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Skript 6. Sitzung - 29.11.2011

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<strong>Skript</strong> zur Vorlesung Praktische Philosophie II: Angewandte Ethik<br />

Prof. Nida-Rümelin<br />

<strong>6.</strong> <strong>Sitzung</strong> – <strong>29.11.2011</strong>: Politische Ethik<br />

aufgezeichnet von Nikolai Blaumer<br />

Politische Ethik als Ethik politischer Praxis: Träger, Paradigmen, Kontroversen<br />

1) Träger:<br />

• Bürger: Als Mitglieder politischer Gemeinschaften und Teil politischer Praxis tragen<br />

Bürger Verantwortung, sind als Teil der Zivilgesellschaft Träger sozialen Kapitals<br />

(social capital) 1 . Moralische Pflichten können für sie selbst dann bestehen, wenn diese<br />

ihren eigenen, situationsspezifischen Interessen – wie im Falle von Wahlgängen oder<br />

Steuerabgaben – widersprechen.<br />

• Politiker sind die zentralen Akteure politischer Praxis. Als Personen haben sie<br />

Motive, entwickeln Pläne bezüglich politischer Entscheidungen, sind zu intentionalen<br />

Handlungen fähig. Sie tragen als Mandatsträger und Funktionäre besondere<br />

Verantwortung.<br />

• Institutionen: Für Verteilungsgerechtigkeit spielen Institutionen eine herausgehobene<br />

Rolle, distributive Gerechtigkeit scheint in gewisser Hinsicht gar auf sie festgelegt.<br />

Der Zusammenhang von Motiven und Handlungen von Institutionen und denen ihrer<br />

Mitglieder ist Gegenstand der ethischen Diskussion. 2<br />

• Staaten: Nicht nur in völkerrechtlichen Zusammenhängen nehmen Staaten<br />

Verantwortung wahr; sie treten als Rechtsnachfolger von Vorgängerstaaten auf, sind<br />

Adressaten von Reparationsansprüchen, gehen Verbindlichkeiten ein u. v. m.<br />

• Gemeinschaften: Die Frage, ob Kollektiven, etwa Volksgruppen, Verantwortung<br />

zugeschrieben werden kann, ist umstritten. Die Diskussion um den ethischen Status<br />

von Gemeinschaften wird etwa im Zusammenhang ethnischer Konflikte – siehe<br />

Balkan – oder in der Diskussion historischer Gerechtigkeit relevant. 3 Die Frage des<br />

ethischen Status von Kollektiven ist auch in der aktuellen Diskussion um kollektive<br />

Verantwortung und Intentionalität zentral. 4<br />

2) Paradigmen politischer Ethik:<br />

• Platon: Die Gerechtigkeit einer Polis und die einer Person sind Platon zufolge<br />

strukturgleich. Die Seelenteile Vernunft (logistikon), Tatkraft (thymoeides) und<br />

Begehren bzw. Bedürfnis (epithymetikon) sollten nach Platon in einem hierarchischen<br />

Verhältnis zueinander stehen. Lenkt der vernünftige Seelenteil einer gerechten Person<br />

durch Weisheit die tatkräftigen und begehrenden Teile, so soll auch die Weisheit der<br />

1<br />

Zum Begriff des Sozialkapitals vgl. Robert Putnam: Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im<br />

internationalen Vergleich, 2001.<br />

2<br />

Vgl. etwa: Mary Douglas: How Institutions think, 1987.<br />

3<br />

Vgl. Avishai Margalit: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, 1999. Ders.: Ethics of<br />

Memory, 2002.<br />

4<br />

Margret Gilbert: Sociality and Responsibility, 2000. Raimo Tuomela: „Actions by Collectives“ in:<br />

Philosophical Perspectives, 1989 (3), S. 471-49<strong>6.</strong>


Regenten die Tapferkeit der Wächter und die Besonnenheit der Regierten anleiten.<br />

Man kann von einer Parallelisierung politischer und individueller Praxis sprechen.<br />

• Aristoteles: Als Ziel des kontemplativen Lebens räumt auch Aristoteles der<br />

Erkenntnis eine herausgehobene Stellung ein. Im Bezug auf politisches Handeln steht<br />

aber das Engagement als Lebenskluger, als phronimos im Vordergrund. Ethik und<br />

Ethos sind demnach nicht strikt voneinander zu trennen. Die Eingewöhnung richtiger<br />

Praxis spielt bei Aristoteles eine besondere Rolle. Gutes, gerechtes politisches<br />

Handeln kann allerdings verschiedene Formen annehmen. Monarchie, Aristokratie<br />

und Politie stehen als gemeinwohlorientierten Herrschaftsformen der Tyrannis,<br />

Oligarchie und Demokratie als eigennutzorientierten (Verfalls-)formen gegenüber.<br />

• Hobbes: Die hobbes’sche politische Ethik ist strikt individualistisch und vom Ziel der<br />

Friedenssicherung bestimmt. Rechte sind ebenso wie ethische Ansprüche politischen<br />

Handelns der Gesetzgebung des Gewaltherrschers nachgeordnet. Politische Herrschaft<br />

kann unterschiedliche Formen annehmen und ebenso absolutistisch wie demokratisch<br />

strukturiert sein.<br />

• Locke: Menschenrechte gelten nach Locke vorrechtstaatlich, also naturrechtlich. Die<br />

politische Anerkennung ist ihm zufolge keine Voraussetzung für die Existenz von<br />

moralischen Rechten. Locke bezieht hier die konträre Position zu Hobbes. Die<br />

Diskussion zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre ist bis in die heutige<br />

rechtsphilosophische Debatte hinein von Bedeutung. 5<br />

• Rousseau: Nach Rousseau ist die sittliche Körperschaft der Citoyens die einzig<br />

legitime politische Autorität. Die Mitglieder einer politischen Gemeinschaft müssen<br />

sich von ihren Eigeninteressen distanzieren, sich als Bourgeois unterwerfen. Frei<br />

bleibt nur der Citoyen als Souverän. Der volonté générale stiftet die politische Ethik.<br />

• Bentham: Dem bentham’schen Programm zufolge besteht politische Ethik in der<br />

richtigen Allokation wohlfahrtsrelevanter Güter. Die optimale Verteilung wird<br />

bestimmt durch die Addition individuellen Wohls. Im Gegensatz zu Locke bestreitet<br />

Bentham die Existenz individueller politischer Rechte. Bentham ist Utilitarist und<br />

vertritt demnach eine dem Kontraktualismus (Hobbes, Locke, Rousseau, Kant u. a.)<br />

entgegen gesetzte Theorie.<br />

• Kant: Wie im Kategorischen Imperativ deutlich, gilt individuelle Autonomie nach<br />

Kant als Entscheidungskriterium politischer Ethik. Bürger müssen als Vernunftwesen<br />

politischen Entscheidungen zustimmen können. 6 Politische Gerechtigkeit drückt sich<br />

in Entscheidungen aus, zu denen jedermann mittels seiner Vernunft zustimmen kann.<br />

3) Kontroversen der aktuellen politischen Ethik<br />

• Utilitarismus vs. Kontraktualismus: Entscheidungen politischer Instiutionen sind<br />

kontraktualistischer (vertragstheoretischer) Auffassung zufolge dann legitim, wenn die<br />

politische Ordnung, die jene hervorbringt, zustimmungsfähig ist. Für den Utilitarismus<br />

spielt die Idee des Vertragsschlusses keinerlei Bedeutung. Utilitaristen vertreten die<br />

Position, dass sich ethische Ansprüche an Politik immer auf Verteilungs- also<br />

Endzustände beziehen.<br />

5 Vgl. etwa Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung, 1992.<br />

6 Immanual Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für<br />

die Praxis.


John Rawls kritisiert den Utilitarismus unter Verweis auf die sog. separateness of<br />

persons. 7 Am Beispiel der Versklavung macht Rawls deutlich, dass maximale<br />

Nutzensummen nicht die Zustimmung der beteiligten Personen ersetzen kann. Rawls<br />

kommt in seinem Hauptwerk zu dem Schluss, Institutionen seien genau dann gerecht,<br />

wenn alle Individuen ihnen unter Fairnessbedingungen zustimmen können. Die<br />

gerechte Grundstruktur einer Gesellschaft wird nach Rawls durch zwei Prinzipien<br />

charakterisiert: (I) gleiche maximale Grundfreiheiten (II) dem Differenzprinzip<br />

bezüglich Güterverteilung.<br />

• Liberalismus vs. Kommunitarismus: 8 Kommunitaristen verweisen in der<br />

Diskussion politischer Ethik darauf, Menschen seien immer Mitglieder jeweils<br />

spezifischer Gemeinschaften und demnach seien Gerechtigkeitsvorstellungen je nach<br />

Tradition und Praxis divers. Der Kommunitarismus ist als Gegenposition<br />

liberalistischer Theorien wie jener von John Rawls aufzufassen. Auch<br />

Gruppenmitgliedschaften innerhalb von politischen Gemeinschaften spielen dabei eine<br />

Rolle. Gerechtigkeitskriterien innerhalb von Vereinen sind möglicher Weise etwa<br />

nicht dieselben wie innerhalb von Familienstrukturen. 9<br />

• Individualismus vs. Kollektivismus: Der methodologische Individualismus geht<br />

davon aus, dass soziale Phänomene am besten im Bezug auf individuelle Handlungen<br />

und Intentionen erklärt werden können. Denker wie der Nobelpreisträger James M.<br />

Buchanan postulieren darüber hinaus einen ethischen Individualismus, der Individuen<br />

als ausschließliche Quellen moralischer Werte identifiziert. 10<br />

• Collective Choice: 11 Wie Arrow in seinem gleichnamigen Theorem herausstellte, sind<br />

verschiedene Bedingungen der Gestaltung einer gerechten Gesellschaftsstruktur –<br />

etwa das schwache Paretoprinzip und das Verbot absoluter Diktatur – nicht<br />

miteinander vereinbar. 12 Es besteht demnach kein allgemeines Verfahren um aus den<br />

Präferenzen der Individuen einer Gruppe immer eine eindeutige Präferenz der Gruppe<br />

abzuleiten. Dies gilt sofern die Ableitung bestimmte basale Bedingungen erfüllen soll.<br />

• Wahrheit und Dezisionismus: Dezisionisten wie Carl Schmitt stellen allgemein<br />

verbindliche, substanziell universalistische Begründungen politischer Ethik in Frage.<br />

Politische Ethik fällt ihnen zufolge in den Gegenstandsbereich politischer bzw.<br />

juristischer Entscheidung (Dezision). Moralische Realisten widersprechen dem und<br />

behaupten, bestimmte Bereiche der politischen Ethik (etwa Grundrechte) seien der<br />

politischen Entscheidungsfindung entzogen.<br />

7<br />

John Rawls: A Theory of Justice, 1971. In dt. Übersetzung: Ders.: Eine Theorie der Gerechtigkeit,<br />

1979.<br />

8<br />

Zur Liberalismus – Kommunitarismus Kontroverse: Axel Honneth (Hg.): Kommunitarismus – Eine<br />

Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, 1993; Julian Nida-Rümelin und<br />

Wilhelm Vossenkuhl (Hg.): Ethische und politische Freiheit, 1997.<br />

9<br />

Michael Walzer: Spheres of Justice: a defense of pluralism and equality, 1983. In dt. Übersetzung:<br />

Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Gerechtigkeit und Freiheit, 1992.<br />

10<br />

Vgl. James M. Buchanan: The Limits of Liberty, 1975.<br />

11<br />

Zentral sind hier neben Werken von Arrow u.a. auch: Amartya Sen: Collective choice and social<br />

welfare, 1970; Julian Nida-Rümelin und Lucien Kern: Logik kollektiver Entscheidungen, 1994.<br />

12<br />

Kenneth Arrow: Social Choice and Individual Values, 1951.

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