innerhalb von Bibliotherapie und Literaturunterricht soll ebenfalls ein Austausch über<br />

die durch Literatur evozierten Gedanken und Gefühle stattfinden. Dadurch wird nicht<br />

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53


Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

nur Kommunikation und Interaktion in Gang gebracht und Ausdrucksfähigkeit<br />

gefördert, sondern ebenfalls eine Reflexion der persönlichen Zugangsweise und<br />

Bewegtheit hervorgerufen. In <strong>bei</strong>den Gebieten geschieht so sprachliche Sozialisation<br />

bzw. können defizitäre sprachliche Erfahrungen reflektiert und evtl. korrigiert werden.<br />

Schließlich nutzen Bibliotherapie und Literaturunterricht aus, daß durch Literatur<br />

Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten antizipiert werden können, Wertvorstellungen<br />

transportiert werden. Diese geben u.U. dort Anstoß zum eigenen Handeln, wo die<br />

betroffene Person keine Möglichkeit zum Handeln mehr sah, helfen <strong>bei</strong> der (Wieder-)<br />

Erlangung von Lebenssinn oder erzeugen ein Sich-verstanden-Fühlen.<br />

Für den (Literatur-) Unterricht mit Kindern mit Verhaltensstörungen sind alle die<br />

genannten Komponenten von besonderer Bedeutung. Aufgrund ihrer größtenteils<br />

negativen Schulerfahrungen ist eine Motivation sehr wichtig. Dies muß über ein<br />

Anknüpfen an die Lebenswelt, die eigenen Erfahrungen und Erlebnisse geschehen.<br />

Lebensweltbezug heißt nicht zuletzt, daß die Befindlichkeit der Schüler thematisiert<br />

werden muß, da sie oft unter großen Ängsten oder Depressionen leiden (vgl. Kap.<br />

4.2.5). Insofern kann durch die Freisetzung von Emotionen eine Entlastung erfahren<br />

werden. Die Erfahrungen in der bibliotherapeutischen <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern und<br />

Jugendlichen, wie sie im nächsten Kapitel vorgestellt werden sollen, zeigen, daß sich<br />

über das Lesen von gut ausgewählten Texten das Gefühl des Sich-verstanden-Fühlens<br />

einstellen kann. Eine Identifikation mit dem Autor oder Helden findet statt und die<br />

eigene Lebensgeschichte wird nicht mehr als Einzelschicksal verstanden. So kann<br />

Lebenssinn (wieder-) gewonnen werden.<br />

Die Betonung des emotionalen Zugangs zu Texten erleichtert Kindern mit<br />

Konzentrationsschwäche das Zuhören.<br />

Kinder mit Verhaltensstörungen unterliegen auch häufig dem, was Petzold und Orth<br />

(1985,67 f.) als defizitäre sprachliche Sozialisation bezeichnen. Sie wachsen innerhalb<br />

einer gewalttätigen (traumatisch), inkonstanten und widersprüchlichen (distortiv),<br />

unempathischen oder überhaupt fehlenden (defizient) oder zwanghaften und<br />

unterdrückenden (repressiv) Sprachkultur auf. Durch neue Erfahrungen in der<br />

Sprachverwendung und -wirkung kann diese reflektiert und evtl. korrigiert werden.<br />

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54


Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

Durch das Erlernen von einer Reflexion der persönlichen Zugangsweise zu einem Text<br />

und die durch ihn ausgelösten Gefühle wird der Blick auf das Selbst gerichtet.<br />

Vermutlich kann dadurch auch Selbstbeherrschung erlernt werden.<br />

Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen stehen in verschiedenen Situationen<br />

keine adäquaten Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten zur Verfügung. Durch die<br />

<strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Texten können sie verschiedene kennenlernen und diskutieren. Sie liefern<br />

ihnen Hilfe <strong>bei</strong> der Alltagsbewältigung.<br />

Schließlich spielen in der Verhaltensgestörtenpädagogik Kommunikation und<br />

Interaktion eine große Rolle. Sie sind, wie auch sprachliche Ausdrucksfähigkeit, meist<br />

erschwert. Durch eine bibliotherapeutisch orientierte <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Texten, das Kapitel 5.4<br />

liefert dafür ein Beispiel, werden diese Aspekte gefördert.<br />

Es soll nochmals betont werden, das alle diese Komponenten ebenso für den Unterricht<br />

an Regelschulen Bedeutung tragen. Aufgrund der individuellen Gegebenheiten der<br />

Schüler mit Verhaltensstörungen müssen sie im Unterricht mit ihnen jedoch einen<br />

besonderen Platz einnehmen. Sie ebnen dort den Weg dafür, Schule überhaupt zu<br />

ermöglichen.<br />

5.2 Erfahrungen in der bibliotherapeutischen <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong><br />

Es läßt sich also feststellen, daß sich im Blick auf die Ziele von Literaturunterricht, der<br />

Pädagogik <strong>bei</strong> Verhaltensstörungen und die der Bibliotherapie große Überschneidungen<br />

ergeben. Was den Bereich der Verhaltensstörungen betrifft liegt dies nahe, da diese im<br />

Einflußbereich der Psychotherapien angesiedelt sind. Die Berührungspunkte von<br />

Bibliotherapie und Literaturunterricht sind dem Gegenstand geschuldet. Es sollen nun<br />

zunächst Ergebnisse und Erfahrungen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern und<br />

Jugendlichen mit Verhaltensstörungen dargestellt werden. Diese <strong>bei</strong>nhalten jedoch nur<br />

wenige Hinweise hinsichtlich einer Verfahrensweise bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong>.<br />

Anschließend werden bibliotherapeutische Ansätze betrachtet und literaturdidaktische<br />

Modelle hinsichtlich ihrer Eignung für eine Verbindung mit bibliotherapeutischem<br />

Denken untersucht.<br />

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55


Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

5.2.1 Bibliotherapeutische <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern und Jugendlichen<br />

Die Untersuchungen zur bibliotherapeutischen <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern und Jugendlichen mit<br />

Verhaltensstörungen beschreiben zumeist ein Therapiesetting oder die Situation im<br />

Einzelunterricht, wo<strong>bei</strong> das Vorgehen im Einzelnen nicht detailliert dargestellt wird.<br />

Vom Lesen der Texte geht für die Rezipienten oft eine Motivation aus, eigene Gedichte<br />

oder Erzählungen zu verfassen. Die Ergebnisse sind überraschend. So berichtet Viola<br />

Kantrowitz (1967) von ihrer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> in Schulen für emotional gestörte, delinquente und<br />

schizophrene Kinder. Sie geht von der Frage aus, welche Formen von Literatur eine<br />

besondere Bedeutung für lernschwache Kinder haben. In der Einzelar<strong>bei</strong>t stellt sie fest,<br />

daß Texte, die die individuellen Bedürfnisse eines Kindes berücksichtigen bzw. dessen<br />

spezielle Fragen aufgreifen, die größten Veränderungen bewirken. Ihre drei Fallstudien<br />

zeigen erstaunliche Ergebnisse. Neben der Verbesserung der sprachlichen Kompetenz,<br />

verstärkter Energie und emotionalen Ausdrucksfähigkeit, der größeren Tendenz zum<br />

Lächeln und zum sorgfältigeren Umgang mit sich selbst, findet sich auch die stärkere<br />

Motivation zum handwerklichen Tun und damit die Verbesserung der handwerklichen<br />

Fertigkeiten. Das Lesen von Gedichten und Texten regte die Jugendlichen zumeist zum<br />

eigenen Schreiben an. Dennoch ist Kantrowitz nicht zu optimistisch in bezug auf die<br />

Langzeitwirkung dieser therapeutischen Einflußnahme und schreibt:<br />

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„... it can be seen that using carefully selected materials to motivate emotionally and socially<br />

deprived children can present rewarding results. But, although they may be reached<br />

temporarily, there is no way of telling whether life circumstances or their inner turmoil may<br />

become so overwhelming to them that books may play only a small role in their later lives.“<br />

(ebd., 212)<br />

Morrison (1969) legt Fälle aus seiner <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit psychosozial gestörten Jugendlichen als<br />

Haus- bzw. Krankenhauslehrer in New York dar. Durch die Rezeption von<br />

ausgewählten Gedichten im Einzelunterricht, die wiederum die besondere Problematik<br />

des Schülers aufgriffen, konnten seine Schüler lernen, sich selbst zu akzeptieren. In der<br />

Auseinandersetzung mit den Texten entstanden persönliche Gedichte, die eine deutliche<br />

Entwicklung zeigen. Die Jugendlichen waren in der Lage, Emotionen zu äußern, sich<br />

über ihre Wünsche klar zu werden und sich und ihre Beziehung zur Umwelt<br />

56


Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

realistischer einzuschätzen. Krankheit, Behinderung und andere negative Erlebnisse<br />

konnten in das Selbstkonzept integriert werden.<br />

Dorothy Kobak (1969) schildert poesietherapeutische <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit sozial und emotional<br />

auffälligen Schülern. Da<strong>bei</strong> bilden die von den Schülern selbst verfaßten Gedichte den<br />

Ausgangspunkt für Diskussionen, die das Sprechen über die eigene Befindlichkeit<br />

erleichtern bzw. überhaupt ermöglichen. Sie beschreibt diesen Prozeß als „emotionale<br />

Ansteckung“:<br />

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„The therapeutic effect of these talk sessions following the writing lay in the fact that one boy`s<br />

ability to express his feelings overtly often would free another boy to discuss a sensitive area<br />

that had previously been too threatening for him to discuss. This form of „derivative insight and<br />

spectator therapy“ had therefore more than a small element of emotional contagion. It led to a<br />

lessening of resistance towards self-revelation and to decreased feelings of isolation.“ (ebd.,<br />

183)<br />

Auf dem Weg zur Wiederherstellung seelischer Gesundheit schätzt sie den kreativen<br />

Prozeß als wichtige Ergänzung einer Therapie ein.<br />

Weiterhin zitieren die empirische Untersuchung von Altmann und Nielson (1974), die<br />

die Wirkung von Bibliotherapie für den Aufbau von Selbstwertgefühlen <strong>bei</strong> gestörten<br />

Kindern nachweisen. Gleichzeitig warnen sie vor unzureichend ausgebildeten<br />

Bibliotherapeuten, die u.U. einen negativen Effekt bewirken können.<br />

Petzold und Orth (1985) verweisen weiterhin auf Art Berger (1973), der in der <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong><br />

mit Kindern und Jugendlichen zur Stimulieren des Schreibens von Gedichten leise<br />

Bluesmusik einsetzt. Der Lehrer sollte der Entfaltung von Spontaneität und des freien<br />

Ausdrucks Raum geben. Um es gestörten Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen,<br />

über das Ausdrücken unterdrückter Gefühle, Träume und Phantasien Identität finden.<br />

Die Beispiele zeigen, daß ausgewählte Literatur für die Persönlichkeitsentwicklung<br />

gestörter Kinder und Jugendlicher einen bedeutsamen Anstoß geben kann. Deutlich wird<br />

ebenfalls die enge Verbindung des rezeptiven und produktiven Ansatzes.<br />

Allerdings sind sämtliche Untersuchungen inzwischen schon sehr bejahrt und treffen<br />

keine empirischen Aussagen. Auch klingen sie z.T. sehr pathetisch, Mißerfolge finden<br />

keine Erwähnung. So bleibt zu hoffen, daß ihnen in absehbarer Zeit aktuelle<br />

Untersuchungen gegenübergestellt werden können.<br />

57


Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

5.2.2 Modell der Bibliotherapie und Biblioprophylaxe nach Ehrenberger und Sedlak<br />

Ehrenberger und Sedlak (1987) stellen ein bibliotherapeutisches Modell mit drei Phasen<br />

vor. 23 Es ist durch eine Zunahme an Problemlösekompetenz und Autonomie hinsichtlich<br />

der Wahl eines Vermittlungsmediums gekennzeich<strong>net</strong>. Da<strong>bei</strong> hängt es von der Stärke<br />

der Belastung oder Neuartigkeit einer bestimmten Erfahrung und der Zunahme von<br />

Bewältigungskompetenz im Hinblick auf eine bestimmte Situation ab, ob innerhalb der<br />

Phase A, B oder C reagiert wird.<br />

Die Phase A weist eine stark von außen geleitete Hilfe <strong>bei</strong> Fragen oder Problemen auf,<br />

die aufgrund eines Mangels an Lebensbewältigungsstrategien und Konfliktpotential<br />

nicht autonom gelöst werden können. Ein konkreter Vorschlag eines Mediums der<br />

Verar<strong>bei</strong>tung, in diesem Fall der Text, wird vom Therapeuten gemacht. Der Text wird je<br />

nach Situation ausgewählt und muß für die Situationsbewältigung relevant sein, d.h.<br />

eine Identifikation zulassen, bzw. dem ISO-Prinzip entsprechen. Die Elemente der<br />

Rezeptions-, Verar<strong>bei</strong>tungs- und Auswirkungsphase sind den Graphiken zu entnehmen.<br />

In Phase B treffen die Einwirkungen aus der Umwelt bereits auf eine erweiterte<br />

Problemlösekapazität. Daher findet das Aufsuchen eines geeig<strong>net</strong>en<br />

Verar<strong>bei</strong>tungsmediums weniger fremdgesteuert statt, ggf. werden alternative<br />

Möglichkeiten ausprobiert, wie Musik und darstellende Kunst. Anhand eigener<br />

Kriterien wird ein geeig<strong>net</strong>es Material aufgespürt, welches sich dazu eig<strong>net</strong>, die eigene<br />

Sicht auf das Problem zu objektivieren. Dies kann ein konfliktreiches Musikstück oder<br />

ein Text sein, der eine Lebenskrise und deren Bewältigung darstellt. Es folgen wiederum<br />

die Phasen der Rezeption, Verar<strong>bei</strong>tung und Rückkopplung.<br />

Die letzte Phase, Phase C, wird durch ein hohes Maß an Problemlösekapazität und<br />

Autonomie charakterisiert. Es erfolgt eine direkte Problembewältigung, da belastende<br />

Umwelteinwirkungen auf ein ausreichend großes Repertoire an Lebensbewältigungs-<br />

strategien hinsichtlich der Problemfelder Individuum - Gesellschaft, Person -<br />

Gemeinschaft und hinsichtlich intraindividueller Konflikte stoßen. Die Vermittlungs-<br />

funktion eines Mediums ist nicht mehr notwendig, belastende Probleme oder Fragen<br />

23 Das Modell soll hier verkürzt dargestellt werden. Die graphische Darstellung der Phasen findet sich im<br />

Anhang.<br />

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Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

können direkt reflektiert und in bestehende Konzepte integriert werden. Daraus ergeben<br />

sich Impulse für reale Veränderungen, für klärende und initiative Dialoge.<br />

Alle drei Phasen, so betonen Ehrenberger und Sedlak, sind nicht als feststehender<br />

Regelkreis, sondern vielmehr als „Ausschnitte aus einem umfassenden<br />

Verar<strong>bei</strong>tungsprozeß“ (ebd., 78) zu sehen. Da das Leben als fortwährender Prozeß der<br />

Auseinandersetzung mit belastenden Situationen und mit Lebensfragen aufzufassen ist,<br />

machen sich mit Erreichen der Stufe C Bücher keineswegs überflüssig. Außerdem ist<br />

Lektüre insofern unersetzbar, als es sich um eine Begegnung des Lesers mit Text, Autor,<br />

Lebenssituation und Kultur unabhängig der Grenzen von Raum und Zeit handelt.<br />

Für die <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im Unterricht ergeben sich aus diesem Modell Forderungen hinsichtlich<br />

einer Medienvielfalt und zunehmenden Autonomie in der Medienwahl. Es gehört zu den<br />

Aufgaben des Unterrichts, Kindern Lebensbewältigungsstrategien zu vermitteln und<br />

Lebenshilfe zu geben.<br />

Weiterhin stellen Ehrenberger und Sedlak die zwei Wege zur vorbeugenden<br />

Auseinandersetzung mit Literatur dar. Der erfahrungszentrierte Weg innerhalb der<br />

Biblioprophylaxe geht vom Lesen aus. Die in Texten gebotenen Auseinandersetzungen<br />

mit wichtigen Lebensfragen müssen hinsichtlich einer inneren Resonanz untersucht<br />

werden. Eine solche Stellungnahme kann den Fragen nach dem inneren Echo, der<br />

Bewegung (Was freut, kränkt, ärgert, bedrückt mich?) und der daraus resultierenden<br />

persönlichen Konsequenz folgen. Das dadurch Gelernte sollte schrittweise in die<br />

Alltagsbewältigung umgesetzt werden.<br />

Ein problemzentrierter Zugang geht aus von einer inneren Befindlichkeit oder<br />

Fragestellung in einer fiktiven Situation. Ein Ausfindigmachen geeig<strong>net</strong>er Literatur, ggf.<br />

durch Hilfe von außen, schließt sich an, die vergleichend gelesen wird. Darauf folgen<br />

wiederum das Aufspüren der inneren Resonanz und die schrittweise Umsetzung des<br />

Gelernten.<br />

Auf diese Weise wird das Aufnahme- und Konfliktpotential von Menschen erweitert<br />

und „trainiert“, einer Überforderung und krankhaften Überlastung des psychischen<br />

Apparates vorgebeugt. Beide Zugangswege lassen sich im Unterricht umsetzen, da<br />

Literaturrezeption ohnehin an die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen anknüpfen<br />

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Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

sollte. Dies bedeutet Anknüpfung an Erlebnisse und Situationen aus dem Lebensbereich<br />

der Schüler oder an ihre Gefühlswelt.<br />

5.2.3 Prinzipien bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern nach Rhea Joyce Rubin<br />

Rhea Joyce Rubin (1978) stellt Prinzipien für die bibliotherapeutische <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit<br />

Kindern auf. So sollten mit Kindern, die noch nicht lesen können, Geschichten erzählt<br />

oder laut vorgelesen werden. Aufgrund der geringeren Aufmerksamkeitsspanne sollten<br />

Kurzgeschichten verwendet werden und die Sitzungen nicht länger als 30 Minuten bis 1<br />

Stunde andauern. Bücher oder Geschichten müssen mehrmals gelesen werden, um den<br />

Kindern die Möglichkeit zu geben, diese vollständig aufzunehmen und zu verstehen. In<br />

Bilderbüchern spielen die Illustrationen eine große Rolle, da sie die Aufmerksamkeit auf<br />

bestimmte Aspekte lenken. Tiergeschichten und phantastische Geschichten erlauben es<br />

den Kindern zu tagträumen. Tagträume <strong>bei</strong>nhalten die Auseinandersetzung mit<br />

Bedürfnissen, Zielen, Wünschen und Absichten. Darüber hinaus spielen in<br />

Tiergeschichten Alter, Geschlecht und Rasse keine Rolle und erleichtern dadurch die<br />

Identifikation.<br />

Rubin beschreibt weiterhin die Technik des gegenseitigen Geschichtenerzählens (mutual<br />

story telling), die innerhalb von Bibliotherapie oder auch einzeln angewendet werden<br />

kann. Das Kind erzählt eine Geschichte und der Therapeut erzählt darauffolgend eine<br />

andere, die auf der ersteren basiert. Sie sollte neue Einsichten, Alternativen oder<br />

Lösungen eröffnen. Die Erwiderung des Therapeuten ist nicht als psychoanalytische<br />

Erklärung zu verstehen und muß in der Sprache des Kindes geschehen und ohne daß die<br />

Grundlagen von Bibliotherapie den Kindern vorher erklärt wurden. Für ein solches<br />

Vorgehen macht sich eine spezielle Ausbildung notwendig.<br />

Mit jüngeren Kindern sollten die bibliotherapeutische Theorie und die Ziele<br />

grundsätzlich nicht besprochen werden, wohingegen mit älteren Schülern ein direkteres<br />

Vorgehen möglich ist. Bei diesen können auch Methoden aus der <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit<br />

Erwachsenen angewendet werden. Der Umgang mit realen Geschichten muß, wie Rubin<br />

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60


Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

betont, sehr vorsichtig und auf direktem Wege erfolgen, um auf mögliche Fragen sofort<br />

eingehen zu können.<br />

Die von Rubin vorgestellten Prinzipien bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> lassen sich auf die<br />

Unterrichtssituation übertragen.<br />

5.2.4 Ilse M. Lehner: Die Verwendung Kinder- und Jugendliteratur in der Schule<br />

Lehner (1991) untersucht die Verwendung von Kinder- und Jugendliteratur in der<br />

Schule <strong>bei</strong> der Bewältigung von Trennungs- und Scheidungssituationen und den damit<br />

verbundenen Begleiterscheinungen wie Orts- und Schulwechsel. Ausgehend von der<br />

Feststellung, daß Kinder in Krisensituationen meist schwer zu Büchern Zugang haben,<br />

die ihre Situation beschreiben, zu Hause „Krisenbücher“ oft nicht vorhanden sind, in<br />

Bibliotheken ungenügend beraten werden kann etc., rechtfertigt Lehner das Behandeln<br />

solcher Bücher im Unterricht. Die von ihr angeführten Beispiele sind ebenso konkret<br />

wie gewagt.<br />

So stellt sie dar, wie einem Scheidungskind, das durch einen Ortswechsel neu in der<br />

Klasse ist, durch literarische Vorbilder geholfen werden kann und die Mitschüler<br />

gleichzeitig weitere soziale Handlungsmöglichkeiten erlernen.<br />

Der Grundgedanke dieser Hilfe besteht darin, passende Szenen zusammenzustellen bzw.<br />

entsprechende Literatur auszusuchen, in der Klasse zu lesen und darüber ins Gespräch<br />

zu kommen. Anhand der Erzählung bzw. des Materials erfahren die Mitschüler, wie es<br />

dem „Neuen“ geht, wie sich seine Situation zu Hause darstellt, was Trennung und<br />

Umzug bedeuten. Anschließend wird der Frage nachgegangen, wie sich die<br />

Schulkameraden im Buch verhalten, um dem Mitschüler diese schwere Situation zu<br />

erleichtern und schließlich die Situation in der Klasse analysiert. Schüler mit gleichen<br />

Erfahrungen könne diese und die da<strong>bei</strong> aufgetretenen Gefühle erzählen. Gemeinsam mit<br />

den betroffenen Kindern wird nach Lösungen und Hilfen gesucht. Diese können von der<br />

Planung gemeinsamer Unternehmungen, <strong>bei</strong>spielsweise von Ausflügen, um dem Kind<br />

die Umgebung vertraut zu machen, bis hin zu Hausaufgabenhilfe reichen. Maßnahmen,<br />

die dem Kind die Eingliederung in das soziale Gefüge erleichtern werden ebenso<br />

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61


Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

geplant. Dazu gehört das Aufbringen von Verständnis von Seiten der Mitschüler, auch<br />

wenn das Kind gerade „komisch“ ist, das Mitnehmen nach Hause oder in die Clique<br />

bzw. den Sportclub.<br />

Wichtigstes Anliegen ist das Einfühlen-Lernen und das Aufbringen von Verständnis für<br />

andere in schwierigen Situationen. Insofern werden den Schülern neue Handlungs- und<br />

Verhaltensmuster angeboten. Nach Lehner ist ein solches Modell, je nach Gewichtung,<br />

Ausführlichkeit und Anspruchsniveau, ab Klasse 4 durchführbar.<br />

Kritisch zu sehen ist, daß betroffene Kinder plötzlich im Mittelpunkt stehen und ihre<br />

private Situation im Klassenrahmen diskutiert wird. Da<strong>bei</strong> ist äußerst vorsichtig<br />

vorzugehen, da sich das Kind, daß noch nicht in das soziale Gefüge integriert ist, evtl.<br />

exponiert fühlt. Auch ist großes pädagogisches Geschick erforderlich, um eine<br />

Überfürsorge zu verhindern.<br />

5.2.5 Udo Kittler: Unterrichtsplanung „Bibliotherapie“<br />

Udo Kittler (1982) stellt ein fächerübergreifendes Projekt im Religionsunterricht für die<br />

Sekundarstufe II vor, das Einsicht in die Interdependenz von Bibliotherapie, Literatur<br />

und Religion vermitteln soll. Die angestrebten Lernziele bewegen sich sowohl auf<br />

literaturtheoretischer Ebene, als auch auf der therapeutisch-psychologischen Ebene der<br />

Bedeutung von Literatur für den Einzelnen. Da<strong>bei</strong> sollen die Schüler Einblick in<br />

bibliotherapeutisches Denken und die Ziele von Bibliotherapie erhalten.<br />

Religionsunterricht ist insofern in dieses Thema involviert, als er die Aufgabe hat, über<br />

Sinn- und Wertesysteme zu informieren und zu reflektieren. Kittler ar<strong>bei</strong>tet einen<br />

metaphorischen und daraus resultierend einen bibliotherapeutischen Gehalt der<br />

Geschichte „Der kleine Prinz“ von Antoine des Saint-Exupery heraus. Sechs<br />

bibliotherapeutische Leitgedanken bilden die <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong>sbasis.<br />

Das Projekt wird, grob skizziert, in 5 Phasen durchgeführt. Die Projektinitiative bildet<br />

den Einstieg. Über die Reflexion von eigenen Leseerfahrungen und -erlebnissen kann<br />

für die Diskussion nach dem Gewinn und Nutzen von Literatur motiviert werden.<br />

Daraufhin folgt die Auseinandersetzung mit der Projektinitiative bezüglich der<br />

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Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

Problemkreise, die in den später formulierten inhaltlichen Bausteinen ihren<br />

Niederschlag finden. Ergebnis dieser Phase ist ein <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong>splan (Projektskizze).<br />

Anschließend werden die Betätigungsgebiete entwickelt, innerhalb derer die<br />

Projektdurchführung stattfindet. Eine Stoffsammlung sollte bis dahin vorliegen. In<br />

Einzelar<strong>bei</strong>t, Klein- oder Gesamtgruppe werden die verschiedenen Gebiete bear<strong>bei</strong>tet.<br />

Den Abschluß bildet die Zusammenstellung der Ergebnisse mit anschließender<br />

Dokumentation.<br />

Als einzelne inhaltliche Bausteine, die von den Projektgruppen bear<strong>bei</strong>tet werden, nennt<br />

Kittler :<br />

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- Märchen<br />

- Antoine des Saint-Exupery<br />

- Leseabenteuer der Lernenden<br />

- Kleingruppen zu einzelnen Geschichten im Buch „Der kleine Prinz“<br />

- Bibliotherapie (mit verschiedenen Unterpunkten)<br />

- die bibliotherapeutische Wirkung des Buches<br />

- Dokumentation der Ergebnisse des Projektes<br />

Kittlers sehr anspruchsvolles Modell bibliotherapeutisch orientierter <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> 24 bildet eine<br />

gute Grundlage, Jugendliche mit diesem Thema vertraut zu machen und für die<br />

heilkräftige Wirkung von Büchern zu sensibilisieren. Für jüngere Schüler ist eine<br />

Vereinfachung des Modells ohne dieser stark theoretischen Grundlegung denkbar.<br />

5.3 Literaturdidaktische Modelle<br />

Im Folgenden sollen zwei didaktische Modelle der Literaturpädagogik überblickshaft<br />

dargestellt werden. Literaturunterricht - im Zwiespalt der Vermittlung von<br />

Literaturtheorie und der Betonung eines persönlichen emotionalen Zugangs zu Literatur<br />

- steht vor der Frage, diese <strong>bei</strong>den Ebenen zu verbinden. Beide haben ihre Berechtigung.<br />

Literaturtheoretisches Wissen ist Gegenstand des Lehrplanes und dies nicht zuletzt, weil<br />

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Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

es Zugang zum kulturellen Leben ermöglicht. Literaturrezeption fernab von<br />

wissenschaftlichen Fragestellungen ist deshalb von großer Wichtigkeit, da gestaltete<br />

Sprache zunächst auf affektive Reaktionen und kognitive Assoziationen abzielt und eine<br />

(persönliche) Beziehung zwischen dem Produzenten und Rezipienten herstellen.<br />

5.3.1 Modell der Rezeptionsästhetik (3-Phasen-Modell)<br />

Das rezeptionsästhetische Modell (vgl. Bütow 1991, 67-76) gliedert sich in die Phasen<br />

der Erstrezeption und ihrer Vorbereitung, der vertiefenden Aneignung und des<br />

postrezeptiven Wiederaufgreifens und neuen Einordnens der aufgenommenen Literatur.<br />

Da<strong>bei</strong> ist die Erstrezeption am ehesten mit bibliotherapeutischen Absichten zu<br />

verbinden, da sie durch einen unvoreingenommenen Zugang zum Text gekennzeich<strong>net</strong><br />

ist. Der Bezug der Schüler zum Text steht im Mittelpunkt. Neben der Annäherung auf<br />

stofflichem, literaturtheoretischem, literaturhistorischem und biographischem Gebiet<br />

kann die Vorbereitungsphase auch unter sprachproduktiven oder psychologischen<br />

Gesichtspunkten erfolgen. Sprachproduktives Herangehen bedeutet die Ermunterung der<br />

Schüler, zunächst zum Motiv oder Thema in welcher Form auch immer gestalterisch<br />

tätig zu sein. Psychologische Annäherung impliziert das Nutzen der Lebens- und<br />

Kunsterfahrungen der Schüler. Beides bietet Ansatzpunkte für bibliotherapeutische<br />

Ziele, da die Möglichkeit besteht, persönliche Berührtheit auszudrücken. Freilich muß<br />

dafür Raum gelassen werden. Eine weitere Möglichkeit ist die Erstrezeption ohne<br />

Vorbereitung, <strong>bei</strong> der die Schüler den Text allein und meistens zu Hause lesen. Ein<br />

Gespräch über das Gelesene und dessen Wirkung sollte sich aus bibliotherapeutischen<br />

Gesichtspunkten anschließen.<br />

Die Phase der vertiefenden Aneignung und die der Postrezeption stehen im Zeichen der<br />

Analyse und Interpretation des Textes bzw. dessen Neueinordnung in andere<br />

Zusammenhänge unter literaturtheoretischen Gesichtspunkten. Sie eigenen sich nicht<br />

unmittelbar für bibliotherapeutische <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong>, wo<strong>bei</strong> ein Wiederaufgreifen eines stark<br />

24 Ausführlichere Darstellung im zitierten Artikel.<br />

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Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

diskutierten Textes mit der Frage nach der emotionalen Bedeutung sicher interessante<br />

und wichtige Aspekt zutage fördert, gerade im Blick auf (Einstellungs-)Veränderungen.<br />

5.3.2 4-Phasen-Modell nach Kreft<br />

Das 4-Phasen-Modell nach Kreft (1982) basiert auf einer deutlichen Offenheit im<br />

Umgang mit dem Text und betont die Eigenverantwortung der Schüler. Es ist für ältere<br />

Schüler besser geeig<strong>net</strong>.<br />

Die erste Annäherung an den Text soll nur durch die Begegnung von Leser und Text<br />

bestimmt werden, eine Verstrickung <strong>bei</strong>der stattfinden. Kreft nennt diese Phase die der<br />

„bornierten Subjektivität“, die ebenfalls über eine Motivation entscheiden wird. Bei<br />

älteren Schülern kann in dieser Phase schon ein erster Interpretationsentwurf entstehen.<br />

Es folgt die Phase der Objektivierung in der der erste subjektive Eindruck zum Text ins<br />

Verhältnis gesetzt und damit überdacht wird. Durch eine gegenseitige Korrektur der<br />

Rezipienten untereinander erfolgt eine Objektivierung. Ziel ist das Treffen von<br />

Aussagen, die am Text verifizierbar sind. Anschließend findet eine Rückwendung auf<br />

das Subjekt bzw. des Subjektes auf sich selbst statt, mit der Frage danach, was das<br />

Kunstwerk dem Leser „gegeben“ hat. Selbstkorrektur oder Neuinterpretation des Textes<br />

sind Bestandteile dieser Phase der Aneignung und reflektierten Subjektivität, wo<strong>bei</strong><br />

Aneignung eine betrachtende Anwendung des Textes auf sich selbst meint. Schließlich<br />

folgt die Phase der Applikation. Mögliche Übertragungen sind die auf allgemein<br />

literaturtheoretische, auf praktische oder auf weiterführende Fragen. Bei der Anwendung<br />

auf literaturtheoretische Fragen erfolgt das Einordnen in literaturwissenschaftliche bzw.<br />

-geschichtliche Kategorien. Die praktische Applikation erfolgt hinsichtlich realer<br />

Konflikte der Rezipienten und <strong>bei</strong>spielsweise im Rollenspiel. Bei der Ausar<strong>bei</strong>tung<br />

neuer Fragestellungen, die den Text zur Grundlage haben und über ihn hinaus führen, ist<br />

die Möglichkeit der Einbeziehung der Schüler groß.<br />

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Verstehen von Texten adäquat zu den 4<br />

Phasen des Modells verläuft, in allen Phasen jedoch die Momente der Subjektivität,<br />

Interpretation und Applikation mit unterschiedlich starker Gewichtung enthalten sind.<br />

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Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

Im Gegensatz zum 3-Phasen-Modell ist im Modell Krefts das Wechselspiel zwischen<br />

individueller und gesellschaftlicher Aneignung von Literatur stärker betont, das<br />

Subjektive erhält eine neue Qualität. Dadurch ist es bibliotherapeutisch ausgerichtet.<br />

5.4 Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> für den<br />

Literaturunterricht<br />

5.4.1 Möglichkeiten<br />

Wie oben schon herausgear<strong>bei</strong>tet wurde, besteht eine enge Verbindung zwischen<br />

Zielstellungen der Bibliotherapie, des Literaturunterrichts und der<br />

Verhaltensgestörtenpädagogik im Unterricht.<br />

Es soll darüber hinaus betont werden, daß eine gesonderte Betrachtung von Maßnahmen<br />

zur Prävention und Maßnahmen zum Abbau von Verhaltensstörungen unter<br />

bibliotherapeutischen Gesichtspunkten nicht notwendig erscheint. Dies läßt sich<br />

dadurch begründen, daß die Komponenten bibliotherapeutischen Denkens, die im<br />

Kapitel 5.1. auf den Unterricht mit Schülern mit Verhaltensstörungen bezogen wurden,<br />

ebenso für Regelschulen und andere Sonderschulen sowie für integrative Modelle gelten<br />

und dort eine schülerzentrierte <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> ebenfalls unterstützen.<br />

Präventive Maßnahmen sollen verhindern, daß Schüler überdauernde Störungen im<br />

Verhalten ausbilden. Außerdem <strong>bei</strong>nhalten sie neben schulorganisatorischen Fragen und<br />

Fragen der Aufklärung von pädagogischem Personal hauptsächlich die Reduzierung<br />

belastender schulischer Einflüsse und positive Beeinflussung schwieriger<br />

Lebensbedingungen bevor Kinder darauf mit Störungen reagieren. Gleiches gilt in der<br />

Verhaltensgestörtenpädagogik für den Abbau von Störungen. Wie Literaturunterricht<br />

diese unterstützen kann, wurde unter 5.1 gezeigt.<br />

In den Schulen für Erziehungshilfe stehen durch Kleinklassenstruktur, fast<br />

durchgängigem Klassenlehrerprinzip, Sonder- und Förderstunden sowie anderen<br />

Maßnahmen von vornherein andere Möglichkeiten einer pädagogischen Beeinflussung<br />

von Störungen unter der Berücksichtigung der individuellen Gegebenheiten von<br />

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Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

Schülern zur Verfügung. Meist wirkt diese entspanntere Schul- und Klassensituation an<br />

sich schon verhaltensändernd. Der Unterricht unterscheidet sich dadurch von dem an der<br />

Regelschule, daß bestimmte Grundlagen wie Gesprächsführungstechniken, Äußerung<br />

von Gedanken und Gefühlen überhaupt, Einsicht in und Einhaltung von Regeln und<br />

Normen, Kooperation und Gruppenfähigkeit, Selbstbeherrschung etc. erst erlernt und<br />

ggf. mit speziellen Programmen trainiert werden müssen. Darüber hinaus muß<br />

Unterricht so strukturiert und aufgear<strong>bei</strong>tet werden, daß Schüler, die größtenteils<br />

frustrierende Schulerfahrungen machen mußten, Erfolg erleben und Motivation<br />

erfahren.<br />

Prävention und Abbau unterschieden sich also, was ihren Inhalt und die grundsätzlichen<br />

Verfahrensweisen betrifft, wenig voneinander. Bei gleichem Lehrplan sind lediglich die<br />

Intensität, Häufigkeit und Differenziertheit der (sonder-) pädagogischen Maßnahmen<br />

unterschiedlich gewichtet.<br />

Die zitierten Darstellungen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern und Jugendlichen<br />

liefern Zeugnis von der einstellungs- und verhaltensändernden Wirkung, die Literatur<br />

auch <strong>bei</strong> stark deprivierten Menschen erzeugen kann. Die präventive Wirkung von<br />

Literatur als vorbeugende Auseinandersetzung mit Lebensfragen und belastenden<br />

Ereignissen wird von vielen Autoren gesehen und betont. Insofern muß festgehalten<br />

werden, daß bibliotherapeutisch motivierte <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im Literaturunterricht aufgrund der in<br />

5.1 genannten Ziele und Wirkungsweisen sowohl präventiv als auch abbauend<br />

hinsichtlich abweichenden Verhaltens wirksam werden kann. So kann sich als<br />

Nebenergebnis literarischer Erziehung Lebenshilfe einstellen.<br />

Die dargestellten literaturdidaktischen Modelle bieten Raum für bibliotherapeutische<br />

Intentionen. Zusammen mit den Untersuchungen und Konzeptionen<br />

bibliotherapeutischen Vorgehens lassen sie die Formulierung von Leitsätzen für eine<br />

bibliotherapeutisch orientierte <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im Literaturunterricht zu:<br />

* Wie die in Punkt 5.2.1 dargestellten Untersuchungen zeigen, ist der Bezug zur<br />

Lebenswelt bzw. zum Problem des Lesers von entscheidender Wirkung für eine<br />

Identifikation, einen Denkanstoß und Einsichts- und Verhaltensänderung. Literatur<br />

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Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

sollte sorgsam ausgewählt werden, wo<strong>bei</strong> jedoch eine Wirkung dieser nicht geplant<br />

werden kann. Sie stellt sich entweder ein oder nicht.<br />

* Genauso, wie mit Kindern mit Verhaltensstörungen Techniken des Sozialverhaltens<br />

trainiert werden müssen, ist es auch notwendig, Sprachsensibilität zu üben. Dazu<br />

eignen sich Wort- und Sprachspiele, das Malen zu Gedichten, Entschlüsseln von<br />

Metaphern oder Finden von Reimen, also alle Techniken, die die Beziehung von<br />

Sprache und Denken sowie die Äußerung von Emotionen durch Literatur einsichtig<br />

machen. In diesem Sinne kann Unterricht zur Relativierung defizitärer sprachlicher<br />

Sozialisationserfahrungen <strong>bei</strong>tragen.<br />

* Vor der literaturtheoretischen Betrachtung von Texten sollte der emotionale Zugang<br />

stehen, da dieser motivierend für die Auseinandersetzung mit Literatur wirkt. Bei<br />

Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen spielt die Motivation eine<br />

besonders große Rolle. Sie hilft den Schülern zu erkennen, daß die Beteiligung ihrer<br />

Person am Unterricht im Mittelpunkt steht. Darüber hinaus können<br />

bibliotherapeutische Implikationen wie Freisetzung von Emotionen, Identifizierung,<br />

Objektivierung, Einsicht, Sinnstiftung, Vorwegnahme von Handlungs- und<br />

Verhaltensalternativen etc. nur durch einen subjektiven bzw. subjektiv-reflektierten<br />

Zugang zum Text zum Tragen kommen.<br />

* Einen Schwerpunkt des Unterrichts sollte die Frage nach der Aussage des Textes für<br />

jeden einzelnen Schüler darstellen, wie es auch im Modell von Kreft betont wird. So<br />

wird die Diskussion von Literatur vor zu großer Abstraktheit für die Schüler bewahrt.<br />

* Maßnahmen, die den Gruppenzusammenhalt, die Kommunikation, die<br />

Gesprächsführung usw. günstig beeinflussen, wie Morgenkreise, Gesprächsrunden,<br />

Gruppenar<strong>bei</strong>t, sollten parallel zur <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> am Text durchgeführt werden, da sie das<br />

Wohlfühlen in der Klasse steigern und eine Äußerung vor der Klasse, in welcher<br />

Form auch immer, erleichtern.<br />

* Da Unterricht nicht mit einer Therapiesituation zu vergleichen ist, müssen vermutete<br />

unbewußte Anteile einer Schüleräußerung vorsichtig angesprochen werden (siehe<br />

auch Kap. Grenzen).<br />

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Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

* Das mehrmalige Lesen von Texten (vgl. Rubin) erweist sich als günstig, um Schülern<br />

das Verständnis, die Entschlüsselung von Metaphern, das innere Wirkenlassen zu<br />

ermöglichen. Bei Schülern mit Verhaltensstörungen kann man so Mißverständnisse<br />

durch evtl. Konzentrationsmängel verhindern.<br />

* Besonders <strong>bei</strong> Kindern mit Verhaltensstörungen sollten Auswahlmöglichkeiten <strong>bei</strong>m<br />

Behandeln von Gedichten oder auch Kurzgeschichten bestehen. Betroffene Kinder<br />

sind sehr häufig Stimmungsschwankungen unterlegen. Finden diese keinen<br />

Niederschlag und keine Identifikationsmöglichkeit in der Literatur, kann dies leicht<br />

zu Frustrationen führen. Da<strong>bei</strong> sollten jedoch keine Texte verwendet werden, die in<br />

depressiver Stimmung verbleiben und keinen Ausweg weisen (vgl. ISO-Prinzip).<br />

* Das Schreiben von Texten in der Auseinandersetzung mit einem Text oder als<br />

Selbstausdruck ist ebenfalls therapeutisch bedeutsam. Es sollte zugelassen und<br />

gefördert werden.<br />

* Wenn Erfahrungen aus der Literatur auf Lebensprobleme übertragen werden, kann<br />

Unterricht darauf abzielen, dem Leser größere Konfliktlösekompetenz und<br />

Selbstbeherrschung zu vermitteln und ihn in diesem Sinne vom Buch unabhängig zu<br />

machen. Wie im Modell von Ehrenberger und Sedlak gezeigt wird, sollte<br />

bibliotherapeutisch orientierte <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> auf eine Zunahme von Autonomie hinsichtlich<br />

der Medienwahl abzielen. Literaturunterricht muß in diesem Sinne als ein Angebot<br />

zur Äußerung der eigenen Befindlichkeit verstanden werden, welches neben anderen<br />

Angeboten (Musikunterricht, Kunstunterricht, Tanz) stehen und durch diese ergänzt<br />

werden kann.<br />

* Nimmt man Literaturunterricht als Möglichkeit der Förderung von Persönlichkeit,<br />

Selbstfindung und Selbstakzeptanz im bibliotherapeutischen Sinne wahr, so sollten<br />

Angebote zur Weiterbeschäftigung mit Literatur außerhalb von Unterricht gemacht<br />

werden. Dies liegt darin begründet, daß Literaturunterricht immer im Spannungsfeld<br />

von Wissensvermittlung und ästhetisch-emotionaler Zugangsweise steht. Haben<br />

Schüler in der Literatur ihre Ausdrucksmöglichkeit gefunden, so kann in der relativ<br />

lehrplanbestimmten <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> des Unterrichts Enttäuschung entstehen, weil geweckte<br />

Interessen und Absichten ggf. curicculumbedingt zu kurz kommen.<br />

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Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

* In die <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> innerhalb von Förder- bzw. Sonderstunden mit Kindern mit<br />

Verhaltensstörungen sollte bibliotherapeutisches Denken Eingang finden und als<br />

potentielle Möglichkeit der Therapie betrachtet werden.<br />

5.4.2 Grenzen<br />

Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> für den Unterricht ergeben sich überall dort, wo<br />

Unterricht und Therapie differieren. Dies wurde z.T. schon in Kapitel 3. beschrieben<br />

und soll hier noch einmal Erwähnung finden.<br />

Psychotherapie bedient sich bestimmter Techniken, um Unbewußtes bewußt zu machen,<br />

Verhalten zu ändern, Ängste abzubauen. Da<strong>bei</strong> ist die Beziehung zwischen Therapeuten<br />

und Klienten sehr tief und basiert auf gegenseitigem Vertrauen. Damit der Klient sich<br />

dem Therapeuten öff<strong>net</strong> und ggf. auch schmerzliche Erfahrungen während einer<br />

Therapie aushalten kann, muß gewährleistet sein, daß er während des <strong>gesamte</strong>n<br />

Prozesses professionelle Hilfe erfährt.<br />

Diese Hilfe ist im Unterricht nicht gewährleistet, da eine psychotherapeutische<br />

Ausbildung nicht in das Berufsbild des Lehrer gehört. Darüber hinaus kann er meist<br />

nicht seine ganze Aufmerksamkeit auf einen Schüler lenken. Insofern lassen sich<br />

Elemente der Psychotherapie auch nicht bedingungslos auf Unterricht übertragen,<br />

jedoch können Methoden - gerade von kreativen Therapien - zur Freisetzung von<br />

Gedanken und Gefühlen angewendet werden. Da<strong>bei</strong> sollte sich der Lehrer seiner<br />

Grenzen bewußt sein und seine Kompetenzen nicht überschreiten. Insofern muß auf<br />

Widerstände der Schüler <strong>bei</strong> der Äußerung persönlicher Befindlichkeit sensibel geachtet<br />

und diese zugelassen werden. Das Ansprechen von evtl. unbewußten, verdrängten<br />

Anteilen sollte nur äußerst vorsichtig und nicht in der direkten Konfrontation geschehen.<br />

Eine interdisziplinäre Zusammenar<strong>bei</strong>t kann betroffenen Schülern adäquate Hilfe zuteil<br />

werden lassen.<br />

Da Verhaltensstörungen meist multifaktoriell bedingt sind, scheint ein zu großer<br />

Optimismus hinsichtlich einer dauerhaften Verhaltensänderung aufgrund<br />

bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> nicht angeraten zu sein (s. die Ausführungen von<br />

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Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

Kantrowitz). Letztlich ist auch bibliotherapeutisch orientierte <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im Unterricht kein<br />

Ersatz für begleitende Interventionsstrategien, die eine Verbesserung der<br />

Lebensbedingungen zum Ziel haben (z.B. Betreutes Wohnen).<br />

Bibliotherapeutisch orientierte <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im Literaturunterricht erfährt darüber hinaus dort<br />

seine Grenzen, wo Lesefertigkeiten fehlen, wo<strong>bei</strong> jedoch auch das Vorlesen als Methode<br />

genannt wird. Auch ist sie abhängig von der sprachlichen Kompetenz der Schüler. Fehlt<br />

das Verstehen sprachlicher Bilder, ist die Sprachkompetenz oder Konzentrationsspanne<br />

sehr gering, so liegt es nahe, daß in diesen Gebieten eine erste Förderung geschehen<br />

muß.<br />

5.5 Ein Beispiel bibliotherapeutisch ausgerichteter <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im Literatur- bzw.<br />

Leseunterricht anhand der Geschichte „Kannst du nicht schlafen, kleiner<br />

Bär?“<br />

Im Folgenden wird versucht, bibliotherapeutisches Denken innerhalb von<br />

Literaturunterricht kurz darzustellen. Dem Rahmen dieser <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> geschuldet soll nur ein<br />

kurzer Text besprochen werden, die sich für den Einsatz im Grundschulbereich eig<strong>net</strong>.<br />

Der genaue Wortlaut der Geschichte „Kannst du nicht schlafen, kleiner Bär?“ von<br />

Waddell und Firth (1997) findet sich im Anhang.<br />

Entsprechend der Vorgehensweise lassen sich Anregungen für die vertiefende<br />

Behandlung von Literatur in der Sekundarstufe I finden. Die Ausführungen stellen keine<br />

detaillierte Unterrichtsplanung dar, vielmehr liegt der Schwerpunkt auf der Verbindung<br />

von Bibliotherapie und Unterricht.<br />

Zunächst werden literarische Potenzen der Geschichte und bibliotherapeutische<br />

Implikationen vorgestellt. Anschließend wird auf mögliche Verfahrensweisen und<br />

Techniken eingegangen.<br />

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Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

Bibliotherapeutische Implikationen<br />

Die im Folgenden dargestellten bibliotherapeutischen Inhalte der Geschichte stellen eine<br />

Möglichkeit der Interpretation dar. Auf andere Interpretationen soll an dieser Stelle nicht<br />

eingegangen werden.<br />

Beide Bären leben zusammen, verbringen die Tage gemeinsam. Sie verkörpern also eine<br />

enge Beziehung, wo<strong>bei</strong> nicht genau definiert ist, ob es sich um eine freundschaftliche<br />

oder familiäre Beziehung handelt. Der kleine Bär entspricht einem Kind. Er ist klein,<br />

muß früh zu Bett gehen. Insofern ist er die wahrscheinliche Identifikationsfigur für<br />

Grundschüler. Der große Bär trägt die Charakteristika eines Erwachsenen, ggf. eines<br />

reifen Jugendlichen. Er hat mehr Freiräume - er bleibt länger wach - , jedoch auch mehr<br />

Verantwortung - er kümmert sich um den kleinen Bären, bringt ihn ins Bett. Er könnte<br />

jedoch auch für Grundschulkinder, die viele häusliche Pflichten haben, wie z.B. das<br />

Versorgen jüngerer Geschwister, eine Identifikationsfigur sein.<br />

Es obliegt so dem Leser, die Beziehung der <strong>bei</strong>den Figuren und diese selbst nach seinen<br />

Erfahrungen oder Wünschen mit Inhalt zu füllen.<br />

Die Angst des kleinen Bären vor der Dunkelheit ist sehr diffus. Es wird nicht<br />

beschrieben, was genau ihm Angst macht. Die Dunkelheit ist eine furchteinflößende<br />

Größe, die für den kleinen Bären unberechenbar ist und bildet somit eine Parallele zu<br />

diffusen Ängsten von Kindern. Der kleine Bär äußert seine Angst, obgleich der große<br />

Bär beschäftigt ist und nicht gerne unterbrochen wird. Mit jedem Mal, das der große Bär<br />

seine Lektüre zur Seite legt, ist das Buch spannender und er „brummiger“. Dennoch<br />

nimmt er die Gefühle des kleinen Bären ernst, obwohl er sie selbst nicht nachvollziehen<br />

kann. Er versucht zunächst, die Ursache der Angst zu beseitigen, was ihm nicht<br />

vollständig gelingt. Irgendwann reichen seine „Kräfte“ nicht mehr aus. Die Dunkelheit<br />

vor der Höhle läßt sich nicht erhellen. Erst durch die Konfrontation mit der Dunkelheit<br />

kann der kleine Bär seine Angst überwinden.<br />

Im psychologischen Sinne läßt sich das Verhalten des kleinen Bären als Angstneurose<br />

beschreiben. Metaphorisch wird verdeutlicht, daß ein Überdecken der Ursache oder eine<br />

Intervention durch das Ansprechen des Rationalen - etwa im Sinne von: Du mußt dich<br />

nicht fürchten, ich fürchte mich auch nicht. - unwirksam ist. Einzig hilfreich ist in einer<br />

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Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

solchen Situation eine Gegenkonditionierung, wie es der große Bär schließlich auch<br />

betreibt. Er konfrontiert den kleinen Bären direkt mit dem Angstauslöser, der<br />

Dunkelheit, und bietet ihm da<strong>bei</strong> einen Sicherheitsreiz: er nimmt ihn fürsorglich auf den<br />

Arm. Da das angenehme Gefühl von Sicherheit mit Angst nicht vereinbar ist, vergißt der<br />

kleine Bär seine Angst und schläft ein.<br />

Bibliotherapeutisch motivierte Lernziele der Geschichte können also sein:<br />

innerhalb der Figur des kleinen Bären:<br />

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Auch wenn es andere vielleicht stört, darf ich meine Ängste (Gefühle) äußern. In<br />

der Umkehrung: Tue ich dies nicht, kann mir auch nicht geholfen werden.<br />

Auch für Erwachsene unverständliche Gefühle - der große Bär hat keine Angst -<br />

verdienen Beachtung, ich muß mich dafür nicht schämen.<br />

Es kann gut sein, wenn ich mir helfen lasse.<br />

Wenn man vor etwas (Unbestimmtem) Angst hat ist es gut, sich direkt damit<br />

auseinanderzusetzen. Hilfreich ist, wenn ich mir „Verstärkung“ mitnehme.<br />

innerhalb der Figur des großen Bären<br />

Ich muß auch Gefühle von anderen, die ich selbst nicht verstehe, (be-) achten.<br />

Nur dann kann ich mir nahestehenden Menschen helfen.<br />

Literarische Potenzen<br />

In der Grundschule sind vor allem das Üben der Lesefertigkeiten und die Freude am<br />

Lesen Ziele des Leseunterrichts. Darüber hinaus kann anhand der Geschichte eine erste<br />

Einführung einzelner Elemente des Märchens stattfinden. So finden sich die bekannte<br />

Formel „Es war einmal ...“ und eine Personifizierung von Tieren. Diese sprechen<br />

miteinander. Die Zahl Drei spielt eine wichtige Rolle: der große Bär bringt drei immer<br />

größere und hellere Laternen. Wendungen werden wörtlich wiederholt, Elemente der<br />

73


Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

Steigerung sind vorhanden: die Laternen werden größer, die Seiten im Buch immer<br />

weniger. Dadurch wird die Spannung in der Geschichte erhöht.<br />

Verfahrensweisen<br />

Sowohl aus bibliotherapeutischer und literaturdidaktischer, als auch aus<br />

verhaltenspädagogischer Sicht ist es sinnvoll, den Lebensbezug der Geschichte zu<br />

betonen. So eig<strong>net</strong> sich dieses Buch sehr gut, um mit Kindern über ihre möglichen<br />

Ängste zu sprechen. Mehrmaliges Lesen, auch in verteilten Rollen, sichert das<br />

Verständnis der Geschichte. Um anschließend ins Gespräch zu kommen, sind alle<br />

warming-up-Strategien denkbar: kleine Rollenspiele machen die Gefühle der <strong>bei</strong>den<br />

Bären plastischer. Sie können auch genutzt werden, um ein Varietät in<br />

Gefühlsäußerungen zu verdeutlichen. So läßt sich das Auf-den-Arm-Nehmen des<br />

kleinen Bären durch den großen Bären schwierig von Kindern darstellen, es muß also<br />

nach Alternativen gesucht werden, wie das Bieten Schutz oder von Sicherheit gezeigt<br />

werden können. Auf diese Weise werden Inhalte des Textes in den Alltag übersetzt und<br />

Handlungsmöglichkeiten angeboten bzw. durchgespielt. Das Malen der Bären, der<br />

Höhle usw. kann ebenfalls genutzt werden, um mit der Geschichte vertraut zu werden.<br />

Vielleicht läßt sich eine passende Musik finden, die das Erlebnis des kleinen Bären<br />

nachgestaltet. Es läßt sich fächerübergreifend ar<strong>bei</strong>ten und <strong>bei</strong>spielsweise Lebensweise,<br />

Verbreitung, Ernährung wirklicher Bären thematisieren. Das Erfinden eigener<br />

Bärengeschichten kann für den weiteren Ausbau sprachlicher Fertigkeiten genutzt<br />

werden.<br />

Leitfragen zur Auseinandersetzung mit der Geschichte unter Berücksichtigung<br />

bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> können sein:<br />

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Geht es einem Kind genauso, wie dem kleinen Bären?<br />

Welche Kinder kennen das Gefühl des kleinen Bären / großen Bären und haben /<br />

hatten Angst vor Dunkelheit, Tieren, Alleinsein usw.?<br />

Können sie jemandem von dieser Angst erzählen?<br />

74


Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />

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Was macht der kleine Bär gegen die Angst?<br />

Was machen Kinder, wenn sie Angst haben? (Bewältigungsstrategien)<br />

Welche Erfahrungen haben die Schüler mit Angst gemacht? Wie haben sie sie<br />

überwunden?<br />

Ist es schlimm, Angst zu haben, oder ist es auch gut?<br />

Haben auch Erwachsene Angst?<br />

Da<strong>bei</strong> ist es besonders wichtig, auf erste spontane Äußerungen der Kinder zu achten und<br />

diese aufzugreifen. Eine Interpretation bzw. Beantwortung der Leitfragen sollte nicht<br />

geliefert, sondern mit den Kindern erar<strong>bei</strong>tet werden.<br />

Ein späteres Wiederaufgreifen von Texten, gibt Kindern Anstoß, erneut über<br />

angesprochene Fragen nachzudenken, die mittlerweile evtl. von Bedeutung für sie<br />

geworden sind. Auch zeigt sich so, ob eine Veränderung in der Einstellung oder im<br />

Verhalten stattgefunden hat, bzw. welche Texte auf welche Kinder eine dauerhafte<br />

Wirkung hatten.<br />

Mit älteren Schülern kann man durchaus die heilende Wirkung von Literatur im<br />

Unterricht thematisieren und da<strong>bei</strong> an eigene Leseerfahrungen anknüpfen.<br />

75


Konsequenzen<br />

6 Konsequenzen<br />

Die Darstellung zu den Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> für den<br />

Literaturunterricht unter Berücksichtigung von Verhaltensstörungen läßt die folgenden<br />

Schlußfolgerungen zu. Literatur kann über therapeutische Potenzen und Lebenshilfe<br />

leistende Qualitäten verfügen. Als Träger und Übermittler von Sprache ist Literatur eng<br />

verbunden mit Denken, Begriffsbildung und Fühlen. Sprachliche Sozialisation vollzieht<br />

sich nicht zuletzt über Literaturrezeption. Daher sollte jeder Umgang mit Literatur<br />

gefördert werden. Für den Bereich der Schule heißt dies, daß besonderes Augenmerk auf<br />

die Einrichtung von Schulbibliotheken, Leseecken, Lesezirkeln gelegt werden sollte.<br />

Geschichtennachmittage, Autorenlesungen und -gespräche können außerdem ein<br />

wichtiger Motivationsfaktor sein. Die Auswahl von Büchern für Leseecken, die<br />

Behandlung im Unterricht etc. sollte bibliotherapeutischen Gesichtspunkten folgen. Das<br />

heißt, daß der symbolische Gehalt eines Textes ein Auswahlkriterium sein und weiterhin<br />

auf eine Themenvielfalt wertgelegt werden sollte. So muß der Inhalt einer Leseecke von<br />

Zeit zu Zeit nach Aktualität überprüft werden.Bibliotherapie stellt ein weiteres<br />

Argument für die Betonung des emotionalen Zugangs zu Literatur dar. Dieser spielt in<br />

der <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern mit Verhaltensstörungen eine große Rolle, darf aber nicht auf<br />

diesen Problemkreis beschränkt bleiben. Schließlich ist vor einer Überbetonung des<br />

therapeutischen Wirkung von Literatur zu warnen. Texte können einen<br />

bibliotherapeutische Potenz haben. Die Bibliotherapie gibt jedoch keine Rezepte oder<br />

verabreicht gar eine Medizin, um diese oder jene Probleme „in den Griff zu<br />

bekommen“. Darüber hinaus haben Kinder oft ein genaues Gespür für die Intentionen<br />

des Lehrers. Eine Enttäuschung über das Nichteintreten einer therapeutischen Wirkung<br />

gerade dieser Geschichte ist daher fehl am Platze. Letztlich soll Literaturunterricht<br />

zunächst Freude am Lesen erzeugen.<br />

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76


Konsequenzen<br />

Eine praktische Erprobung mit Grundschulkindern einer Mittelschule 25 zeigte, daß<br />

Kinder das Vorlesen von Geschichten und Märchen in erster Linie genießen. Sie waren<br />

zunächst weniger an einem Austausch darüber, als an möglichst vielen abenteuerlichen<br />

Erzählungen interessiert. Dies mag verdeutlichen, daß die Themen der gewählten<br />

Geschichten (Angst, Angstbewältigung, Mut, Selbstbewußtsein) nicht auf einen<br />

Leidensdruck stießen oder die Kinder über andere Bewältigungsstrategien verfügten und<br />

nicht in der Literatur Hilfe suchen mußten. Beides sollte Pädagogen erfreuen. Vertrauen<br />

als eine wichtige Voraussetzung für den Austausch von Gedanken und Gefühlen läßt<br />

sich nicht schnell erzeugen. Insofern ist eine „pädagogische Geduld“ nicht nur <strong>bei</strong><br />

bibliotherapeutisch orientierter <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> anzustreben.<br />

Die Forderung nach der Verbindung von Literaturar<strong>bei</strong>t mit anderen kreativen Medien,<br />

wie sie der Ansatz der Integrativen Poesietherapie nach Petzold und Orth fordert, stellt<br />

eine letzte Konsequenz dar. So können Kinder und Jugendliche „ihr“ Medium des<br />

Ausdrucks wählen.<br />

25 Im Rahmen der Hortveranstaltungen der Schule wurde von mir über den Zeitraum von 4 Monaten ein<br />

Geschichtennachmittag angeboten.<br />

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77


Zusammenfassung<br />

7 Zusammenfassung<br />

Die Ausführungen zeigen, daß Literatur nicht nur im therapeutischen Rahmen ein<br />

„Betreten neuer Räume“ im Sinne des Anfangszitates ermöglicht. Auch für den<br />

schulischen Bereich liefert bibliotherapeutisches Denken neue Prämissen. Es stellt ein<br />

weiteres Argument für einen erfahrungszentrierten Zugang zu Literatur dar und kann als<br />

Möglichkeit gesehen werden, der Individualität der Schüler besser gerecht zu werden.<br />

Durch die Betonung der persönlichen Zugangsweise zum Text kann Motivation, ein<br />

Sich-verstanden-Fühlen, der Ausdruck verdrängter Emotionen und der Austausch von<br />

Gedanken und Gefühlen erzeugt werden. Kommunikation und Interaktion werden<br />

dadurch angeregt und so der Manifestation von Störungen im Verhaltensbereich<br />

vorgebeugt. Bei der <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern mit Verhaltensstörungen kann<br />

bibliotherapeutisch orientierter Literaturunterricht als wichtige Hilfe für den Abbau von<br />

Verhaltensstörungen gesehen werden.<br />

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78


Literatur<br />

8 Literatur<br />

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Kobak, D.: Poetry Therapy in a „600“ school and in a counseling center. Creative<br />

writing as a therapeutic Instrument. In: Leedy (1969), 180-187<br />

Kreft, J.: Grundprobleme der Literaturdidaktik. 2. verb. Aufl., Quelle und Meyer,<br />

Heidelberg 1982<br />

Leedy, J.J.(Hrsg.): Poetry Therapy. The use of poetry in the treatment of emotional<br />

disorders. Lippincott, Philadelphia u. Toronto, 1969<br />

Lehner, I.M.: Die Poblematik der elterlichen Trennung und Scheidung in der<br />

zeitgenössischen Kinder- und Jugendliteratur. 1. Aufl., Fischer,<br />

Frankfurt a.M. 1991<br />

81


Literatur<br />

Leonhardt, H.-J.: „Bibliotherapie als Psychotherapeutisches Instrument und<br />

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Erscheinungsform des geistig-kulturellen Lebens bestimmter Gruppen der<br />

Gesellschaft.“ [Masch.-schr.], Diss. Leipzig, 1989<br />

Lerner, A.: Poesietherapie. In: Handbuch der Psychotherapie. Bd. 2, Corsini, R.J.<br />

(Hrsg.), Wenninger, G. (Bearb.), 4. Aufl., Beltz, Weinheim 1994, 901-915<br />

Lukas, E.: Wie Leben gelingen kann. 30 (31) Geschichten mit logotherapeutischer<br />

Heilkraft. 1. Aufl., Quell, Stuttgart 1996<br />

Menninger, W.C.: Bibliotherapy, The Menninger Clinic Bulletin 8 (1937) 263-274, zit.<br />

in Petzold / Orth 1985<br />

Moreno, J.L.: Psychodrama. Beacon House, Beacon 1946, zit. in Petzold / Orth 1985<br />

Morrison, M.R.: Poetry Therapy with disturbed adolescents. Bright arrows on a dark<br />

river. In: Leedy (1969), 88-103<br />

Munzel, F.: Bibliotherapeutische <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Psalmen.<br />

In: Beiträge zur Bildungsdiskussion, 10 (1985), Teil 2<br />

Mutzeck, W.: Verhaltensstörungen. In: Verband Deutscher Sonderschulen (Hrsg.):<br />

Materialien. Sonderpädagogische Förderung in der Bundesrepublik<br />

Deutschland. 2. Aufl., Würzburg 1995, 47-52<br />

Myschker, N.: Verhaltensgestörtenpädagogik. In: Bleidick u.a. (Hrsg.): Einführung in<br />

die Behindertenpädagogik, Bd. III. Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1977, zit.<br />

in Benkmann 1992<br />

Nürnberger, H.: Fontane. 19. Aufl., Rowohlt, Reinbek 1993<br />

82


Literatur<br />

Ondaatje, M.: Der englische Patient. 3. Aufl., Deutscher Taschenbuch Verlag,<br />

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München 1997<br />

Ortner, G.: Märchen, die Kindern helfen. 4. Aufl., Deutscher Taschenbuch Verlag,<br />

München 1995<br />

Ortner, G.: Neue Märchen, die Kindern helfen. 1. Aufl., Deutscher Taschenbuch Verlag,<br />

München 1996<br />

Petzold,H.; Orth, I.(Hrsg.): Poesie und Therapie. Über die Heilkraft der Sprache.1.<br />

Aufl., Junfermann, Paderborn 1985<br />

Petzold, H.; Orth, I.: Poesie und Bibliotherapie. Entwicklung, Konzepte und Theorie -<br />

Methodik und Praxis des integrativen Ansatzes. In: Petzold/Orth 1985, 21-101<br />

Rubin, R.J.: Using bibliotherapy. A guide to theory and practice. 1. Aufl., Oryx Press,<br />

Phoenix, 1978<br />

Rubin, R.J.: Bibliotherapie - Geschichte und Methoden. In: Petzold/Orth 1985, 103-133<br />

Sächsisches Staatsministerium für Kultus (Hrsg.): Lehrplan Mittelschule, Deutsch,<br />

Klassen 5-10. 1. Aufl., (o. Verl.), Dresden 1992<br />

Schami, R.: Erzähler der Nacht. 9. Aufl., Beltz, Weinheim u. Basel 1992<br />

Shrodes, C.: Bibliotherapy: A theoretical and clinical experimental study. Diss.,<br />

University of California, Los Angeles 1949, zit. in Petzold / Orth 1985<br />

Speck, O.: Verhaltensstörungen, Psychopathologie und Erziehung. Berlin 1979, zit. in<br />

Benkmann 1992<br />

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Literatur<br />

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A.: Poetry in the therapeutic experience. Pergamon, New York 1978, zit. in<br />

Petzold / Orth 1985<br />

Stocker, K. (Hrsg.): Taschenlexikon der Literatur- und Sprachdidaktik. 2. Aufl.,<br />

Scriptor, Frankfurt a.M. 1987<br />

Waddell, M.; Firth, B.: Kannst du nicht schlafen, kleiner Bär? Übs. Regina Zwerger, 2.<br />

Aufl., Betz, Wien u. München 1997<br />

Wilpert, G.v.: Sachwörterbuch der Literatur. 7. verbesserte u. erweiterte Aufl., Kröner,<br />

Stuttgart 1989<br />

Zimbardo, P.G.: Psychologie. Hrsg. und bearb. von S. Hoppe-Graff, B. Keller, I. Engel,<br />

6. neu bearb. und erw. Aufl., Springer, Berlin, Heidelberg, New York 1995<br />

84


Anhang<br />

9 Anhang<br />

I.<br />

Wortlaut der Geschichte „Kannst du nicht schlafen, kleiner Bär?“ von Martin Waddell<br />

und Barbara Firth<br />

Es waren einmal zwei Bären. Der große hieß großer Bär, und der kleine hieß kleiner Bär. Den ganzen Tag<br />

über spielten sie draußen im Sonnenschein. Wenn die Sonne unterging und der Abend kam, ging der<br />

große Bär mit dem kleinen Bären nach Hause in die Bärenhöhle. Der große Bär brachte den kleinen Bären<br />

ins Bett, dort, wo die Bärenhöhle ganz dunkel ist. „Schlaf schön, kleiner Bär“, sagte er. Und der kleine<br />

Bär versuchte es. Der große Bär machte es sich im Bärenlehnstuhl gemütlich. Im Schein des Kaminfeuers<br />

las er sein Bärenbuch. Aber der kleine Bär konnte nicht schlafen. „Kannst du nicht schlafen, kleiner Bär?“<br />

fragte der große Bär. Er legte sein Bärenbuch zur Seite (gerade jetzt war es so spannend) und tapste<br />

hinüber zum Bett des kleinen Bären.<br />

„Ich fürchte mich“, sagte der kleine Bär.<br />

„Warum fürchtest du dich, kleiner Bär?“ fragte der große Bär.<br />

„Ich mag die Dunkelheit nicht“, sagte der kleine Bär.<br />

„Was für eine Dunkelheit?“ fragte der große Bär.<br />

„Die Dunkelheit rundherum“, sagte der kleine Bär.<br />

Der große Bär schaute sich um. Da sah er, daß der dunkle Teil der Bärenhöhle wirklich sehr dunkel war.<br />

Er ging zum Laternenschränkchen und nahm die kleinste Laterne, die er finden konnte. Er zündete sie an<br />

und stellte sie dicht ans Bett des kleinen Bären.<br />

„Da hast du ein kleines Licht, damit du dich nicht mehr fürchtest, kleiner Bär“, sagte der große Bär.<br />

„Danke, großer Bär“, sagte der kleine Bär und kuschelte sich in die Kissen.<br />

„Jetzt schlaf schön, kleiner Bär“, sagte der große Bär, tapste zurück zum Bärenlehnstuhl und machte es<br />

sich gemütlich, um im Schein des Kaminfeuers sein Bärenbuch zu lesen. Der kleine Bär versuchte zu<br />

schlafen, aber es ging nicht. „Kannst du nicht schlafen, kleiner Bär?“ fragte der große Bär gähnend. Er<br />

legte sein Bärenbuch zur Seite (es fehlten gerade noch vier Seiten bis zum spannenden Ende) und tapste<br />

hinüber zum Bett.<br />

„Ich fürchte mich“, sagte der kleine Bär.<br />

„Warum fürchtest du dich, kleiner Bär?“<br />

„Ich mag die Dunkelheit nicht“, sagte der kleine Bär.<br />

„Was für eine Dunkelheit?“ fragte der große Bär.<br />

„Die Dunkelheit rundherum“, sagte der kleine Bär.<br />

„Aber ich hab dir doch eine Laterne gebracht!“ sagte der große Bär.<br />

„Ja, aber nur eine ganz kleine“, sagte der kleine Bär, „und die Dunkelheit ist so groß.“<br />

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85


Anhang<br />

Der große Bär schaute sich um und sah, daß der kleine Bär recht hatte. So ging der große Bär zum<br />

Laternenschränkchen und nahm eine größere Laterne heraus. Er zündete sie an und stellte sie neben die<br />

andere. „Jetzt schlaf schön, kleiner Bär“, sagte der große Bär, tapse zurück zum Bärenlehnstuhl und<br />

machte es sich gemütlich, um im Schein des Kaminfeuers sein Bärenbuch zu lesen. Der kleine Bär<br />

versuchte zu schlafen, aber es ging nicht. „Kannst du nicht schlafen, kleiner Bär?“ stöhnte der große Bär,<br />

legte sein Bärenbuch zur Seite (es fehlten nur noch drei Seiten) und tapste hinüber zum Bett.<br />

„Ich fürchte mich“, sagte der kleine Bär.<br />

„Warum fürchtest du dich, kleiner Bär?“ fragte der große Bär.<br />

„Ich mag die Dunkelheit nicht“, sagte der kleine Bär.<br />

„Was für eine Dunkelheit?“ fragte der große Bär.<br />

„Die Dunkelheit rundherum“, sagt der kleine Bär.<br />

„Aber ich hab dir doch zwei Laternen gebracht“, sagte der große Bär. „Eine kleine und eine größere.“<br />

„Viel größer ist die nicht“, sagte der kleine Bär. „Und die Dunkelheit ist immer noch sehr groß.“<br />

Der große Bär dachte nach. Dann ging er zum Laternenschränkchen und nahm die allergrößte Laterne<br />

heraus, die mit den zwei Handgriffen und einem Stückchen Kette zum Aufhängen. Er hängte die Laterne<br />

über das Bett des kleinen Bären.<br />

„Ich hab dir die allergrößte Laterne gebracht, kleiner Bär“, sagte er. „Mit der wirst du dich nicht mehr<br />

fürchten.“<br />

„Danke, großer Bär“, sagte der kleine Bär, kuschelte sich in die Kissen und sah zu, wie die Schatten auf<br />

den Wänden tanzten.<br />

„Jetzt schlaf schön, kleiner Bär“, sagte der große Bär, tapste zurück zum Bärenlehnstuhl und machte es<br />

sich gemütlich, um im Schein des Kaminfeuers sein Bärenbuch zu lesen. Der kleine Bär versuchte es ...<br />

wieder und wieder ..., aber er konnte nicht schlafen. „Kannst du nicht schlafen, kleiner Bär?“ brummte der<br />

große Bär, legte sein Bärenbuch zur Seite (es fehlten noch zwei Seiten) und tapste hinüber zum Bett.<br />

„Ich fürchte mich“, sagte der kleine Bär.<br />

„Warum fürchtest du dich, kleiner Bär?“ fragte der große Bär.<br />

„Ich mag die Dunkelheit nicht“, sagte der kleine Bär.<br />

„Aber ich hab dir die allergrößte Laterne gebracht, und jetzt ist es doch überhaupt nicht mehr dunkel“,<br />

sagte der große Bär.<br />

„O ja, doch“, sagte der kleine Bär, „da - da draußen!“ Und er zeigte zum Ausgang der Bärenhöhle, hinaus<br />

in die Nacht. Da sah der große Bär, daß der kleine Bär recht hatte. Der große Bär war ratlos: Nicht einmal<br />

alle Laternen der Welt hätten diese Dunkelheit erhellen können. Der große Bär dachte lange nach. Dann<br />

sagte er:<br />

„Komm, kleiner Bär.“<br />

„Wohin gehen wir?“ fragte der kleine Bär.<br />

„Hinaus“, sagte der große Bär.<br />

„Hinaus in die Dunkelheit?“ fragte der kleine Bär.<br />

„Ja“, sagte der große Bär.<br />

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86


Anhang<br />

„Aber ich fürchte mich vor der Dunkelheit!“ sagte der kleine Bär.<br />

„Das brauchst du nicht“, sagte der große Bär, und er nahm den kleinen Bären an den Tatzen und führte ihn<br />

aus der Höhle, hinaus in die Nacht. Und es war ... F I N S T E R ! „Huuu! Ich fürchte mich“, sagte der<br />

kleine Bär und drückte sich ganz fest an den großen Bären. Der große Bär nahm den kleinen Bären hoch<br />

und sagte: „Schau dir die Dunkelheit doch an, kleiner Bär.“ Und der kleine Bär schaute. „Ich hab dir den<br />

Mond gebracht, kleiner Bär“, sagte der große Bär. „Den großen leuchtenden Mond und die funkelnden<br />

Sterne.“ Doch der kleine Bär antwortete nicht, denn er war eingeschlafen. Er schlief tief und fest und<br />

geborgen in den Armen des großen Bären. Der große Bär trug den kleinen schlafenden Bären behutsam<br />

zurück in die Bärenhöhle. Der große Bär setzte sich in seinen Bärenlehnstuhl. Mit der einen Tatze hielt er<br />

den kleinen schlafenden Bären, in der anderen sein Bärenbuch. Jetzt war es endlich richtig gemütlich im<br />

warmen Schein des Kaminfeuers. Und der große Bär konnte sein Bärenbuch lesen - bis zum E N D E.<br />

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87


Anhang<br />

II. Paper „Das fröhliche Krankenzimmer e.V.“<br />

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88


Anhang<br />

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89


Anhang<br />

III. Grafik: Modell „Bibliotherapie“ nach Ehrenberger und Sedlak, Phase A, B und C<br />

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90


Anhang<br />

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91

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