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Erste Staatsexamensarbeit ––– 1997 ––– föpäd. net www.foepaed.net Anja Oehme Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer Arbeit für den Literaturunterricht unter Berücksichtigung von Prävention bzw. Abbau von Verhaltensstörungen
- Seite 2 und 3: Hinweise zum Urheber- und Nutzungsr
- Seite 4 und 5: Gliederung www.foepaed.net 4.2.6.1
- Seite 6 und 7: Einleitung Das Lesen unterscheidet
- Seite 8 und 9: Einleitung Kindern und Jugendlichen
- Seite 10 und 11: Darstellung der Bibliotherapie sich
- Seite 12 und 13: Darstellung der Bibliotherapie wach
- Seite 14 und 15: Darstellung der Bibliotherapie nich
- Seite 16 und 17: Darstellung der Bibliotherapie vers
- Seite 18 und 19: Darstellung der Bibliotherapie Prod
- Seite 20 und 21: Darstellung der Bibliotherapie die
- Seite 22 und 23: Darstellung der Bibliotherapie Nebe
- Seite 24 und 25: Darstellung der Bibliotherapie vers
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- Seite 28 und 29: Darstellung der Bibliotherapie 2.3.
- Seite 30 und 31: Darstellung der Bibliotherapie und
- Seite 32 und 33: Verhaltensstörungen und die besond
- Seite 34 und 35: Verhaltensstörungen und die besond
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- Seite 42 und 43: Verhaltensstörungen und die besond
- Seite 44 und 45: Verhaltensstörungen und die besond
- Seite 46 und 47: Verhaltensstörungen und die besond
- Seite 48 und 49: Verhaltensstörungen und die besond
- Seite 50 und 51: Verhaltensstörungen und die besond
Erste Staatsexamensar<strong>bei</strong>t<br />
––– 1997 –––<br />
<strong>föpäd</strong>.<br />
<strong>net</strong><br />
www.foepaed.<strong>net</strong><br />
Anja Oehme<br />
Möglichkeiten und Grenzen<br />
bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong><br />
für den Literaturunterricht unter<br />
Berücksichtigung von Prävention<br />
bzw. Abbau von Verhaltensstörungen
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Quellenangabe für diese Veröffentlichung:<br />
Oehme, Anja: Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> für den<br />
Literaturunterricht unter Berücksichtigung von Prävention bzw. Abbau von<br />
Verhaltensstörungen.<br />
Online im Inter<strong>net</strong>: URL: http://www.foepaed.<strong>net</strong>/volltexte/oehme/bibliotherapie.<strong>pdf</strong>.
Gliederung<br />
Gliederung<br />
1. Einleitung 5<br />
2. Darstellung der Bibliotherapie 9<br />
2.1 Definition 9<br />
2.2 Geschichte 12<br />
2.2.1 Mittelalter und Neuzeit 12<br />
2.2.2 Entwicklungen im 20. Jahrhundert 15<br />
2.2.3 Differenzierung Biblio- und Poesietherapie 17<br />
2.3 Menschenbild - Methoden und Techniken - Anwendungsgebiete 18<br />
2.3.1 Menschenbild und theoretische Grundlagen 19<br />
2.3.2 Methoden und Techniken 24<br />
2.3.3 Anwendungsgebiete 27<br />
2.3.4 Integrative Poesietherapie 28<br />
2.4 Fazit 30<br />
3. Literaturunterricht 32<br />
3.1 Wesen und Ziele des Unterrichts 32<br />
3.2 Ziele des Literaturunterrichts 33<br />
3.3 Kriterien einer Literaturpädagogik 34<br />
3.4 Literaturbegriff 34<br />
3.5 Gegenstand des Literaturunterrichts 35<br />
3.6 Das Lesen in der Schule 36<br />
3.7 Abgrenzung des Unterrichts von Therapie 39<br />
4. Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen<br />
Umgang mit ihnen 41<br />
4.1 Begriffsbestimmung 41<br />
4.2 Definition 42<br />
4.2.1 Definition nach Havers 42<br />
4.2.2 Definition nach Bach 43<br />
4.2.3 Definition nach Speck 44<br />
4.2.4 Fazit 44<br />
4.2.5 Erscheinungsformen und Ursachen von Verhaltensstörungen 45<br />
4.2.6 Prävention und Abbau von Verhaltensstörungen im schulischen<br />
Bereich 47<br />
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3
Gliederung<br />
www.foepaed.<strong>net</strong><br />
4.2.6.1 Prävention 47<br />
4.2.6.2 Abbau von Verhaltensstörungen in der Schule 48<br />
4.2.7 Der Unterricht an der Schule für Kinder mit Verhaltensstörungen 50<br />
4.2.7.1 Besonderheiten der Situation im Unterricht 50<br />
4.2.7.2 Forderungen an Unterricht und Didaktik 51<br />
5. Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld 54<br />
5.1 Gemeinsamkeiten von Literaturunterricht, Bibliotherapie und Unterricht im<br />
Rahmen der Verhaltensgestörtenpädagogik 54<br />
5.2 Erfahrungen in der bibliotherapeutischen <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> 56<br />
5.2.1 Bibliotherapeutische <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern und Jugendlichen 57<br />
5.2.2 Modelle der Bibliotherapie und Biblioprophylaxe nach Ehrenberger<br />
und Sedlak 59<br />
5.2.3 Prinzipien bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern<br />
nach Rhea Joyce Rubin 61<br />
5.2.4 Ilse M. Lehner: Die Verwendung Kinder- und<br />
Jugendliteratur in der Schule 62<br />
5.2.5 Udo Kittler: Unterrichtsplanung „Bibliotherapie“ 63<br />
5.3 Literaturdidaktische Modelle 64<br />
5.3.1 Modell der Rezeptionsästhetik (3-Phasen-Modell) 65<br />
5.3.2 4-Phasen-Modell nach Kreft 66<br />
5.4 Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> für den<br />
Literaturunterricht 67<br />
5.4.1 Möglichkeiten 67<br />
5.4.2 Grenzen 71<br />
5.5 Ein Beispiel bibliotherapeutisch ausgerichteter <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im Literatur- bzw.<br />
Leseunterricht anhand der Geschichte „Kannst du nicht schlafen,<br />
kleiner Bär?“ 72<br />
6. Konsequenzen 77<br />
7. Zusammenfassung 79<br />
8. Literatur 80<br />
9. Anhang 86<br />
I Wortlaut der Geschichte „Kannst du nicht schlafen, kleiner Bär?“<br />
von Martin Waddell und Barbara Firth<br />
II Paper „Das fröhliche Krankenzimmer e.V.“<br />
III Grafik: Modell „Bibliotherapie“ nach Ehrenberger und Sedlak,<br />
Phase A, B und C<br />
4
Einleitung<br />
1 Einleitung<br />
www.foepaed.<strong>net</strong><br />
Wenn sie ein Buch beginnt,<br />
betritt sie durch Säuleneingänge große Innenhöfe.<br />
Michael Ondaatje<br />
Ondaatjes sprachliches Bild im Zitat beschreibt zwei wesentliche Prozesse, die mit uns<br />
geschehen, wenn wir zu lesen beginnen. Sie sind unsere Intention, das bewußte oder<br />
unbewußte Ziel <strong>bei</strong>m Aufschlagen eines (freilich nicht Sach-) Buches. Dennoch bleibt<br />
dieses Ziel manchmal nur ein Wunsch.<br />
Die Heldin „betritt“ einen Ort, indem sie ein Buch aufschlägt. Dieses Betreten steht als<br />
Metapher für eine geistige Bewegung. Nicht im geographischen Sinne findet eine<br />
Positionsänderung statt. Ein Mensch wird geistig aktiv.<br />
Warum geschieht dies? Auch eine Antwort auf diese Frage findet sich.<br />
Der Ort, an den sich die Leserin durch ein Buch verführen läßt, ist für sie neu. Ondaatje<br />
spricht von „große(n) Innenhöfe(n)“ und deutet damit eine Vielzahl an. Es ist nicht<br />
immer der gleiche Ort, an den sich die Leserin begibt. Er ist so verschieden, wie große<br />
Innenhöfe mit Säuleneingängen verschieden sein können. Doch gemein haben sie alle<br />
eine Differenz zum bisherigen Standort(-punkt). Der neue Ort ist zugleich ein weiter,<br />
unbekannter Raum und dennoch nur ein Ausschnitt. Begrenzt durch die Hofmauer und<br />
relativiert durch die vielen anderen Höfe, die es noch zu sehen gäbe.<br />
Der Raum ist ebenso charakterisiert durch ein Geheimnis: Vor dem Säuleneingang<br />
stehend, weiß man nicht, was einem nach dem ersten Schritt erwartet. Langsam nur<br />
erschließt er sich dem Betrachter. 1<br />
Die Differenz der Orte erzeugt Aktivität. In erster Linie wird dies ein Vergleich sein:<br />
Wo gefällt es mir besser? Da, wo ich wirklich bin? Oder da, wo ich im Geiste sein<br />
kann? Das Geheimnis aber ist die Motivation für den Schritt hinein. Für den Schritt<br />
durch den Säuleneingang auf die erste Seite hinter dem Buchdeckel.<br />
Quelle des Eingangszitates: Michael Ondaatje (1997, 105)<br />
1 Mit Rücksicht auf die Lesbarkeit des Textes wird im folgenden für Personenbezeichnungen die<br />
männliche Form gewählt. Sie gelten für Frauen / Mädchen in weiblicher Form.<br />
5
Einleitung<br />
Das Lesen unterscheidet sich von visuellen Medien dadurch, daß es in einem hohen<br />
Maße die Phantasie anregt. Der Leser ist sein eigener Regisseur. Er dreht seinen Film im<br />
Kopf, mit seinen Figuren und seinen unterschiedlichen Akzentsetzungen. Daher ist man<br />
auch oft von einem Film enttäuscht, wenn man das zugrunde liegende Buch bereits<br />
gelesen hat. Dennoch scheint das Lesen im Zuge des kommunikationselektronischen<br />
Fortschritts unmodern geworden zu sein. Audiovisuelle Medien verdrängen das Buch,<br />
so daß es besonderer Mittel bedarf, um nicht nur Kinder- und Jugendliche wieder zum<br />
Lesen zu führen.<br />
„Schock` deine Eltern, lies ein Buch!“ Dieser ironische Satz, auf einem Plakat an der<br />
Tür einer Schulbibliothek zu lesen, wirbt auf eine witzige Art für das Lesen. Der<br />
Werbespruch fordert Kinder und Jugendlichen auf, mit dem Lesen von Büchern gegen<br />
den vermeintlichen gesellschaftlichen Konsens des Nichtlesens und damit auf eine<br />
wirksame Weise gegen die „modernen“ Erwachsenen zu opponieren.<br />
In der Bibliotherapie jedoch existiert eine Psychotherapie, die dem Lesen eine ganz<br />
besondere Bedeutung <strong>bei</strong>mißt und ein weiteres Argument liefert, ihm Aufmerksamkeit<br />
zu widmen. Grundannahme ist, daß die Literatur eine heilkräftige Wirkung in sich trägt<br />
und <strong>bei</strong> der Bewältigung schwerwiegender Lebensereignisse hilfreich sein kann.<br />
Lebenskrisen sind zumeist gekennzeich<strong>net</strong> durch eine scheinbare Ausweglosigkeit.<br />
Deren Überwindung ist eine Voraussetzung für Fortentwicklung. Im Märchen wird dies<br />
vorgeführt. Zu Beginn herrscht oft eine Krise. Die Not ist groß, ein ganzes Land wird<br />
von einem Drachen bedroht, die Königstochter wurde geraubt oder Kinder werden von<br />
zu Hause fortgeschickt. Wird jetzt nicht geholfen, geschieht eine Katastrophe. Immer<br />
jedoch wagt sich ein Mensch vor, zieht in die Ferne, tötet den Drachen. Es scheint, als<br />
bräuchte es eine solche Herausforderung, um versteckte Kräfte und Möglichkeiten<br />
freizusetzen, die sonst brach lägen.<br />
Die Vertreter der Bibliotherapie gehen davon aus, daß solch ein Prozeß der Freisetzung<br />
von Ressourcen durch Literaturrezeption initiiert werden kann. Über eine Identifikation<br />
oder Distanzierung mit Stoff und Inhalt, Personen und Problemen aus der Literatur<br />
können Emotionen freigesetzt und Handlungsmöglichkeiten antizipiert werden. Das<br />
Betreten neuer Räume durch Lektüre, wie es im Eingangszitat geschildert wird, die<br />
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6
Einleitung<br />
Einnahme einer anderen Perspektive regt die Reflexion über die eigene Befindlichkeit<br />
an. Insofern erlangt der Leser Einsicht 2 , vorausgesetzt der Text berührt ihn.<br />
Noch nicht genannt ist da<strong>bei</strong> die horizontvergrößernde und entlastende Funktion von<br />
Literatur. Eigene Leseerfahrungen liefern oft ein beredtes Zeugnis davon, wie tief man<br />
in einen Lesestoff versinken und wie bedingungslos da<strong>bei</strong> einen tristgrauen Sonntag<br />
oder andere Widrigkeiten vergessen kann. Wie oft ist man als Kind in solchen<br />
Situationen mit den Helden Karl Mays durch den Wilden Westen geritten.<br />
Macht man sich diese Potenzen von Literatur bewußt, so ist es um so naheliegender, sie<br />
im pädagogischen Feld hinsichtlich des Gebietes zu betrachten, in dem Kinder und<br />
Jugendliche mit Texten in Berührung kommen. Dies ist im Literaturunterricht der Fall,<br />
der leider oft der einzige Bereich ist, in dem dies geschieht.<br />
In dieser <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> soll der Frage nachgegangen werden, welche Bedeutung Bibliotherapie<br />
für den Literaturunterricht haben kann. Da Unterricht und Psychotherapie nicht<br />
gegeneinander austauschbar sind, soll das Augenmerk auf der Frage liegen, inwieweit es<br />
möglich ist, bibliotherapeutisches Denken in den Unterricht einzubeziehen und nutzbar<br />
zu machen.<br />
Die Ausführungen sollen außerdem den Literaturunterricht an Schulen für<br />
Erziehungshilfe berücksichtigen. Die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen<br />
bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> wird ebenso hinsichtlich der Pädagogik <strong>bei</strong><br />
Verhaltensstörungen betrachtet. Grundlage dafür bildet die Vermutung, daß<br />
bibliotherapeutisch motivierte <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im Literaturunterricht dort dazu <strong>bei</strong>trägt, der<br />
Individualität der Schüler in einem noch größeren Maße gerecht zu werden und so den<br />
Abbau von Verhaltensstörungen zu unterstützen.<br />
Zunächst werden Bibliotherapie, Literaturunterricht und Pädagogik <strong>bei</strong><br />
Verhaltensstörungen ausführlich dargestellt. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass eine<br />
Zusammenschau der Ziele und Inhalte dieser drei Gebiete, wie sie in Kapitel 5 erfolgen<br />
soll, dadurch plastischer wird. Es erfolgt der Versuch alle drei Bereiche miteinander zu<br />
verknüpfen. Da<strong>bei</strong> werden zunächst Erfahrungen in der bibliotherapeutischen <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit<br />
2 Eine Heilung durch Einsicht bezeich<strong>net</strong> im psychologischen Sinne die „Entdeckung von<br />
Zusammenhängen zwischen aktuellen Symptomen und deren vergangenen Ursprüngen“ (Zimbardo<br />
1995, 660).<br />
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7
Einleitung<br />
Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen gesichtet und bibliotherapeutische<br />
Konzepte nach Aussagen zur Vorgehensweise befragt. Anschließend wird auf<br />
literaturdidaktische Modelle eingegangen und die Frage behandelt, ob diese überhaupt<br />
Raum für bibliotherapeutisches Denken bieten.<br />
Zusammenfassend werden Möglichkeiten und Grenzen für ein bibliotherapeutisch<br />
orientiertes Vorgehen im Literaturunterricht und im schulischen Bereich überhaupt<br />
erörtert und Leitgedanken dazu aufgestellt. Den Abschluß bildet ein Beispiel<br />
bibliotherapeutisch ausgerichteter <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> für den Leseunterricht in der Grundschule.<br />
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8
Darstellung der Bibliotherapie<br />
2 Darstellung der Bibliotherapie<br />
2.1 Definition<br />
Den zahlreichen Definitionen von Bibliotherapie wohnt der Grundgedanke inne,<br />
Literatur zur Unterstützung der Therapie in Medizin und Psychiatrie zu verwenden. Sie<br />
sind unterschiedlich weit gefaßt. Zunächst werden die Termini „Bibliotherapie“ und<br />
„Poesietherapie“ synonym verwendet, auf eine Differenzierung soll später noch<br />
eingegangen werden. Dietrich von Engelhardt definiert Bibliotherapie, wie auch Kittler<br />
und Munzel (1987), als Interventionsmöglichkeit <strong>bei</strong> Lebenskrisen und betont deren<br />
Einsetzbarkeit <strong>bei</strong> der Rehabilitation und Prävention:<br />
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„Bibliotherapie heißt Heilung und Beistand durch das Buch. Literarische Texte können die<br />
Therapie unterstützen, können zu einem Instrument der Psychotherapie werden, können<br />
präventiv und rehabilitativ wirken und allgemein eine Hilfe sein, mit Leiden, Krankheit und<br />
Tod, mit Lebensproblemen umzugehen. Auch das eigene Schreiben kann in dieser Hinsicht<br />
hilfreich wirksam werden. Bibliotherapie gehört zur bereits etablierten Musik- und<br />
Maltherapie; wie diese Ansätze entspricht sie dem Menschen als einem Natur- und Geistwesen<br />
und erinnert die Medizin an ihren Doppelcharakter einer naturwissenschaftlichen und<br />
anthropologischen Disziplin wie an ihre zweifache Aufgabe, nicht nur für die Krankheit,<br />
sondern ebenfalls für die Gesundheit zuständig zu sein.“<br />
(v. Engelhardt, 1987, 5)<br />
Da<strong>bei</strong> haben nach Munzel (1985) das Gespräch über die Literatur und die durch sie<br />
ausgelösten Emotionen und Reaktionen für den therapeutischen Prozeß eine besondere<br />
Bedeutung. Es läßt sich präzisieren, daß <strong>bei</strong>des die Bedeutung von Bibliotherapie ist,<br />
nämlich Freisetzung und Bewußtmachung von Gefühlen durch Anregung zum<br />
Gespräch über sie durch Literatur. Arthur Lerner beschreibt Literatur in diesem Sinne<br />
als ein „...eklektisches und begleitendes Phänomen in der therapeutischen Praxis, durch<br />
das jedes herrschende Psychotherapieverfahren ergänzt werden kann“ (1994, 901).<br />
Damit betont er die Hilfsfunktion von Literatur für Therapie, der in dieser Weise nicht<br />
alle Autoren zustimmen. Therapie mit Hilfe von Literatur kann nach Lerner aus<br />
Einzelbehandlung, Gruppentherapie oder aus <strong>bei</strong>dem bestehen.<br />
Hilarion Petzold und Ilse Orth halten die Sprache und besonders die zu einem Text<br />
gestaltete Sprache deshalb für ein geeig<strong>net</strong>es Medium in der Therapie, da es „wie kein<br />
anderes mit dem Wesen des Menschseins verbunden ist“ (1985, 22). In der Tat finden<br />
9
Darstellung der Bibliotherapie<br />
sich sehr frühe Versuche und Praktiken der Heilung durch Sprache, auf die zu einem<br />
späteren Zeitpunkt noch eingegangen werden soll. Als die „Verar<strong>bei</strong>tung mehr oder<br />
minder belastender Erlebnisse und Eindrücke“ durch die Verwendung von Literatur<br />
innerhalb eines therapeutischen Prozesses konkretisieren Ehrenberger und Sedlak den<br />
Ansatz der Bibliotherapie. Weiterhin führen <strong>bei</strong>de den Begriff der „Biblioprophylaxe“<br />
ein, unter dem sie die „vorbeugende Auseinandersetzung mit wichtigen Lebensfragen<br />
durch Einsatz von Lektüre“ (1987, 86) verstehen.<br />
Der Terminus „Bibliotherapie“ ist für Rhea Joyce Rubin zu begrenzt im heutigen<br />
multimedialen Zeitalter. Ihrer Meinung nach haben alle audiovisuellen Medien die<br />
gleichen Potenzen für eine „Selbstentwicklung“ und sollten ebenso eingesetzt werden.<br />
Auch hält sie den Begriff der „Therapie“ für unglücklich gewählt, da sich eine Tendenz<br />
der ungehemmten Vermehrung von als Therapie bezeich<strong>net</strong>en Techniken abzeichne.<br />
Bibliotherapie sei weder eine Psychotherapie noch irgendeine andere. Sie wolle nicht<br />
heilen, vielmehr „im wahrsten Sinne des Wortes `aufklären`“ (1985, 106).<br />
Rubin wählt allerdings keinen anderen Terminus, erweitert aber die Definition und sieht<br />
Bibliotherapie als „Programm für Aktivitäten auf der Basis der Interaktionsprozesse<br />
zwischen den Medien und ihren Konsumenten. Gedrucktes und nichtgedrucktes,<br />
imaginatives und informatives Material wird unter der Mitwirkung eines Therapeuten<br />
erfahren und besprochen“ (Rubin 1978, zit. nach Rubin 1985, 103). Sie unterscheidet<br />
weiterhin drei Formen der Bibliotherapie, da diese in vielen Bereichen Anwendung<br />
findet. Da<strong>bei</strong> klassifiziert sie nach Setting, Leitern, Teilnehmern, Techniken und Zielen<br />
in institutionelle, klinische und entwicklungsfördernde Bibliotherapie.<br />
Die institutionelle Bibliotherapie ist gekennzeich<strong>net</strong> durch den Einsatz von vorwiegend<br />
didaktischer Literatur <strong>bei</strong> stationären Patienten. Rubin zählt auch das Anbieten von<br />
psychohygienischer Literatur für psychisch kranke Menschen dazu, deren Ziel<br />
Information und Wiederherstellung ist. Auch dehnt sich dieser Begriff auf die<br />
Anwendung von Literatur durch niedergelassene Ärzte aus. Diese Form der<br />
Bibliotherapie entstand wohl am Anfang dieses Jahrhunderts aus den Bestrebungen von<br />
kranken Menschen, die über ihre Krankheit informiert werden wollten.<br />
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10
Darstellung der Bibliotherapie<br />
Als klinische Bibliotherapie versteht Rubin „die Verwendung vor allem erzählender<br />
Literatur <strong>bei</strong> Gruppen von Patienten mit emotionalen oder Verhaltensstörungen“ (ebd.,<br />
104). Da<strong>bei</strong> ist die Teilnahme meist freiwillig, in der Regel ar<strong>bei</strong>ten Ärzte und<br />
Bibliothekare zusammen, Einsicht oder gar Verhaltensänderung werden angestrebt.<br />
Die Sitzungen finden in der jeweiligen Institution oder in anderen kommunalen<br />
Einrichtungen statt, <strong>bei</strong>spielsweise in Nachsorgeeinrichtungen für entlassene<br />
Psychiatriepatienten.<br />
Zum Ziel der „gesunden Entwicklung, der Selbstverwirklichung und der Erhaltung der<br />
seelischen Gesundheit“ (ebd.) ar<strong>bei</strong>tet die entwicklungs- oder wachstumsfördernde<br />
Bibliotherapie mit gesunden Teilnehmern. Da<strong>bei</strong> wird imaginative und didaktische<br />
Literatur verwendet, die Gruppen von Vertretern helfender Berufe (Lehrer etc.) betreut.<br />
Ziel ist es, das Klientel zu befähigen, gesellschaftliche Aufgaben und persönliche<br />
Probleme (z.B. Trennung, Tod, Schwangerschaft) besser zu meistern. Zu dieser Form<br />
der Bibliotherapie gehören Schülergruppen, die von Lehrern geleitet werden, Gruppen<br />
von Erwachsenen die auf kommunaler oder privater Ebene durchgeführt werden und<br />
deren Leitung von Bibliothekaren übernommen wird.<br />
Rubin grenzt deutlich die nicht als Bibliotherapie zu wertenden Aktivitäten ab. Dies sind<br />
„eigenmotivierte persönliche Lektüre oder die Interaktion eines Bibliothekars oder<br />
Therapeuten mit einem Leser oder Klienten oder das Konzept der öffentlichen<br />
Bibliotheken als neutrale, beruhigende Zentren“ (ebd.). Sie schätzt jedoch ein, daß alles<br />
das wohl therapeutisch wirken kann. Hier ist anzumerken, daß zwar der private Umgang<br />
mit Literatur und die Angebote der Bibliotheken keine Therapieformen sind, daß Rubin<br />
jedoch die Möglichkeit einer Einzeltherapie oder Einzelar<strong>bei</strong>t im Gegensatz zu Lerner<br />
und anderen Autoren offenbar nicht in Betracht zieht.<br />
Im Rahmen dieser <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> soll der Begriff der Bibliotherapie die Behandlung seelischer<br />
Erkrankungen im Therapiesetting, die Begleitung und Erleichterung von Lebenskrisen<br />
innerhalb und außerhalb einer Therapie und die Prävention von seelischen und<br />
psychosomatischen Erkrankungen sowie Verhaltensstörungen mit Hilfe von<br />
Literaturrezeption umfassen.<br />
Die klinische und die entwicklungs- und wachstumsfördernde Bibliotherapie nach<br />
Rubin entsprechen diesem Konzept. Der Ansatz der entwicklungs- und<br />
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11
Darstellung der Bibliotherapie<br />
wachstumsfördernden Bibliotherapie umschreibt vorgreifend, was im Kapitel 5.1 zur<br />
Prävention von Verhaltensstörungen behandelt werden soll.<br />
2.2 Geschichte<br />
2.2.1 Mittelalter und Neuzeit<br />
Liest man Wilhelm Hauff, in dessen „Wirtshaus im Spessart“ (o.J.) sich die Reisenden<br />
nachts Geschichten erzählen, um Furcht und Schlaf zu vertreiben, läßt man sich von<br />
Rafik Schami (1992) nach Damaskus entführen, dessen „Erzähler der Nacht“ durch ihre<br />
Geschichten ihren Freund Salim von der Stummheit befreien oder blättert man in<br />
Theodor Fontanes Lebensgeschichte, der sich nach dem klugen Rat seines Arztes in<br />
einer schweren Lebenskrise mit Lebenserinnerungen gesund schrieb (Nürnberger 1993,<br />
145-147) - die Zeugnisse einer heilenden oder verhaltensändernden 3 Wirkung gestalteter<br />
Sprache sind so vielfältig wie traditionsreich.<br />
Schon seit Jahrhunderten ist man sich der Macht und Stärke des Wortes bewußt. Es wird<br />
besprochen, wahrgesagt, angerufen, beschworen, gebetet, es werden Ereignisse<br />
her<strong>bei</strong>geführt, gewünscht, abgewendet, erkannt, Mächte beschwichtigt, Fehler und<br />
Sünden gebüßt. Der Möglichkeiten gibt es viele. Als einfachstes Ausdrucksmittel neben<br />
dem Gesang war und ist das Wort immer und überall verfügbar. Eine schlichte<br />
Gutenachtgeschichte wirkt Wunder. Zauber, Segen, Fluch, Bann und Beschwörung<br />
bilden die ursprünglichsten Formen der Machtausübung auf sprachlicher Ebene.<br />
Sprache ermöglicht den verbalen oder ideellen Zugriff auf das Benannte oder führt es<br />
her<strong>bei</strong> 4 , die Benennung führt andererseits zum Verfügen über oder zu einer<br />
Bemächtigung von Dingen. Der Name trägt eine besondere Bedeutung, er ist Omen oder<br />
Fluch. Weiß man Dinge <strong>bei</strong> ihrem Namen zu nennen, so stellt sich eine unmittelbare<br />
Verbindung zwischen dem Benennendem und dem Benannten dar, wie das Märchen<br />
vom Rumpelstilzchen symbolisch zeigt.<br />
3 Man denke an die läuternde Wirkung des Erzählens der „Märchen aus 1001 Nacht“ durch Scherezade.<br />
4 Wie das Sprichwort verdeutlicht: Wenn man vom Teufel spricht, dann ist er nicht weit. Daher darf man<br />
den Teufel auch oft nicht <strong>bei</strong> seinem Namen nennen.<br />
www.foepaed.<strong>net</strong><br />
12
Darstellung der Bibliotherapie<br />
Der Volksaberglaube kennt das Wort „besprechen“, welches bezaubernde,<br />
entzaubernde, und verzaubernde Wirkung hat:<br />
www.foepaed.<strong>net</strong><br />
„Unter b.(esprechen) im Sinne von e n t z a u b e r n [...] versteht man nach antikem wie<br />
christlichem Glauben das Vertreiben eines Dämons, der in einem Menschen, Tiere oder<br />
Gegenstand hausend als die unsichtbare Ursache eines dort vorkommenden oder von dort<br />
ausgehenden Übels angesehen wird.“ (Bächtold-Stäubli 1987, 1158)<br />
Die Bibliotherapie als psychotherapeutisches Verfahren nutzt diese entdämonisierende<br />
Wirkung des Besprechens ebenfalls, wenn auch auf andere Weise.<br />
Besprochen werden in der Frühzeit nicht nur innere und äußere Erkrankungen, Wunden,<br />
Kinderkrankheiten und Unfälle. Auch Dämonen und Feuer können durch das<br />
Besprechen vertrieben werden, Pferde her<strong>bei</strong>gerufen, Waffen am Losgehen gehindert<br />
und nicht zuletzt kann auch die Liebe erzeugt werden (Bächtold-Stäubli 1987). Spruch-<br />
und Segensheiler gehören keineswegs der Vergangenheit an, sondern finden sich auch<br />
heute noch in ländlichen Gebieten. Bächtold-Stäubli nennt als Erklärung der immer<br />
noch weiten Verbreitung des Besprechens dessen suggestive Wirkung, für das das<br />
Fixieren der Aufmerksamkeit und der Glaube an die Heilkraft Voraussetzungen sind.<br />
Das Verfügen über Wort, Sprache und Schrift ist wichtiges Kennzeichen der Macht.<br />
Gegen Fluch und Bann können im Märchen selbst die eigentlichen Machthaber wenig<br />
ausrichten und auch heute noch bezeich<strong>net</strong> der Begriff „Wortführer“ das Maß des<br />
Einflusses. Weiterhin führen Petzold und Orth das aristotelische Konzept der Katharsis<br />
an, welches <strong>bei</strong>nhaltet, daß der Mensch „durch eine Verwandlung oder Läuterung seiner<br />
Gefühle sein inneres Gleichgewicht wiederfinden kann“ (1985, 24 f.). Allerdings wirken<br />
hier nicht nur Sprache und deren Gestaltung, sondern auch die dramatische Darstellung<br />
einer Handlung auf der Bühne läuternd. Als weiteren wichtigen Aspekt gestalteter<br />
Sprache führen die Autoren die literarische Gattung der Trostschriften an.<br />
Ergänzt werden muß hier ebenfalls die Erbauungsliteratur, die vorwiegend im<br />
christlichen Altertum, Mittelalter und Barock Verbreitung fand. Diese umfaßt neben<br />
sogenannten Seelengärtlein, Trost- und Sterbebüchlein auch religiöse Literatur wie<br />
Gebetbüchlein, Andachtsbücher und Heiligenlegenden, die Anweisungen zu einem<br />
rechten christlichen Leben geben sollten, eine innere Religiosität pflegen und damit<br />
13
Darstellung der Bibliotherapie<br />
nicht nur den Glauben, sondern ebenfalls den Leser stärken und trösten (vgl. Wilpert<br />
1989).<br />
Die meisten Versuche des Einsatzes von Literatur zur Heilung finden sich in der <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong><br />
mit psychisch kranken Menschen und in Krankenhäusern überhaupt. Rubin erwähnt<br />
zunächst die Griechen und Römer, die ihre Bibliotheken „als Arsenale der<br />
`Seelenmedizin´“ (1985, 107) betrachteten bzw. das Lesen großer Reden für<br />
gesundheitsfördernd hielten. Das älteste Zeugnis einer bibliotherapeutischen <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong><br />
stammt aus dem Al-Mansur Hospital in Kairo, dessen medizinische Behandlungen<br />
schon 1272 durch Lesungen des Korans unterstützt wurden. Auch in Bibliotheken von<br />
Gefängnissen und Psychiatrien war religiöse Literatur deren Hauptbestandteil, es sollten<br />
religiöse Inhalte vermittelt werden (vgl. Rubin 1985, Engelhardt 1987). Offenbar sprach<br />
man dieser eine läuternde Funktion zu. Wie Engelhardt feststellt, wurde „<strong>bei</strong><br />
Operationen [...] während des Mittelalters und noch nach Beginn der Neuzeit aus den<br />
Evangelien oder Märtyrerlegenden vorgelesen. In Badekuren, <strong>bei</strong> Aderlässen und der<br />
Behandlung psychischer Erkrankungen werden literarische Werke von Ärzten zur<br />
Unterstützung herangezogen“ (1987, 10). Diese anästhesierende Wirkung tritt mit<br />
zunehmendem medizinischen Fortschritt in den Hintergrund.<br />
Ein bedeutender Schritt für Biblio- und Poesietherapie war die Humanisierung der<br />
Behandlung von psychisch kranken Menschen, die in Europa gegen Ende des 18.<br />
Jahrhunderts mit der Bewegung der Philanthropen einsetzte (vgl. Rubin 1985). Mit<br />
dieser wurde neben anderen rekreativen Maßnahmen auch das Lesen in Anstalten<br />
eingeführt. Wenig später setzten sich diese Reformen auch in Amerika durch. Dort<br />
empfahl Benjamin Rush als erster das Lesen und das eigene Schreiben zur Heilung von<br />
körperlich und seelisch Kranken (vgl. ebd.). Schon 1853 veröffentlichte der Amerikaner<br />
John Minson Galt <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong>en über die heilende und unterstützende Wirkung von Literatur.<br />
Darin werden nicht nur unterschiedliche Patiententypen betrachtet, sondern ebenfalls<br />
verschiedene Textarten. Als Funktionen der Literatur hält er fest: „Ablenkung von<br />
krankhaften Gedanken, Zeitvertreib und Aufheiterung, Information, Demonstration des<br />
Anstaltsinteresses am Wohlergehen des Patienten, Verbesserung der<br />
Therapiebereitschaft“ (Galt 1853, zit. in Engelhardt 1987, 17).<br />
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14
Darstellung der Bibliotherapie<br />
Dem Pfarrer Samuel McCord Crothers (1906, zit. ebd., 18) wird die Bezeichnung<br />
„Bibliotherapie“ zugeschrieben, er entwickelte ein Programm der Nutzung von Literatur<br />
<strong>bei</strong> physischen und psychischen Störungen. Da<strong>bei</strong> traf er keine Vorauswahl der<br />
Literatur, vielmehr sollte der emotionale Zugang der Patienten, der sich auf Aktivität,<br />
Passivität und Stimmung auswirkt, ausschlaggebend sein.<br />
2.2.2 Entwicklungen im 20. Jahrhundert<br />
Nach einer Blütezeit der Bibliotherapie Mitte des 19. Jahrhunderts erhält diese in der 1.<br />
Hälfte des 20. Jahrhunderts einen erneuten Aufschwung.<br />
Während des 1. Weltkrieges erfahren die bibliotherapeutischen Bestrebungen eine<br />
traurige Bestätigung ihres Nutzens, da sowohl amerikanische, als auch englische<br />
Lazarette gezielt mit Büchern versorgt werden und deutlich wird, daß Bücher<br />
Verwundeten eine große Hilfe sein können (vgl. Engelhardt 1987). Nach dem Krieg<br />
werden diese Initiativen in Zivilkrankenhäusern fortgesetzt. In verschiedenen Ländern<br />
richtet man Fortbildungskurse für Bibliothekare ein, baut Patientenbibliotheken auf,<br />
führt internationale Kongresse für Krankenhausbibliotheken durch (1936 Paris, 1938<br />
Bern). Bibliographien mit Literaturempfehlungen werden herausgegeben, die „für die<br />
moralische und psychische Entwicklung von Kindern für sinnvoll gehalten werden“,<br />
ferner entstehen ebensolche für Kranke bzw. mit Hinweisen über die Verwendung <strong>bei</strong><br />
„spezifischen Situationen, Ereignissen und emotionalen Bedürfnissen“ (ebd., 19 f.).<br />
Die 30er Jahre stellen die Hochzeit der Biblio- und Poesietherapie dar. In den folgenden<br />
Jahren gründen sich bibliotherapeutische Vereinigungen, werden Workshops angeboten<br />
und Forschungsprojekte durchgeführt.<br />
Aus den USA hat die Untersuchung von W. Menninger (1937, zit. in Petzold / Orth<br />
1985) in seiner Menninger-Klinik hat eine besondere Bedeutung, da sie die erste<br />
empirische Studie ist, die über den Nutzen der Bibliotherapie Aussagen treffen soll.<br />
Weiterhin legt die Dissertation von Caroline Shrodes (1949, zit. ebd.) den theoretischen<br />
Grundstein für die heutige Bibliotherapie. Der Ansatz von Shrodes wurde von<br />
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15
Darstellung der Bibliotherapie<br />
verschiedenen Autoren weiterentwickelt. Bedeutende Veröffentlichungen stammen von<br />
Jack J. Leedy (1969) und R.J. Rubin (1978).<br />
In der DDR wurde 5 , von der sowjetischen Forschung beeinflußt, besonders die Wirkung<br />
von Literatur <strong>bei</strong> der Krankenbetreuung untersucht. Es finden sich Ansätze in der<br />
Zusammenar<strong>bei</strong>t von Bibliotheks- und Gesundheitswesen zur Verbesserung der<br />
Ausstattung von Patientenbibliotheken. Dazu veröffentlichte der Bibliotheksverband der<br />
DDR eine Auswahlbibliographie (1977) bibliotherapeutisch nutzbarer Texte. Die <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong><br />
von Hans-Jürgen Leonhardt (1989) beschäftigt sich mit der Anwendung von<br />
Bibliotherapie in der <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Kittler und<br />
Munzel (1987) zitieren weiterhin die Untersuchung von Dorthee Kleber aus dem Jahr<br />
1983 6 , die Bibliotherapie in der Therapie von psychisch kranken Menschen einsetzt.<br />
Neben der kulturellen Entwicklung nicht nur des gesunden Menschen nahmen in der<br />
DDR Überlegungen zur ideologischen Beeinflussung durch Literatur einen breiten<br />
Raum ein.<br />
In der Bundesrepublik Deutschland 7 haben sich besonders Euler, Peseschkian, Kittler<br />
und Munzel, Petzold und Engelhardt mit der Nutzbarmachung von Literatur zu<br />
Heilungszwecken beschäftigt 8 . Euler setzte schon seit 1958 in der Krankenhausseelsorge<br />
gezielt Lektüre als Therapeutikum ein. Peseschkian verwendet orientalische<br />
Geschichten in der Behandlung psychisch gestörter Erwachsener. Kittler und Munzel<br />
versuchen, Texte verschiedenen Krisenbereichen zuzuordnen. Hilarion Petzold und Ilse<br />
Orth ar<strong>bei</strong>ten am Fritz-Perls-Institut bibliotherapeutisch vorwiegend mit alten und<br />
psychisch kranken Menschen. Engelhardt widmet seine Aufmerksamkeit hauptsächlich<br />
der historischen Entwicklung der Bibliotherapie.<br />
Zu den praktischen Erprobungen der Bibliotherapie gehört der Modellversuch vom<br />
Deutschen Ärztinnenbund e.V. „Das fröhliche Krankenzimmer e.V.“, der seit 1981 an<br />
der Universitätskinderklinik München durchgeführt wird. Aus der Erkenntnis heraus,<br />
daß fröhliche Kinder schneller gesund werden, wurden Bücher als „magische Medizin“<br />
5 Vgl. im Folgenden Kittler / Munzel 1987.<br />
6 Die genauen Quellenangaben fehlen <strong>bei</strong> Kittler / Munzel.<br />
7 Vgl. im Folgenden Kittler / Munzel 1987, genaue Quellenangaben fehlen.<br />
8 Siehe auch spätere Ausführungen.<br />
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16
Darstellung der Bibliotherapie<br />
eingesetzt. Als deutlich wurde, daß eine herkömmliche Ausleihe von Büchern nicht die<br />
gewünschte heilende Wirkung zeigte, begann man damit, die Lektüre unter<br />
literaturpädagogischen Gesichtspunkten auszuwählen, Gespräche anzubieten und<br />
Zuwendung in den Mittelpunkt der seelischen Betreuung der Kinder zu stellen. 9<br />
Eine Systematisierung und Koordinierung dieser zahlreichen Ansätze scheint jedoch zu<br />
fehlen. 10<br />
2.2.3 Differenzierung Biblio- und Poesietherapie<br />
An dieser Stelle soll kurz auf den Begriff und Ansatz der Poesietherapie anhand der<br />
Ausführungen Petzold und Orth (1985) eingegangen werden, da sich häufig<br />
unterschiedliche Verwendungen <strong>bei</strong>der Begriffe finden.<br />
Petzold und Orth treffen zunächst keine Unterscheidung und verwenden nur den Begriff<br />
der Poesietherapie 11 , die „Heilung durch gestaltetes Wort“ (ebd. 22) schafft.<br />
Erst später differenzieren sie zwischen Biblio- und Poesietherapie. Da<strong>bei</strong> meint<br />
Bibliotherapie das Rezipieren von Texten und Poesietherapie das Verfassen von eigenen<br />
Texten mit dem Ziel des Selbstausdrucks.<br />
Die Poesietherapie hat Gemeinsamkeiten mit Ansätzen dramatischer Therapie, wie der<br />
des Psychodramas von Moreno (1946, zit. ebd.). Ein weiterer Ansatz, der Literatur für<br />
die Therapie verwendet und von Petzold und Orth als Vorläufer der Poesietherapie<br />
gewertet wird, ist das „Therapeutische Theater“ des russischen Mediziners,<br />
Psychologen und Philosophen Vladimir N. Iljine (1942, zit. ebd.). Dieser schrieb zu<br />
Beginn dieses Jahrhunderts Rahmenstücke für seine Patienten, in die deren Konflikte<br />
eingear<strong>bei</strong>tet wurden. Später sollten die Patienten ihre eigenen Stücke schreiben.<br />
Hintergrund dieser Formen von Therapie ist das Ziel, durch eigene Aktivität und<br />
9<br />
Vgl. Paper „Das Fröhliche Krankenzimmer e.V.“ im Anhang.<br />
10<br />
Weitere Angaben zu einzelnen Veröffentlichungen zum Thema und zu Organisationen, <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong>skreisen<br />
etc.<br />
finden sich <strong>bei</strong> Engelhardt (1987, 20 - 23) und Rubin (1985, 108), Hinweise zur Ausbildung und zu<br />
Kursen<br />
<strong>bei</strong> Petzold und Orth (1985, 413 ff.) und Lerner (1995, 903 f.).<br />
11<br />
Vgl. auch Lerner (1994), der einheitlich von Poesietherapie spricht.<br />
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17
Darstellung der Bibliotherapie<br />
Produktion der Patienten Gefühle freizusetzen, die vorher nicht zum Ausdruck gebracht<br />
werden konnten.<br />
In der Mitte der 60er Jahre wurde die Theorie Iljines durch seinen Schüler Petzold<br />
vertieft und fortan ganze Therapiesequenzen mit Hilfe von Poesie gestaltet.<br />
Die Poesietherapie in diesem Sinne hat ebenfalls Vorläufer <strong>bei</strong> der Behandlung<br />
psychisch kranker Menschen. So wurde schon im vorigen Jahrhundert in psychiatrische<br />
Kliniken mit der sprachlichen Gestaltung gear<strong>bei</strong>tet. Einen wichtigen Beitrag zu<br />
modernen Poesietherapie leistete, so betonen Petzold und Orth, Eli Greifer (1963, zit.<br />
ebd.). Er ar<strong>bei</strong>tete mit retardierten Kindern und in Werkstätten in Poesiegruppen. Sein<br />
Werk wurde von Jack Leedy fortgesetzt, der Behandlungen mit Hilfe von Poesie in<br />
Kliniken durchführte. So gehört die Poesietherapie heute zu den anerkannten<br />
„expressive therapies“, es liegen Erfahrungsberichte aus verschiedenen Bereichen vor.<br />
Später unterscheiden Petzold und Orth die Ansätze der Poesietherapie in einen<br />
rezeptiven und einen produktiven. Der rezeptive Ansatz entspricht dem oben<br />
verwendeten Terminus „Bibliotherapie“. Er geht davon aus, daß die Klienten Gedichte<br />
lesen oder vorgelesen bekommen. Da<strong>bei</strong> erzeugt der Text Emotionen, über die sich im<br />
anschließenden Gespräch ausgetauscht wird. Die produktive Ansatz ist gleichzusetzen<br />
mit dem Begriff „Poesietherapie“ und verfolgt das Ziel, über den schöpferischen<br />
Ausdruck mittels eines selbstverfertigten Textes ebenfalls Gefühle hervorzurufen. Diese<br />
werden wiederum zur Vermittlung von Einsicht im therapeutischen Gespräch<br />
verwendet. Die Autoren entwerfen ferner einen integrativen Ansatz der Poesietherapie,<br />
auf den im Kapitel 2.3.4 eingegangen wird.<br />
2.3 Menschenbild - Methoden und Techniken - Anwendungsgebiete<br />
Oben wurde dargelegt, daß in der Verwendung der Begrifflichkeit Unterschiede<br />
bestehen. An dieser Stelle soll festgelegt werden, daß in dieser <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> der Terminus<br />
„Bibliotherapie“ für das Rezipieren von Texten verwendet wird. Der Begriff<br />
„Poesietherapie“ soll als Ausdruck für den produktiven Ansatz dieser <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> zugrunde<br />
liegen. Beide haben zum Teil die gleichen theoretischen Grundlagen, was nicht<br />
gesondert dargestellt werden soll. Der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen liegt<br />
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18
Darstellung der Bibliotherapie<br />
auf der Bibliotherapie, wo<strong>bei</strong> jedoch, durch die Nähe <strong>bei</strong>der Formen begründet, auch auf<br />
die Poesietherapie eingegangen wird.<br />
Zunächst sollen anhand der Ausführungen von Petzold und Orth (1985) grundlegende<br />
Konzepte des Menschenbildes dargestellt, im Folgenden auf Methoden und Techniken<br />
eingegangen und schließlich Anwendungsgebiete betrachtet werden. Den Abschluß<br />
bilden kurze Betrachtungen zum Integrativen Ansatz.<br />
Es muß betont werden, daß die Grenzen der theoretischen Darstellung der Therapieform<br />
darin liegen, daß in der Regel nur Erfahrungsberichte und keine empirisch gesicherten<br />
Aussagen vorliegen. Auch finden sich nach Petzold und Orth keine systematisierten<br />
Aussagen zum Verfahren, keine Persönlichkeitstheorie oder Neurosenlehre. Im Kapitel<br />
5.2.1 werden einzelne Versuche einer Systematisierung vertiefend dargestellt.<br />
2.3.1 Menschenbild und theoretische Grundlagen<br />
Therapie, gleich welcher Art, ist Geschehen zwischen Menschen. Dieses vollzieht sich<br />
in einer Gruppe oder zwischen zwei Personen in der Einzeltherapie. Die Frage nach dem<br />
Konzept einer Therapie schließt folglich immer die nach den Grundannahmen über<br />
menschliches Sein, über das Wesen des Menschen ein.<br />
Biblio- und Poesietherapie ar<strong>bei</strong>ten mit einem Medium, der gestalteten Sprache, das<br />
zwischen den Klienten und Therapeuten tritt. Dieses Medium wird als Projektionsfläche<br />
verwendet, auf der die Befindlichkeit des Patienten erscheint. In der Poesietherapie<br />
durch den gestaltet-sprachlichen und damit poetischen Selbstausdruck. Im<br />
bibliotherapeutischen Verfahren durch den Ausdruck von Emotionen, die durch<br />
gelesene Literatur freigesetzt werden sollen. Beides setzt eine enge Beziehung des<br />
Patienten zur Sprache voraus, die Fähigkeit des Verstehens, des Umgangs mit ihr, der<br />
Deutung und Verwendung von sprachlichen Bildern, des In-Beziehung-Tretens 12 . Auch<br />
erfordert die Gestaltung von Sprache eine Verbildlichung und Verdichtung und damit<br />
12 Dies deshalb, weil das Ich bereit ist, <strong>bei</strong>m Lesen zu dem Autor in Beziehung zu treten. Das Schreiben<br />
ist auf die Rezeption durch ein anderes Ich angelegt, und sei es auch „nur“ das eigene Ich, das plötzlich<br />
von außen schauen kann.<br />
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19
Darstellung der Bibliotherapie<br />
die Umwandlung von Emotion in Text oder umgekehrt das Zulassen von Gefühlen, die<br />
durch Text erzeugt werden.<br />
Voraussetzung dafür ist das Vorhandensein von Emotionen. Das ist immer der Fall, nur<br />
der Ausdruck dieser ist meist verschüttet oder behindert und muß neu gewonnen<br />
werden. Petzold und Orth (1985, 31 f.) unterscheiden vier Annahmen über das Wesen<br />
menschlichen Daseins, die für Biblio- und Poesietherapie grundlegend sind:<br />
1. der Mensch ist seinem Wesen nach schöpferisch<br />
2. sein Leben vollzieht sich aus dem Dialog heraus<br />
3. gestalteter sprachlicher Ausdruck ist eine Grundeigenschaft des menschlichen<br />
Wesens und Teil seiner Entwicklung<br />
4. das emotionale Leben des Menschen ist zentral für seine Gesundheit<br />
Diese vier Aspekte sind eng miteinander verbunden. Sprachlicher Ausdruck schafft<br />
nicht nur einen Dialog und damit Kommunikation, sondern ist gleichzeitig ein kreativer<br />
Prozeß. Durch Poesie oder gestaltete Sprache, neben anderen kreativen Formen wie<br />
Tanz etc., findet die schöpferische Kraft des Menschen ihren Ausdruck. Sprache wird<br />
ebenso als die tiefste Ausdrucksform angesehen, über die der Mensch verfügt, um seine<br />
Emotionen freizusetzen. Kommunikation und Emotionen beeinflussen sich<br />
wechselseitig. Mit Petzold und Orth läßt sich zusammenfassen, daß „Emotionalität,<br />
Kreativität und Kommunikation sowie die Fähigkeit zur Symbolisierung [...] als<br />
anthropologische Grundkonzepte“ (1985, 33) verwendet werden. Diese sind für die<br />
Konstitution von Sinn, Selbstfindung und Selbstverwirklichung des einzelnen<br />
Menschen bedeutsam. In der Umkehrung dessen ist Sprache also in der Lage, durch<br />
Vorstellungs- und Begriffsbildung, durch In-Beziehung-Setzen Sinn zu konstituieren<br />
und zu erhalten. Wie gravierend der Sinnverlust in der heutigen Zeit ist, beschreibt<br />
Viktor E. Frankl mit den Worten:<br />
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„Denn die Massenneurose von heute ist charakterisiert durch ein weltweit um sich greifendes<br />
Sinnlosigkeitsgefühl. Heute ist der Mensch nicht mehr so sehr wie zur Zeit Sigmund Freuds<br />
sexuell, sondern existentiell frustriert. Und heute leidet er weniger als zur Zeit von Alfred Adler<br />
an einem Minderwertigkeitsgefühl, sondern an einem Sinnlosigkeitsgefühl, das mit einem<br />
Leeregefühl einhergeht, mit einem existentiellen Vakuum.“ (Frankl, 1975/1990<br />
20
Darstellung der Bibliotherapie<br />
Im Rückgriff auf die anthropologischen Grundlinien der Biblio- und Poesietherapie<br />
formulieren Petzold und Orth folgende theoretische Grundlagen.<br />
Der Poesie wohnt eine besondere Kraft inne. Gestaltete Sprache ist einerseits dem<br />
Wesen des Menschen entwicklungsgesetzlich verbunden und damit andererseits in der<br />
Lage, Emotionen als zentrale Bestandteile menschlichen Seins zu erzeugen. Dieser<br />
Prozeß wird mit dem kathartischen Effekt in der griechischen Tragödie verglichen, der<br />
über das Hervorrufen von Emotionen wie Mitleid, Jammer oder Schauder Reinigung<br />
von diesen Leidenschaften bzw. Läuterung erzielt. Da Poesie also am Innersten des<br />
Menschen zu rühren vermag, liegt die Annahme nahe, daß auch unbewußte Anteile ins<br />
Schwingen gebracht und zutage gefördert werden können. Nach Petzold und Orth geht<br />
damit der Gewinn von Sinn einher, dessen Verlust sowohl zu Entfremdung von der<br />
Umwelt und sich selbst, als auch zur Desintegration führt.<br />
Die Möglichkeit der Projektion, d.h. hier der Übertragung von unbewußten Anteilen in<br />
sprachliche Bilder, scheint <strong>bei</strong> der Poesietherapie größer zu sein. Doch liegen <strong>bei</strong>m<br />
Prozeß der Rezeption von Texten in der Bibliotherapie durch die Teilnahme an<br />
Erkenntnis- und Problemlöseprozessen des Autors bzw. Protagonisten die Potenzen in<br />
der Einsicht in relevante und ggf. unbewußte Themen des eigenen Lebens. Ein<br />
Wiedererleben kann stattfinden und die damit verbundenen Emotionen können befreit<br />
und ausgedrückt werden.<br />
Als weiteren Aspekt führen die Autoren die Vermittlung von Einsicht an: durch<br />
sprachlichen Ausdruck und kathartischen Effekt wird die Wahrnehmungsfähigkeit<br />
verstärkt, der Leser ist in der Lage, für sich bedeutungsvolle Aussagen herauszugreifen<br />
und so emotionale Erfahrung mit Erkenntnissen zu verbinden. Durch das Phänomen des<br />
Angesprochenseins durch den Text wird die Deutung nicht durch den Therapeuten<br />
angeboten, sondern vom Klienten selbst vorgenommen. Weiterhin verhindert die<br />
Symbolsprache im Text, daß die Widerstände des Klienten übergangen werden, denn<br />
dieser sucht sich das ihm entsprechende, für ihn geltende Symbol heraus und wird nicht<br />
gezwungen, einen Sinn zu erkennen. Um so mehr wird es in der Poesietherapie<br />
bedeutsam für den Therapeuten, mit dem Klienten in wirkliche Kommunikation zu<br />
treten.<br />
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21
Darstellung der Bibliotherapie<br />
Neben diesen tiefenpsychologisch orientierten Aspekten von Biblio- und Poesietherapie<br />
betonen die Autoren den Aspekt der Selbstverwirklichung wie er in der humanistischen<br />
Psychologie zu finden ist. So besitzt die Literatur die Kraft, Menschen <strong>bei</strong> der Suche<br />
nach Selbstverständnis zu unterstützen, was nicht zuletzt darin begründet liegt, daß<br />
Literatur oft allgemeinmenschliche Konflikte beschreibt.<br />
Letztlich kann also Poesie- und Bibliotherapie „...zu dem Ergebnis einer<br />
Wiederbelebung und Stärkung des Selbst führen, indem es ihm ein ganzheitliches<br />
Bewußtsein ermöglicht - eine Integration von Emotion, Kognition und Bildwelt - , durch<br />
das persönlicher Sinn erhalten und gefunden werden kann“ (Stainbrook 1978, zit. in<br />
Petzold / Orth 1985, 36).<br />
Rhea Joyce Rubin (1985) führt die Theorie von Caroline Shrodes aus dem Jahr 1950 13<br />
als psychologische Basis der Bibliotherapie an. Shrodes verstehe die menschliche<br />
Reaktion auf Literatur als einen Prozeß der Eingliederung von Literatur in die<br />
Erfahrungswelt des Individuums durch Symbolisierung. Da<strong>bei</strong> können gefühlsmäßige<br />
Anteile der Literatur zu Symbolen eigener Erlebnisse, Gefühle, Stimmungen werden.<br />
Damit ist offenbar der Prozeß gemeint, den man sonst diffuser mit „der Text spricht<br />
mich an“ umschreibt. Durch diese Nähe von Wirklichkeit und Symbol rufe dieses die<br />
gleichen Affektreaktionen hervor. Es spiegele Aggressionen, Angst und Frustrationen<br />
aber auch positive Emotionen wider und sei mit dem tatsächliche Erlebnis austauschbar.<br />
So treten Leser und Text in Kommunikation, ihre Spannungszustände korrespondieren.<br />
Weiterhin entspräche die Erfahrung und Integration von Literatur den wichtigsten<br />
Phasen der Psychotherapie: der Identifikation, Projektion, Abreaktion, Katharsis und<br />
Einsicht. Mit Shrodes beschreibt Rubin diese Schritte, deren Reihenfolge nicht<br />
zwingend ist und die keineswegs immer <strong>bei</strong> der Lektüre eines Buches stattfinden, wie<br />
folgt:<br />
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„Identifikation schließt Affekte zu einem der Charaktere, Übereinstimmung bzw. Kritik an<br />
dessen Ansichten, Anteilnahme an seinem Schicksal ein. Projektion meint die Interpretation der<br />
Beziehungen und Motive der Charaktere, Rückschlüsse auf die Intentionen des Autors,<br />
Erklärungen der Zusammenhänge auf dem Hintergrund der eigenen Philosophie und die<br />
Überlagerung der Geschichte mit der eigenen Person. Die Katharsis kann die Form<br />
verbalisierter Emotion oder Aggression, früher Erinnerungen oder der Übertragung annehmen.<br />
13 Engelhardt (19 85) und Petzold & Orth (1985) geben für die Dissertation Shrodes` das Jahr 1949 an.<br />
22
Darstellung der Bibliotherapie<br />
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Einsicht ist in der Regel das Ziel der Bibliotherapie. Sie umfaßt Selbsterkenntnis, Verständnis,<br />
Toleranz und das Akzeptieren anderer, Motivationsanalysen, Inkorporation neuer Inhalte und<br />
die Integration dieser gelernten Inhalte in das eigene Selbst.“<br />
(Rubin 1985, 111f.)<br />
Emotionalität, Reflexivität, Fähigkeit zur Selbsterkenntnis, Akzeptanz und Aktivität<br />
bzw. Veränderungsfähigkeit aufgrund von Einsicht bestimmen also Shrodes<br />
Grundannahmen über menschliches Dasein.<br />
2.3.2 Methoden und Techniken<br />
Wie oben schon angeführt, kann Bibliotherapie in der Gruppen- oder Einzelsituation<br />
durchgeführt werden.<br />
Da<strong>bei</strong> steht in der Einzeltherapie die Beziehung zwischen dem Patienten und dem<br />
Therapeuten im Mittelpunkt, durch das Medium Text vermittelt. In der Gruppentherapie<br />
erlangen gruppendynamische Prozesse eine Bedeutung. Eine Verbindung <strong>bei</strong>der<br />
Therapieformen scheint günstig zu sein, da sie den verschiedenen Seiten des Menschen<br />
eher gerecht wird (vgl. Petzold / Orth 1985). So werden Individualität und Kollektivität<br />
des Klienten wechselweise angesprochen.<br />
Die Art der Durchführung und der Erfolg hängen auch davon ab, ob Biblio- oder<br />
Poesietherapie als Hilfs- und Ergänzungsmethode zu psychotherapeutischen Verfahren<br />
oder als eigenständige Methode angewendet werden, sie richten sich nach dem Setting<br />
und den theoretischen Hintergründen der Therapeuten. Dazu treten<br />
krankheitsspezifische Unterschiede der Klienten, wie die Einnahme von<br />
Psychopharmaka, die <strong>bei</strong>spielsweise die <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit psychotischen Patienten erschweren<br />
können oder ganz und gar unmöglich machen.<br />
Das methodische Vorgehen wird vom gewählten Ansatz bestimmt. Bei biblio-<br />
therapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> steht im Gegensatz zur Poesietherapie der Therapeut stärker im<br />
Blick, da er zunächst die Auswahl der Literatur vornimmt.<br />
Er sollte nach dem Vorschlag Leedys da<strong>bei</strong> nach dem ISO-Prinzip verfahren (vgl. ebd.).<br />
Das ist der Musiktherapie entlehnt und bedeutet, daß das Medium der Kommunikation<br />
in seiner Charakeristik mit der des Patienten übereinstimmen sollte. Das Sich-<br />
23
Darstellung der Bibliotherapie<br />
verstanden-Fühlen ist also erster Anlaß zur Auseinandersetzung mit dem Text. Dieser<br />
sollte jedoch nicht so gewählt werden, daß er in negativer Grundstimmung verbleibt,<br />
sondern Auswege zeige und ggf. Hoffnungen wecke, da sich sonst destruktive<br />
Tendenzen verstärken.<br />
Reaktionen von Patienten auf Texte sind dennoch unterschiedlich und offenbar von<br />
ihrem Krankheitsbild abhängig ist. Auch wird z.T. eine Selbstauswahl der Literatur<br />
durch die Patienten in Betracht gezogen, wie sie <strong>bei</strong>spielsweise in<br />
Krankenhausbibliotheken ohnehin stattfindet.<br />
In der Literatur finden sich Werke, die versuchen, Geschichten bestimmten<br />
Problemkreisen, wie Krankheit, Tod und Sterben, Alleinsein etc. zuzuordnen. Während<br />
Kittler und Munzel (1989 u. 1994) und Elisabeth Lukas (1996) Geschichten für<br />
Erwachsene zusammenstellen, schreibt Gerlinde Ortner (1995 u. 1996)<br />
bibliotherapeutisch orientierte Kindergeschichten. Den in verschiedenen Werken<br />
dargelegten Fall<strong>bei</strong>spielen war zu entnehmen, daß sich sowohl in der Einzel- als auch in<br />
der Gruppentherapie an das Lesen der Texte, das zu Hause oder während der<br />
Therapiesitzung geschehen kann, das therapeutische Gespräch anschließt. In diesem<br />
werden die emotionalen Reaktionen der Teilnehmenden auf den Text besprochen.<br />
Abhängend vom Ansatz und der Kreativität des Therapeuten werden verschiedene<br />
Methoden und Techniken eingesetzt, die in der Literatur nicht näher dargelegt sind. In<br />
einer psychoanalytisch orientierten Therapie wird so der Augenmerk auf Beziehungen<br />
zum Unbewußten liegen, in der Gestalttherapie auf der zwischen `Hier und Jetzt` und<br />
`Dort und Damals` usw. .<br />
Literarische Texte und besonders Gedichte werden nicht nur als eine Möglichkeit<br />
gesehen, die Gefühle zu erinnern bzw. auszuleben, sie zu „überdenken“ und zu<br />
objektivieren und so zu einer Katharsis zu gelangen. Sie regen ebenfalls zu einem<br />
Gespräch an, welches in der Gruppentherapie den Zusammenhalt fördert und<br />
ermöglichen es dem Einzelnen „im Schutz des Gedichtes“ (Petzold und Orth 1985, 38)<br />
über sich selbst zu sprechen.<br />
Die durch Literatur in Bewegung gebrachten heilenden Prozesse fassen Ehrenberger<br />
und Sedlak (1987) wie folgt zusammen:<br />
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24
Darstellung der Bibliotherapie<br />
Durch <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit schriftlichen Medien wird ein größerer Abstand von der eigenen<br />
emotionalen Betroffenheit erreicht. Die Autoren bezeichnen dies als Distanzierung und<br />
Objektivierung. Die Ratsuchenden werden in die Lage versetzt, über die sie belastenden<br />
Erlebnisse und ihre Probleme zu sprechen. Dies geschieht über die Identifikation der<br />
Klienten mit den Handlungsträgern und Ereignissen der Lektüre, die oft als Vorbild<br />
wirken und damit eine Fähigkeit zur Bewältigung vermitteln bzw. Anstoß zur Suche<br />
nach eigenen Lösungsmöglichkeiten bilden. So findet eine Kompetenzvermittlung statt.<br />
Nicht zu unterschätzen wäre da<strong>bei</strong> auch die Erfahrung, daß sich andere Menschen in<br />
ähnlichen Situationen befinden, was eine Entlastung bewirke und somit Ventilfunktion<br />
habe. Insgesamt stelle dies eine Rückbesinnung auf sich selbst dar und trüge dadurch<br />
einen dynamisierenden Charakter: „Zugang zu eigenen Ressourcen (zu) finden<br />
erfordert, daß man sich selber in den Blick bekommt, Abgedrängtes und Abgekapseltes<br />
wieder ansieht“. Schließlich soll die Therapie über das Bewußtwerden zum<br />
Engagement, d.h. zur konkreten Handlungskonsequenz führen.<br />
Weiterhin wird beschrieben (vgl. Petzold / Orth 1985), daß das Auswendiglernen von<br />
kleinen Gedichten wie das Gebet eine mutmachende und angstlösende Funktion haben<br />
kann. So finden sich auch <strong>bei</strong> der Beschreibung des rezeptiven Ansatzes vielfältige<br />
Möglichkeiten des Umgangs mit dem Material, <strong>bei</strong>spielsweise das gemeinsame<br />
Rezitieren von Gedichten oder das Schreiben eines Antwortgedichtes auf ein gelesenes<br />
Gedicht etc.<br />
Grundlegend für Umgang mit selbstgeschriebenen Texten ist, daß sich sowohl<br />
Therapeut, als auch die Gruppenmitglieder einer ästhetischen Wertung oder moralischen<br />
Einschätzung enthalten. Dies liegt darin begründet, daß es sich nicht um eine<br />
literaturwissenschaftliche Betrachtung von Texten handelt, sondern der persönliche<br />
Zugang zu ihnen therapeutisch genutzt wird.<br />
Als Vorteile des Schreibens von Gedichten oder Texten wie Tagebüchern, Briefen,<br />
Erinnerungen wird betont, daß diese einen Dialog mit sich selbst ermöglichen, die<br />
Patienten lernen, sich mit dem Schreiben zu entlasten und dies auch außerhalb der<br />
Therapie zu nutzen. Weiterhin ist das Schreiben ein schöpferischer Akt, der<br />
Gestaltungskraft als positives Erlebnis vermittelt, was besonders für länger<br />
hospitalisierte Patienten von Bedeutung ist.<br />
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25
Darstellung der Bibliotherapie<br />
Als Therapietechniken werden solche genannt, die den Gruppenzusammenhalt fördern,<br />
die Aktivität anregen, oder Gefühle und Gedanken hervorrufen. Anwärmphasen,<br />
Wortspiele, Phantasiereisen usw. sind hier zu nennen. Gedichte eignen sich für den<br />
Einstieg sehr gut, da Rhythmus, Reim und Dichte der sprachlichen Bilder einen<br />
stimulierenden Charakter haben.<br />
Auch die Beziehung zwischen dem Therapeuten und Klienten ist in der Bibliotherapie<br />
vom therapeutischen Ansatz abhängig. So wird hauptsächlich zwischen dem Ansatz der<br />
humanistischen Psychologie und dem tiefenpsychologischen unterschieden. Der Erstere<br />
hat den Gedanken der Begegnung zwischen dem Therapeuten und Patienten zum Inhalt,<br />
der letztere die klassischen Phänomene der Übertragung, Gegenübertragung und des<br />
Widerstandes. Dessen therapeutische Beziehung besitzt eine hierarchische Struktur.<br />
2.3.3 Anwendungsgebiete<br />
Wie die Ausführungen zur Geschichte der Biblio- und Poesietherapie zeigen, liegen die<br />
Wurzeln der Verwendung von Literatur zu therapeutischen Zwecken in der<br />
Krankenbetreuung, besonders in der Betreuung psychisch kranker Menschen. Aus<br />
diesen Bereichen liegen die meisten Berichte und Erfahrungen vor.<br />
Da<strong>bei</strong> steht <strong>bei</strong> der <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit kranken Menschen und besonders mit denen, die schon<br />
lange hospitalisiert sind, der Gedanke im Vordergrund, diese Patienten dazu zu<br />
stimulieren, geistig interessiert und aktiv zu bleiben, sie zu motivieren und zu<br />
verhindern, daß sie zu viel an ihre Krankheit denken. Weiterhin wird durch<br />
Informationsvermittlung und Einsichtsgewinn besonders <strong>bei</strong> chronisch Kranken<br />
angestrebt, das Akzeptieren des eigenen Schicksals zu erreichen. 14<br />
In der Betreuung psychisch Kranker geht es vor allem darum, eine Eingliederung in die<br />
Gruppe oder den stationären Alltag zu erzielen, zu erheitern und erziehen sowie<br />
bestimmten Tendenzen, wie Rückzug etc., gegenläufige Impulse gegenüber zu stellen.<br />
Der Erziehungsanspruch scheint allerdings fraglich. Auf diesen Gebieten liegen<br />
bemerkenswerte Untersuchungen vor, die hier nicht weiter ausgeführt werden sollen.<br />
14 Vgl. im Folgenden Petzold und Orth 1985, 48-51.<br />
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26
Darstellung der Bibliotherapie<br />
Inzwischen haben sich weitere Einsatzgebiete für die Therapie mit Literatur eröff<strong>net</strong>. Es<br />
wird über die <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Drogenabhängigen, im Strafvollzug, mit alten Menschen und<br />
Sterbenden sowie mit Kindern und Jugendlichen berichtet.<br />
Bei der <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit drogenabhängigen Menschen und im Strafvollzug wurde erreicht,<br />
daß die Teilnehmer in Kontakt kamen und Gefühle wie Wut, Ärger, Einsamkeit, Trauer,<br />
aber auch Sexualität, Phantasie und Wünsche ausgedrückt werden konnten.<br />
Bibliotherapeutische <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit alten Menschen unterscheidet sich von anderen<br />
Therapieformen dadurch, daß nicht Krankheit und Gebrechen im Vordergrund stehen,<br />
sondern in erster Linie eine ästhetische Rezeption. So wird alten Menschen die<br />
Möglichkeit eröff<strong>net</strong>, neuen Lebensmut zu gewinnen, wieder Freude zu erleben,<br />
verdrängte Gefühle aufzuar<strong>bei</strong>ten und somit Isolation, Hilflosigkeit, Depression und<br />
anderen Altersproblemen entgegenzuwirken.<br />
In der Sterbebegleitung spielt die trostspendende Wirkung von Literatur eine große<br />
Rolle. So kann die Verwendung von Gedichten eine intensive Beziehung zwischen dem<br />
Sterbenden und dem Angehörigen oder Betreuer herstellen. Da<strong>bei</strong> wirkt entlastend, daß<br />
Befindlichkeiten über das Medium Text ausgetauscht werden können und in dieser<br />
extrem belastenden Situation nicht direkt geäußert werden müssen. Literatur kann<br />
ebenfalls <strong>bei</strong> Trauerprozessen Hilfe für Hinterbliebene leisten. Der kreative Ausdruck<br />
von Gedanken und Gefühlen als Moment der aktiven Gestaltung spielt für Sterbende<br />
eine große Rolle und kann Ohnmachtsgefühle mindern helfen.<br />
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß in jeder Form der biblio- und<br />
poesietherapeutischen <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> die Herstellung von Kontakt und Kommunikation ein<br />
zentraler Bestandteil ist. Dies gehört unabdingbar zum menschlichen Dasein und ist<br />
wichtigste Voraussetzung für seelische und, wie die psychosomatische Medizin zeigt,<br />
körperliche Gesundheit. Zustände körperlichen und seelischen Leidens lassen sich<br />
mildern und dadurch die Lebensqualität auch in Ausnahmesituationen verbessern.<br />
Erfahrungen <strong>bei</strong> der <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern und Jugendlichen sollen im Kapitel 5.2<br />
ausführlicher dargestellt werden.<br />
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27
Darstellung der Bibliotherapie<br />
2.3.4 Integrative Poesietherapie<br />
Abschließend soll kurz auf wesentliche Gedanken des Ansatzes der Integrativen<br />
Poesietherapie nach Petzold und Orth (1985) eingegangen werden, da er wichtige<br />
Aspekte für die <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern und Jugendlichen enthält.<br />
Die Integrative Poesietherapie wird als eine psychodynamisch ausgerichtete<br />
Behandlungsform von seelischen und psychosomatischen Erkrankungen beschrieben.<br />
Neben der heilenden Funktion der Literatur wird die präventive Wirkung dieser betont.<br />
Integratives Vorgehen heißt, daß die Sprache mit ihrer schöpferischen Kraft durch<br />
andere Ausdrucksmedien, wie Farbe, Musik etc. ergänzt wird. Petzold und Orth<br />
verstehen die Poesietherapie als Methode neben anderen. Die Präferenz einer<br />
bestimmten Vorgehensweise, der Hauptmodus der Therapie, wird dem Therapeuten<br />
überlassen und ist sowohl abhängig von dessen Kompetenz, Ausbildung und Erfahrung,<br />
als auch von den Adressaten, deren individuellen Neigungen und den<br />
Rahmenbedingungen.<br />
Die Überlegungen von Petzold und Orth enthalten einen neuen Aspekt, der bisher noch<br />
nicht gesehen wurde. Der sprachlichen Sozialisation wird eine große Bedeutung<br />
<strong>bei</strong>gemessen. Ist diese pathogen, so können die Gesundheit gefährdet und Krankheit<br />
möglich werden. Herkömmliche Psychotherapien widmeten dieser Tatsache bislang<br />
wenig Aufmerksamkeit. Die Autoren betonen, daß gerade Biblio- und Poesietherapie<br />
deformierenden Spracherfahrungen und defizitärer sprachlicher Sozialisation<br />
entgegenwirken können. Über neue Leseerlebnisse und ungestörte Kommunikation<br />
können gewalttätige Spracherfahrungen bear<strong>bei</strong>tet, neue als Wahlmöglichkeiten<br />
erfahren werden. Die Veränderung des Sprachstils ermögliche nach der Auffassung der<br />
Autoren die Veränderung des Lebensstils, nachdem der Patient Mut zu seiner Sprache<br />
gefunden hat. Grundlegend ist weiterhin die Auffassung von der engen Verbindung von<br />
Sprache als Handlung und Kommunikation mit dem handelnden Subjekt, dem eigenen<br />
Leib.<br />
Die Therapietheorie, Methodik und Praxis der Integrativen Poesietherapie sollen an<br />
dieser Stelle nicht näher dargestellt werden. Einzelheiten finden sich <strong>bei</strong> Petzold und<br />
Orth (1985, 58-88).<br />
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28
Darstellung der Bibliotherapie<br />
Wesentlich für die weiteren Ausführungen zur Verbindung von Bibliotherapie und<br />
Literaturunterricht ist die Betonung der Bedeutung der sprachlichen Sozialisation und<br />
der Integration verschiedener Methoden und Medien in das Therapiekonzept. So ist es<br />
gerade in der <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern und Jugendlichen von Wichtigkeit, verschiedene<br />
Ausdrucksformen zuzulassen und anzubieten, um der kindlichen Kreativität besser<br />
gerecht zu werden bzw. Schüler auf mehreren Ebenen zur Textbetrachtung zu<br />
motivieren. Geschieht dies <strong>bei</strong>spielsweise durch ein eindrucksvolles Musikstück oder<br />
Bild, so wird vielleicht auch <strong>bei</strong> Kindern Aufmerksamkeit geweckt, die sonst nicht<br />
lesen. Literaturunterricht hingegen leistet, wie noch gezeigt wird, einen wichtigen<br />
Beitrag zur sprachlichen Sozialisation.<br />
2.4 Fazit<br />
Die Bibliotherapie stellt sich dar als eine Methode oder eigenständige Therapieform. Sie<br />
kann als Psychotherapie, als unterstützendes Verfahren einer solchen und zur Prävention<br />
von Störungen oder Krankheit, gleichsam als Unterstützung der Entwicklung und<br />
Entfaltung der Persönlichkeit eingesetzt werden. Dies erfolgt je nach den Adressaten<br />
und ihren spezifischen Problemen, nach der Ausbildung der Therapeuten, deren<br />
theoretischem Hintergrund und den institutionellen Möglichkeiten in verschiedenen<br />
Settings. Es finden sich stark klientenzentrierte Ansätze, in denen sich die Teilnehmer<br />
selbst Literatur auswählen, um über ihre Emotionen zu sprechen, oder Ansätze, die eine<br />
hierarchische Beziehung zwischen Klienten und Therapeuten aufweisen, wie<br />
psychoanalytische Verfahren. Neben dem historischen Anwendungsfeld der Betreuung<br />
körperlich und seelisch kranker Menschen hat die Bibliotherapie mittlerweile in nahezu<br />
alle Bereiche Eingang gefunden, in denen Lebenskrisen und Verunsicherungen<br />
existentielle Bedeutung erlangt haben. So wird mit drogenabhängigen und<br />
alkoholkranken Menschen, mit Psychiatriepatienten, alten Menschen oder auffälligen<br />
Kindern und Jugendlichen gear<strong>bei</strong>tet.<br />
Bibliotherapie meint die Nutzung geschriebener Texte für therapeutische Zwecke, im<br />
Gegensatz zur Poesietherapie, die einen stärker kreativen und schöpferischen Ansatz hat<br />
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29
Darstellung der Bibliotherapie<br />
und das Schreiben von Texten anstrebt. Ein integrativer Ansatz vereint verschiedene<br />
Medien und Ausdrucksformen, Lesen und Schreiben werden gemeinsam eingesetzt.<br />
In der Bibliotherapie wird die Sprache als Medium verwendet. Da<strong>bei</strong> wird ausgenutzt,<br />
daß diese zu den ureigensten Formen menschlichen Ausdrucks gehört und nicht nur<br />
unverzichtbar für Begriffsbildung und Denken ist, sondern eng zur menschlichen<br />
Sozialisation gehört. Sie schafft Eindruck und Ausdruck. Die Erlebnisse, Stimmungen,<br />
Emotionen und Ansichten eines Dritten, des Autors oder Protagonisten, werden vom<br />
Klienten aufgenommen, er fühlt sich verstanden, bestätigt oder zum Widerspruch<br />
angeregt; Symbolisierungen lassen verschüttete Emotionen wiederaufleben. Diese<br />
können zugelassen, neu erlebt oder modifiziert werden. Den Klienten wird ermöglicht<br />
durch das Medium Text auch über ihre Person ins Gespräch zu kommen, zu einer neuen<br />
Kommunikation zu finden.<br />
Aus der engen Verknüpfung von Sprache mit dem inneren Erleben, der Bedeutung der<br />
sprachlichen Sozialisation und der oben beschriebenen Potenzen von Sprache überhaupt<br />
folgt die Vermutung, daß bibliotherapeutische Erkenntnisse evtl. nicht nur in<br />
therapeutischen, sondern ebenfalls in pädagogischen Handlungsfeldern genutzt werden<br />
könnten. Besonders in jenen, die sich, wie der Literaturunterricht, ohnehin mit<br />
gestalteter Sprache beschäftigen. So sollen zunächst Wesen und Zielsetzungen des<br />
Literaturunterrichts betrachtet werden. Da<strong>bei</strong> wird das Lesen und sein Stellenwert im<br />
Unterricht näher betrachtet. Ferner wird eine Unterscheidung zwischen Unterricht und<br />
Therapie vorgenommen.<br />
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30
Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
3 Literaturunterricht<br />
3.1 Wesen und Ziele des Unterrichts<br />
Neben dem Elternhaus und Vorschuleinrichtungen ist für Kinder die Schule wichtigster<br />
Ort der Sozialisation. Nicht nur Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen werden vermittelt<br />
und ausgebaut und so die Persönlichkeit des Kindes entwickelt, auch soziale Normen<br />
und Regeln erlernt und geübt. Letztere umfassen nicht nur interindividuelle<br />
Umgangsformen, sondern ebenfalls auch den Umgang mit sich selbst, wie die Pflege<br />
und Gesunderhaltung des Köpers und des Geistes durch Aktivität und<br />
Selbstwertschätzung. Ästhetisches Empfinden und Reflexivität werden geschult. All<br />
dies gehört zur Entfaltung der Persönlichkeit, die neben dem Wecken von Interesse,<br />
dem Erschließen wesentlicher Bereiche der Kultur, der Allgemein- und<br />
berufsvorbereitenden Bildung und der Befähigung zu einer verantwortlichen Gestaltung<br />
des Lebens zum Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule gehört 15 . Ziele des<br />
Unterrichts sind außerdem die Unterstützung eines jeden Schülers <strong>bei</strong> der Bewältigung<br />
seiner Lebensprobleme, <strong>bei</strong>m Gewinn gültiger Maßstäbe und der Suche nach<br />
Lebenssinn. Neben der Vermittlung von Wissen sollen die Schüler zu selbständigem<br />
Urteilen, eigenverantwortlichem Handeln und zu schöpferischer Tätigkeit befähigt<br />
werden.<br />
Unterricht ist seinem Wesen nach ein kommunikativer Prozeß. Historisch gesehen war<br />
diese Kommunikation bestimmt durch ein hierarchisches Verhältnis zwischen Lehrern<br />
und Schülern. Mittlerweile ist auch das Gespräch zwischen den Schülern, <strong>bei</strong>spielsweise<br />
im Projektunterricht, zum anerkannten Bestandteil des Unterrichts geworden.<br />
15 Die Ausführungen beziehen sich auf den Bereich der Mittelschule. Einzelheiten sind dem Bildungs- und<br />
Erziehungsauftrag im Sächsischen Lehrplan für Mittelschulen, Fach Deutsch, entnommen.<br />
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31
Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
3.2 Ziele des Literaturunterrichts<br />
Der Literaturunterricht stellt eine besondere Form des Unterrichts dar: es vollzieht sich<br />
sprachliche Sozialisation, wie in keinem anderen Fach. Zwei Ebenen der<br />
Kommunikation prägen den Literaturunterricht: einerseits das Unterrichtsgespräch,<br />
andererseits die versteckte Kommunikation zwischen Autor und Leser bzw. Hörer. Ziel<br />
des Umgangs mit literarischen Texten in der Schule ist es 16 , die Lesemotivation der<br />
Schüler zu wecken und zu fördern. Ihre Bereitschaft und das Bedürfnis, über Texte und<br />
Gehörtes oder Gesehenes zu sprechen soll durch eine Auswahl, die den Interessen der<br />
Schüler entspricht, und eine erlebnisbetonte Erschließung literarischer Texte gesteigert<br />
werden. Da<strong>bei</strong> lernen die Schüler verschiedene Beispiele der deutschen Literatur und<br />
unterschiedliche Zugangsweisen kennen, sollen Inhalte mit ihren Erfahrungen zu<br />
vergleichen. Freude an der Literatur und deren Verstehen wird angestrebt, die sich<br />
anhand einer bedürfnisbetonten <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> ausbilden. Der Lehrplan stellt ebenfalls fest, daß<br />
der Umgang mit Literatur phantasieanregend sein soll, die Vorstellungsfähigkeit fördert<br />
und vielfältige Verhaltensmuster und Wertvorstellungen anbietet.<br />
Der Deutschunterricht generell soll kommunikative und kognitive Fähigkeiten und<br />
Fertigkeiten schulen, welche die Voraussetzungen für alle anderen Fächer bilden.<br />
Im Wesentlichen werden hier die grundsätzlichen Eigenschaften und Potenzen<br />
gestalteter Sprache gesehen, wie sie auch bibliotherapeutischen Überlegungen zugrunde<br />
liegen.<br />
Die Bewältigung von Lebensproblemen, Suche nach Lebenssinn, Befähigung zu<br />
eigenverantwortlichem Handeln, schöpferische Tätigkeit und der Gewinn gültiger<br />
Maßstäbe als Ziele des Literaturunterrichts sind Themen der Bibliotherapie, wie auch<br />
die anderer kreativer Therapien.<br />
Da sich verschiedene Zielstellungen von Literaturunterricht mit den Grundlagen der<br />
Bibliotherapie überschneiden, liegt es nahe, <strong>bei</strong>de miteinander zu verbinden. In Kapitel<br />
5 wird dies versucht.<br />
16 Vgl. Sächsischer Lehrplan: Deutschunterricht an der Mittelschule<br />
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32
Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
3.3 Kriterien einer Literaturpädagogik<br />
An dieser Stelle sollen Grundlinien einer Literaturpädagogik skizziert werden, um das<br />
Gebiet konkreter zu umreißen. Das Kapitel lehnt sich an die Ausführungen von Stocker<br />
(1987) an.<br />
Stocker unterscheidet fünf Kriterien. Schülergemäßer Umgang mit Literatur wird<br />
vorausgesetzt.<br />
Zunächst wird differenziertes Vorgehen angestrebt, häufig jedoch mit dem<br />
Vorhandensein unterschiedlicher Schulformen abgetan. Grundsätzlich sollte sich die<br />
Differenzierung auf die Einbeziehung jedes einzelnen Schülers richten, also eine rein<br />
äußerliche überschreiten. In der Förderpädagogik ist dieser Ansatz durch das Prinzip der<br />
Feststellung des individuellen Förderbedarfs gegeben. Weiterhin sollten<br />
unterschiedliche Sozial- und Übungsformen genutzt werden. Darüber hinaus muß ein<br />
Wechsel an Unterrichtssituationen stattfinden. Dies meint, daß sich spontane und<br />
vorbereitete Begegnungen mit dem Text abwechseln. Literaturunterricht muß<br />
desweiteren zu einem wissenschaftlichen <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong>en befähigen und <strong>bei</strong>spielsweise das<br />
Benutzen von Sekundärliteratur lehren. Letztendlich sollte er durch ein „Lernen durch<br />
Einsicht“ (ebd., 238) im Sinne eines forschenden Lernens gekennzeich<strong>net</strong> sein,<br />
problemslösendes Denken fördern und entdeckende Denkverfahren herausbilden.<br />
Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts existiert der Begriff Literaturunterricht. Er<br />
trägt einen Doppelcharakter, denn er ist künstlerisches und wissenschaftliches Fach<br />
zugleich. Diese <strong>bei</strong>den Ebenen sollten sich daher gegenseitig befruchten.<br />
Darüber hinaus muß sein fächerübergreifender Charakter gesehen und genutzt werden.<br />
3.4 Literaturbegriff<br />
Die Definition von Literatur geht mit dem unterschiedlichen Verständnis von<br />
Literaturunterricht einher. Am Anfang des Jahrhunderts stand noch das Erleben der<br />
Literatur im Vordergrund, dessen Ziel die Empathie bis zur Identifikation darstellte.<br />
Da<strong>bei</strong> beschränkte sich der Begriff der Literatur auf die Klassiker. Dieser auf das<br />
Erleben orientierte Unterricht wurde vom fachwissenschaftlichen abgelöst, dessen Ziel<br />
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33
Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
die Übertragung von Werkstrukturen auf den Unterricht war. Literarische Kompetenz<br />
sollte also <strong>bei</strong>spielsweise durch einen dramatischen Stundenaufbau erworben werden.<br />
Das darauffolgende Konzept des kritischen Literaturunterrichts bewegte sich in den<br />
Spuren der Frankfurter Schule und hatte zum Ziel, mit Hilfe von Literatur den Alltag zu<br />
durchschauen und zu verändern.<br />
Die Behandlung von Literatur in der Schule beschränkte sich bis in die 60er Jahre dieses<br />
Jahrhunderts auf die Klassiker der Literatur, also auf lyrische, epische und dramatische<br />
Texte der Belletristik. Meist waren ganze Werke Gegenstand der Betrachtung.<br />
Mit den 70er Jahren begann eine Orientierung am Schüler als Leser, der weite<br />
Literaturbegriff wurde durchgesetzt, die Kinder- und Jugendliteratur fand Eingang in<br />
den Unterricht. Der Inhalt des Literaturunterrichts wurde mit dem tatsächlichen<br />
Lesestoff der Kinder und Jugendlichen verglichen und schließlich erkannt, daß in der<br />
Literaturpädagogik die Lesewirklichkeit der Zielgruppe ausschlaggebend sein muß.<br />
Der Begriff „Literatur“ <strong>bei</strong>nhaltet nun neben den fiktionalen Texten der National- und<br />
Weltliteratur, Kinder- und Jugendliteratur, Frauenliteratur und den Texten von Schülern<br />
auch nichtfiktionale, wie Sekundärliteratur, Sachtexte, methodologische Texte,<br />
Äußerungen von Autorinnen und Autoren, mediale Texte und Trivialliteratur als<br />
Gegenstände der Auseinandersetzung. Neben Texten, die der sogenannten Hochliteratur<br />
entstammen, finden so ebenfalls für trivial erklärte, die der Gebrauchsliteratur<br />
entstammen, im Unterricht Eingang. Auf diese Weise wird an die Lesegewohnheiten der<br />
Rezipienten angeknüpft und dadurch die Kommunikationsbereitschaft der Schüler<br />
gefördert.<br />
3.5 Gegenstand des Literaturunterrichts<br />
Gegenstand des Literaturunterrichts ist der epische, lyrische oder dramatische Text. Der<br />
Lehrplan legt einen Literaturkanon, d.h. verbindlich ausgewählte Literatur, fest, der sich<br />
mittlerweile von einem starr festgelegten Inhalt hin zu einem Leseplan mit einem festen<br />
Kern und offenen Grenzen gewandelt hat. So regelt der sächsische Lehrplan, daß ein<br />
Drittel der zur Verfügung stehenden Unterrichtszeit für nicht aufgeführte Literatur<br />
verwendet werden kann.<br />
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34
Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
Aus dem Kerncurriculum und der „freien Literatur“ ist nach den Kriterien der<br />
Exemplarizität, Potentialität, Sequenzqualität und Aktualität auszuwählen. Die<br />
Exemplarizität stellt die Frage nach Repräsentativität für eine Epoche, Gattung oder ein<br />
Lebensgefühl. Die unmittelbare Wirkung, die ein Text für Kinder und Jugendliche<br />
ausstrahlt, die ihm eingeschriebene Appellfunktion und andere Textstrategien, wie das<br />
Ansprechen des Lesers im Text, werden unter dem Begriff der Potentialität<br />
zusammengefaßt. In diesen Bereich gehören ebenfalls die Emotionen, die primär<br />
angesprochen werden. Die Sequenzqualität entscheidet darüber, ob der ausgewählte<br />
Text in eine Unterrichtssequenz paßt. Ob ein Text den Horizont des Schülers berührt, ist<br />
die Frage nach der Aktualität. Diese kann sicherlich nicht für jeden Einzelnen<br />
beantwortet werden, jedoch zeichnen sich u.U. Themen in der Klasse ab, die alle oder<br />
mehrere Schüler betreffen.<br />
Von Seiten der Schüler entscheiden die Möglichkeit der Identifikation oder<br />
Distanzierung, das Auslösen von Mitleid oder Empathie, das Bieten von Entdeckungen,<br />
Darstellung von Glück, Harmonie, befriedigender Lösungen, aber auch der Misere<br />
menschlichen Lebens über die Aktualität von Literatur.<br />
3.6 Das Lesen in der Schule<br />
Das Lesen ist, verkürzt gesagt, ein Prozeß des Decodierens von encodiertem Material. 17<br />
Nicht selten wurde institutionalisierte Decodierung (<strong>bei</strong>spielsweise in der Schule) zum<br />
Handlanger gesellschaftlicher Leitbilder gemacht, wie sie das Geben von Lebenshilfe,<br />
Führung oder Geleit, das Erzeugen von Emanzipation der Schüler oder die<br />
Untermauerung politischer Überzeugungen darstellen. Auf diese Weise wurde<br />
Textmaterial nach den Kriterien „konzeptionsgemäß“ und „nicht konzeptionsgemäß“<br />
vorsortiert, was eine Manipulation der Textauswahl und Überakzentuierung bestimmter<br />
moralischer Grundsätze darstellt.<br />
Solche Funktionalisierungen geschahen bzw. geschehen und gefährden das eigentliche<br />
Ziel des Lesens, dem Schüler ein möglichst getreues Bild der literarischen Realität in<br />
17 Vgl.im Folgenden Baumgärtner (1990)<br />
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35
Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
der Vielfalt ihrer Erscheinungsform zu vermitteln und ihn zur Auseinandersetzung mit<br />
möglichst allen diesen Erscheinungsformen zu befähigen.<br />
Der Sinn des Lesens konstituiert sich nur von der Literatur selbst und ihrer Bedeutung<br />
für den Menschen. Allen Texten ist die sprachliche Fassung von Denkergebnissen und<br />
Wirklichkeitserfahrungen, dem gemeinsamen Niederschlag von Erfahrenem und<br />
Erdachtem gemeinsam. Zweck des Verfassens von Texten ist eine Mitteilung und<br />
Aufbewahrung. In synchronischer Sicht, auf gleicher Zeitebene, ist Literatur ein Mittel<br />
der intra- und interpersonalen Kommunikation, während auf der diachronischen Ebene,<br />
der historischen Sicht, Lesen als die Voraussetzung für das Weitertragen kultureller<br />
Erfahrungen und Einsichten zu werten ist. Das Lesen ist demnach Teilhabe an dem, was<br />
andere Menschen erfahren, empfunden und erdacht haben und bietet damit die<br />
Möglichkeit, sich über eigene Grenzen und die jeweilige intellektuelle, emotionale und<br />
apperzeptive Kapazität hinwegzusetzen.<br />
So erhält man nicht nur Informationen, die der eigenen Erfahrung entzogen sind,<br />
sondern kann ebenfalls fremde Perspektiven spielerisch erproben. Über die Wirkung,<br />
die das Gelesene <strong>bei</strong>m Rezipienten erzielt, ist damit jedoch noch keine Aussage<br />
getroffen.<br />
Ziel eines jeden Lesenlehrens in der Schule müßte es also sein, die Schüler zur<br />
Teilnahme an jeder menschlichen Kommunikation zu befähigen, die sich mit Hilfe<br />
literarischer Texte vollzieht und damit die Voraussetzung für die Erweiterung und<br />
Differenzierung der Erfahrungs-, Denk- und Empfindungsmöglichkeiten zu schaffen.<br />
Dies schließt allerdings eine kritische Betrachtung literarischen Materials ein. Die<br />
Schüler müssen die Relativität des Textverstehens erkennen und sowohl kritisches als<br />
auch selbstkritisches Lesen erlernen.<br />
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß reflektiertes Lesen die folgenden Funktionen<br />
haben kann: die passive und wahrscheinlich auch die aktive Sprachkompetenz wird<br />
erhöht, die Bedeutung literarischer Strukturen für die Realisierung von<br />
unterschiedlichen Aussageabsichten kann erkannt werden, die Erfahrungs-, Denk- und<br />
Empfindungsmöglichkeiten können erweitert werden. Darüber hinaus kann Lesen<br />
Einsicht in die Beziehung zwischen Autor und Text geben, historische Bedingtheiten<br />
von Literatur und von Intentionalität literarischer Aussagen erfahrbar machen und damit<br />
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36
Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
Manipulationsabsichten durchsichtig werden lassen. Schließlich kann es Anlaß zur<br />
Reflexion von Leseprozessen und deren Ergebnissen sein.<br />
Baumgärtner (1990) betont, daß diese Funktionen des Lesens literarischer Texte nicht<br />
<strong>bei</strong> unreflektiertem Umgang mit Texten wirksam werden. So trügen Sammeln, Ordnen<br />
und Ergänzen von Sprachmaterial, die Verwendung in neuen Zusammenhängen,<br />
syntaktische Operationen und das Nach- und Umgestalten von Texten bzw. das<br />
Wiederherstellen der richtigen Textordnung aus einzelnen Sätzen auf der Basis<br />
gelesener literarischer Texte zur Erweiterung der Sprachkompetenz <strong>bei</strong>. Durch das<br />
Entwerfen von Parallel- oder Kontrasttexten würden die kognitiven Möglichkeiten<br />
erweitert. Beides ziele auf die Verbesserung des Tetxverständnisses ab und sei<br />
Teilschritt auf dem Weg zur Interpretation. Die literarische Kompetenz der Schüler<br />
ergebe sich durch das Herausar<strong>bei</strong>ten von Strukturen des Textes, „durch die Klärung<br />
von Inhalt-Struktur-Beziehungen, von Textsortenspezifika und ihrer Funktion sowie von<br />
Autorenintentionen, durch eine Klärung der Beziehungen zwischen Texten und den<br />
historischen Gegebenheiten ihrer Entstehungszeit, ihrer Stellung innerhalb bestimmter<br />
Traditionen oder ihrer Prägung durch die Bedingungen des Mediums ihrer Verbreitung“<br />
(ebd. 483). Die Autoren stellen weiterhin fest, daß die Reflexion des Lesens ebenfalls<br />
Ziel des Unterrichts geworden ist, da man sich dadurch eine Differenzierung und<br />
Veränderung des Leseverhaltens und einen höheren Grad der Bewußtheit <strong>bei</strong>m Leser<br />
erhofft. Die fördere die Einsicht in die Relativität des Textverständnisses und der<br />
Textaussage und erzeuge Selbstkritik und Toleranz.<br />
Die genannten Ziele sind jedoch nicht mit der Behandlung jedes Textes gleichermaßen<br />
zu erreichen, sondern vielmehr abhängig von Zeit, Lesemotivation, Unterrichtsansätzen<br />
und Methoden. Baumgärtner mißt darüber hinaus dem „einfache (n) Lesen eines<br />
Textes“ (ebd. 484) und dem freien Gespräch darüber, besonders für die Hinführung zum<br />
Lesen überhaupt, große Bedeutung zu. Das kann jedoch nicht die Gesamtheit des<br />
Unterrichts bilden.<br />
3.7 Abgrenzung des Unterrichts von Therapie<br />
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37
Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
Wenn später auf die Verwendung bibliotherapeutischer Erkenntnisse für die <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im<br />
Literaturunterricht eingegangen werden soll, so ist es von Bedeutung, an dieser Stelle<br />
auf die Unterscheidung von Therapie und Unterricht hinzuweisen.<br />
Psychotherapie, zu der die Bibliotherapie gerech<strong>net</strong> wird, soll definiert werden als<br />
„Methode zur Behandlung psychischer (oder auch körperlicher) Störungen, die die<br />
Veränderung des unangemessenen Verhaltens oder Erlebens durch Intervention auf der<br />
psychologischen Ebene zum Ziel hat. Psychologische Behandlungsmethoden<br />
konzentrieren sich auf die Veränderung der unangemessenen Verhaltensweisen, die wir<br />
erlernt haben, sowie der Wörter, Gedanken, Interpretationen und Rückmeldungen, die<br />
unsere Strategien im Leben lenken“ (Zimbardo 1995, 687).<br />
Therapie findet in einem bestimmten Settig statt, in Einzel- oder Gruppensitzungen nach<br />
einem Therapieplan. Die Zeit der Sitzungen ist begrenzt. Die Beziehung zwischen dem<br />
Therapeuten und Klienten richtet sich nach dem Ansatz der Therapie und kann<br />
horizontal (d.h. auf Kooperation angelegt) oder vertikal (d.h. hierarchisch strukturiert)<br />
sein. Die verwendeten Methoden und Techniken sind ebenfalls von der Therapieform<br />
abhängig. Die Klienten kommen aufgrund eines Problems in die Therapie, das sie meist<br />
am „normalen“ Vollzug ihres Alltags hindert. Im Gegensatz zum Unterrichtsprozeß zielt<br />
Therapie, wie oben beschrieben, auf eine unmittelbare Verbesserung der Lebensqualität<br />
durch Heilung psychischer Krankheit und Störungen ab.<br />
Unterricht (vgl. Böhm 1994) kann als ein planmäßiges, absichtsvolles Vermitteln von<br />
Kenntnissen, Einsichten, Fähigkeiten und Fertigkeiten gesehen werden, das meist<br />
professionalisiert und institutionalisiert erfolgt. Ziel das Unterrichts ist es,<br />
weitestgehend auf Wissen bezogene Verhaltensdispositionen zu verändern. Im<br />
Unterschied zu gelegentlichen, absichtsvollen Belehrungen wird im Unterricht der<br />
Lebenszusammenhang, in dem konkrete Lernanlässe auftreten, verlassen. Unterricht ist<br />
ein spezieller Modus der Erziehung, da die Veränderung der Verhaltensdisposition von<br />
einer erzieherischen Intention getragen wird. Er muß immer der Selbstverwirklichung<br />
und Weltorientierung der Schüler dienen. Als Einflußfaktoren gelten individuelle<br />
Eigenschaften des Lehrers, der Schüler (kognitive und soziale Komponente) und des<br />
schulischen Umfeldes.<br />
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38
Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
Es steht außer Frage, daß sich die Aufgaben von Lehrer und Therapeuten unterscheiden.<br />
So wie der Lehrer im Unterricht das Lernen im weitesten Sinne organisieren und<br />
gewährleisten muß und eine erzieherische Tätigkeit ausübt, ist der Therapeut zuständig<br />
für absichtsvolle Interventionen auf psychischer Ebene. Dies ist nicht Ziel des<br />
Unterrichts.<br />
Dennoch nähern sich <strong>bei</strong>de Gebiete an, da psychische Dispositionen der Schüler den<br />
Unterricht wesentlich mitbestimmen. Dieser Tatsache findet in zunehmendem Maße<br />
Eingang in didaktischen Überlegungen. So existieren <strong>bei</strong>spielsweise didaktische<br />
Modelle, die <strong>bei</strong>de Ebenen zu verknüpfen suchen. 18<br />
Trotzdem lassen sich psychotherapeutische Methoden und Techniken nicht gänzlich auf<br />
Unterricht übertragen, zumal Lehrer in der Regel nicht über eine entsprechende<br />
Ausbildung verfügen.<br />
Da jedoch, wie oben festgestellt wurde, Literaturunterricht und Bibliotherapie gleiche<br />
Ziele aufweisen, soll untersucht werden, ob sich bibliotherapeutische Methoden und<br />
Techniken auf einer weniger tiefgreifenden Ebene für den Unterricht nutzen lassen. Als<br />
wichtige Voraussetzung für solche Überlegungen kommt hinzu, daß der präventive<br />
Charakter der Bibliotherapie oft betont wird. Hilfe für die Bewältigung von<br />
Lebensproblemen und Krisen durch die bibliotherapeutisch orientierte <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit<br />
Literatur dürfte also nicht nur für Schule überhaupt, sondern ebenso für den Unterricht<br />
mit Kindern mit Verhaltensstörungen von Bedeutung sein.<br />
4 Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im<br />
pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
4.1 Begriffsbestimmung<br />
Ähnlich, wie in anderen Bereichen der Förderpädagogik, <strong>bei</strong>spielsweise der<br />
Geistigbehindertenpädagogik, ist die genaue Bezeichnung der Zielgruppe in der<br />
Verhaltensgestörtenpädagogik von der Angst vor Stigmatisierung bestimmt. Die Reihe<br />
der Versuche einer Begriffsfindung ist auch dort sehr lang und führt über Begriffe wie<br />
18 Vgl. <strong>bei</strong>spielsweise die Verbindung von strukturierten und schülerzentrierten Ansätze <strong>bei</strong>m Unterricht<br />
mit Kindern mit Verhaltensstörungen ( Goetze/ Neukäter 1984, Kap.3).<br />
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39
Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
„psychopathisches Verhalten“, „Asozialität“, „Dissozialität“,<br />
„Entwicklungsgestörtheit“, „Verhaltensschädigung“, „neurotisches Verhalten“,<br />
„Sozialauffälligkeit“, „Gemeinschaftsschwierigkeit“, „Verwahrlosung“ hin zu dem<br />
Terminus „Verhaltensstörung“. Dieser findet zunehmend Verbreitung (vgl. Benkmann<br />
1992).<br />
Die Feststellung eines als abweichend geltenden Verhaltens - es soll später noch<br />
deutlicher werden - ist einer großen Subjektivität unterlegen und von den Werten und<br />
Normen, den inneren Einstellungen dessen abhängig, der eine Bezeichnung vornimmt.<br />
In der Verhaltensgestörtenpädagogik scheint eine besondere Diskrepanz zwischen der<br />
Sicht der Bezeichnenden und der der Bezeich<strong>net</strong>en zu bestehen, denn letztere fassen ihr<br />
Verhalten meist nicht als auffällig, sondern als von einer inneren, für sie geltenden<br />
Logik bestimmt, auf. Insofern trifft auch der Begriff „Verhaltensstörung“ nicht den<br />
Kern der Sache. Neuere Bestrebungen in Österreich versuchen mit dem Terminus<br />
„Verhaltensoriginalität“ diesem Problem aus dem Wege zu gehen. Er betont zwar<br />
immer noch die Sicht der Beurteilenden, jedoch in einer für die Betroffenen eher positiv<br />
assoziierten Weise. Für Kritiker dürfte dieser jedoch zu verharmlosend und zu weit<br />
gefaßt klingen. In den folgenden Ausführungen soll in Ermangelung eines geeig<strong>net</strong>eren<br />
der Terminus „Verhaltensstörung“ verwendet werden, da dieser auch Vorteile hat, die<br />
jedoch an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden sollen (vgl. ebd.). 19<br />
4.2 Definition<br />
In diesem Kapitel sollen drei Definitionsansätze von Verhaltensstörungen vergleichend<br />
gegenübergestellt werden, um einen kurzen Überblick über Erklärungsmöglichkeiten zu<br />
geben. Sie sind den Ausführungen von Benkmann (1992) entnommen.<br />
4.2.1 Definition nach Havers<br />
19 Die o.g. Ausführungen zur Bedeutung von Sprache und Bezeichnung unterstützen entgegen anderer<br />
Meinungen die Notwendigkeit einer Begriffsbildung zum Phänomen der Verhaltensstörung.<br />
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40
Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
Havers (1982, zit. in Benkmann 1992) beschreibt in seinem Konzept Verhaltensstörung<br />
als eine Regelabweichung, die vom Handelnden selbst oder von einem Beobachter, der<br />
mit Sanktionsmacht ausgestattet ist, als solche eingeschätzt wird. Als Unterbegriff wird<br />
die Bezeichnung „Erziehungsschwierigkeit“ verwendet, die Abweichungen von<br />
pädagogischen Regeln und Normen und deren Sanktionierung meint. Da<strong>bei</strong> bildet das<br />
soziologische Modell der Konstituierung abweichenden Verhaltens durch primäre und<br />
sekundäre Etikettierung die theoretische Grundlage. Dies <strong>bei</strong>nhaltet, daß besonders<br />
öffentliche negative Etikettierung oder die durch nahestehende Personen vorgenommene<br />
zur Übernahme des Etiketts in das Selbstbild des Beurteilten führt. Diese Übernahme,<br />
auch als sekundäre Etikettierung bezeich<strong>net</strong>, erzeugt eine negative, deviante Identität,<br />
der nahezu zwangsläufig eine abweichende Karriere folgt. Zahlreiche Kriterien, wie<br />
Anzahl, Häufigkeit und Schwere der Regelverletzung, Persönlichkeit der Schülers,<br />
insbesondere Alter, sozialer Status, Intelligenz, Erscheinungsbild sowie Toleranzgrenze,<br />
Weltanschauung, Normentreue des Lehrers entscheiden über das Erfolgen einer<br />
primären Etikettierung. Als Ursachen, die Erziehungsschwierigkeiten erzeugen werden<br />
also das Vorhandensein von Normen, deren Verletzung - in welchem Maße auch immer<br />
- und der anschließende Etikettierungsprozeß verstanden. Schulische<br />
Erziehungsschwierigkeiten beziehen sich nach Havers auf Verletzung von Normen und<br />
Regeln, die durch das Schulgesetz definiert und legitimiert werden. Nach Havers erfolgt<br />
jedoch nur dann eine Etikettierung als „verhaltensgestört“ durch den Lehrer oder<br />
schulischen Erzieher, wenn diese das Verhalten wahrnehmen und als zahlreich, intensiv,<br />
schwerwiegend und das tolerierbare Maß überschreitend einschätzen. Regelverstöße, die<br />
aufgrund mangelnder Intelligenz, Krankheit oder organisch bedingter Behinderung zu<br />
erklären sind, klammert Havers aus.<br />
4.2.2 Definition nach Bach<br />
Nur eindeutig Bezeich<strong>net</strong>es ist im Denken präsent und ruft eine Auseinandersetzung damit hervor.<br />
Leider ist die Gefahr einer Stigmatisierung immer gegeben.<br />
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41
Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
Heinz Bach (1993) wählt die Bezeichnung „Verhaltensbeeinträchtigung“ als<br />
Oberbegriff, dem die Termini „Pseudoverhaltensstörung“, „Verhaltensstörung“ und<br />
„Verhaltensbehinderung“ untergeord<strong>net</strong> sind. Der Begriff „Verhaltensbeeinträchtigung“<br />
ist insofern günstig, da er relativ wertneutral und umfassend ist. Darüber hinaus<br />
<strong>bei</strong>nhaltet er keine Theorien über Entstehung, Äußerung und Struktur der<br />
Beeinträchtigung, ist nicht auf den pädagogischen Bereich beschränkt und bezeich<strong>net</strong><br />
sowohl individuell wahrgenommene, als auch von außen definierte Beeinträchtigungen.<br />
Als Pseudoverhaltensstörungen bezeich<strong>net</strong> Bach Verhalten, das aufgrund von<br />
Beurteilungsfehlern als gestört bezeich<strong>net</strong> wird. Dazu zählt er Verhalten, das regelhaft<br />
ist, jedoch durch Mißdeutung oder durch Beobachtungsfehler als gestört erscheint, das<br />
aufgrund erhöhter Normvorstellungen des Betrachters als abweichend bezeich<strong>net</strong> wird<br />
oder zufällig und einmalig vom Regelverhalten abweicht. Verhalten aufgrund von<br />
eingeschränkten physischen oder intellektuellen Möglichkeiten, Orientierungs- und<br />
Probierverhalten sowie vorwiegend situativ bedingtes wird ebenfalls zu den<br />
Pseudoverhaltensstörungen gerech<strong>net</strong>. Streng betrachtet gehören diese nach Bach nicht<br />
in den Bereich der Verhaltensstörungen. In Abgrenzung davon werden<br />
Verhaltensstörungen als „diagnostisch objektivierbare Irregularitäten“ (Benkmann,<br />
1992, 21) aufgefaßt, die einen überdauernden Charakter haben, aber beeinflußbar sind.<br />
Verhalten, das häufiger, längerfristig und aus der Sicht verschiedener Beobachter vom<br />
allgemein erwarteten Regelverhalten gegenüber anderen Personen und/oder der eigenen<br />
Person und/oder gegenüber Sachen abweicht, wird als gestört bezeich<strong>net</strong>. Es kann<br />
bewußt oder unbewußt sein und mit oder ohne Leidensdruck und Skrupeln erfolgen. Die<br />
weniger oft vorkommenden Verhaltensbehinderungen unterscheidet Bach von den<br />
Verhaltensstörungen als Abweichungen, die mit größerem Schweregrad und langfristig<br />
anhaltend erfolgen, sehr komplex sind und nahezu alle Lebensbereiche umfassen. Dazu<br />
gehöre z.B. das Verhalten <strong>bei</strong> akuten Psychosen und solches, das psychosomatische<br />
Ursachen hat. Alle Formen der Verhaltensbeeinträchtigung sind innerhalb des sozialen<br />
und gesellschaftlichen Kontextes zu sehen und nicht als individuelles<br />
Persönlichkeitsmerkmal.<br />
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42
Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
4.2.3 Definition nach Speck<br />
Nach Speck (1979, zit. in Benkmann 1992) liegen Verhaltensstörungen vor, wenn eine<br />
sogenannte pädagogische Beurteilungsinstanz ein Abweichen vom definierten<br />
Regelverhalten als derart gravierend und die Schwelle der Erträglichkeit überschreitend<br />
einschätzt, daß sich besondere erzieherische Maßnahmen notwendig machen, „um<br />
soziale Integration zu ermöglichen“ (ebd., 24). Um abweichendes Verhalten sicher<br />
feststellen zu können, muß eine Entscheidung darüber in hohem Maße zwischen<br />
beurteilenden Individuen überprüfbar sein. Speck schlägt die Festlegung einer<br />
„Erträglichkeitsschwelle“ vor. Diese Definition ist insofern problematisch, als sich<br />
schwerlich eine verbindliche „Erträglichkeitsschwelle“ definieren läßt. Darüber hinaus<br />
geraten Verhaltensweisen aus dem Blickpunkt pädagogischer Beeinflussung, die nicht<br />
als störend registriert werden, jedoch als Abweichung aufgefaßt werden können, wie<br />
<strong>bei</strong>spielsweise regressives Verhalten.<br />
Weiterhin spricht sich Speck gegen die Attribuierung von Personen mit dem Wort<br />
„verhaltensgestört“ aus, da auf diese Weise die Störung als alleiniges Merkmal der<br />
Person erscheint. Er schlägt die Verwendung der Beschreibung „... mit<br />
Verhaltensstörung“ vor, um dies zu umgehen.<br />
4.2.4 Fazit<br />
Alle drei Definitionen von Verhaltensstörungen haben gemeinsam, daß jene nicht als<br />
isolierte individuelle Merkmale oder Charaktereigenschaften aufgefaßt werden, sondern<br />
im Zusammenhang mit der sozialen und gesellschaftlichen Umwelt, deren Normen und<br />
Zuschreibungsprozessen Beachtung finden. Da<strong>bei</strong> liegt der Akzent <strong>bei</strong> Havers auf<br />
Etikettierungsprozessen, die durch die Übernahme vom Etikettierten in dessen<br />
Selbstkonzept deviantes Verhalten manifestieren. Speck hingegen betont die<br />
Abhängigkeit der Zuschreibung einer Verhaltensstörung von einer<br />
Erträglichkeitsschwelle, die möglichst intersubjektiv angenähert werden sollte, um eine<br />
Fehlzuschreibung zu verhindern. Bachs Modell ist sehr komplex und umfaßt sowohl die<br />
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43
Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
Ebene des Beobachters, als auch die des Beobachteten. Beobachtungsfehler führen zur<br />
Zuschreibung von Abweichungen, die keine wirklichen Verhaltensstörungen sind.<br />
Die <strong>bei</strong>den weiteren Formen von Verhaltensbeeinträchtigungen, die Verhaltensstörung<br />
und -behinderung, unterscheiden sich durch Dauer, Schwere und Komplexität und<br />
müssen als solche durch mehrere Beobachter objektiviert werden.<br />
Es erscheint als wichtig, diese verschiedenen Blickwinkel auf den Bereich der<br />
Verhaltensstörungen nebeneinander stehen zu lassen. Auf eine weitere Diskussion der<br />
Definitionsansätze soll an dieser Stelle verzichtet werden, da diese den Rahmen der<br />
<strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> sprengen würde.<br />
4.2.5 Erscheinungsformen und Ursachen von Verhaltensstörungen<br />
Verhaltensstörungen können, wie deutlich geworden ist, als relativ überdauernde<br />
Zustände beschrieben werden, die von einer Beurteilungsinstanz aus einer<br />
Machtposition heraus als Abweichung von einer Norm oder Erwartung definiert und als<br />
störend oder gestört erfahren werden. Die Normen können legislativ festgeschriebene<br />
sein oder aber solche, die auf interindividuellen, unbewußten und unbewußten<br />
„Vereinbarungen“ beruhen und daher von der Mehrzahl der Personen durchgesetzt<br />
werden.<br />
Erscheinungsformen von Verhaltensstörungen werden untergliedert, indem man<br />
feststellt, welche Lebensbereiche von Störungen betroffen sind. Myschker (1977, zit. in<br />
Benkmann 1992) unterscheidet Störungen im sozialen, emotionalen, im Schul- und<br />
Körperbereich und stellt fest, daß Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen in<br />
mehreren oder allen Bereichen auffällig sind. Als Beispiele für Störungen auf sozialer<br />
Ebene werden u.a. Aggressionen, Egoismus, Regression, auf emotionaler Ebene<br />
Depressivität, Stimmungsschwankungen, große Angst, Brutalität usw. genannt. Im<br />
Bereich der schulischen Leistungen stellt Myschker fest, daß diese trotz<br />
durchschnittlicher Intelligenz hinter den Erwartungen zurückbleiben. Die betroffenen<br />
Kinder und Jugendlichen sind nicht mit den üblichen pädagogischen Maßnahmen wie<br />
Lob, Tadel oder Appell zu erreichen und zeigen Konzentrationsschwäche. Im<br />
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44
Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
körperlichen Bereich treten verstärkt psychosomatische Störungen wie Einnässen und<br />
Einkoten, Magenschmerzen usw. auf.<br />
Bestrebungen zur Klassifikation von Verhaltensstörungen sind zahlreich und vielfältig.<br />
Der Nutzen dieser für den Abbau und die Prävention von Störungen ist jedoch fraglich.<br />
Daher soll auf eine weitere Ausführung dieser Problematik verzichtet werden.<br />
Für die Erklärung von Ursachen, die zur Entstehung von Verhaltensstörungen führen,<br />
gibt es ebenfalls zahlreiche Ansätze. Sie unterscheiden sich im Wesentlichen durch eine<br />
tiefenpsychologische, biophysische bzw. medizinische, verhaltens-, kommunikations-<br />
oder lerntheoretische, sozialpsychologische oder interaktionstheoretische Sichtweise.<br />
Darüber hinaus gibt es noch weitere Erklärungsansätze. Mittlerweile löst sich die<br />
Forschung von der Aufstellung absoluter Bedingungsfaktoren, die isoliert und<br />
unausweichlich zur Entstehung von Verhaltensstörungen führen hin zu einer<br />
komplexeren Betrachtung 20 . Damit wird die Entstehung von Störungen durch das<br />
Zusammenwirken unterschiedlicher, verschieden stark in Gewicht fallender<br />
Bedingungsfaktoren erklärt. Dieser Bedingungskomplex umfaßt also verschiedene<br />
Wirkfaktoren, deren jeweiliger Anteil an der Ausprägung einer Verhaltensstörung nicht<br />
exakt bestimmt werden kann. Es läßt sich lediglich vermuten, daß sich mit zunehmender<br />
Anzahl und Stärke der Wirkfaktoren die Wahrscheinlichkeit der Entstehung von<br />
Störungen erhöht. Einflußfaktoren werden in folgende Gruppen unterteilt (Benkmann<br />
1992, 37-43):<br />
- Abweichungen und Schädigungen des Organismus, physische Schäden und<br />
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Funktionsstörungen<br />
- belastende Einflüsse im familiären Bereich ( Mangelerlebnisse in der<br />
frühkindlichen Sozialisation, Über- und Unterforderung, chronische Frustration,<br />
Fehlen von emotionaler Zuwendung, Anerkennung, Selbständigkeit und<br />
motorischer Aktivität, etc.)<br />
- belastende Einflüsse der Schulsituation (Lehrerverhalten, häufige<br />
Mißerfolgserlebnisse, Überforderung usw.)<br />
20 Die ausführliche Darstellung eines komplexen Ansatzes findet sich <strong>bei</strong> Bach (1992).<br />
45
Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
- Schichtzugehörigkeit (in dem einseitig an Mittelschichtnormen ausgerichteten<br />
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Schulsystem)<br />
- epochale Belastungen (Wohnqualität, Medien, Orientierungsunsicherheit der<br />
Jugendlichen in einer pluralistischen Lebenswelt, Einschränkung der Spielräume<br />
durch Infrastruktur, u.a.)<br />
Störungen im Bereich des Verhaltens oder Erlebens entstehen also weder einseitig durch<br />
Einflüsse von außen oder psychische oder physische Prädispositionen, sondern als<br />
Ergebnis von prozeßhaft verlaufenden Austauschbeziehungen zwischen Individuum und<br />
sozialer und materieller Umwelt. So können „gleiche“ Störungen <strong>bei</strong> unterschiedlicher<br />
Ausgangslage und umgekehrt <strong>bei</strong> vermeintlich gleicher Ausgangslage unterschiedliche<br />
Störungen entstehen.<br />
Eine Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen bzw. die<br />
Prävention erfordern also nicht nur eine komplexe Diagnostik, die möglichst früh<br />
einsetzt, sondern ebenfalls eine Beeinflussung der Belastungsfaktoren auf sozialer und<br />
familiärer Ebene. Als Voraussetzung dafür macht sich systemisches Denken notwendig.<br />
4.2.6 Prävention und Abbau von Verhaltensstörungen im schulischen Bereich<br />
4.2.6.1 Prävention<br />
Da sich Verhaltensstörungen im Bedingungskreis zahlreicher Faktoren konstituieren<br />
und nicht auf isolierte Gegebenheiten oder Einflüsse zurückzuführen sind, bleibt kein<br />
pädagogisches Setting von ihnen unberührt. Das Auftauchen der Thematik beschränkt<br />
sich also keineswegs auf den Förderschulbereich, in dem z.T. physische<br />
Einschränkungen einen großen Risikofaktor darstellen, sondern ist in allen Bereichen<br />
pädagogischer Einflußnahme zu finden. Dies deshalb, weil Kinder und Jugendliche<br />
weder isoliert von familiären, epochalen u.a. Faktoren existieren, noch weil Schule<br />
außerhalb des Risikobereiches zu suchen ist. Belastende schulische Einflüsse können,<br />
wie oben angeführt, zu wesentlichen Konstituenten von Störungen werden. Aus diesem<br />
Grunde beziehen sich auch Maßnahmen zur Verhinderung von Verhaltensstörungen<br />
46
Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
hauptsächlich auf die Aufklärung von Lehrern aller Schularten und der Öffentlichkeit<br />
überhaupt und die Anleitung zu einer pädagogischen Reflexion. Mutzeck (1995) nennt<br />
daher als präventive Maßnahmen die Organisation öffentlicher Vorträge zur Aufklärung<br />
und von Seminaren zu Erziehungsfragen für Eltern und die Einrichtung von<br />
<strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong>skreisen von Experten auf kommunaler Ebene, um belastende<br />
Lebensbedingungen möglichst positiv beeinflussen zu können. Außerdem sollten<br />
grundlegende Aspekte der Verhaltensgestörtenpädagogik in die Ausbildung von Lehrern<br />
aller Schularten eingeführt bzw. Fortbildungskurse und Supervisionsgruppen für Lehrer<br />
angeboten werden und auf schulorganisatorischer und gestalterischer Ebene<br />
Erkenntnisse der Forschung berücksichtigt werden. Letzteres betrifft <strong>bei</strong>spielsweise die<br />
Gestaltung eines Schulgebäudes, der Klassenräume, der personellen Besetzung und der<br />
organisatorischen, didaktischen und methodischen Struktur des Unterrichts im Hinblick<br />
auf die Erkenntnisse über bedingende Faktoren von Verhaltensstörungen. An dieser<br />
Stelle können Erkenntnisse der Bibliotherapie zum Tragen kommen, was in Kapitel 5<br />
ausgeführt werden soll.<br />
4.2.6.2 Abbau von Verhaltensstörungen in der Schule<br />
Viele der Maßnahmen, die zum Abbau von Verhaltensstörungen führen sollen, sind<br />
durchaus auch in der Prävention einsetzbar, wie die Forderung nach kleinen Klassen und<br />
wenigen Lehrern. Hier sollen zunächst die Erwähnung finden, die an der Schule für<br />
Erziehungshilfe eingesetzt werden. Mutzeck (ebd.) unterscheidet im Wesentlichen zwei<br />
Maßnahmengruppen:<br />
Die erste umfaßt die schulischen Rahmenbedingungen einschließlich organisatorischer<br />
und pädagogischer Fragen. Zu ihr zählen u.a. die Betonung musischer, handwerklicher<br />
und sportlicher Tätigkeiten, der Aufbau von prosozialen Klassengemeinschaften,<br />
differenzierter und individualisierter Unterricht. Weiterhin sind alle Aktivitäten<br />
eingeschlossen, die die Klassengemeinschaft, prosoziales Verhalten, realistische<br />
Selbsteinschätzung, Individualität und Gruppenfähigkeit, sowie die Bewältigung von<br />
Alltagsanforderungen fördern. Die zweite Maßnahmengruppe <strong>bei</strong>nhaltet Aufgaben der<br />
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47
Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
Beratung durch den Förderpädagogen. Der Lehrer der Verhaltensgestörtenpädagogik<br />
vereint alle Aufgaben der Diagnose, Beratung, pädagogisch-therapeutischer Förderung<br />
und Nachbetreuung in seiner Person. Die Kooperation mit sonderpädagogischen,<br />
schulpsychologischen, medizinischen und sozialpädagogischen Diensten und mit<br />
anderen Schulen ist eingeschlossen. Die Förderung zielt auf das „Verlernen von<br />
Verhaltensstörungen“ und „Erlernen von prosozialem Verhalten, von Gruppenfähigkeit<br />
und Selbstkontrolle“ ab (ebd., 50) und umfaßt neben der schulischen Förderung auch<br />
Trainingskurse. Beraten werden sollten neben den Schülern und Regelschullehrern auch<br />
die Eltern.<br />
Als weitere Maßnahmen zum Abbau von Verhaltensstörungen ist die Betreuung durch<br />
die Kinder- und Jugendpsychiatrie oder durch Psychologen zu nennen, die sich z.T.<br />
außerhalb der Schule vollzieht. Dies wird besonders dann notwendig, wenn Kinder und<br />
Jugendliche von besonders schweren Persönlichkeitsstörungen betroffen sind. Eine<br />
Selbst- oder Fremdgefährdung macht eine stationäre Unterbringung notwendig, eine<br />
Beschulung erfolgt dann dort. Der Möglichkeiten psychotherapeutischer Einflußnahme<br />
gibt es sehr viele. Systemische Familientherapie, Verhaltenstherapie,<br />
tiefenpsychologische Formen und kreative Therapien, wie die Musik- Gestalt-, Mal-<br />
oder Kunsttherapie werden praktiziert. An dieser Stelle ist auch die Biblio- und<br />
Poesietherapie einzuordnen. In jedem Fall ist es pädagogisch bedeutsam, zu wissen ob<br />
und welche Therapien Schüler außerhalb der Schule wahrnehmen, da sie die<br />
Persönlichkeit beeinflussen. Psychoanalytische Therapien <strong>bei</strong>nhalten <strong>bei</strong>spielsweise eine<br />
Aufar<strong>bei</strong>tung traumatisierender Erfahrungen der frühen Kindheit und können dadurch<br />
eine eher depressive Grundstimmung erzeugen bzw. unterstützen.<br />
4.2.7 Der Unterricht an der Schule für Kinder mit Verhaltensstörungen<br />
4.2.7.1 Besonderheiten der Situation im Unterricht<br />
Zur abschließenden Behandlung von Fragen zum Thema Verhaltensstörung und zur<br />
Pädagogik in Schulen für Erziehungshilfe, sollen Besonderheiten der Situation im<br />
Unterricht und daraus resultierende didaktisch-methodische Fragen behandelt werden.<br />
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48
Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
Da<strong>bei</strong> dienen die Ausführungen von Hußlein (1993) als Grundlage. Zum Unterricht als<br />
kommunikativem und interaktivem Prozeß wurden bereits in Kapitel 3 Ausführungen<br />
gemacht. Desweiteren ist er gekennzeich<strong>net</strong> durch die Anforderung an den Pädagogen,<br />
die Vermittlung von Wissen und Wissenserwerbstechniken mit der Lebenswelt der<br />
Schüler in Verbindung zu bringen. So müssen zum Großteil wissenschaftliche<br />
Erkenntnisse auf eine schülergemäße Ebene transformiert werden. Im Unterricht mit<br />
Schülern mit Verhaltensstörungen gestaltet sich dies sehr schwierig, da in einem hohen<br />
Maße Kommunikation und Interaktion erschwert sind. So kennzeichnen u.a. fehlende<br />
Werte und Sinnesperspektiven, Isolation und permanente Frustration den Lebensweg<br />
von Kindern mit Verhaltensstörungen. Hinzu kommt, daß diese Schüler, bevor sie in die<br />
Schule für Erziehungshilfe kommen meistens auf sehr negative Schulerfahrungen wie<br />
Leistungsdruck, Überforderung und ständige Mißerfolgserlebnisse zurückblicken<br />
müssen. Da Verhaltensstörungen als „relativ überdauernde Dispositionen“ (vgl. Bach)<br />
komplexe Bedingungsfaktoren haben, gehen sie nicht sofort mit Änderung der<br />
Schulsituation als einem Bedingungsfaktor verloren. Vielmehr ist ein Prozeß des Um-<br />
und Neulernens von Verhalten und Selbsteinschätzung notwendig. Aus den genannten<br />
Gründen wird Unterricht <strong>bei</strong> Schülern mit Verhaltensstörungen zu einem schwer<br />
kalkulierbaren Prozeß. Hußlein (ebd.) nennt als problematische Verhaltensweisen von<br />
Schülern aggressiv-distanzlose Angriffe gegen Lehrer und Mitschüler, Aggressionen<br />
gegen sich selbst, Zerstörung von Eigentum anderer und von Einrichtungsgegenständen,<br />
Lernunlust, Leistungsverweigerung, depressive Verstimmung, ängstliche<br />
Zurückgezogenheit und völlige Beziehungslosigkeit. Diese Reihe ließe sich fortsetzen.<br />
Die Schule für Kinder mit Verhaltensstörungen versteht sich als Durchgangsschule, die<br />
die Wiedereingliederung der Schüler in Regelschulen zum Ziel hat. Der Lehrplan der<br />
Regelschule ist maßgebend. Desweiteren gibt es zahlreiche Versuche, Kinder mit<br />
Verhaltensstörungen an Regelschulen zu belassen. Das setzt voraus, daß eine Betreuung<br />
der Schüler und Beratung der Regelschullehrer durch Sonderpädagogen gewährleistet<br />
ist. Neben dem Prinzip des Durchgangs nimmt die Erziehung an diesen Schulen einen<br />
vorrangigen Platz ein. Wie alle anderen Kinder und Jugendlichen auch, so betont<br />
Hußlein, haben Kinder mit Störungen die Förderung ihrer Persönlichkeit und ihrer<br />
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Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
sozialen Bezüge zum Bedürfnis. Da<strong>bei</strong> muß der Erziehung nicht unbedingt eine<br />
Therapie vorausgehen, sie stellt jedoch ein unterstützendes Begleitangebot dar.<br />
4.2.7.2 Forderungen an Unterricht und Didaktik<br />
Nach Hußlein (ebd.) existiert bislang noch keine eigens entwickelte Didaktik für<br />
Schulen für Erziehungshilfe. 21 Er stellt fest, daß die üblichen didaktischen Theorien<br />
jedoch den besonderen Anforderungen in diesen Schulen nicht gerecht werden, da ein<br />
idealer Bildungsprozeß vorausgesetzt wird. Dieser ist mehr auf die Entfaltung relevanter<br />
Wissensinhalte, als auf subjektive Befindlichkeit und unmittelbare Lebenswirklichkeit<br />
psychosozial beeinträchtigter Kinder ausgerichtet. Spezifische soziale<br />
Wechselverhältnisse finden in den lern- und informationstheoretischen Modellen keinen<br />
Platz, die „über die Operationalisierung von Lernzielen, die Optimierung von<br />
Lernprozessen und den Aufweis allgemeiner sozialer Wechselverhältnisse“ (Hußlein<br />
1993, 476) nicht hinaus reichen. Daher muß sich Unterricht an der Schule für<br />
Erziehungshilfe der allgemeinen Forderung nach einer Schülergemäßheit in einem<br />
besonderen Maße annehmen. Dies liegt nahe, wenn man bedenkt, wie wesentlich die<br />
Individual- und Soziallage der Schüler den Unterrichtsprozeß beeinflussen können. Als<br />
Komponenten besonderer Hilfe sieht Hußlein den Situationsbezug, die Zeitlichkeit, den<br />
Schweregrad, die Wechselhaftigkeit, Normabhängigkeit und Mehrdimensionalität.<br />
Unter Situationsbezug wird verstanden, daß ein der Situation der Schüler angemessenes<br />
Arrangement des Unterrichts diesen und die Schule von allen Beteiligten als weniger<br />
problembehaftet erleben läßt. Die Zeitlichkeit verweist auf den begrenzten Rahmen<br />
einer Verhaltensstörung, die nicht als überdauerndes Pesönlichkeitsmerkmal gelten darf,<br />
sondern als pädagogisch und therapeutisch beeinflußbare Größe.<br />
Hinsichtlich individueller und gemeinschaftsbildender Förderung durch z.B.<br />
Gruppenar<strong>bei</strong>t ist der Schweregrad einer Störung ausschlaggebend. Durch<br />
differenziertes Vorgehen im Blick auf die individuelle Problemlage eines Schülers kann<br />
21 Geht man allerdings von der These aus, daß eine gute Didaktik einem jeden Schüler gerecht wird, so<br />
muß<br />
das kein Mangel sein.<br />
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50
Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
diesem besser entsprochen werden. Aufgrund der Wechselhaftigkeit von<br />
Verhaltensstörungen hinsichtlich der Erscheinungsform und des Ausprägungsgrades<br />
sollte der Lehrer eine tragfähige emotionale Basis anbieten und das Lernumfeld<br />
möglichst reizmindernd organisiert sein. Verhaltensstörungen vollziehen sich als<br />
Abweichung von regelhaftem und normgerechtem Verhalten und sind insofern auch von<br />
den Normsetzungen betroffen. Lehrer müssen über den Unterricht hinaus<br />
Diskriminierungs- und Ausgrenzungsprozessen vorbeugen und ihr eigenes<br />
Rollenverständnis hinterfragen. Mehrdimensionalität umfaßt die Forderung nach<br />
interdisziplinärer Zusammenar<strong>bei</strong>t und Erfahrungsaustausch im Team, um der Tatsache<br />
Rechnung zu tragen, daß sich psychosoziale Störungen auf verschiedenste<br />
Lebensbereiche beziehen und aus komplexen Bedingungen heraus soziale Beziehungen<br />
verschieden konfliktträchtig sein können. 22 Generell lassen sich für den Unterricht mit<br />
Kindern mit Verhaltensstörungen zwei Forderungen aufstellen. Im Hinblick auf die<br />
Wiedereingliederung in die Regelschule müssen Lerndefizite und Verhaltensmängel<br />
abgebaut werden und darüber hinaus die<br />
Schüler zu einer neuen Leistungsmotivation und zu einem angemessenen Selbstbild<br />
ihrer Leistungsfähigkeit gebracht werden. Vorstellungen dazu im Hinblick auf<br />
Stoffauswahl und Fächerkanon finden sich <strong>bei</strong> Hußlein (ebd., 479 f.). Bei der<br />
Unterrichtsgestaltung sollten allgemeine didaktische und methodische Ziele durchaus<br />
übernommen und mit Blick auf die besondere Problematik der Kinder modifiziert<br />
werden. Allgemeine Ziele des Unterrichts wie Zielorientierung, Motivierung,<br />
Strukturierung, Aktivierung, Angemessenheit sowie Leistungssicherung und -kontrolle<br />
sind durch Hußlein (ebd.) überdacht worden, jedoch nicht von unmittelbarer Bedeutung<br />
für die Fragestellung dieser <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong>.<br />
Abschließend sollen pädagogisch-therapeutische Handlungsformen skizziert werden, in<br />
die Unterricht eingebettet werden sollte.<br />
Das Gewähren von Geborgenheit kann als ein wichtiges Ziel <strong>bei</strong>m Umgang mit<br />
Schülern mit Verhaltensstörungen angesehen werden. Diese sollen sich als Person mit<br />
22<br />
So kann man <strong>bei</strong>spielsweise <strong>bei</strong> einem Mädchen mit konflikthafter Beziehung zum Vater<br />
Schwierigkeiten mit<br />
männlichen Lehrkräften vermuten bzw. in die Überlegungen zu individuellen Voraussetzungen<br />
einbeziehen.<br />
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51
Verhaltensstörungen und die besonderen Erfordernisse im pädagogischen Umgang mit ihnen<br />
ihrer spezifischen Problematik uneingeschränkt anerkannt fühlen, was oft eine große<br />
Schwierigkeit für den Lehrer darstellt. Weiterhin müssen Schüler dahin geführt werden,<br />
ihre Gefühle zu verdeutlichen. Dies bildet eine erste Voraussetzung dafür, daß<br />
sich das Kind in seiner Seelenlage ernst genommen sieht. Bestärkung und Ermutigung<br />
sollen das oft mangelnde Selbstvertrauen sowie Selbstachtung erzeugen, ebenso wie<br />
körperliche Berührungen nicht vermieden werden sollten. Dies ist <strong>bei</strong> dem oft<br />
ambivalenten Verhalten der Schüler zwischen extremer Nähe und panischer<br />
Distanzierung nicht leicht zu realisieren. Schließlich muß auf das Aufstellen und<br />
Einhalten von Regeln Wert gelegt werden, auf einen äußeren Ordnungsrahmen und eine<br />
Rhythmisierung des Schulalltags, um eine Orientierung anhand von begründeten<br />
Grenzen zu ermöglichen und letztere einsichtig zu machen. Diese Formen pädagogisch-<br />
therapeutischen Handelns sind ebenso auf Regelschulen übertragbar.<br />
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52
Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
5 Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im<br />
pädagogischen Feld<br />
Nach der Beschreibung des Problemkreises der Verhaltensstörungen und dem<br />
Verdeutlichen spezifischer Fragen und Probleme des Unterrichtens von betroffenen<br />
Kindern kann festgehalten werden, daß in Schulen für Erziehungshilfe allgemeine<br />
didaktisch-methodische Grundsätze hinsichtlich einer größeren Bedeutung der<br />
Individualität und Subjektivität der einzelnen Schüler modifiziert werden. Im Folgenden<br />
sollen zusammenfassend die Berührungspunkte von Bibliotherapie, Literaturunterricht<br />
und Unterricht mit Kindern mit Verhaltensstörungen dargestellt werden.<br />
5.1 Gemeinsamkeiten von Literaturunterricht, Bibliotherapie und Unterricht im<br />
Rahmen der Verhaltensgestörtenpädagogik<br />
Die Ziele und Absichten von Bibliotherapie, Literaturunterricht und Unterricht im<br />
Rahmen der Verhaltensgestörtenpädagogik ergeben eine Schnittmenge, die sich<br />
folgendermaßen darstellen läßt:<br />
Ziel von Bibliotherapie wie von Literaturunterricht ist es, literarische Texte mit dem<br />
eigenen Erleben in Verbindung zu bringen. Das sollte zu einer Auseinandersetzung mit<br />
Lebensfragen führen oder aufgrund von Lebensfragen und Lebensereignissen<br />
geschehen. In <strong>bei</strong>den Bereichen wird Literaturrezeption also dem unmittelbaren<br />
Lebenszusammenhang untergeord<strong>net</strong>. Diese Verbindung zu speziellen Ausschnitten aus<br />
der eigenen Lebenswelt schafft nicht nur einen kognitiven Vergleich des dargestellten<br />
Geschehens mit eigenen Erfahrungen, sondern ebenfalls einen emotionalen Zugang zum<br />
Text. Im Literaturunterricht stellt dieser eine Motivationsquelle dar. In der<br />
Bibliotherapie wird er darüber hinaus für weitere psychische Interventionen benutzt, da<br />
ausgenutzt wird, daß über die Rezeption von Literatur verdrängte Emotionen freigesetzt<br />
werden können. So soll Einsicht, als die Verbindung aktueller Konflikte mit verdrängten<br />
Anteilen, erreicht werden.<br />
Innerhalb von Bibliotherapie und Literaturunterricht soll ebenfalls ein Austausch über<br />
die durch Literatur evozierten Gedanken und Gefühle stattfinden. Dadurch wird nicht<br />
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53
Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
nur Kommunikation und Interaktion in Gang gebracht und Ausdrucksfähigkeit<br />
gefördert, sondern ebenfalls eine Reflexion der persönlichen Zugangsweise und<br />
Bewegtheit hervorgerufen. In <strong>bei</strong>den Gebieten geschieht so sprachliche Sozialisation<br />
bzw. können defizitäre sprachliche Erfahrungen reflektiert und evtl. korrigiert werden.<br />
Schließlich nutzen Bibliotherapie und Literaturunterricht aus, daß durch Literatur<br />
Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten antizipiert werden können, Wertvorstellungen<br />
transportiert werden. Diese geben u.U. dort Anstoß zum eigenen Handeln, wo die<br />
betroffene Person keine Möglichkeit zum Handeln mehr sah, helfen <strong>bei</strong> der (Wieder-)<br />
Erlangung von Lebenssinn oder erzeugen ein Sich-verstanden-Fühlen.<br />
Für den (Literatur-) Unterricht mit Kindern mit Verhaltensstörungen sind alle die<br />
genannten Komponenten von besonderer Bedeutung. Aufgrund ihrer größtenteils<br />
negativen Schulerfahrungen ist eine Motivation sehr wichtig. Dies muß über ein<br />
Anknüpfen an die Lebenswelt, die eigenen Erfahrungen und Erlebnisse geschehen.<br />
Lebensweltbezug heißt nicht zuletzt, daß die Befindlichkeit der Schüler thematisiert<br />
werden muß, da sie oft unter großen Ängsten oder Depressionen leiden (vgl. Kap.<br />
4.2.5). Insofern kann durch die Freisetzung von Emotionen eine Entlastung erfahren<br />
werden. Die Erfahrungen in der bibliotherapeutischen <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern und<br />
Jugendlichen, wie sie im nächsten Kapitel vorgestellt werden sollen, zeigen, daß sich<br />
über das Lesen von gut ausgewählten Texten das Gefühl des Sich-verstanden-Fühlens<br />
einstellen kann. Eine Identifikation mit dem Autor oder Helden findet statt und die<br />
eigene Lebensgeschichte wird nicht mehr als Einzelschicksal verstanden. So kann<br />
Lebenssinn (wieder-) gewonnen werden.<br />
Die Betonung des emotionalen Zugangs zu Texten erleichtert Kindern mit<br />
Konzentrationsschwäche das Zuhören.<br />
Kinder mit Verhaltensstörungen unterliegen auch häufig dem, was Petzold und Orth<br />
(1985,67 f.) als defizitäre sprachliche Sozialisation bezeichnen. Sie wachsen innerhalb<br />
einer gewalttätigen (traumatisch), inkonstanten und widersprüchlichen (distortiv),<br />
unempathischen oder überhaupt fehlenden (defizient) oder zwanghaften und<br />
unterdrückenden (repressiv) Sprachkultur auf. Durch neue Erfahrungen in der<br />
Sprachverwendung und -wirkung kann diese reflektiert und evtl. korrigiert werden.<br />
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54
Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
Durch das Erlernen von einer Reflexion der persönlichen Zugangsweise zu einem Text<br />
und die durch ihn ausgelösten Gefühle wird der Blick auf das Selbst gerichtet.<br />
Vermutlich kann dadurch auch Selbstbeherrschung erlernt werden.<br />
Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen stehen in verschiedenen Situationen<br />
keine adäquaten Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten zur Verfügung. Durch die<br />
<strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Texten können sie verschiedene kennenlernen und diskutieren. Sie liefern<br />
ihnen Hilfe <strong>bei</strong> der Alltagsbewältigung.<br />
Schließlich spielen in der Verhaltensgestörtenpädagogik Kommunikation und<br />
Interaktion eine große Rolle. Sie sind, wie auch sprachliche Ausdrucksfähigkeit, meist<br />
erschwert. Durch eine bibliotherapeutisch orientierte <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Texten, das Kapitel 5.4<br />
liefert dafür ein Beispiel, werden diese Aspekte gefördert.<br />
Es soll nochmals betont werden, das alle diese Komponenten ebenso für den Unterricht<br />
an Regelschulen Bedeutung tragen. Aufgrund der individuellen Gegebenheiten der<br />
Schüler mit Verhaltensstörungen müssen sie im Unterricht mit ihnen jedoch einen<br />
besonderen Platz einnehmen. Sie ebnen dort den Weg dafür, Schule überhaupt zu<br />
ermöglichen.<br />
5.2 Erfahrungen in der bibliotherapeutischen <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong><br />
Es läßt sich also feststellen, daß sich im Blick auf die Ziele von Literaturunterricht, der<br />
Pädagogik <strong>bei</strong> Verhaltensstörungen und die der Bibliotherapie große Überschneidungen<br />
ergeben. Was den Bereich der Verhaltensstörungen betrifft liegt dies nahe, da diese im<br />
Einflußbereich der Psychotherapien angesiedelt sind. Die Berührungspunkte von<br />
Bibliotherapie und Literaturunterricht sind dem Gegenstand geschuldet. Es sollen nun<br />
zunächst Ergebnisse und Erfahrungen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern und<br />
Jugendlichen mit Verhaltensstörungen dargestellt werden. Diese <strong>bei</strong>nhalten jedoch nur<br />
wenige Hinweise hinsichtlich einer Verfahrensweise bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong>.<br />
Anschließend werden bibliotherapeutische Ansätze betrachtet und literaturdidaktische<br />
Modelle hinsichtlich ihrer Eignung für eine Verbindung mit bibliotherapeutischem<br />
Denken untersucht.<br />
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55
Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
5.2.1 Bibliotherapeutische <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern und Jugendlichen<br />
Die Untersuchungen zur bibliotherapeutischen <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern und Jugendlichen mit<br />
Verhaltensstörungen beschreiben zumeist ein Therapiesetting oder die Situation im<br />
Einzelunterricht, wo<strong>bei</strong> das Vorgehen im Einzelnen nicht detailliert dargestellt wird.<br />
Vom Lesen der Texte geht für die Rezipienten oft eine Motivation aus, eigene Gedichte<br />
oder Erzählungen zu verfassen. Die Ergebnisse sind überraschend. So berichtet Viola<br />
Kantrowitz (1967) von ihrer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> in Schulen für emotional gestörte, delinquente und<br />
schizophrene Kinder. Sie geht von der Frage aus, welche Formen von Literatur eine<br />
besondere Bedeutung für lernschwache Kinder haben. In der Einzelar<strong>bei</strong>t stellt sie fest,<br />
daß Texte, die die individuellen Bedürfnisse eines Kindes berücksichtigen bzw. dessen<br />
spezielle Fragen aufgreifen, die größten Veränderungen bewirken. Ihre drei Fallstudien<br />
zeigen erstaunliche Ergebnisse. Neben der Verbesserung der sprachlichen Kompetenz,<br />
verstärkter Energie und emotionalen Ausdrucksfähigkeit, der größeren Tendenz zum<br />
Lächeln und zum sorgfältigeren Umgang mit sich selbst, findet sich auch die stärkere<br />
Motivation zum handwerklichen Tun und damit die Verbesserung der handwerklichen<br />
Fertigkeiten. Das Lesen von Gedichten und Texten regte die Jugendlichen zumeist zum<br />
eigenen Schreiben an. Dennoch ist Kantrowitz nicht zu optimistisch in bezug auf die<br />
Langzeitwirkung dieser therapeutischen Einflußnahme und schreibt:<br />
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„... it can be seen that using carefully selected materials to motivate emotionally and socially<br />
deprived children can present rewarding results. But, although they may be reached<br />
temporarily, there is no way of telling whether life circumstances or their inner turmoil may<br />
become so overwhelming to them that books may play only a small role in their later lives.“<br />
(ebd., 212)<br />
Morrison (1969) legt Fälle aus seiner <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit psychosozial gestörten Jugendlichen als<br />
Haus- bzw. Krankenhauslehrer in New York dar. Durch die Rezeption von<br />
ausgewählten Gedichten im Einzelunterricht, die wiederum die besondere Problematik<br />
des Schülers aufgriffen, konnten seine Schüler lernen, sich selbst zu akzeptieren. In der<br />
Auseinandersetzung mit den Texten entstanden persönliche Gedichte, die eine deutliche<br />
Entwicklung zeigen. Die Jugendlichen waren in der Lage, Emotionen zu äußern, sich<br />
über ihre Wünsche klar zu werden und sich und ihre Beziehung zur Umwelt<br />
56
Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
realistischer einzuschätzen. Krankheit, Behinderung und andere negative Erlebnisse<br />
konnten in das Selbstkonzept integriert werden.<br />
Dorothy Kobak (1969) schildert poesietherapeutische <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit sozial und emotional<br />
auffälligen Schülern. Da<strong>bei</strong> bilden die von den Schülern selbst verfaßten Gedichte den<br />
Ausgangspunkt für Diskussionen, die das Sprechen über die eigene Befindlichkeit<br />
erleichtern bzw. überhaupt ermöglichen. Sie beschreibt diesen Prozeß als „emotionale<br />
Ansteckung“:<br />
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„The therapeutic effect of these talk sessions following the writing lay in the fact that one boy`s<br />
ability to express his feelings overtly often would free another boy to discuss a sensitive area<br />
that had previously been too threatening for him to discuss. This form of „derivative insight and<br />
spectator therapy“ had therefore more than a small element of emotional contagion. It led to a<br />
lessening of resistance towards self-revelation and to decreased feelings of isolation.“ (ebd.,<br />
183)<br />
Auf dem Weg zur Wiederherstellung seelischer Gesundheit schätzt sie den kreativen<br />
Prozeß als wichtige Ergänzung einer Therapie ein.<br />
Weiterhin zitieren die empirische Untersuchung von Altmann und Nielson (1974), die<br />
die Wirkung von Bibliotherapie für den Aufbau von Selbstwertgefühlen <strong>bei</strong> gestörten<br />
Kindern nachweisen. Gleichzeitig warnen sie vor unzureichend ausgebildeten<br />
Bibliotherapeuten, die u.U. einen negativen Effekt bewirken können.<br />
Petzold und Orth (1985) verweisen weiterhin auf Art Berger (1973), der in der <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong><br />
mit Kindern und Jugendlichen zur Stimulieren des Schreibens von Gedichten leise<br />
Bluesmusik einsetzt. Der Lehrer sollte der Entfaltung von Spontaneität und des freien<br />
Ausdrucks Raum geben. Um es gestörten Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen,<br />
über das Ausdrücken unterdrückter Gefühle, Träume und Phantasien Identität finden.<br />
Die Beispiele zeigen, daß ausgewählte Literatur für die Persönlichkeitsentwicklung<br />
gestörter Kinder und Jugendlicher einen bedeutsamen Anstoß geben kann. Deutlich wird<br />
ebenfalls die enge Verbindung des rezeptiven und produktiven Ansatzes.<br />
Allerdings sind sämtliche Untersuchungen inzwischen schon sehr bejahrt und treffen<br />
keine empirischen Aussagen. Auch klingen sie z.T. sehr pathetisch, Mißerfolge finden<br />
keine Erwähnung. So bleibt zu hoffen, daß ihnen in absehbarer Zeit aktuelle<br />
Untersuchungen gegenübergestellt werden können.<br />
57
Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
5.2.2 Modell der Bibliotherapie und Biblioprophylaxe nach Ehrenberger und Sedlak<br />
Ehrenberger und Sedlak (1987) stellen ein bibliotherapeutisches Modell mit drei Phasen<br />
vor. 23 Es ist durch eine Zunahme an Problemlösekompetenz und Autonomie hinsichtlich<br />
der Wahl eines Vermittlungsmediums gekennzeich<strong>net</strong>. Da<strong>bei</strong> hängt es von der Stärke<br />
der Belastung oder Neuartigkeit einer bestimmten Erfahrung und der Zunahme von<br />
Bewältigungskompetenz im Hinblick auf eine bestimmte Situation ab, ob innerhalb der<br />
Phase A, B oder C reagiert wird.<br />
Die Phase A weist eine stark von außen geleitete Hilfe <strong>bei</strong> Fragen oder Problemen auf,<br />
die aufgrund eines Mangels an Lebensbewältigungsstrategien und Konfliktpotential<br />
nicht autonom gelöst werden können. Ein konkreter Vorschlag eines Mediums der<br />
Verar<strong>bei</strong>tung, in diesem Fall der Text, wird vom Therapeuten gemacht. Der Text wird je<br />
nach Situation ausgewählt und muß für die Situationsbewältigung relevant sein, d.h.<br />
eine Identifikation zulassen, bzw. dem ISO-Prinzip entsprechen. Die Elemente der<br />
Rezeptions-, Verar<strong>bei</strong>tungs- und Auswirkungsphase sind den Graphiken zu entnehmen.<br />
In Phase B treffen die Einwirkungen aus der Umwelt bereits auf eine erweiterte<br />
Problemlösekapazität. Daher findet das Aufsuchen eines geeig<strong>net</strong>en<br />
Verar<strong>bei</strong>tungsmediums weniger fremdgesteuert statt, ggf. werden alternative<br />
Möglichkeiten ausprobiert, wie Musik und darstellende Kunst. Anhand eigener<br />
Kriterien wird ein geeig<strong>net</strong>es Material aufgespürt, welches sich dazu eig<strong>net</strong>, die eigene<br />
Sicht auf das Problem zu objektivieren. Dies kann ein konfliktreiches Musikstück oder<br />
ein Text sein, der eine Lebenskrise und deren Bewältigung darstellt. Es folgen wiederum<br />
die Phasen der Rezeption, Verar<strong>bei</strong>tung und Rückkopplung.<br />
Die letzte Phase, Phase C, wird durch ein hohes Maß an Problemlösekapazität und<br />
Autonomie charakterisiert. Es erfolgt eine direkte Problembewältigung, da belastende<br />
Umwelteinwirkungen auf ein ausreichend großes Repertoire an Lebensbewältigungs-<br />
strategien hinsichtlich der Problemfelder Individuum - Gesellschaft, Person -<br />
Gemeinschaft und hinsichtlich intraindividueller Konflikte stoßen. Die Vermittlungs-<br />
funktion eines Mediums ist nicht mehr notwendig, belastende Probleme oder Fragen<br />
23 Das Modell soll hier verkürzt dargestellt werden. Die graphische Darstellung der Phasen findet sich im<br />
Anhang.<br />
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58
Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
können direkt reflektiert und in bestehende Konzepte integriert werden. Daraus ergeben<br />
sich Impulse für reale Veränderungen, für klärende und initiative Dialoge.<br />
Alle drei Phasen, so betonen Ehrenberger und Sedlak, sind nicht als feststehender<br />
Regelkreis, sondern vielmehr als „Ausschnitte aus einem umfassenden<br />
Verar<strong>bei</strong>tungsprozeß“ (ebd., 78) zu sehen. Da das Leben als fortwährender Prozeß der<br />
Auseinandersetzung mit belastenden Situationen und mit Lebensfragen aufzufassen ist,<br />
machen sich mit Erreichen der Stufe C Bücher keineswegs überflüssig. Außerdem ist<br />
Lektüre insofern unersetzbar, als es sich um eine Begegnung des Lesers mit Text, Autor,<br />
Lebenssituation und Kultur unabhängig der Grenzen von Raum und Zeit handelt.<br />
Für die <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im Unterricht ergeben sich aus diesem Modell Forderungen hinsichtlich<br />
einer Medienvielfalt und zunehmenden Autonomie in der Medienwahl. Es gehört zu den<br />
Aufgaben des Unterrichts, Kindern Lebensbewältigungsstrategien zu vermitteln und<br />
Lebenshilfe zu geben.<br />
Weiterhin stellen Ehrenberger und Sedlak die zwei Wege zur vorbeugenden<br />
Auseinandersetzung mit Literatur dar. Der erfahrungszentrierte Weg innerhalb der<br />
Biblioprophylaxe geht vom Lesen aus. Die in Texten gebotenen Auseinandersetzungen<br />
mit wichtigen Lebensfragen müssen hinsichtlich einer inneren Resonanz untersucht<br />
werden. Eine solche Stellungnahme kann den Fragen nach dem inneren Echo, der<br />
Bewegung (Was freut, kränkt, ärgert, bedrückt mich?) und der daraus resultierenden<br />
persönlichen Konsequenz folgen. Das dadurch Gelernte sollte schrittweise in die<br />
Alltagsbewältigung umgesetzt werden.<br />
Ein problemzentrierter Zugang geht aus von einer inneren Befindlichkeit oder<br />
Fragestellung in einer fiktiven Situation. Ein Ausfindigmachen geeig<strong>net</strong>er Literatur, ggf.<br />
durch Hilfe von außen, schließt sich an, die vergleichend gelesen wird. Darauf folgen<br />
wiederum das Aufspüren der inneren Resonanz und die schrittweise Umsetzung des<br />
Gelernten.<br />
Auf diese Weise wird das Aufnahme- und Konfliktpotential von Menschen erweitert<br />
und „trainiert“, einer Überforderung und krankhaften Überlastung des psychischen<br />
Apparates vorgebeugt. Beide Zugangswege lassen sich im Unterricht umsetzen, da<br />
Literaturrezeption ohnehin an die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen anknüpfen<br />
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59
Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
sollte. Dies bedeutet Anknüpfung an Erlebnisse und Situationen aus dem Lebensbereich<br />
der Schüler oder an ihre Gefühlswelt.<br />
5.2.3 Prinzipien bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern nach Rhea Joyce Rubin<br />
Rhea Joyce Rubin (1978) stellt Prinzipien für die bibliotherapeutische <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit<br />
Kindern auf. So sollten mit Kindern, die noch nicht lesen können, Geschichten erzählt<br />
oder laut vorgelesen werden. Aufgrund der geringeren Aufmerksamkeitsspanne sollten<br />
Kurzgeschichten verwendet werden und die Sitzungen nicht länger als 30 Minuten bis 1<br />
Stunde andauern. Bücher oder Geschichten müssen mehrmals gelesen werden, um den<br />
Kindern die Möglichkeit zu geben, diese vollständig aufzunehmen und zu verstehen. In<br />
Bilderbüchern spielen die Illustrationen eine große Rolle, da sie die Aufmerksamkeit auf<br />
bestimmte Aspekte lenken. Tiergeschichten und phantastische Geschichten erlauben es<br />
den Kindern zu tagträumen. Tagträume <strong>bei</strong>nhalten die Auseinandersetzung mit<br />
Bedürfnissen, Zielen, Wünschen und Absichten. Darüber hinaus spielen in<br />
Tiergeschichten Alter, Geschlecht und Rasse keine Rolle und erleichtern dadurch die<br />
Identifikation.<br />
Rubin beschreibt weiterhin die Technik des gegenseitigen Geschichtenerzählens (mutual<br />
story telling), die innerhalb von Bibliotherapie oder auch einzeln angewendet werden<br />
kann. Das Kind erzählt eine Geschichte und der Therapeut erzählt darauffolgend eine<br />
andere, die auf der ersteren basiert. Sie sollte neue Einsichten, Alternativen oder<br />
Lösungen eröffnen. Die Erwiderung des Therapeuten ist nicht als psychoanalytische<br />
Erklärung zu verstehen und muß in der Sprache des Kindes geschehen und ohne daß die<br />
Grundlagen von Bibliotherapie den Kindern vorher erklärt wurden. Für ein solches<br />
Vorgehen macht sich eine spezielle Ausbildung notwendig.<br />
Mit jüngeren Kindern sollten die bibliotherapeutische Theorie und die Ziele<br />
grundsätzlich nicht besprochen werden, wohingegen mit älteren Schülern ein direkteres<br />
Vorgehen möglich ist. Bei diesen können auch Methoden aus der <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit<br />
Erwachsenen angewendet werden. Der Umgang mit realen Geschichten muß, wie Rubin<br />
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60
Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
betont, sehr vorsichtig und auf direktem Wege erfolgen, um auf mögliche Fragen sofort<br />
eingehen zu können.<br />
Die von Rubin vorgestellten Prinzipien bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> lassen sich auf die<br />
Unterrichtssituation übertragen.<br />
5.2.4 Ilse M. Lehner: Die Verwendung Kinder- und Jugendliteratur in der Schule<br />
Lehner (1991) untersucht die Verwendung von Kinder- und Jugendliteratur in der<br />
Schule <strong>bei</strong> der Bewältigung von Trennungs- und Scheidungssituationen und den damit<br />
verbundenen Begleiterscheinungen wie Orts- und Schulwechsel. Ausgehend von der<br />
Feststellung, daß Kinder in Krisensituationen meist schwer zu Büchern Zugang haben,<br />
die ihre Situation beschreiben, zu Hause „Krisenbücher“ oft nicht vorhanden sind, in<br />
Bibliotheken ungenügend beraten werden kann etc., rechtfertigt Lehner das Behandeln<br />
solcher Bücher im Unterricht. Die von ihr angeführten Beispiele sind ebenso konkret<br />
wie gewagt.<br />
So stellt sie dar, wie einem Scheidungskind, das durch einen Ortswechsel neu in der<br />
Klasse ist, durch literarische Vorbilder geholfen werden kann und die Mitschüler<br />
gleichzeitig weitere soziale Handlungsmöglichkeiten erlernen.<br />
Der Grundgedanke dieser Hilfe besteht darin, passende Szenen zusammenzustellen bzw.<br />
entsprechende Literatur auszusuchen, in der Klasse zu lesen und darüber ins Gespräch<br />
zu kommen. Anhand der Erzählung bzw. des Materials erfahren die Mitschüler, wie es<br />
dem „Neuen“ geht, wie sich seine Situation zu Hause darstellt, was Trennung und<br />
Umzug bedeuten. Anschließend wird der Frage nachgegangen, wie sich die<br />
Schulkameraden im Buch verhalten, um dem Mitschüler diese schwere Situation zu<br />
erleichtern und schließlich die Situation in der Klasse analysiert. Schüler mit gleichen<br />
Erfahrungen könne diese und die da<strong>bei</strong> aufgetretenen Gefühle erzählen. Gemeinsam mit<br />
den betroffenen Kindern wird nach Lösungen und Hilfen gesucht. Diese können von der<br />
Planung gemeinsamer Unternehmungen, <strong>bei</strong>spielsweise von Ausflügen, um dem Kind<br />
die Umgebung vertraut zu machen, bis hin zu Hausaufgabenhilfe reichen. Maßnahmen,<br />
die dem Kind die Eingliederung in das soziale Gefüge erleichtern werden ebenso<br />
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61
Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
geplant. Dazu gehört das Aufbringen von Verständnis von Seiten der Mitschüler, auch<br />
wenn das Kind gerade „komisch“ ist, das Mitnehmen nach Hause oder in die Clique<br />
bzw. den Sportclub.<br />
Wichtigstes Anliegen ist das Einfühlen-Lernen und das Aufbringen von Verständnis für<br />
andere in schwierigen Situationen. Insofern werden den Schülern neue Handlungs- und<br />
Verhaltensmuster angeboten. Nach Lehner ist ein solches Modell, je nach Gewichtung,<br />
Ausführlichkeit und Anspruchsniveau, ab Klasse 4 durchführbar.<br />
Kritisch zu sehen ist, daß betroffene Kinder plötzlich im Mittelpunkt stehen und ihre<br />
private Situation im Klassenrahmen diskutiert wird. Da<strong>bei</strong> ist äußerst vorsichtig<br />
vorzugehen, da sich das Kind, daß noch nicht in das soziale Gefüge integriert ist, evtl.<br />
exponiert fühlt. Auch ist großes pädagogisches Geschick erforderlich, um eine<br />
Überfürsorge zu verhindern.<br />
5.2.5 Udo Kittler: Unterrichtsplanung „Bibliotherapie“<br />
Udo Kittler (1982) stellt ein fächerübergreifendes Projekt im Religionsunterricht für die<br />
Sekundarstufe II vor, das Einsicht in die Interdependenz von Bibliotherapie, Literatur<br />
und Religion vermitteln soll. Die angestrebten Lernziele bewegen sich sowohl auf<br />
literaturtheoretischer Ebene, als auch auf der therapeutisch-psychologischen Ebene der<br />
Bedeutung von Literatur für den Einzelnen. Da<strong>bei</strong> sollen die Schüler Einblick in<br />
bibliotherapeutisches Denken und die Ziele von Bibliotherapie erhalten.<br />
Religionsunterricht ist insofern in dieses Thema involviert, als er die Aufgabe hat, über<br />
Sinn- und Wertesysteme zu informieren und zu reflektieren. Kittler ar<strong>bei</strong>tet einen<br />
metaphorischen und daraus resultierend einen bibliotherapeutischen Gehalt der<br />
Geschichte „Der kleine Prinz“ von Antoine des Saint-Exupery heraus. Sechs<br />
bibliotherapeutische Leitgedanken bilden die <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong>sbasis.<br />
Das Projekt wird, grob skizziert, in 5 Phasen durchgeführt. Die Projektinitiative bildet<br />
den Einstieg. Über die Reflexion von eigenen Leseerfahrungen und -erlebnissen kann<br />
für die Diskussion nach dem Gewinn und Nutzen von Literatur motiviert werden.<br />
Daraufhin folgt die Auseinandersetzung mit der Projektinitiative bezüglich der<br />
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62
Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
Problemkreise, die in den später formulierten inhaltlichen Bausteinen ihren<br />
Niederschlag finden. Ergebnis dieser Phase ist ein <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong>splan (Projektskizze).<br />
Anschließend werden die Betätigungsgebiete entwickelt, innerhalb derer die<br />
Projektdurchführung stattfindet. Eine Stoffsammlung sollte bis dahin vorliegen. In<br />
Einzelar<strong>bei</strong>t, Klein- oder Gesamtgruppe werden die verschiedenen Gebiete bear<strong>bei</strong>tet.<br />
Den Abschluß bildet die Zusammenstellung der Ergebnisse mit anschließender<br />
Dokumentation.<br />
Als einzelne inhaltliche Bausteine, die von den Projektgruppen bear<strong>bei</strong>tet werden, nennt<br />
Kittler :<br />
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- Märchen<br />
- Antoine des Saint-Exupery<br />
- Leseabenteuer der Lernenden<br />
- Kleingruppen zu einzelnen Geschichten im Buch „Der kleine Prinz“<br />
- Bibliotherapie (mit verschiedenen Unterpunkten)<br />
- die bibliotherapeutische Wirkung des Buches<br />
- Dokumentation der Ergebnisse des Projektes<br />
Kittlers sehr anspruchsvolles Modell bibliotherapeutisch orientierter <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> 24 bildet eine<br />
gute Grundlage, Jugendliche mit diesem Thema vertraut zu machen und für die<br />
heilkräftige Wirkung von Büchern zu sensibilisieren. Für jüngere Schüler ist eine<br />
Vereinfachung des Modells ohne dieser stark theoretischen Grundlegung denkbar.<br />
5.3 Literaturdidaktische Modelle<br />
Im Folgenden sollen zwei didaktische Modelle der Literaturpädagogik überblickshaft<br />
dargestellt werden. Literaturunterricht - im Zwiespalt der Vermittlung von<br />
Literaturtheorie und der Betonung eines persönlichen emotionalen Zugangs zu Literatur<br />
- steht vor der Frage, diese <strong>bei</strong>den Ebenen zu verbinden. Beide haben ihre Berechtigung.<br />
Literaturtheoretisches Wissen ist Gegenstand des Lehrplanes und dies nicht zuletzt, weil<br />
63
Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
es Zugang zum kulturellen Leben ermöglicht. Literaturrezeption fernab von<br />
wissenschaftlichen Fragestellungen ist deshalb von großer Wichtigkeit, da gestaltete<br />
Sprache zunächst auf affektive Reaktionen und kognitive Assoziationen abzielt und eine<br />
(persönliche) Beziehung zwischen dem Produzenten und Rezipienten herstellen.<br />
5.3.1 Modell der Rezeptionsästhetik (3-Phasen-Modell)<br />
Das rezeptionsästhetische Modell (vgl. Bütow 1991, 67-76) gliedert sich in die Phasen<br />
der Erstrezeption und ihrer Vorbereitung, der vertiefenden Aneignung und des<br />
postrezeptiven Wiederaufgreifens und neuen Einordnens der aufgenommenen Literatur.<br />
Da<strong>bei</strong> ist die Erstrezeption am ehesten mit bibliotherapeutischen Absichten zu<br />
verbinden, da sie durch einen unvoreingenommenen Zugang zum Text gekennzeich<strong>net</strong><br />
ist. Der Bezug der Schüler zum Text steht im Mittelpunkt. Neben der Annäherung auf<br />
stofflichem, literaturtheoretischem, literaturhistorischem und biographischem Gebiet<br />
kann die Vorbereitungsphase auch unter sprachproduktiven oder psychologischen<br />
Gesichtspunkten erfolgen. Sprachproduktives Herangehen bedeutet die Ermunterung der<br />
Schüler, zunächst zum Motiv oder Thema in welcher Form auch immer gestalterisch<br />
tätig zu sein. Psychologische Annäherung impliziert das Nutzen der Lebens- und<br />
Kunsterfahrungen der Schüler. Beides bietet Ansatzpunkte für bibliotherapeutische<br />
Ziele, da die Möglichkeit besteht, persönliche Berührtheit auszudrücken. Freilich muß<br />
dafür Raum gelassen werden. Eine weitere Möglichkeit ist die Erstrezeption ohne<br />
Vorbereitung, <strong>bei</strong> der die Schüler den Text allein und meistens zu Hause lesen. Ein<br />
Gespräch über das Gelesene und dessen Wirkung sollte sich aus bibliotherapeutischen<br />
Gesichtspunkten anschließen.<br />
Die Phase der vertiefenden Aneignung und die der Postrezeption stehen im Zeichen der<br />
Analyse und Interpretation des Textes bzw. dessen Neueinordnung in andere<br />
Zusammenhänge unter literaturtheoretischen Gesichtspunkten. Sie eigenen sich nicht<br />
unmittelbar für bibliotherapeutische <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong>, wo<strong>bei</strong> ein Wiederaufgreifen eines stark<br />
24 Ausführlichere Darstellung im zitierten Artikel.<br />
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Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
diskutierten Textes mit der Frage nach der emotionalen Bedeutung sicher interessante<br />
und wichtige Aspekt zutage fördert, gerade im Blick auf (Einstellungs-)Veränderungen.<br />
5.3.2 4-Phasen-Modell nach Kreft<br />
Das 4-Phasen-Modell nach Kreft (1982) basiert auf einer deutlichen Offenheit im<br />
Umgang mit dem Text und betont die Eigenverantwortung der Schüler. Es ist für ältere<br />
Schüler besser geeig<strong>net</strong>.<br />
Die erste Annäherung an den Text soll nur durch die Begegnung von Leser und Text<br />
bestimmt werden, eine Verstrickung <strong>bei</strong>der stattfinden. Kreft nennt diese Phase die der<br />
„bornierten Subjektivität“, die ebenfalls über eine Motivation entscheiden wird. Bei<br />
älteren Schülern kann in dieser Phase schon ein erster Interpretationsentwurf entstehen.<br />
Es folgt die Phase der Objektivierung in der der erste subjektive Eindruck zum Text ins<br />
Verhältnis gesetzt und damit überdacht wird. Durch eine gegenseitige Korrektur der<br />
Rezipienten untereinander erfolgt eine Objektivierung. Ziel ist das Treffen von<br />
Aussagen, die am Text verifizierbar sind. Anschließend findet eine Rückwendung auf<br />
das Subjekt bzw. des Subjektes auf sich selbst statt, mit der Frage danach, was das<br />
Kunstwerk dem Leser „gegeben“ hat. Selbstkorrektur oder Neuinterpretation des Textes<br />
sind Bestandteile dieser Phase der Aneignung und reflektierten Subjektivität, wo<strong>bei</strong><br />
Aneignung eine betrachtende Anwendung des Textes auf sich selbst meint. Schließlich<br />
folgt die Phase der Applikation. Mögliche Übertragungen sind die auf allgemein<br />
literaturtheoretische, auf praktische oder auf weiterführende Fragen. Bei der Anwendung<br />
auf literaturtheoretische Fragen erfolgt das Einordnen in literaturwissenschaftliche bzw.<br />
-geschichtliche Kategorien. Die praktische Applikation erfolgt hinsichtlich realer<br />
Konflikte der Rezipienten und <strong>bei</strong>spielsweise im Rollenspiel. Bei der Ausar<strong>bei</strong>tung<br />
neuer Fragestellungen, die den Text zur Grundlage haben und über ihn hinaus führen, ist<br />
die Möglichkeit der Einbeziehung der Schüler groß.<br />
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Verstehen von Texten adäquat zu den 4<br />
Phasen des Modells verläuft, in allen Phasen jedoch die Momente der Subjektivität,<br />
Interpretation und Applikation mit unterschiedlich starker Gewichtung enthalten sind.<br />
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Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
Im Gegensatz zum 3-Phasen-Modell ist im Modell Krefts das Wechselspiel zwischen<br />
individueller und gesellschaftlicher Aneignung von Literatur stärker betont, das<br />
Subjektive erhält eine neue Qualität. Dadurch ist es bibliotherapeutisch ausgerichtet.<br />
5.4 Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> für den<br />
Literaturunterricht<br />
5.4.1 Möglichkeiten<br />
Wie oben schon herausgear<strong>bei</strong>tet wurde, besteht eine enge Verbindung zwischen<br />
Zielstellungen der Bibliotherapie, des Literaturunterrichts und der<br />
Verhaltensgestörtenpädagogik im Unterricht.<br />
Es soll darüber hinaus betont werden, daß eine gesonderte Betrachtung von Maßnahmen<br />
zur Prävention und Maßnahmen zum Abbau von Verhaltensstörungen unter<br />
bibliotherapeutischen Gesichtspunkten nicht notwendig erscheint. Dies läßt sich<br />
dadurch begründen, daß die Komponenten bibliotherapeutischen Denkens, die im<br />
Kapitel 5.1. auf den Unterricht mit Schülern mit Verhaltensstörungen bezogen wurden,<br />
ebenso für Regelschulen und andere Sonderschulen sowie für integrative Modelle gelten<br />
und dort eine schülerzentrierte <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> ebenfalls unterstützen.<br />
Präventive Maßnahmen sollen verhindern, daß Schüler überdauernde Störungen im<br />
Verhalten ausbilden. Außerdem <strong>bei</strong>nhalten sie neben schulorganisatorischen Fragen und<br />
Fragen der Aufklärung von pädagogischem Personal hauptsächlich die Reduzierung<br />
belastender schulischer Einflüsse und positive Beeinflussung schwieriger<br />
Lebensbedingungen bevor Kinder darauf mit Störungen reagieren. Gleiches gilt in der<br />
Verhaltensgestörtenpädagogik für den Abbau von Störungen. Wie Literaturunterricht<br />
diese unterstützen kann, wurde unter 5.1 gezeigt.<br />
In den Schulen für Erziehungshilfe stehen durch Kleinklassenstruktur, fast<br />
durchgängigem Klassenlehrerprinzip, Sonder- und Förderstunden sowie anderen<br />
Maßnahmen von vornherein andere Möglichkeiten einer pädagogischen Beeinflussung<br />
von Störungen unter der Berücksichtigung der individuellen Gegebenheiten von<br />
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Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
Schülern zur Verfügung. Meist wirkt diese entspanntere Schul- und Klassensituation an<br />
sich schon verhaltensändernd. Der Unterricht unterscheidet sich dadurch von dem an der<br />
Regelschule, daß bestimmte Grundlagen wie Gesprächsführungstechniken, Äußerung<br />
von Gedanken und Gefühlen überhaupt, Einsicht in und Einhaltung von Regeln und<br />
Normen, Kooperation und Gruppenfähigkeit, Selbstbeherrschung etc. erst erlernt und<br />
ggf. mit speziellen Programmen trainiert werden müssen. Darüber hinaus muß<br />
Unterricht so strukturiert und aufgear<strong>bei</strong>tet werden, daß Schüler, die größtenteils<br />
frustrierende Schulerfahrungen machen mußten, Erfolg erleben und Motivation<br />
erfahren.<br />
Prävention und Abbau unterschieden sich also, was ihren Inhalt und die grundsätzlichen<br />
Verfahrensweisen betrifft, wenig voneinander. Bei gleichem Lehrplan sind lediglich die<br />
Intensität, Häufigkeit und Differenziertheit der (sonder-) pädagogischen Maßnahmen<br />
unterschiedlich gewichtet.<br />
Die zitierten Darstellungen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern und Jugendlichen<br />
liefern Zeugnis von der einstellungs- und verhaltensändernden Wirkung, die Literatur<br />
auch <strong>bei</strong> stark deprivierten Menschen erzeugen kann. Die präventive Wirkung von<br />
Literatur als vorbeugende Auseinandersetzung mit Lebensfragen und belastenden<br />
Ereignissen wird von vielen Autoren gesehen und betont. Insofern muß festgehalten<br />
werden, daß bibliotherapeutisch motivierte <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im Literaturunterricht aufgrund der in<br />
5.1 genannten Ziele und Wirkungsweisen sowohl präventiv als auch abbauend<br />
hinsichtlich abweichenden Verhaltens wirksam werden kann. So kann sich als<br />
Nebenergebnis literarischer Erziehung Lebenshilfe einstellen.<br />
Die dargestellten literaturdidaktischen Modelle bieten Raum für bibliotherapeutische<br />
Intentionen. Zusammen mit den Untersuchungen und Konzeptionen<br />
bibliotherapeutischen Vorgehens lassen sie die Formulierung von Leitsätzen für eine<br />
bibliotherapeutisch orientierte <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im Literaturunterricht zu:<br />
* Wie die in Punkt 5.2.1 dargestellten Untersuchungen zeigen, ist der Bezug zur<br />
Lebenswelt bzw. zum Problem des Lesers von entscheidender Wirkung für eine<br />
Identifikation, einen Denkanstoß und Einsichts- und Verhaltensänderung. Literatur<br />
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Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
sollte sorgsam ausgewählt werden, wo<strong>bei</strong> jedoch eine Wirkung dieser nicht geplant<br />
werden kann. Sie stellt sich entweder ein oder nicht.<br />
* Genauso, wie mit Kindern mit Verhaltensstörungen Techniken des Sozialverhaltens<br />
trainiert werden müssen, ist es auch notwendig, Sprachsensibilität zu üben. Dazu<br />
eignen sich Wort- und Sprachspiele, das Malen zu Gedichten, Entschlüsseln von<br />
Metaphern oder Finden von Reimen, also alle Techniken, die die Beziehung von<br />
Sprache und Denken sowie die Äußerung von Emotionen durch Literatur einsichtig<br />
machen. In diesem Sinne kann Unterricht zur Relativierung defizitärer sprachlicher<br />
Sozialisationserfahrungen <strong>bei</strong>tragen.<br />
* Vor der literaturtheoretischen Betrachtung von Texten sollte der emotionale Zugang<br />
stehen, da dieser motivierend für die Auseinandersetzung mit Literatur wirkt. Bei<br />
Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen spielt die Motivation eine<br />
besonders große Rolle. Sie hilft den Schülern zu erkennen, daß die Beteiligung ihrer<br />
Person am Unterricht im Mittelpunkt steht. Darüber hinaus können<br />
bibliotherapeutische Implikationen wie Freisetzung von Emotionen, Identifizierung,<br />
Objektivierung, Einsicht, Sinnstiftung, Vorwegnahme von Handlungs- und<br />
Verhaltensalternativen etc. nur durch einen subjektiven bzw. subjektiv-reflektierten<br />
Zugang zum Text zum Tragen kommen.<br />
* Einen Schwerpunkt des Unterrichts sollte die Frage nach der Aussage des Textes für<br />
jeden einzelnen Schüler darstellen, wie es auch im Modell von Kreft betont wird. So<br />
wird die Diskussion von Literatur vor zu großer Abstraktheit für die Schüler bewahrt.<br />
* Maßnahmen, die den Gruppenzusammenhalt, die Kommunikation, die<br />
Gesprächsführung usw. günstig beeinflussen, wie Morgenkreise, Gesprächsrunden,<br />
Gruppenar<strong>bei</strong>t, sollten parallel zur <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> am Text durchgeführt werden, da sie das<br />
Wohlfühlen in der Klasse steigern und eine Äußerung vor der Klasse, in welcher<br />
Form auch immer, erleichtern.<br />
* Da Unterricht nicht mit einer Therapiesituation zu vergleichen ist, müssen vermutete<br />
unbewußte Anteile einer Schüleräußerung vorsichtig angesprochen werden (siehe<br />
auch Kap. Grenzen).<br />
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68
Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
* Das mehrmalige Lesen von Texten (vgl. Rubin) erweist sich als günstig, um Schülern<br />
das Verständnis, die Entschlüsselung von Metaphern, das innere Wirkenlassen zu<br />
ermöglichen. Bei Schülern mit Verhaltensstörungen kann man so Mißverständnisse<br />
durch evtl. Konzentrationsmängel verhindern.<br />
* Besonders <strong>bei</strong> Kindern mit Verhaltensstörungen sollten Auswahlmöglichkeiten <strong>bei</strong>m<br />
Behandeln von Gedichten oder auch Kurzgeschichten bestehen. Betroffene Kinder<br />
sind sehr häufig Stimmungsschwankungen unterlegen. Finden diese keinen<br />
Niederschlag und keine Identifikationsmöglichkeit in der Literatur, kann dies leicht<br />
zu Frustrationen führen. Da<strong>bei</strong> sollten jedoch keine Texte verwendet werden, die in<br />
depressiver Stimmung verbleiben und keinen Ausweg weisen (vgl. ISO-Prinzip).<br />
* Das Schreiben von Texten in der Auseinandersetzung mit einem Text oder als<br />
Selbstausdruck ist ebenfalls therapeutisch bedeutsam. Es sollte zugelassen und<br />
gefördert werden.<br />
* Wenn Erfahrungen aus der Literatur auf Lebensprobleme übertragen werden, kann<br />
Unterricht darauf abzielen, dem Leser größere Konfliktlösekompetenz und<br />
Selbstbeherrschung zu vermitteln und ihn in diesem Sinne vom Buch unabhängig zu<br />
machen. Wie im Modell von Ehrenberger und Sedlak gezeigt wird, sollte<br />
bibliotherapeutisch orientierte <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> auf eine Zunahme von Autonomie hinsichtlich<br />
der Medienwahl abzielen. Literaturunterricht muß in diesem Sinne als ein Angebot<br />
zur Äußerung der eigenen Befindlichkeit verstanden werden, welches neben anderen<br />
Angeboten (Musikunterricht, Kunstunterricht, Tanz) stehen und durch diese ergänzt<br />
werden kann.<br />
* Nimmt man Literaturunterricht als Möglichkeit der Förderung von Persönlichkeit,<br />
Selbstfindung und Selbstakzeptanz im bibliotherapeutischen Sinne wahr, so sollten<br />
Angebote zur Weiterbeschäftigung mit Literatur außerhalb von Unterricht gemacht<br />
werden. Dies liegt darin begründet, daß Literaturunterricht immer im Spannungsfeld<br />
von Wissensvermittlung und ästhetisch-emotionaler Zugangsweise steht. Haben<br />
Schüler in der Literatur ihre Ausdrucksmöglichkeit gefunden, so kann in der relativ<br />
lehrplanbestimmten <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> des Unterrichts Enttäuschung entstehen, weil geweckte<br />
Interessen und Absichten ggf. curicculumbedingt zu kurz kommen.<br />
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Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
* In die <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> innerhalb von Förder- bzw. Sonderstunden mit Kindern mit<br />
Verhaltensstörungen sollte bibliotherapeutisches Denken Eingang finden und als<br />
potentielle Möglichkeit der Therapie betrachtet werden.<br />
5.4.2 Grenzen<br />
Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> für den Unterricht ergeben sich überall dort, wo<br />
Unterricht und Therapie differieren. Dies wurde z.T. schon in Kapitel 3. beschrieben<br />
und soll hier noch einmal Erwähnung finden.<br />
Psychotherapie bedient sich bestimmter Techniken, um Unbewußtes bewußt zu machen,<br />
Verhalten zu ändern, Ängste abzubauen. Da<strong>bei</strong> ist die Beziehung zwischen Therapeuten<br />
und Klienten sehr tief und basiert auf gegenseitigem Vertrauen. Damit der Klient sich<br />
dem Therapeuten öff<strong>net</strong> und ggf. auch schmerzliche Erfahrungen während einer<br />
Therapie aushalten kann, muß gewährleistet sein, daß er während des <strong>gesamte</strong>n<br />
Prozesses professionelle Hilfe erfährt.<br />
Diese Hilfe ist im Unterricht nicht gewährleistet, da eine psychotherapeutische<br />
Ausbildung nicht in das Berufsbild des Lehrer gehört. Darüber hinaus kann er meist<br />
nicht seine ganze Aufmerksamkeit auf einen Schüler lenken. Insofern lassen sich<br />
Elemente der Psychotherapie auch nicht bedingungslos auf Unterricht übertragen,<br />
jedoch können Methoden - gerade von kreativen Therapien - zur Freisetzung von<br />
Gedanken und Gefühlen angewendet werden. Da<strong>bei</strong> sollte sich der Lehrer seiner<br />
Grenzen bewußt sein und seine Kompetenzen nicht überschreiten. Insofern muß auf<br />
Widerstände der Schüler <strong>bei</strong> der Äußerung persönlicher Befindlichkeit sensibel geachtet<br />
und diese zugelassen werden. Das Ansprechen von evtl. unbewußten, verdrängten<br />
Anteilen sollte nur äußerst vorsichtig und nicht in der direkten Konfrontation geschehen.<br />
Eine interdisziplinäre Zusammenar<strong>bei</strong>t kann betroffenen Schülern adäquate Hilfe zuteil<br />
werden lassen.<br />
Da Verhaltensstörungen meist multifaktoriell bedingt sind, scheint ein zu großer<br />
Optimismus hinsichtlich einer dauerhaften Verhaltensänderung aufgrund<br />
bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> nicht angeraten zu sein (s. die Ausführungen von<br />
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70
Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
Kantrowitz). Letztlich ist auch bibliotherapeutisch orientierte <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im Unterricht kein<br />
Ersatz für begleitende Interventionsstrategien, die eine Verbesserung der<br />
Lebensbedingungen zum Ziel haben (z.B. Betreutes Wohnen).<br />
Bibliotherapeutisch orientierte <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im Literaturunterricht erfährt darüber hinaus dort<br />
seine Grenzen, wo Lesefertigkeiten fehlen, wo<strong>bei</strong> jedoch auch das Vorlesen als Methode<br />
genannt wird. Auch ist sie abhängig von der sprachlichen Kompetenz der Schüler. Fehlt<br />
das Verstehen sprachlicher Bilder, ist die Sprachkompetenz oder Konzentrationsspanne<br />
sehr gering, so liegt es nahe, daß in diesen Gebieten eine erste Förderung geschehen<br />
muß.<br />
5.5 Ein Beispiel bibliotherapeutisch ausgerichteter <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im Literatur- bzw.<br />
Leseunterricht anhand der Geschichte „Kannst du nicht schlafen, kleiner<br />
Bär?“<br />
Im Folgenden wird versucht, bibliotherapeutisches Denken innerhalb von<br />
Literaturunterricht kurz darzustellen. Dem Rahmen dieser <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> geschuldet soll nur ein<br />
kurzer Text besprochen werden, die sich für den Einsatz im Grundschulbereich eig<strong>net</strong>.<br />
Der genaue Wortlaut der Geschichte „Kannst du nicht schlafen, kleiner Bär?“ von<br />
Waddell und Firth (1997) findet sich im Anhang.<br />
Entsprechend der Vorgehensweise lassen sich Anregungen für die vertiefende<br />
Behandlung von Literatur in der Sekundarstufe I finden. Die Ausführungen stellen keine<br />
detaillierte Unterrichtsplanung dar, vielmehr liegt der Schwerpunkt auf der Verbindung<br />
von Bibliotherapie und Unterricht.<br />
Zunächst werden literarische Potenzen der Geschichte und bibliotherapeutische<br />
Implikationen vorgestellt. Anschließend wird auf mögliche Verfahrensweisen und<br />
Techniken eingegangen.<br />
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71
Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
Bibliotherapeutische Implikationen<br />
Die im Folgenden dargestellten bibliotherapeutischen Inhalte der Geschichte stellen eine<br />
Möglichkeit der Interpretation dar. Auf andere Interpretationen soll an dieser Stelle nicht<br />
eingegangen werden.<br />
Beide Bären leben zusammen, verbringen die Tage gemeinsam. Sie verkörpern also eine<br />
enge Beziehung, wo<strong>bei</strong> nicht genau definiert ist, ob es sich um eine freundschaftliche<br />
oder familiäre Beziehung handelt. Der kleine Bär entspricht einem Kind. Er ist klein,<br />
muß früh zu Bett gehen. Insofern ist er die wahrscheinliche Identifikationsfigur für<br />
Grundschüler. Der große Bär trägt die Charakteristika eines Erwachsenen, ggf. eines<br />
reifen Jugendlichen. Er hat mehr Freiräume - er bleibt länger wach - , jedoch auch mehr<br />
Verantwortung - er kümmert sich um den kleinen Bären, bringt ihn ins Bett. Er könnte<br />
jedoch auch für Grundschulkinder, die viele häusliche Pflichten haben, wie z.B. das<br />
Versorgen jüngerer Geschwister, eine Identifikationsfigur sein.<br />
Es obliegt so dem Leser, die Beziehung der <strong>bei</strong>den Figuren und diese selbst nach seinen<br />
Erfahrungen oder Wünschen mit Inhalt zu füllen.<br />
Die Angst des kleinen Bären vor der Dunkelheit ist sehr diffus. Es wird nicht<br />
beschrieben, was genau ihm Angst macht. Die Dunkelheit ist eine furchteinflößende<br />
Größe, die für den kleinen Bären unberechenbar ist und bildet somit eine Parallele zu<br />
diffusen Ängsten von Kindern. Der kleine Bär äußert seine Angst, obgleich der große<br />
Bär beschäftigt ist und nicht gerne unterbrochen wird. Mit jedem Mal, das der große Bär<br />
seine Lektüre zur Seite legt, ist das Buch spannender und er „brummiger“. Dennoch<br />
nimmt er die Gefühle des kleinen Bären ernst, obwohl er sie selbst nicht nachvollziehen<br />
kann. Er versucht zunächst, die Ursache der Angst zu beseitigen, was ihm nicht<br />
vollständig gelingt. Irgendwann reichen seine „Kräfte“ nicht mehr aus. Die Dunkelheit<br />
vor der Höhle läßt sich nicht erhellen. Erst durch die Konfrontation mit der Dunkelheit<br />
kann der kleine Bär seine Angst überwinden.<br />
Im psychologischen Sinne läßt sich das Verhalten des kleinen Bären als Angstneurose<br />
beschreiben. Metaphorisch wird verdeutlicht, daß ein Überdecken der Ursache oder eine<br />
Intervention durch das Ansprechen des Rationalen - etwa im Sinne von: Du mußt dich<br />
nicht fürchten, ich fürchte mich auch nicht. - unwirksam ist. Einzig hilfreich ist in einer<br />
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Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
solchen Situation eine Gegenkonditionierung, wie es der große Bär schließlich auch<br />
betreibt. Er konfrontiert den kleinen Bären direkt mit dem Angstauslöser, der<br />
Dunkelheit, und bietet ihm da<strong>bei</strong> einen Sicherheitsreiz: er nimmt ihn fürsorglich auf den<br />
Arm. Da das angenehme Gefühl von Sicherheit mit Angst nicht vereinbar ist, vergißt der<br />
kleine Bär seine Angst und schläft ein.<br />
Bibliotherapeutisch motivierte Lernziele der Geschichte können also sein:<br />
innerhalb der Figur des kleinen Bären:<br />
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Auch wenn es andere vielleicht stört, darf ich meine Ängste (Gefühle) äußern. In<br />
der Umkehrung: Tue ich dies nicht, kann mir auch nicht geholfen werden.<br />
Auch für Erwachsene unverständliche Gefühle - der große Bär hat keine Angst -<br />
verdienen Beachtung, ich muß mich dafür nicht schämen.<br />
Es kann gut sein, wenn ich mir helfen lasse.<br />
Wenn man vor etwas (Unbestimmtem) Angst hat ist es gut, sich direkt damit<br />
auseinanderzusetzen. Hilfreich ist, wenn ich mir „Verstärkung“ mitnehme.<br />
innerhalb der Figur des großen Bären<br />
Ich muß auch Gefühle von anderen, die ich selbst nicht verstehe, (be-) achten.<br />
Nur dann kann ich mir nahestehenden Menschen helfen.<br />
Literarische Potenzen<br />
In der Grundschule sind vor allem das Üben der Lesefertigkeiten und die Freude am<br />
Lesen Ziele des Leseunterrichts. Darüber hinaus kann anhand der Geschichte eine erste<br />
Einführung einzelner Elemente des Märchens stattfinden. So finden sich die bekannte<br />
Formel „Es war einmal ...“ und eine Personifizierung von Tieren. Diese sprechen<br />
miteinander. Die Zahl Drei spielt eine wichtige Rolle: der große Bär bringt drei immer<br />
größere und hellere Laternen. Wendungen werden wörtlich wiederholt, Elemente der<br />
73
Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
Steigerung sind vorhanden: die Laternen werden größer, die Seiten im Buch immer<br />
weniger. Dadurch wird die Spannung in der Geschichte erhöht.<br />
Verfahrensweisen<br />
Sowohl aus bibliotherapeutischer und literaturdidaktischer, als auch aus<br />
verhaltenspädagogischer Sicht ist es sinnvoll, den Lebensbezug der Geschichte zu<br />
betonen. So eig<strong>net</strong> sich dieses Buch sehr gut, um mit Kindern über ihre möglichen<br />
Ängste zu sprechen. Mehrmaliges Lesen, auch in verteilten Rollen, sichert das<br />
Verständnis der Geschichte. Um anschließend ins Gespräch zu kommen, sind alle<br />
warming-up-Strategien denkbar: kleine Rollenspiele machen die Gefühle der <strong>bei</strong>den<br />
Bären plastischer. Sie können auch genutzt werden, um ein Varietät in<br />
Gefühlsäußerungen zu verdeutlichen. So läßt sich das Auf-den-Arm-Nehmen des<br />
kleinen Bären durch den großen Bären schwierig von Kindern darstellen, es muß also<br />
nach Alternativen gesucht werden, wie das Bieten Schutz oder von Sicherheit gezeigt<br />
werden können. Auf diese Weise werden Inhalte des Textes in den Alltag übersetzt und<br />
Handlungsmöglichkeiten angeboten bzw. durchgespielt. Das Malen der Bären, der<br />
Höhle usw. kann ebenfalls genutzt werden, um mit der Geschichte vertraut zu werden.<br />
Vielleicht läßt sich eine passende Musik finden, die das Erlebnis des kleinen Bären<br />
nachgestaltet. Es läßt sich fächerübergreifend ar<strong>bei</strong>ten und <strong>bei</strong>spielsweise Lebensweise,<br />
Verbreitung, Ernährung wirklicher Bären thematisieren. Das Erfinden eigener<br />
Bärengeschichten kann für den weiteren Ausbau sprachlicher Fertigkeiten genutzt<br />
werden.<br />
Leitfragen zur Auseinandersetzung mit der Geschichte unter Berücksichtigung<br />
bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> können sein:<br />
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Geht es einem Kind genauso, wie dem kleinen Bären?<br />
Welche Kinder kennen das Gefühl des kleinen Bären / großen Bären und haben /<br />
hatten Angst vor Dunkelheit, Tieren, Alleinsein usw.?<br />
Können sie jemandem von dieser Angst erzählen?<br />
74
Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> im pädagogischen Feld<br />
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Was macht der kleine Bär gegen die Angst?<br />
Was machen Kinder, wenn sie Angst haben? (Bewältigungsstrategien)<br />
Welche Erfahrungen haben die Schüler mit Angst gemacht? Wie haben sie sie<br />
überwunden?<br />
Ist es schlimm, Angst zu haben, oder ist es auch gut?<br />
Haben auch Erwachsene Angst?<br />
Da<strong>bei</strong> ist es besonders wichtig, auf erste spontane Äußerungen der Kinder zu achten und<br />
diese aufzugreifen. Eine Interpretation bzw. Beantwortung der Leitfragen sollte nicht<br />
geliefert, sondern mit den Kindern erar<strong>bei</strong>tet werden.<br />
Ein späteres Wiederaufgreifen von Texten, gibt Kindern Anstoß, erneut über<br />
angesprochene Fragen nachzudenken, die mittlerweile evtl. von Bedeutung für sie<br />
geworden sind. Auch zeigt sich so, ob eine Veränderung in der Einstellung oder im<br />
Verhalten stattgefunden hat, bzw. welche Texte auf welche Kinder eine dauerhafte<br />
Wirkung hatten.<br />
Mit älteren Schülern kann man durchaus die heilende Wirkung von Literatur im<br />
Unterricht thematisieren und da<strong>bei</strong> an eigene Leseerfahrungen anknüpfen.<br />
75
Konsequenzen<br />
6 Konsequenzen<br />
Die Darstellung zu den Möglichkeiten und Grenzen bibliotherapeutischer <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> für den<br />
Literaturunterricht unter Berücksichtigung von Verhaltensstörungen läßt die folgenden<br />
Schlußfolgerungen zu. Literatur kann über therapeutische Potenzen und Lebenshilfe<br />
leistende Qualitäten verfügen. Als Träger und Übermittler von Sprache ist Literatur eng<br />
verbunden mit Denken, Begriffsbildung und Fühlen. Sprachliche Sozialisation vollzieht<br />
sich nicht zuletzt über Literaturrezeption. Daher sollte jeder Umgang mit Literatur<br />
gefördert werden. Für den Bereich der Schule heißt dies, daß besonderes Augenmerk auf<br />
die Einrichtung von Schulbibliotheken, Leseecken, Lesezirkeln gelegt werden sollte.<br />
Geschichtennachmittage, Autorenlesungen und -gespräche können außerdem ein<br />
wichtiger Motivationsfaktor sein. Die Auswahl von Büchern für Leseecken, die<br />
Behandlung im Unterricht etc. sollte bibliotherapeutischen Gesichtspunkten folgen. Das<br />
heißt, daß der symbolische Gehalt eines Textes ein Auswahlkriterium sein und weiterhin<br />
auf eine Themenvielfalt wertgelegt werden sollte. So muß der Inhalt einer Leseecke von<br />
Zeit zu Zeit nach Aktualität überprüft werden.Bibliotherapie stellt ein weiteres<br />
Argument für die Betonung des emotionalen Zugangs zu Literatur dar. Dieser spielt in<br />
der <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern mit Verhaltensstörungen eine große Rolle, darf aber nicht auf<br />
diesen Problemkreis beschränkt bleiben. Schließlich ist vor einer Überbetonung des<br />
therapeutischen Wirkung von Literatur zu warnen. Texte können einen<br />
bibliotherapeutische Potenz haben. Die Bibliotherapie gibt jedoch keine Rezepte oder<br />
verabreicht gar eine Medizin, um diese oder jene Probleme „in den Griff zu<br />
bekommen“. Darüber hinaus haben Kinder oft ein genaues Gespür für die Intentionen<br />
des Lehrers. Eine Enttäuschung über das Nichteintreten einer therapeutischen Wirkung<br />
gerade dieser Geschichte ist daher fehl am Platze. Letztlich soll Literaturunterricht<br />
zunächst Freude am Lesen erzeugen.<br />
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76
Konsequenzen<br />
Eine praktische Erprobung mit Grundschulkindern einer Mittelschule 25 zeigte, daß<br />
Kinder das Vorlesen von Geschichten und Märchen in erster Linie genießen. Sie waren<br />
zunächst weniger an einem Austausch darüber, als an möglichst vielen abenteuerlichen<br />
Erzählungen interessiert. Dies mag verdeutlichen, daß die Themen der gewählten<br />
Geschichten (Angst, Angstbewältigung, Mut, Selbstbewußtsein) nicht auf einen<br />
Leidensdruck stießen oder die Kinder über andere Bewältigungsstrategien verfügten und<br />
nicht in der Literatur Hilfe suchen mußten. Beides sollte Pädagogen erfreuen. Vertrauen<br />
als eine wichtige Voraussetzung für den Austausch von Gedanken und Gefühlen läßt<br />
sich nicht schnell erzeugen. Insofern ist eine „pädagogische Geduld“ nicht nur <strong>bei</strong><br />
bibliotherapeutisch orientierter <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> anzustreben.<br />
Die Forderung nach der Verbindung von Literaturar<strong>bei</strong>t mit anderen kreativen Medien,<br />
wie sie der Ansatz der Integrativen Poesietherapie nach Petzold und Orth fordert, stellt<br />
eine letzte Konsequenz dar. So können Kinder und Jugendliche „ihr“ Medium des<br />
Ausdrucks wählen.<br />
25 Im Rahmen der Hortveranstaltungen der Schule wurde von mir über den Zeitraum von 4 Monaten ein<br />
Geschichtennachmittag angeboten.<br />
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77
Zusammenfassung<br />
7 Zusammenfassung<br />
Die Ausführungen zeigen, daß Literatur nicht nur im therapeutischen Rahmen ein<br />
„Betreten neuer Räume“ im Sinne des Anfangszitates ermöglicht. Auch für den<br />
schulischen Bereich liefert bibliotherapeutisches Denken neue Prämissen. Es stellt ein<br />
weiteres Argument für einen erfahrungszentrierten Zugang zu Literatur dar und kann als<br />
Möglichkeit gesehen werden, der Individualität der Schüler besser gerecht zu werden.<br />
Durch die Betonung der persönlichen Zugangsweise zum Text kann Motivation, ein<br />
Sich-verstanden-Fühlen, der Ausdruck verdrängter Emotionen und der Austausch von<br />
Gedanken und Gefühlen erzeugt werden. Kommunikation und Interaktion werden<br />
dadurch angeregt und so der Manifestation von Störungen im Verhaltensbereich<br />
vorgebeugt. Bei der <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong> mit Kindern mit Verhaltensstörungen kann<br />
bibliotherapeutisch orientierter Literaturunterricht als wichtige Hilfe für den Abbau von<br />
Verhaltensstörungen gesehen werden.<br />
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78
Literatur<br />
8 Literatur<br />
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Berlin 1993<br />
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photomechan. Nachdr., de Gruyter, Berlin, New York, 1927/1987<br />
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Bd. 2, 4. Aufl., 1. korrigierter Nachdruck, Schneider, Hohengehren, 1990,<br />
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Orth1985<br />
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Volk und Wissen, Berlin 1977<br />
Böhm, W.: Wörterbuch der Pädagogik, Kröner, Stuttgart 1994<br />
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Engelhardt 1987<br />
Engelhardt, D. v.(Hrsg.): Bibliotherapie. <strong>Ar<strong>bei</strong>t</strong>sgespräch mit der Robert Bosch Stiftung<br />
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Ehrenberger, H.; Sedlak, F.: Lesen hilft leben. 1. Aufl., Österreichischer Bundesverlag,<br />
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6. neu bearb. und erw. Aufl., Springer, Berlin, Heidelberg, New York 1995<br />
84
Anhang<br />
9 Anhang<br />
I.<br />
Wortlaut der Geschichte „Kannst du nicht schlafen, kleiner Bär?“ von Martin Waddell<br />
und Barbara Firth<br />
Es waren einmal zwei Bären. Der große hieß großer Bär, und der kleine hieß kleiner Bär. Den ganzen Tag<br />
über spielten sie draußen im Sonnenschein. Wenn die Sonne unterging und der Abend kam, ging der<br />
große Bär mit dem kleinen Bären nach Hause in die Bärenhöhle. Der große Bär brachte den kleinen Bären<br />
ins Bett, dort, wo die Bärenhöhle ganz dunkel ist. „Schlaf schön, kleiner Bär“, sagte er. Und der kleine<br />
Bär versuchte es. Der große Bär machte es sich im Bärenlehnstuhl gemütlich. Im Schein des Kaminfeuers<br />
las er sein Bärenbuch. Aber der kleine Bär konnte nicht schlafen. „Kannst du nicht schlafen, kleiner Bär?“<br />
fragte der große Bär. Er legte sein Bärenbuch zur Seite (gerade jetzt war es so spannend) und tapste<br />
hinüber zum Bett des kleinen Bären.<br />
„Ich fürchte mich“, sagte der kleine Bär.<br />
„Warum fürchtest du dich, kleiner Bär?“ fragte der große Bär.<br />
„Ich mag die Dunkelheit nicht“, sagte der kleine Bär.<br />
„Was für eine Dunkelheit?“ fragte der große Bär.<br />
„Die Dunkelheit rundherum“, sagte der kleine Bär.<br />
Der große Bär schaute sich um. Da sah er, daß der dunkle Teil der Bärenhöhle wirklich sehr dunkel war.<br />
Er ging zum Laternenschränkchen und nahm die kleinste Laterne, die er finden konnte. Er zündete sie an<br />
und stellte sie dicht ans Bett des kleinen Bären.<br />
„Da hast du ein kleines Licht, damit du dich nicht mehr fürchtest, kleiner Bär“, sagte der große Bär.<br />
„Danke, großer Bär“, sagte der kleine Bär und kuschelte sich in die Kissen.<br />
„Jetzt schlaf schön, kleiner Bär“, sagte der große Bär, tapste zurück zum Bärenlehnstuhl und machte es<br />
sich gemütlich, um im Schein des Kaminfeuers sein Bärenbuch zu lesen. Der kleine Bär versuchte zu<br />
schlafen, aber es ging nicht. „Kannst du nicht schlafen, kleiner Bär?“ fragte der große Bär gähnend. Er<br />
legte sein Bärenbuch zur Seite (es fehlten gerade noch vier Seiten bis zum spannenden Ende) und tapste<br />
hinüber zum Bett.<br />
„Ich fürchte mich“, sagte der kleine Bär.<br />
„Warum fürchtest du dich, kleiner Bär?“<br />
„Ich mag die Dunkelheit nicht“, sagte der kleine Bär.<br />
„Was für eine Dunkelheit?“ fragte der große Bär.<br />
„Die Dunkelheit rundherum“, sagte der kleine Bär.<br />
„Aber ich hab dir doch eine Laterne gebracht!“ sagte der große Bär.<br />
„Ja, aber nur eine ganz kleine“, sagte der kleine Bär, „und die Dunkelheit ist so groß.“<br />
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85
Anhang<br />
Der große Bär schaute sich um und sah, daß der kleine Bär recht hatte. So ging der große Bär zum<br />
Laternenschränkchen und nahm eine größere Laterne heraus. Er zündete sie an und stellte sie neben die<br />
andere. „Jetzt schlaf schön, kleiner Bär“, sagte der große Bär, tapse zurück zum Bärenlehnstuhl und<br />
machte es sich gemütlich, um im Schein des Kaminfeuers sein Bärenbuch zu lesen. Der kleine Bär<br />
versuchte zu schlafen, aber es ging nicht. „Kannst du nicht schlafen, kleiner Bär?“ stöhnte der große Bär,<br />
legte sein Bärenbuch zur Seite (es fehlten nur noch drei Seiten) und tapste hinüber zum Bett.<br />
„Ich fürchte mich“, sagte der kleine Bär.<br />
„Warum fürchtest du dich, kleiner Bär?“ fragte der große Bär.<br />
„Ich mag die Dunkelheit nicht“, sagte der kleine Bär.<br />
„Was für eine Dunkelheit?“ fragte der große Bär.<br />
„Die Dunkelheit rundherum“, sagt der kleine Bär.<br />
„Aber ich hab dir doch zwei Laternen gebracht“, sagte der große Bär. „Eine kleine und eine größere.“<br />
„Viel größer ist die nicht“, sagte der kleine Bär. „Und die Dunkelheit ist immer noch sehr groß.“<br />
Der große Bär dachte nach. Dann ging er zum Laternenschränkchen und nahm die allergrößte Laterne<br />
heraus, die mit den zwei Handgriffen und einem Stückchen Kette zum Aufhängen. Er hängte die Laterne<br />
über das Bett des kleinen Bären.<br />
„Ich hab dir die allergrößte Laterne gebracht, kleiner Bär“, sagte er. „Mit der wirst du dich nicht mehr<br />
fürchten.“<br />
„Danke, großer Bär“, sagte der kleine Bär, kuschelte sich in die Kissen und sah zu, wie die Schatten auf<br />
den Wänden tanzten.<br />
„Jetzt schlaf schön, kleiner Bär“, sagte der große Bär, tapste zurück zum Bärenlehnstuhl und machte es<br />
sich gemütlich, um im Schein des Kaminfeuers sein Bärenbuch zu lesen. Der kleine Bär versuchte es ...<br />
wieder und wieder ..., aber er konnte nicht schlafen. „Kannst du nicht schlafen, kleiner Bär?“ brummte der<br />
große Bär, legte sein Bärenbuch zur Seite (es fehlten noch zwei Seiten) und tapste hinüber zum Bett.<br />
„Ich fürchte mich“, sagte der kleine Bär.<br />
„Warum fürchtest du dich, kleiner Bär?“ fragte der große Bär.<br />
„Ich mag die Dunkelheit nicht“, sagte der kleine Bär.<br />
„Aber ich hab dir die allergrößte Laterne gebracht, und jetzt ist es doch überhaupt nicht mehr dunkel“,<br />
sagte der große Bär.<br />
„O ja, doch“, sagte der kleine Bär, „da - da draußen!“ Und er zeigte zum Ausgang der Bärenhöhle, hinaus<br />
in die Nacht. Da sah der große Bär, daß der kleine Bär recht hatte. Der große Bär war ratlos: Nicht einmal<br />
alle Laternen der Welt hätten diese Dunkelheit erhellen können. Der große Bär dachte lange nach. Dann<br />
sagte er:<br />
„Komm, kleiner Bär.“<br />
„Wohin gehen wir?“ fragte der kleine Bär.<br />
„Hinaus“, sagte der große Bär.<br />
„Hinaus in die Dunkelheit?“ fragte der kleine Bär.<br />
„Ja“, sagte der große Bär.<br />
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86
Anhang<br />
„Aber ich fürchte mich vor der Dunkelheit!“ sagte der kleine Bär.<br />
„Das brauchst du nicht“, sagte der große Bär, und er nahm den kleinen Bären an den Tatzen und führte ihn<br />
aus der Höhle, hinaus in die Nacht. Und es war ... F I N S T E R ! „Huuu! Ich fürchte mich“, sagte der<br />
kleine Bär und drückte sich ganz fest an den großen Bären. Der große Bär nahm den kleinen Bären hoch<br />
und sagte: „Schau dir die Dunkelheit doch an, kleiner Bär.“ Und der kleine Bär schaute. „Ich hab dir den<br />
Mond gebracht, kleiner Bär“, sagte der große Bär. „Den großen leuchtenden Mond und die funkelnden<br />
Sterne.“ Doch der kleine Bär antwortete nicht, denn er war eingeschlafen. Er schlief tief und fest und<br />
geborgen in den Armen des großen Bären. Der große Bär trug den kleinen schlafenden Bären behutsam<br />
zurück in die Bärenhöhle. Der große Bär setzte sich in seinen Bärenlehnstuhl. Mit der einen Tatze hielt er<br />
den kleinen schlafenden Bären, in der anderen sein Bärenbuch. Jetzt war es endlich richtig gemütlich im<br />
warmen Schein des Kaminfeuers. Und der große Bär konnte sein Bärenbuch lesen - bis zum E N D E.<br />
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87
Anhang<br />
II. Paper „Das fröhliche Krankenzimmer e.V.“<br />
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Anhang<br />
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89
Anhang<br />
III. Grafik: Modell „Bibliotherapie“ nach Ehrenberger und Sedlak, Phase A, B und C<br />
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90
Anhang<br />
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