glühwürmchen- dämmerung - Sissy
glühwürmchen- dämmerung - Sissy
glühwürmchen- dämmerung - Sissy
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Ausgabe sechzehn · Dezember 2012 bis Februar 2013 · kostenlos<br />
s Mindfuck: Kino der bösen Gedanken s Eine Scheibe Leben: Reusen-Flicken in Brandenburg s Schwedenurlaub: Schnell noch eine rauchen<br />
s Kardiologie: Mahler im Auto s A Capella: Das Weib bei der Psychoanalyse s Poolboy: Flaschenpost des Punk s Unwirkliche Eisschollen:<br />
Keine aufdringliche Romantik s Web-2.0-Mashup: Kult für bare Münze s Glühwürmchen: Pinkeln in den Fluss der Bilder s Schießübungen:<br />
Kino für ältere Herren s Kriegerin: Die Vielfalt aller Frauen s Leichte Mädchen: Aus dem Leben tanzen s Tiefparterre: Gräulichstes<br />
Bademäntelchen der Filmgeschichte s Tomatenbrot: Komm! Schreib! s Eine Kugel Fröhlichkeit: „Und dann bin ich weg“
Fashion, Bücher, DVDs und vieles mehr!<br />
Berlin<br />
Hamburg<br />
Köln<br />
München<br />
www.brunos.de<br />
titeL: eDition SALzGeBeR<br />
<strong>Sissy</strong> sechzehn<br />
Im Januar starten wieder die L-Filmnacht und die Gay-Filmnacht.<br />
Film events für das nicht-heterosexuelle Kino. Das klingt etwas großspurig,<br />
ist aber bitter nötig.<br />
Da momentan bis zu 16 Filme in der Woche starten, kann man<br />
sich vorstellen, wie viele Leinwände da frei bleiben für kleinere Filme,<br />
bei denen nur mit einem Nischenpublikum gerechnet wird. Wie viele<br />
Zeilen im Feuilleton der Tageszeitungen am Kinostarttag. Wie viele<br />
Sendeminuten in den wenigen TV-Kinomagazinen. Bei Filmen wie<br />
Keep The Lights On (bisher 12 Kinos) oder Dicke Mädchen (überraschende<br />
16 Kinos) kann man durchaus noch von Kinostarts sprechen.<br />
Angesichts der 7 Kinos für Leave It On The Floor oder den 3 Kinos für<br />
einen tollen Film wie Detlef sieht die Realität schon anders aus. Auf<br />
DVD ist das natürlich alles verfügbar, aber das<br />
Erlebnis eines gemeinschaftlichen Sehens und<br />
einer größeren anschließenden Diskussion fällt<br />
da aus.<br />
Wenn die L- und die Gay-Filmnächte im Januar<br />
wieder anlaufen, sind jeweils 20 Kinos dabei:<br />
Multiplexe, Programmkinos, kommunale<br />
Kinos. Lauter Fans des queeren Kinos oder<br />
auch einfach nur Menschen, die einen schönen<br />
Abend verbringen wollen, treffen sich einmal<br />
im Monat zur gleichen Zeit am gleichen Ort – in<br />
einem Kino in ihrer Nähe. Die lokalen Szenen<br />
sind involviert. Nicht selten werden Veranstaltungen<br />
moderiert, vielleicht kommt mal eine<br />
Filmemacherin vorbei oder ein Schauspieler,<br />
der sich gerade dort aufhält. Damit passiert<br />
eine Menge für das queere Kino hierzulande,<br />
für das sich zusätzlich die queeren Festivals Germain und Jeanne im Ozon-Kino („In ihrem Haus“, Seite 6)<br />
bemühen und einige Initiativen, die schon seit<br />
Längerem Filmreihen machen – wie homochrom in NRW, MonGay in<br />
Berlin und München, Rollenwechsel in Oldenburg, Queerblick in Leipzig,<br />
OGays in Offenburg, queer gefilmt in Trier, Verdammt anders in<br />
Darmstadt, um nur einige zu nennen. All diesen Initiativen ist es zu<br />
verdanken, dass das queere Filmangebot nicht nur mit respektabler<br />
Breitenwirkung stattfindet, sondern auch zu einem sozialen Erlebnis<br />
im Kino werden kann.<br />
Und nur so bleibt es sinnvoll, in der SISSY die Kinostarts größer zu<br />
besprechen. Über Filme zu diskutieren, die keiner sehen kann, macht<br />
nur halb so viel Spaß.<br />
Auf den kommenden Seiten erfahrt Ihr also alles über die nächsten<br />
L- und Gay-Filmnächte (mit Yossi, Küss mich, Westerland und Frauensee)<br />
und über den Rest des aktuellen queeren Filmangebots, das wunderbarerweise<br />
immer noch auch auf Leinwänden stattfindet.<br />
vorspann<br />
concoRDe FiLMVeRLeiH<br />
Wenn Sie SISSY kostenlos abonnieren möchten: E-Mail an abo@sissymag.de<br />
3
mein dvd-regal<br />
Elfi Mikesch, Filmemacherin und Kamerafrau<br />
4 5<br />
elfi mikesch
kino<br />
Antikörperbildung<br />
von Paul Schulz<br />
François ozons wunderbarer neuer Film „in ihrem Haus“ bringt Paul Schulz dazu, sich an einen zwölf Jahre zurück liegenden<br />
Wutausbruch zu erinnern und sich vielleicht mit „dem Kino der bösen Gedanken“ zu versöhnen.<br />
s Wir beginnen mit der Betrachtung des<br />
Publikums, das gleichzeitig auch der Autor<br />
der erzählten Geschichte ist. Aufblende: Der<br />
dunkle Saal des Kino International in der<br />
Nähe des Berliner Alexanderplatzes. Das<br />
Jahr 2000. Es läuft der Abspann von François<br />
Ozons Tropfen auf heiße Steine, dem die Jury<br />
des Teddy, des wichtigsten schwullesbischen<br />
Filmpreises der Welt, zwei Tage vorher ihren<br />
Hauptpreis zuerkannt hatte. Die Leinwand<br />
leuchtet in die Gesichter eines milde amüsierten<br />
Publikums. Als die Lichter im Saal angehen,<br />
applaudieren viele Menschen beflissen.<br />
Aus dem Gemurmel des Publikums sind<br />
Sätze wie „Formal brillant“, „Anna Thomson<br />
just rules“, und „Schön bunt“ zu vernehmen.<br />
Eine einzelne Figur in der vorletzten Reihe<br />
des Saals, die eine dunkelblaue Seemannsjoppe<br />
trägt, steht auf und buht, laut und<br />
lange, während ein offensichtlich peinlich<br />
berührter Mann auf dem Platz links von ihr<br />
versucht, seinen Begleiter erst an einem und<br />
dann an beiden Ärmeln seiner Jacke wieder<br />
in eine sitzende Haltung zu befördern. Nach<br />
cirka 20 Sekunden, schleudert der Buher<br />
dem sich inzwischen erstaunt und belustigt<br />
umdrehenden Publikum: „Anderthalb Stunden<br />
Selbsthass mit Tanzeinlage. Was für ein<br />
Dreck!“, entgegen, lässt seinen inzwischen<br />
tiefroten Freund sitzen und drängt sich, die<br />
Tür knallend, aus dem Saal.<br />
Die Tür des International ist ganz schön<br />
groß und sehr schwer. Ich war sehr wütend.<br />
Und bleibe bei meinem Urteil über Ozons<br />
internationalen Durchbruch, auch wenn<br />
mich viele, viele Menschen in den letzten<br />
zwölf Jahren vom Gegenteil zu überzeugen<br />
versucht haben: Tropfen auf heiße Steine ist<br />
ein furchtbarer Film. Nicht weil er handwerklich<br />
schlecht wäre, das Gegenteil ist der<br />
Fall, sondern weil Ozon eine so offensichtliche<br />
und diebische Freude daran hat, wie<br />
elend die Figuren in dem Fassbinder-Drehbuch<br />
andere und sich selbst behandeln. Der<br />
ganze Film strahlt nicht nur optisch, sondern<br />
auch inhaltlich den Muff der frühen sechziger<br />
Jahre aus. Wenn es einem nicht gelingt,<br />
das camp zu finden und so zu ironisieren,<br />
weil es die erste Begegnung mit Ozon ist und<br />
man etwas anderes erwartet, trifft einen<br />
diese Geisteshaltung mit voller Wucht. Ich<br />
war jung und brauchte die Welt. Monsieur<br />
hatte mich stattdessen 90 Minuten mit Postmoderne<br />
beworfen. Das kann einen schon<br />
mal wütend machen.<br />
Inzwischen habe ich gelernt, mich an<br />
der technischen Finesse, mit der Ozon inszeniert,<br />
auch zu freuen. Aber dass ich mit ihm<br />
warm geworden bin, kann ich nicht behaupten.<br />
Wie auch? Der Meister liebt seine Filme<br />
und seine Geschichten, steht aber immer mit<br />
drei Schritten Abstand vor seinen Figuren,<br />
die Mittel zu seinem Zweck sind, lebensgroße<br />
Puppen, aber nie wirklich aus Fleisch<br />
und Blut. Dafür sind sie immer ein bisschen<br />
zu tragisch oder zu albern, zu weiblich oder<br />
zu männlich, zu spießig oder zu ausgeflippt.<br />
Das macht nichts und kann sehr schön sein.<br />
Aber man muss das wissen, wenn man einen<br />
Film von Ozon sieht. Seins ist ein Kino, das<br />
in den Köpfen seines Publikums stattfindet<br />
und dort hübsche Bezugs-Feuerwerke abfackeln<br />
kann, aber, selbst wenn es über Sex<br />
oder Liebe redet, nie unterhalb der Halskrause<br />
ankommt. Ozons sind Antikörperfilme.<br />
Glück, das kann er nicht. Willenloses<br />
Begehren, das ist schwierig. Man kann darüber<br />
lachen oder darüber nachdenken, ja, aber<br />
echte Hingabe: ein Graus. Denn wollte er das<br />
erzählen, er müsste sich als Filmemacher<br />
dabei zu etwas bekennen. Dem, was er wirklich<br />
will und dem, was ihn selbst anfasst.<br />
Und das will er ums Verrecken nicht. Denn<br />
dabei könnte er ja die Kontrolle über sich<br />
oder seine Figuren verlieren. Es ist ein wenig<br />
wie bei Hitchcock: Bei Ozon geht es um Bilder,<br />
um Muster, um Puzzle, um Gedanken,<br />
darum, originell oder geistreich zu sein, um<br />
die Gesellschaft, um rothaarige, drahtige<br />
Jungenideale, aber es geht nie um Menschen.<br />
Selbst in Die Zeit die bleibt, einem Film darüber,<br />
wie jemand stirbt, schafft er es nicht, an<br />
den Körper des Todgeweihten wirklich heranzukommen<br />
und lässt die Figur sich zum<br />
Schluss einfach in Licht auflösen, damit er<br />
sich nicht um eine Leiche kümmern muss.<br />
Das Verschwinden des Körpers als Erlösung.<br />
Etwas, dass er auch schon in Unter dem Sand<br />
tut. Andreas Dresens Halt auf freier Strecke<br />
beispielsweise muss in seiner ungebremsten<br />
und direkten Emotionalität und Körperlichkeit<br />
unerträglich für den Franzosen<br />
sein. Aber seine Gehemmtheit in diesem<br />
Bereich macht Ozons Filme so queer: Sex<br />
oder Körper sind nie einfach, sie sind immer<br />
mit Anhaftungen oder Schwierigkeiten verbunden,<br />
geben nie Antworten, sondern stellen<br />
immer bloß Fragen. Nichts ist sinnlich,<br />
aber alles ironisch. Das Schöne: Ozon weiß<br />
das alles selbst. Er ist das Publikum, das er<br />
betrachtet, das aber gleichzeitig der Autor<br />
der Geschichten ist, die es sich selbst erzählt.<br />
Ozon kennt seine Traumata und Themen und<br />
macht, wie Kubrick, wie Hitchcock, wie Sirk,<br />
das Beste draus.<br />
Das kann man im aktuellen Fall ganz<br />
wörtlich nehmen: Sein neuer Film In Ihrem<br />
Haus ist der bisher beste, der perfekteste<br />
Ozon-Film, weil er in sich gedanklich<br />
geschlossen ist. Ein künstlerisches Labyrinth,<br />
aus dem es keinen Ausweg mehr gibt,<br />
wenn man einmal drin sitzt, und in dem man<br />
sich garantiert verläuft. In ihrem Haus ist<br />
eiskalt, aber auf eine gute Art. Der auf einem<br />
spanischen Theaterstück basierende Film<br />
erzählt davon, wie der Lehrer Germain (Fabrice<br />
Luchini) seinen Schüler Claude (Ernst<br />
Umhauer) dazu anstiftet, sich tief in den Eingeweide<br />
der Familie seines Schulkameraden<br />
Rapha Artole einzunisten und von dort die<br />
Geschichte zu steuern, die er seinem Lehrer<br />
in kurzen Aufsätzen über diese Familie<br />
erzählt.<br />
Ozons neuer ist ein Film darüber, was<br />
Fiktion kann und was nicht, was Erzählungen<br />
mit ihrem Publikum, mit ihren Figuren<br />
und mit denjenigen machen, die sie erzählen.<br />
Der Film ist unfassbar dicht gewebt, jedes<br />
der schönen Bilder sitzt (manchmal auch<br />
zwei gleichzeitig), Ozon stellt viele hochinteressante<br />
Fragen und spielt begeistert mit den<br />
Annahmen des Publikums über alles, was<br />
seine Geschichte und seine Figuren anbelangt,<br />
er seziert mit großen Genauigkeit das<br />
Verenden und anschließende Erkalten von<br />
Germains Ehe mit seiner Frau Jeanne (die<br />
wie immer atemberaubend großartige Kristin<br />
Scott Thomas), an dem Claude keinen<br />
kleinen Anteil hat. Ozons Bildersprache ist<br />
auch deswegen eine so stabile Querverstrebung<br />
für diesen Film, weil sich der Macher<br />
in einen Bezugsrausch begibt: Hier eine<br />
Sirk-Überblendung, da die Kamerafahrt über<br />
einen Mädchen-Körper aus Kubricks Lolita,<br />
gefolgt von einer Hitchcock-Großaufnahme.<br />
So verfangen sich weiterführende Fiktionen<br />
in seinem ohnehin komplexen gedanklichen<br />
Netz und stabilisieren es zusätzlich.<br />
Am Ende weiß man vor lauter Verweisen<br />
nicht einmal genau, ob Claude überhaupt<br />
existiert, oder nur Germains Bedürfnis nach<br />
einer interessanten Wendung in seinem<br />
Leben entsprungen ist, ob der den Lehrer<br />
über das Schreiben belehrende Schüler nicht<br />
nur Ozons Chiffre für die Kunst und ihre<br />
Macht selbst ist, und damit auch nicht, ob<br />
nur eine der Figuren so ist, wie man sie in<br />
den letzten zwei Stunden erfahren hat. Denn<br />
wäre der Erzähler durch sein Publikum<br />
erfunden, die Erzählung und alle Erzählten<br />
in ihr wären es mit ihm. Darüber kann man<br />
schon mal einen Moment ziemlich belustigt<br />
nachdenken. Es hilft, wenn man Derrida<br />
gelesen hat, aber geht auch ohne.<br />
Heißt: In ihrem Haus ist das, was man auf<br />
gut Cineasten-Amerikanisch einen „Mindfuck“<br />
nennt und irgendwie die französische<br />
Antwort auf Inception, auch wenn es nicht<br />
eine einzige Explosion oder Verfolgungsjagd<br />
gibt. Lector fuckin’ in fabula! Wie immer versammelt<br />
Ozon eine Riege superber Darsteller,<br />
damit sie elegant um seine Ideen herumstehen<br />
und ihnen Würde verleihen. Diesmal<br />
sind es neben dem phänomenalen Dreigestirn<br />
Umhauer/Luchini/Thomas unter anderem<br />
Emmanuelle Seigner und Denis Ménochet.<br />
Man hat nicht immer das Gefühl, das alle<br />
gerade wissen, was sie da eigentlich spielen,<br />
aber es ist sehr unterhaltsam.<br />
Ob mich die nerdige Eleganz von In ihrem<br />
Haus dazu bringt, mich mit Ozons Kino der<br />
bösen Gedanken zu versöhnen, weiß ich<br />
nicht, es könnte aber sein. s<br />
In ihrem Haus<br />
von François Ozon<br />
FR 2012, 105 Minuten,<br />
deutsche SF + OmU<br />
Concorde Filmverleih,<br />
www.concorde-film.de<br />
Im Kino ab 29. November 2012,<br />
www.inihremhaus-derfilm.de<br />
6 7<br />
kino<br />
concoRDe FiLMVeRLeiH
kino<br />
AnhAltEndE<br />
hErzstörung<br />
von Jan Künemund<br />
zehn Jahre nach der sensationell erfolgreichen Soldatenromanze „Yossi & Jagger“<br />
erzählt Regisseur eytan Fox mit seinem Darsteller ohad Knoller Yossis Geschichte<br />
weiter – als einsamkeits- und Verpanzerungsstudie. eine schöne entwicklung: das<br />
knallige Politikmelodram wird zur sanften, mitfühlendem Beobachtung. „Yossi“ ist der<br />
eröffnungsfilm der Gay-Filmnacht im Januar und läuft danach in ausgewählten Kinos.<br />
s „Dies ist hier kein scheiß Hollywood-<br />
Film“, sagte Yossi zu Jagger im Jahr 2002.<br />
Jagger beharrte damals auf seinem vielleicht<br />
naiven Traum vom Glück, mit seinem Kommandanten<br />
nach zwei Jahren heimlicher<br />
Liebe endlich die Armee zu verlassen, „es“<br />
der Familie zu sagen und gemeinsam in den<br />
fernen Osten zu gehen. Mit seinem Vertrauen<br />
auf melodramatische Wendungen sollte er<br />
kaum einen Tag später recht behalten – sterbend<br />
liegt er in den Armen Yossis, von einem<br />
tödlichen Geschütz getroffen, lächelnd. Und<br />
sagt: „Doch wie in einem scheiß Hollywood-<br />
Film.“<br />
Ohad Knoller, der Schauspieler des Yossi,<br />
hat später mit Steven Spielberg gedreht. Wie<br />
denn der Unterschied sei zwischen Hollywood-Produktionen<br />
und den israelischen<br />
Filmen, wurde er gefragt. Als Star der „neuen<br />
israelischen Welle“, die von Eytan Fox’ Film<br />
Yossi & Jagger mit 200.000 Dollar vom Privatsender<br />
Channel 2 initiiert wurde, brachte<br />
er den Unterschied stolz auf den Punkt: in<br />
Israel würde man zwar nicht so professionell<br />
produzieren, aber man hätte die besseren<br />
Geschichten.<br />
Israelische Geschichten wie einen scheiß<br />
Hollywoodfilm zu erzählen, ist das erklärte<br />
Anliegen des Filmemachers Eytan Fox. In<br />
melodramatischen Zuspitzungen zeigt er<br />
in Das Lied der Sirene, Yossi & Jagger, Walk<br />
On Water und The Bubble Menschen, die vor<br />
dem Hintergrund von Golfkriegen, Militäreinsätzen,<br />
Nazijagden und palästinensischen<br />
Anschlägen versuchen, ein normales Leben<br />
zu führen, zu lieben, zu fühlen. Selbstbewusst<br />
und aufklärerisch schlagen sich die<br />
Probleme seines Heimatlandes in grell und<br />
plakativ zugespitzten Storytwists nieder,<br />
die einen selbstreflexiven Nerv treffen – die<br />
Filme von Eytan Fox sind dort große Kassen-<br />
und Kritikererfolge und haben nicht selten<br />
politische und soziale Ausstrahlung (Yossi &<br />
Jagger, ein Film über die Liebe zweier Soldaten,<br />
wird in der dortigen Militärausbildung<br />
mittlerweile als Schulungsfilm eingesetzt).<br />
Das Melodramatische geht bei Fox allerdings<br />
weit darüber hinaus, Strategie zu sein – es ist<br />
die eigentliche Grundierung und Substanz<br />
seiner Israelgeschichten.<br />
Alles Ausgeprochene in Yossi & Jagger<br />
bildet vorhersehbare tragische Pointen.<br />
„Erträgst du mich verstümmelt oder soll ich<br />
lieber gleich tot sein?“, fragt der schöne Soldat<br />
seinen Liebhaber – kurze Zeit später ist er<br />
tot. „Ich habe keine Lust, eure Mütter kennen<br />
zu lernen!“, sagt Kommandant Yossi seinen<br />
Soldaten vor der gefährlichen Militäraktion<br />
– wenig später muss er Jaggers Mutter vom<br />
Tod ihres Sohnes berichten. Alle Songtexte<br />
in Filmen von Eytan Fox lassen sich bewusst<br />
eindeutig als Folie über die Gefühle ihrer<br />
Figuren legen. Wie vielleicht nur bei Fassbinder<br />
erträgt man diese unzähligen Manipulationen<br />
der Zuspitzung, der Gefühls-<br />
und Verständnisanleitungen, mit Lust und<br />
Erschütterung, wird zum Komplizen, weil es<br />
so schön ist, hinter einfachen Geschichten,<br />
klaren Blicken und neutralen Worten den<br />
Horror und die Tragik auszumachen, die sich<br />
im Leben eines Menschen ereignen können.<br />
Wenn Yossi stumm nach der Beerdigung von<br />
Jagger bei dessen Mutter auf der Couch sitzt<br />
und einer hoffnungslos in Jagger verliebten<br />
Kameradin zuhören muss, die suggeriert, sie<br />
sei dessen Freundin gewesen, zwinkert das<br />
Drehbuch uns zu: Die vermeintliche Freundin<br />
kann Jaggers Lieblingslied nicht nennen,<br />
Yossi schon. Und wir auch, denn der Film hat<br />
es uns vorgespielt. Wir sehen in dieser Situation<br />
komplizenhaft den ruhigen, gefassten<br />
Yossi an – und verstehen die Kraft des Melodramatischen.<br />
Wer auch immer die Idee hatte, Yossis<br />
Geschichte zehn Jahre nach dieser Szene<br />
weiter zu erzählen – ob es ein Produzent war,<br />
PRo-FUn MeDiA<br />
der den großen Erfolg wiederholen wollte,<br />
ein Filmemacher, den diese Geschichte nicht<br />
losgelassen hat, oder ein Schauspieler, dessen<br />
Leben mit dieser Figur verzahnt war – er hat<br />
eine sehr interessante Veränderung im Kino<br />
von Eytan Fox bewirkt. Kein großer Konflikt<br />
von nationaler Bedeutung, kein Einblick in<br />
den täglichen Ausnahmezustand eines Landes<br />
bildet in Yossi den Hintergrund – es wird<br />
einfach eine Figur fortgesetzt.<br />
Yossi ist jetzt Dr. Guttman. Chirurg mit<br />
amputierten Gefühlen. Kardiologe mit gebrochenem<br />
Herzen. In der ersten Szene wird er<br />
von der Schwester geweckt, spritzt sich Wasser<br />
ins Gesicht und schaut in den Spiegel und<br />
– indirekt – uns an: ein trauriges Gesicht, aufgequollen<br />
wie der gesamte Körper, schlecht<br />
rasiertes Doppelkinn, unfrisierter Pony über<br />
der tiefen Stirn. Ein müder Blick – hier hat<br />
sich jemand aufgegeben, zehn Jahre nach<br />
dem Tod des Freundes. Ein Totalverweigerer<br />
der Welt gegenüber – keine Einladung nimmt<br />
er an, keine Pralinen, keinen Urlaub, nicht<br />
die zu lang liegenbleibende Hand der Oberschwester,<br />
nicht die willige, vom Kollegen in<br />
einem Club herbeizitierte Frau. Man weiß<br />
sehr schnell: So kann das nicht weiter gehen.<br />
Irgendetwas stimmt nicht mit der vom Film<br />
beschlossenen Passivität der Figur Yossis –<br />
er hat Karriere gemacht eigentlich, ist jetzt<br />
schon, mit „fast 34“ (er macht sich älter, als er<br />
ist) eine Kapazität. Doch die Bilder sprechen<br />
gegen ihn.<br />
Etwas hängt ihm an. Eine unerledigte<br />
Liebe, auch nach dem Tod des Geliebten<br />
noch. Das plakative sexy Grün des Soldatenoveralls<br />
ist nur fadenscheinig ersetzt worden<br />
durch den grünen Ärztekittel und das bis<br />
obenhin zugeknöpfte grüne Ausgeh-Hemd.<br />
Für das Online-Date hängt er ein Foto von<br />
früher an, nicht, um zu täuschen, sondern<br />
weil er sich nur als Yossi von damals erträgt.<br />
Schließlich lüftet Fox das Geheimnis in<br />
einem Aktivitätsschub Yossis: Er besucht die<br />
zufällig als Patientin in sein Leben getretene<br />
Mutter von Jagger – zuhause, wo auch mal<br />
Jaggers Zuhause war, noch gibt es ein unangetastetes<br />
Jugendzimmer, mit Gitarre, Lavalampe,<br />
einen Modellpanzer und ganz vielen<br />
Musik-CDs. Dort, vor den Eltern, outet sich<br />
Yossi und outet Yossi den Sohn der beiden<br />
Ahnungslosen, die vor ihm sitzen und ihm<br />
Kekse anbieten. „Er wollte, dass Sie das wissen.“<br />
Aber eigentlich muss er aussprechen,<br />
was ihn lähmt, seit zehn Jahren: dass er<br />
damals erst gar nicht, dann zu spät „ich liebe<br />
dich“ sagte und nicht weiß, ob der sterbende<br />
Freund es noch gehört hat. Das ist nicht das<br />
Problem der Eltern – es ist das Problem des<br />
Gefühlsamputierten und Herzkranken, und<br />
es war schon vorher da, bevor er Jagger kennen<br />
lernte und wieder verlor. 45 Minuten<br />
staut der Film bis hierher Yossis Selbsthass<br />
auf. Und entlädt es in einem Bild von Palmen,<br />
Meer und Wüste – einem Poster in Jaggers<br />
Jugendzimmer, das der Vater ihm öffnet.<br />
„Komm mit mir in den Fernen Osten …“ Und<br />
der Film überblendet in den Fernen Osten.<br />
Der zweite Teil schlägt einen anderen<br />
Ton an. Doch Yossis Passivität und Verpanzerung<br />
hält an. Seine Geschichte scheint<br />
sich zu wiederholen, wieder trifft er einen<br />
traumhaft schönen Soldaten, wieder kann er<br />
sich nicht auf ihn einlassen. Er legt Mahlers<br />
Fünfte Sinfonie auf, natürlich das Adagietto,<br />
im mit jungen trampenden Soldaten vollbesetzten<br />
Auto, und ein Blick in den Rückspiegel<br />
genügt – es ist einer darunter, der ihn versteht<br />
und weiß was (für Musik) läuft. Ein Schwuler<br />
erkennt einen anderen. Eytan Fox versucht<br />
sich, anders als im plakativen Yossi & Jagger<br />
(sexy Soldaten tummeln sich im Schnee),<br />
an kunstgeschichtlich vermittelter Erotik:<br />
Der Tod in Venedig wird gelesen, der Tadzio-<br />
Soldat wird beobachtet, wie er aus dem Pool<br />
steigt, Sehnsuchtshinweise, Balkonszenen,<br />
wie in einem scheiß Arthouse-Film. Trotzdem<br />
unglaublich: wie viel Angebote des soldatischen<br />
Posterboys Yossi ablehnt, bis der sich<br />
schließlich einfach nackt vor ihn stellt – wie<br />
deutlich muss man jemandem seine Liebe zeigen,<br />
bis er sich endlich berühren lässt? Wir als<br />
Zuschauer möchten ihn schütteln, zumindest<br />
massieren, aber das Drehbuch behauptet einfach,<br />
dass der Soldat nicht aufgibt. Vielleicht<br />
hätten wir ihn längst aufgegeben, wenn Ohad<br />
Knoller ihn nicht so herzzerreißend spielen,<br />
wenn Eytan Fox sich nicht so völlig in seiner<br />
Traurigkeit verlieren würde.<br />
Eine tolle Szene gibt es, vielleicht ein<br />
bisschen zu kurz, zu sehr geschrieben als<br />
wirklich entwickelt, die zeigt, wie man<br />
sich in Yossi verlieben kann. Als dieser<br />
sich unbeobachtet glaubt und inmitten von<br />
Urlaubern hinter billigen Cocktails Keren<br />
Ann zuhört, die alte israelische Popsongs<br />
singt (die Jagger so liebte, damals). Und der<br />
Tadzio-Soldat beobachtet ihn von hinten.<br />
Da versteht man: Er verliebt sich, weil er<br />
Yossi beim Zuhören beobachtet. Dass Yossi<br />
weint, sehen nur wir. s<br />
Yossi<br />
von Eytan Fox<br />
IL 2012, 85 Minuten,<br />
deutsche SF + OmU<br />
Pro-Fun Media, www.pro-fun.de<br />
Im Kino in der Gay-Filmnacht<br />
im Januar, www.gay-filmnacht.de<br />
Kinostart: 24. Januar 2013<br />
Yossi & Jagger<br />
von Eytan Fox<br />
IL 2002, 70 Minuten,<br />
deutsche SF + OmU<br />
Auf DVD bei Pro-Fun Media,<br />
www.pro-fun.de<br />
8 9<br />
kino
kino kino<br />
10<br />
WElt AM<br />
WAssEr<br />
von Tania WiTTe<br />
Vier Frauen treffen an einem Wochenende in einer malerischen<br />
Brandenburger Seenlandschaft aufeinander und ihre Flirts, ihr<br />
Begehren, ihre Lebensweisheiten und zukunftspläne fließen<br />
in- und durcheinander. Das größtenteils improvisierte Drama<br />
„Frauensee“ ist nach erfolgreicher Festivaltournee und der<br />
deutschen erstaufführung bei den Hofer Filmtagen in der<br />
L-Filmnacht und in ausgewählten Kinos zu sehen. Unsere<br />
Autorin hat den Film beobachtet.<br />
Frauensee<br />
von Zoltan Paul<br />
DE 2012, 85 Minuten, deutsche OF<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino in der L-Filmnacht im Januar,<br />
www.l-filmnacht.de<br />
Kinostart: 24. Januar 2013<br />
eDition SALzGeBeR<br />
s Sommer, irgendwo. Wir stehen in einem Boot, den Blick auf den<br />
Rücken der Bootsfrau geheftet. Vor uns teilt sich das Schilf. Fast<br />
erwarten wir, ein Kind in einem Weidenkörbchen zu erblicken, so<br />
bedeutsam scheint dieses Bild, das in bester Caspar-David-Friedrich-<br />
Manier ein Entree zu einer anderen Welt ist.<br />
Einer Welt am Wasser.<br />
Der Rücken vor uns gehört Fischwirtin Rosa (Nele Rosetz).<br />
Gemeinsam mit ihrem ebenso namen- wie wortlosen Angestellten<br />
(Enrico Weidner) ist sie auf der täglichen Tour über die drei Seen im<br />
brandenburgischen Hinterland, über die sie wacht. Sie holen den Fang<br />
ein, hämmern Pfähle ins Wasser und flicken die Reusen, die erboste<br />
Angler in regelmäßigen Abständen aufschneiden. Als Herrin über die<br />
Seen obliegt Rosa die Vergabe der Fischereilizenzen und damit die<br />
Entscheidung, wer wo und wie viel angeln darf – eine Position, die<br />
alteingesessene Angler der jungen Frau nicht zubilligen. Doch die<br />
Kämpfe um das Wasser werden subtil ausgefochten. Also steht regelmäßiges<br />
Reusen-Flicken an.<br />
Auch außerhalb des Wassers läuft es mit der Kommunikation für<br />
Rosa nicht besonders gut. Zwischen ihr und ihrer Geliebten Kirsten<br />
knirscht es gewaltig, unausgesprochene Spannungen und Konflikte<br />
verunmöglichen einen liebevollen Umgang miteinander, Sex taugt<br />
nur bedingt als Lösung. Architektin und Karrierefrau Kirsten besitzt<br />
einen schicken Bungalow am Wasser, spricht, wo Rosa schweigt und<br />
schweigt, wo Rosa sprechen möchte. „Liebst du mich?“, will Rosa wissen.<br />
Und Kirsten geht still ins Bett.<br />
Überhaupt wird viel geschwiegen in Frauensee, und weit mehr<br />
gezeigt als erklärt. Das mag daran liegen, dass es kein wirkliches<br />
Drehbuch, sondern lediglich ein siebenseitiges Exposé gab, aus dem<br />
das gesamte Ensemble binnen einer Woche gemeinsam die Charaktere<br />
entwickelte und die Handlungselemente generierte. Das ist<br />
Stärke und Crux des Filmes zugleich, doch dazu später mehr.<br />
Zunächst folgen wir der Handlung – sind auch hier, wie im gesamten<br />
Film, Beobachtende und erleben, wie Rosa den beiden Studentinnen<br />
Evi (Lea Draeger) und Olivia (Constanze Wächter) begegnet.<br />
Das Pärchen paddelt in Rosas Gewässern und tut mit schlafwandlerischer<br />
Sicherheit alles, was Rosa ihnen untersagt: Sie bauen ihr<br />
Zelt auf der naturgeschützen Insel so klischeegerecht und linkisch<br />
auf, dass man ihnen die trekkingaffinen Abenteuerinnen schwerlich<br />
abnimmt, vergessen dann ausgerechnet den Dosenöffner und klauen<br />
kurzerhand und ebenso naiv wie dreist einen Fisch aus Rosas Reuse,<br />
um ihn dann in bester Robinson-Crusoe-Tradition auf dem Stock<br />
überm Feuer zu grillen. Bevor sie ihn essen können, ertappt Rosa die<br />
wenig schuldbewussten Diebinnen und nach einem kleinen Schlagabtausch<br />
sitzen sie zu dritt ums Feuer, leeren eine Flasche Wein, rauchen<br />
Gras und essen gemeinsam den Fisch, jetzt, da er ja „eh schon<br />
tot“ ist. Sobald ihr Olivia den Rücken zuwendet, gräbt Evi, eine Spielerin<br />
par excellence, Rosa massiv an.<br />
Als Rosa ihrer Freundin Kirsten am nächsten Tag die Geschichte<br />
erzählt, schlägt die aus einer Laune heraus und zwischen endlosen<br />
Business-Telefonaten vor, Evi und Olivia in den Bungalow einzuladen.<br />
Der Rest der Handlung ist schnell erzählt: Zwischen Rosa und<br />
Kirsten knirscht es weiter und dass die Avancen der ebenso offensiven<br />
wie unbedarften Evi Rosas Ego gut tun, macht es nicht leichter.<br />
Es wird getrennt und geliebt, gestritten und geflirtet – ohne dass sich<br />
die Tiefe der Konflikte im Detail erschließt, aber vielleicht muss sie<br />
das auch gar nicht, denn die Schauspielerinnen sind in weiten Teilen<br />
überzeugend und Bilder des Kameramannes Fabian Spuck so schön,<br />
dass die Handlung des Films ebenso in den Hintergrund rückt wie die<br />
oft beiläufig eingefangenen Gespräche. Das Publikum darf wahrnehmen,<br />
ist Beobachter und Voyeur, ganz wie der Angler, der die Szenerie<br />
im Bungalow mit einem Fernglas bespäht.<br />
Das hat einen Kitzel und schafft gleichzeitig eine Distanz, aus<br />
der das teils unmotiviert-absurde, teils unschlagbar authentisch<br />
wirkende Verhalten der vier Frauen eher analysiert denn mitge-<br />
fühlt wird. Ein raffinierter Schachzug des Regisseurs Zoltan Paul,<br />
der auch in seinem dritten Spielfilm eine Obsession für Zwischenmenschliches<br />
erkennen lässt – eine Neugier auf Unausgesprochenes<br />
und Angedeutetes, auf das, was mitschwingt und ungreifbar scheint.<br />
Einzig in den Sexszenen zeigt sich das Manko dieser Methode, denn<br />
hier hält der Regisseur seine Zuschauerinnen und Zuschauer so sehr<br />
auf Abstand, dass wenig Chance für Empathie, sexuelle Spannung<br />
und Erotik bleibt. Der Status der Zuschauenden bleibt klar definiert:<br />
sie schauen zu.<br />
Schauen zu und fragen sich, was diese vier ungleichen Menschen<br />
zusammenhält. Was wollen sie voneinander, die beherrschte, reflektierte<br />
Kirsten, die sich selbst bewusst aus ihrem eigenen Inneren<br />
ausschließt, die schweigsame, toughe Rosa, die Verbindlichkeit und<br />
Erdung sucht, die provokante und sexuelle aggressive Evi und ihre<br />
langjährige Geliebte Olivia, die immer um Ausgleich bemüht ist?<br />
Die Charaktere sind schnell und nachvollziehbar skizziert und doch<br />
werden scheinbar klare, romantische Rollenbilder überraschend verdreht.<br />
Es geht um die Suche und um das Lernen voneinander, um die<br />
Sehnsucht nach jugendlicher Leichtigkeit und die nach Verwurzelung<br />
in der Gesellschaft. Um eine Brücke zwischen den Altersgruppen.<br />
Das abgebrühte „been there, done that“ von Kirsten gegenüber<br />
der Unverdorbenheit, mit der die beiden Studentinnen das Leben<br />
erobern. Die Paare sind Spiegel und zugleich Reibungsfläche füreinander,<br />
stehen für Ziele und Verlorenes, für Möglichkeiten und Mut.<br />
Für Einsamkeit.<br />
Eine scheibe leben, zeitlos,<br />
unaufgeregt und realistisch<br />
Frauensee ist eine Scheibe Leben, zeitlos, unaufgeregt und realistisch.<br />
Die improvisierten Dialoge sind mal bemüht und holperig wie<br />
in der Küchenszene zu Beginn des Films, dann wieder sind sie so echt,<br />
dass die Zuschauenden das Gefühl beschleicht, genau solche Dialoge<br />
genau so schon geführt oder gehört zu haben – wie bei der Lagerfeuerszene<br />
auf der Insel. Besonders Nele Rosetz alias Rosa und Therese<br />
Hämer als Kirsten glänzen – dennoch ist gerade ihnen hin und wieder<br />
das Ungewohnte an der Improvisationssituation anzumerken, mehr<br />
noch als Lea Draeger und Constanze Wächter, die sichtlich ungehemmter<br />
mit der Freiheit der Szenen umgehen. Die Atmosphäre am<br />
Set – Natürlichkeit statt durchgeplanter Szenen, das Miteinander und<br />
spürbar Nicht-Hierarchische – überträgt sich auf die Atmosphäre im<br />
Film, und vereinzelte linkische Momente gleicht die satte Bildsprache<br />
und die grandiose Kameraführung spielend aus. Frauensee besticht<br />
durch Bilder voller Rhythmus, die sich wiederholen und dadurch ihre<br />
Bedeutung verändern; Bilder, die sinnbildlich für den Gemütszustand<br />
der Charaktere stehen, für Stillstand und Bewegung.<br />
Zoltan Paul nimmt sich Zeit, die Atmosphäre zu fangen. Er lässt<br />
die Protagonistinnen frei und langsam in einen feuchtfröhlichen<br />
Überschwang gleiten, in dem die Blase, in der sie sich befinden, auch<br />
virtuell sichtbar wird. Wieder ist es Rosa, die am Ende die Welten verbindet,<br />
als sie die anderen schlafend zurücklässt und sich in Abendkleid<br />
und Gummistiefeln auf ihr Wasser zurückzieht.<br />
Frauensee ist ein stiller Film, in dem es mehr um das Beobachten<br />
geht, denn um das Verstehen – ein Beobachten, in dem sich die<br />
Anschauungen und Lebenssituationen der Frauen wie nebenbei<br />
erfassen und in weiten Teilen nachvollziehen, von den Figuren lösen<br />
und auf das Selbst übertragen lassen. Eine Einladung zum Nachdenken,<br />
Nachspüren, Nachblicken. s<br />
Tania Witte ist Schriftstellerin, Kulturjournalistin und SpokenWord-<br />
Performerin und lebt in Berlin. Gerade ist ihr Roman „leben nebenbei“<br />
erschienen. www.taniawitte.de<br />
11
kino<br />
EIn zu EngES<br />
KlEID<br />
von JeSSica ellen<br />
„Küss mich“, Alexandra-therese Keinings erwachsene Romanze, variiert das thema<br />
einer Frau, die ihre Beziehung zu einem Mann aufs Spiel setzt, als sie merkt, dass sie<br />
für eine offen lesbisch lebende Frau Gefühle empfindet. Mit einem herausragenden<br />
ensemble einiger der besten Schauspielerinnen des schwedischen Kinos gelingt der<br />
jungen Regisseurin eine subtile erzählung über große Gefühle und die Momente, in<br />
denen sich alles ändert.<br />
s Es sind nur die Flatternerven von Mia,<br />
die sie veranlassen, mit ihrem langjährigen<br />
Lebensgefährten Tim noch schnell eine zu<br />
rauchen, bevor die beiden ihrem Vater Lasse<br />
zum Geburtstag im ländlich-feudalen Ambiente<br />
gratulieren wollen. Außerdem soll Mia<br />
die neue Frau des Vaters kennen lernen, und<br />
da will sie nicht zurückstehen und die eigene,<br />
nach Jahren endlich beschlossene Hochzeitplanung<br />
ankündigen. Aber Mia und Tim sind<br />
nicht die einzigen Raucher: Eine hübsche<br />
Blondine bittet um Feuer; Frida, die Tochter<br />
12<br />
der neuen Stiefmutter. Mia ist misstrauisch:<br />
flirtet die etwa mit ihrem Zukünftigen? Aber<br />
wir ahnen es schon – nichts liegt der hintergründig<br />
lächelnden Frau ferner …<br />
Expositionen wie diese kommen Frau<br />
irgendwie bekannt vor. Seit den 1980er<br />
Jahren wimmelt es in Lesbenliteratur und<br />
-filmen geradezu von sich zunächst heterosexuell<br />
definierenden Ehefrauen, die von<br />
gestandenen Lesben verführt werden und so<br />
erkennen, wer sie eigentlich sind und was sie<br />
wirklich wollen. Aus heutiger Sicht wirkt die-<br />
eDition SALzGeBeR<br />
ses Thema vielleicht ein bisschen angestaubt,<br />
aber es lohnt sich, daran zu erinnern, wie Lesben<br />
vorher dargestellt wurden (und mitunter<br />
immer noch werden). Da gab es lesbisches<br />
Begehren als Sidekick für die eigentlich heterosexuelle<br />
Frau, was diese für Heteromänner<br />
zu einer besonders lohnenden Trophäe werden<br />
ließ, weil sie sie in ihrer Unersetzbarkeit<br />
bestätigte. Ernsthafte Konkurrenz für eine<br />
Heterobeziehung waren Frauenbeziehungen<br />
nicht. „Echte“ Lesben waren meist unattraktive<br />
„kesse Väter“, und nicht selten fanden sie<br />
ein tragisches Ende. Beispiele dafür finden<br />
sich in der Filmgeschichte seit dem Stummfilm<br />
Lulu zuhauf. Erst mit dem Erscheinen<br />
der neuen Frauenbewegung wurden lesbische<br />
Lebensentwürfe als gleichberechtigte,<br />
wenn nicht überlegene Alternative zu Ehe-<br />
und Heterobeziehungen ernst genommen<br />
und auch gehörig idealisiert. Nun erst konnte<br />
lesbische Sehnsucht nach anderen, positiven<br />
Liebesgeschichten zwischen Frauen auch auf<br />
der Leinwand Gestalt annehmen. Und ganz<br />
ehrlich – freuen wir uns nicht immer noch<br />
mit den Liebenden, wenn sie sich nach vielem<br />
Hin und Her endlich kriegen?<br />
Auch zwischen Mia und Frida gibt es dieses<br />
Hin und Her. Und die Verführung geht<br />
keineswegs nur von einer Seite aus. Fridas<br />
Charme könnte selbst einen Gletscher zum<br />
Schmelzen bringen. Aber es ist die scheinbar<br />
so spröde Mia, die den ersten Schritt macht.<br />
Ist sie vielleicht doch nicht so unerfahren?<br />
Erst einmal ergreift Mia, von den eigenen<br />
Gefühlen überrumpelt, die Flucht, geht Frida<br />
aus dem Weg. Doch Frida ist längst verliebt<br />
und nicht bereit, alles als einmaligen Ausrutscher<br />
einer sonst unerschütterlichen Hetera<br />
auf sich beruhen zu lassen.<br />
Beide schaffen es nicht mehr, in ihrem<br />
früheren Leben Fuß zu fassen. Fridas<br />
Lebensgefährtin merkt, dass plötzlich etwas<br />
zwischen ihnen steht. Mia stürzt sich hektisch<br />
in die Hochzeitsvorbereitungen und<br />
spürt, dass alles, was für sie noch vor kurzem<br />
so wichtig war, nun eigentlich nicht<br />
mehr stimmt. Im Brautkleid ihrer Mutter,<br />
das sie unbedingt zur Hochzeit tragen<br />
wollte, obwohl es Tim nicht gefällt, steht sie<br />
unschlüssig vor dem Spiegel. Es ist, als würde<br />
das biedere, hochgeschlossene Kleid ihr die<br />
Luft zum Atmen nehmen, sie reißt es sich<br />
vom Leibe.<br />
Irgendwann schleicht Mia sich doch<br />
zurück in Fridas Leben, und die lässt sich<br />
ihre unvernünftige Liebe von niemandem<br />
ausreden. Es folgen heimliche Treffen; Mia<br />
träumt davon, mit Frida nach Spanien zu<br />
gehen, während die Hochzeitsvorbereitungen<br />
in unvermindertem Tempo weiterlaufen.<br />
Frida entlarvt Mias Ausbruchs- und<br />
Fluchtphantasien als das, was sie sind – Vermeidungsstrategien,<br />
um eben nicht mit der<br />
Realität vor Ort umgehen zu müssen. Frida<br />
dagegen ist stolz auf ihre Liebe und will, dass alle davon erfahren.<br />
Irgendwann wird Mia sich entscheiden müssen …<br />
Küss mich, so der Titel des Films der schwedischen Regisseurin<br />
Alexandra-Therese Keining, sagt gleich, worum es geht. Eine klassische<br />
Liebes- und Coming-Out-Geschichte mit emanzipatorischem<br />
Anliegen und angedeutetem Happy End. Überraschende Wendungen<br />
der Dramaturgie sollte Frau hier nicht erwarten, aber auch auf keinen<br />
Fall Langeweile. Die Konstellation zweier Stiefschwestern, die sich<br />
bei der Verlobung ihrer Eltern kennen lernen, ist immerhin ungewöhnlich<br />
und eröffnet Möglichkeiten, die die Regisseurin zu nutzen<br />
versteht. Weder Mia noch Frida sind von ihrem Äußeren Klischee-<br />
Lesben, beide sehr schön anzuschauen, mit ausdrucksvollen Gesichtern.<br />
Mia dunkel, nachdenklich und etwas melancholisch, Frida<br />
blond, mit zartem Gesicht und strahlend blauen Augen. Der visuelle<br />
Kontrast setzt sich in ihren Charakteren fort.<br />
Frida steht zu ihrem Lesbischsein; ihr Konflikt besteht darin, ihre<br />
Freundin Elin zu verletzen. Verlassen zu werden ist etwas, was sie<br />
selbst schon schmerzlich erlebt hat, und nun ist sie diejenige, welche<br />
Elin verlässt. Leidenschaft hat ihren Preis, und den zahlen vor allem<br />
die Verlassenen. Die aber, die gehen, müssen wohl oder übel mit ihren<br />
Schuldgefühlen leben, auch wenn die neue Liebe sie erst einmal überdeckt.<br />
Der Umstand, dass Frida in einer Beziehung lebt und sich trennt,<br />
verhindert, dass sie allzu engelhaft erscheint – so hat der emanzipatorische<br />
Heiligenschein mindestens einen realistischen Kratzer.<br />
Mia war zwar schon einmal mit einer Frau zusammen, wie sie<br />
später Frida gesteht, aber die Beziehung hatte keinen Bestand, und<br />
Mia, in einer Mischung aus Resignation und Konventionalität, setzte<br />
mit Tim auf Nummer sicher. Heiraten will sie ihn, weil sie glaubt, dass<br />
es von ihr erwartet wird. Die Begegnung mit Frida lockt die verdrängten<br />
Gefühle hervor; das ist anziehend und bedrohlich zugleich. Diese<br />
Ambivalenz beschränkt sich dabei nicht auf Frida, sie kennzeichnet<br />
auch das Verhältnis zu ihrem Vater. Sie nimmt ihm übel, ihre Mutter<br />
verlassen zu haben. Und auch sonst hat er die Tochter zu oft enttäuscht,<br />
deshalb vertraut sie ihm nicht mehr, sehnt sich aber danach,<br />
es zu können. Erst am Schluss wird sie das Risiko eingehen, ihm ihre<br />
wahren Gefühle zu offenbaren, und diesmal wird er nicht versagen.<br />
Auch er hat von Fridas Mutter etwas gelernt. Der unterschiedliche<br />
Umgang der Eltern mit dem Lesbischsein ihrer jeweiligen Tochter<br />
funktioniert als Spiegel des Frauenpaares und gibt dem Film eine<br />
zusätzliche Dimension.<br />
Der Film überzeugt durch das perfekte Zusammenspiel aller seiner<br />
Elemente, eine sorgfältige Inszenierung, dezenten Einsatz von Musik<br />
und eine tolle Kamera, die die Schönheit der Frauen und der schwedischen<br />
Landschaft zum Ausdruck bringt, ohne je geschmäcklerisch<br />
oder kitschig zu werden. (Nicht, dass ich die Lust auf Kitsch denunzieren<br />
möchte; ein Hang dazu schlummert in den meisten von uns).<br />
Das nuancierte Spiel der Darsteller verankert die emotionalen<br />
Konflikte der Figuren in der wirklichen Erfahrungswelt und gibt<br />
ihnen Bodenhaftung. Das ermöglicht ZuschauerInnen wie mir, sich<br />
mit ihnen auch dann zu identifizieren, wenn das eigene Coming-Out<br />
schon Jahrzehnte zurück liegt und mit ihm das Schmachten nach<br />
überirdisch schönen Traumfrauen. Und so ein genussvoller Kinobesuch,<br />
der ganz nebenbei Lust auf einen Urlaub in Schweden mit der<br />
eigenen Liebsten erzeugt, ist ja auch nicht verkehrt. s<br />
Küss mich<br />
von Alexandra-Therese Keining<br />
SE 2011, 103 Minuten, OmU<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino in der L-Filmnacht im Februar,<br />
www.l-filmnacht.de<br />
Auf DVD bei der Edition Salzgeber<br />
kino<br />
13<br />
©JEAN-CLAUDE MOIREAU<br />
Vom RegisseuR Von „swimmingpool“<br />
und „das schmuckstück“<br />
MANDARIN CINÉMA PRÄSENTIERT<br />
IN IHREM<br />
HAUS<br />
Ein Film von FRANÇOIS OZON<br />
AB 29. NOVEMBER<br />
IM KINO<br />
FABRICE LUCHINI KRISTIN SCOTT THOMAS<br />
EMMANUELLE SEIGNER DENIS MÉNOCHET ERNST UMHAUER<br />
WWW.INIHREMHAUS-DERFILM.DE
kino<br />
landschafts architektur<br />
von andré Wendler<br />
in „Westerland“ treffen sich zwei Jungs und gehen eine Beziehung ein. einer ist Borderliner, der andere hat<br />
Angst vor dem Leben. Das Staunen über die Sylter Winterlandschaften verlernen sie schnell. Aufeinander<br />
aufpassen wird zum teil des Problems. tim Staffels Debütfilm nach seinem eigenen Roman erzählt eine<br />
Freundschaft und eine Landschaft – und beides hat man so noch nicht gesehen.<br />
14<br />
kino<br />
15
kino<br />
s Die Zahl des Filmes ist die Zwei. Vieles<br />
passiert doppelt, Zweierkonstellationen<br />
stehen sich gegenüber, man begegnet<br />
sich zweimal. Zweimal auch stehen Cem<br />
und Jésus irgendwo bei Westerland und<br />
schauen einem Zug hinterher, der auf klar<br />
vorgegebener Strecke schnurgerade durchs<br />
Bild fährt. Es ist ihr Sehnsuchtsbild. Beide<br />
sind wohl mit einem solchen Zug nach Sylt<br />
gekommen, aber von geraden Wegen kann<br />
bei keinem die Rede sein. Die Zugbilder<br />
gehen aber nicht in dieser recht einfachen,<br />
nach außen verlagerten Psychologie auf. Sie<br />
lassen sich zwar als Zeichen lesen für das,<br />
was den beiden Jungs geschieht und geschehen<br />
ist, haben aber etwas an sich, das man<br />
nur schwer in Worte fassen kann. Immer<br />
wieder wirft der Film solche Bilder auf die<br />
Leinwand und uns zusammen mit Cem und<br />
Jésus mitten in sie hinein.<br />
So wie ganz am Anfang, wenn Jésus<br />
auf dem zugefrorenen Meer herumläuft.<br />
Die bizarre Landschaft aus übereinander<br />
geschobenen Eisschollen und -platten sieht<br />
unwirklich aus. Es könnte eine Kulisse oder<br />
eine Computeranimation sein. Er streunt<br />
hin und her, geht hierhin und dorthin. Die<br />
paradoxe Wanderung auf dem unbewegten<br />
Meer lässt sich wieder metaphorisch auf die<br />
außergewöhnliche und festgefahrene Situation<br />
beziehen, in der er sich befindet. Das<br />
Bild selbst aber hat eine Kraft, die mich als<br />
Zuschauer_in etwas atemlos werden lässt.<br />
Diese zweite Ebene von Westerland hat nicht<br />
so sehr mit der tatsächlichen Landschaft am<br />
tatsächlichen Drehort der Insel Sylt zu tun<br />
und sie folgt nicht so sehr aus der fiktionalen<br />
Figurenpsychologie der beiden Hauptfiguren,<br />
sondern daraus, dass wir hier ein Bild,<br />
ein bewegtes Bild, ein Kino-Bild vor Augen<br />
haben. Und in diesem Bild kommen nicht<br />
nur Sylt, Cem und Jésus vor, sondern notwendigerweise<br />
auch wir Zuschauer_innen,<br />
mit unserem Sehen, unseren Erinnerungen,<br />
unseren Erfahrungen. Wenn Jésus und Cem<br />
zu Beginn des Filmes immer wieder kreuz<br />
und quer über die Insel spazieren, dann sind<br />
wir gemeinsam mit ihnen auf dem Weg, die<br />
große unerklärliche Frage zu ergründen,<br />
was das ist, das sich zwischen ihnen, Westerland,<br />
uns und seinen Bildern abspielt.<br />
Immer wieder kommen wir mit den beiden<br />
auf Aussichtspunkte in den Dünen, von<br />
denen aus die Nordsee oder die Insellandschaft<br />
weit ausgebreitet vor uns liegen. An<br />
diesen Punkten bleibt uns nicht viel mehr<br />
übrig, als das alles anzustarren und anzusehen.<br />
Der gefrorene Sandstrand hat die Farbe<br />
von Jésus’ Haaren. Das helle grau-beige mit<br />
den weißen Schneefetzen ist glatt, rein und<br />
offen. Auf ihm lässt sich träumen, von Fernstudium<br />
und Schauspielschule. Es ist aber<br />
eine Landschaft, die nur vorübergehend im<br />
Winter festgefroren ist und Stabilität bietet<br />
und die alsbald wieder in Bewegung geraten<br />
wird. Einmal schwenkt die Kamera langsam<br />
von links nach rechts. Auf dem Wasser voller<br />
Eisschollen fährt ein Schiff in die selbe<br />
Richtung. Zwischen Wasser und Strand ist<br />
eine klare Linie gezogen. Dort sitzen die<br />
beiden nebeneinander. Durch die Bewegung<br />
der Kamera wird die Bewegung des Schiffes<br />
aufgehoben, Cem, Jésus und die gesamte<br />
Landschaft scheinen sich an seiner Stelle zu<br />
bewegen. Vor solchen Landschaftsbildern<br />
aus Westerland wird man begriffsstutzig.<br />
Christian Metz, einer der wichtigsten<br />
französischen Filmtheoretiker, hat in diesem<br />
Sinn das zentrale Paradox des Films, von<br />
dem auch Westerland zu handeln scheint, so<br />
beschrieben: „Ein Film ist schwer zu erklären,<br />
weil er leicht zu verstehen ist.“ Wir<br />
sehen, es leuchtet uns ein, aber wir können<br />
schlecht sagen, was es ist. Fast immer, wenn<br />
sich in Westerland jemand dazu aufrafft, das<br />
alles in einer Frage explizit zu machen, wird<br />
diese nur mit Schweigen, Gegenfragen oder<br />
halbleeren Blicken beantwortet: „Schaust Du<br />
immer Filme ohne Ton an? – Ey, was sind das<br />
denn für komische Farben?“ So lange Cem<br />
und Jésus sich die Landschaft wandernd<br />
erschließen können, so lange Cem die Vorstellung<br />
hat, er könne einmal als Landschaftsarchitekt<br />
das alles begreifen und gestalten,<br />
lässt sich der Film aushalten, vielleicht sogar<br />
genießen.<br />
sie flüchten vor der<br />
landschaft in eine<br />
enge Wohnung,<br />
ziehen die Vorhänge<br />
zu und pendeln<br />
nur noch zwischen<br />
Badewanne und Bett<br />
Irgendwann ist aber Schluss damit. Sie<br />
flüchten vor der Landschaft in eine enge<br />
Wohnung, ziehen die Vorhänge zu und pendeln<br />
nur noch zwischen Badewanne und<br />
Bett. Mit dem Rückzug in Cems Wohnung<br />
verknotet sich nicht nur die Beziehung der<br />
beiden, sondern auch der Film. Was als eindeutiger<br />
Boy-meets-Boy-Film begonnen hat,<br />
wird nun zu … etwas bedrückend anderem.<br />
Wenn einer von beiden diese unerwarteten<br />
Komplexionen nicht mehr aushalten kann,<br />
ist der letzte Fluchtort der Balkon, von dem<br />
aus sich wenigstens noch ein kleiner Teil der<br />
Landschaft sehen lässt, in der Bilder, Filmmusik,<br />
Figuren und Geschichten so klar<br />
miteinander agieren konnten. Hier drin aber<br />
gibt es nur Filme mit komischen Farben,<br />
abgedrehtem Ton, zu laute Musik aus Kopfhörern<br />
oder seltsame Regieanweisungen auf<br />
Badezimmerwänden. Die Großartigkeit der<br />
winterlichten Insellandschaft wird ersetzt<br />
durch eine etwas abgestandene gelb-blaue<br />
Spießerhölle mit praktisch-kleiner Einbauküche<br />
und beigefarbenen, gut zu reinigen<br />
Fliesen im Badezimmer.<br />
Die Fülle der Totalen und Panorama-<br />
Aufnahmen von draußen wird hier zu einem<br />
unüberschaubaren Labyrinth aus Closeups<br />
und Detailaufnahmen. Die Fragen sind<br />
genauso bohrend und unerträglich wie draußen,<br />
aber die Bilder können keinen Trost<br />
mehr dafür geben, dass sie nicht lösbar sind.<br />
Stattdessen versuchen sich Cem und Jésus<br />
in einer pathetischen und fast ironisch biblischen<br />
Geste mit Regeln auszustatten. Du<br />
sollst nicht kotzen. Du sollst nicht kiffen. Du<br />
sollst nicht lügen. Du sollst nicht sterben.<br />
Was allerdings als Befreiungsschlag gedacht<br />
war, wird am Ende zu nicht mehr als einer<br />
Unsauberkeit, die mühevoll von den Fliesen<br />
abgewaschen werden muss. Dass der zweite<br />
Teil in der Wohnung für Cem und Jésus und<br />
für uns keine Perspektiven mehr zu bieten<br />
hat, liegt letztlich vor allem an der Abwesenheit<br />
perspektivierender Bilder.<br />
Einmal noch raffen sich beide auf und<br />
verlassen gemeinsam die Wohnung. Jésus<br />
soll in der winterlichen Nordsee schwimmen.<br />
Dazu bekommt er einen Neoprenanzug,<br />
es wird eine Absperrung am Strand errichtet<br />
und Cem hält ihn an einem Seil. Als ob die<br />
Vereinigung mit der Landschaft irgendetwas<br />
bewirken könnte. Am Ende kann Cem<br />
Jésus nur irgendwie aus dem Wasser fischen.<br />
Nichts ist gelöst und die nächste Einstellung<br />
zeigt beide dann auch in einem aussichtslosen<br />
und stummen Kampf miteinander und<br />
gegeneinander.<br />
Westerland verzichtet dabei fast vollständig<br />
auf die diversen Zeichen realistischer<br />
Filme für Homosexualität. Abgesehen<br />
ALLe FotoS: eDition SALzGeBeR<br />
Westerland<br />
von Tim Staffel<br />
DE 2012, 90 Minuten,<br />
deutsche OF<br />
Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
Im Kino in der<br />
Gay-Filmnacht im Februar,<br />
www.gay-filmnacht.de<br />
Kinostart: 21. Februar 2013,<br />
www.westerland-film.de<br />
Jasús und Muhammed<br />
Roman, 138 Seiten,<br />
Transit Verlag 2008,<br />
www.transit-verlag.de<br />
davon, dass wir immer wieder eingeladen<br />
werden, die jungen männlichen Körper beider<br />
Protagonisten anzuschauen, sind wir von<br />
den besonders aufdringlich romantischen<br />
schwulen Küssen, dem Händchenhalten im<br />
Close-up, den argwöhnisch dreinblickenden<br />
Prollschlägern und dergleichen filmischer<br />
Klischeebildung verschont. Am Ende ist es<br />
fast egal, ob die beiden eigentlich schwul sind<br />
und man gleich von Liebe sprechen muss,<br />
oder ob sich hier ‚nur‘ eine intensive Freundschaft<br />
entwickelt hat. Homosexualität ist<br />
hier weder die Bedingung allen Geschehens<br />
noch ein ausgezeichnetes Problem oder überhaupt<br />
ein Problem. Sie ist da oder nicht und<br />
letztlich liegt die Entscheidung über diese<br />
Frage wohl auch sehr bei uns Zuschauer_<br />
innen. Westerland gehört jedenfalls zu einer<br />
Reihe von Filmen aus der jüngsten Zeit, in<br />
der Schwulsein nicht das Problem ist, sondern<br />
wo Schwule auch einmal andere Probleme<br />
haben dürfen als ihre sexuelle Identität.<br />
In einer so bedrückenden und komplexen<br />
Problemlage, wie sie Westerland entwirft, ist<br />
die sexuelle Identität weder eine zusätzliche<br />
Bürde noch irgend eine Hilfe.<br />
Es ist eine meiner schlechten Angewohnheiten,<br />
mich bei jedem Film fragen zu<br />
müssen, was ich von ihm eigentlich gelernt<br />
habe. Westerland hat mir ganz klar dabei<br />
geholfen, genauer zu verstehen, welchen Ort<br />
sexuelle Identität im Rahmen all der familiären,<br />
kulturellen, historischen und ökonomischen<br />
Bestimmungen hat oder haben<br />
kann, denen wir sonst noch ausgesetzt sind.<br />
Ob Cem und Jésus ihren Weg durch dieses<br />
Geflecht gefunden haben werden, wissen<br />
wahrscheinlich weder sie selbst, noch der<br />
Film, noch wir am Ende. s<br />
16 17<br />
kino
kino<br />
Wir scheißen auf<br />
die Emanzipation<br />
von BeaTrice Behn<br />
ein schüchternes Mädchen findet sich plötzlich in einer A-capella-college-Band<br />
wieder, in der sich äußerst talentierte, aber ziemlich inkompatible Mitstreiterinnen<br />
zusammenraufen müssen, um gegen die männliche Konkurrenz zu bestehen. Was<br />
als emanzipatorische Diversity-Utopie daherkommt, regte unsere Autorin zu ein<br />
paar grundsätzlichen Gedanken zum Bild der Frau in der modernen, amerikanischen<br />
Komödie an.<br />
s Eines soll im Voraus festgestellt werden:<br />
Pitch Perfect ist Popcornkino im Zeichen<br />
von Glee, nur eben mit einer reinen Mädchengruppe.<br />
Wer ein bisschen Unterhaltung<br />
braucht, dem wird dieser Film gefallen.<br />
Oder wie sagte meine Kinobegleitung:<br />
„Der is’ ganz nett“. Aber nett ist ja auch die<br />
kleine Schwester von scheiße und genau so<br />
fühlt es sich an, wenn man das Kino verlässt<br />
und einen, wenngleich subtilen, aber eben<br />
lang anhaltenden, bitteren Nachgeschmack<br />
mit sich nimmt. Irgendetwas stimmt nicht<br />
an diesem Film, der doch eigentlich in der<br />
neuen Tradition der ‚emanzipierten Frauen-<br />
Komödien‘ wie Brautalarm oder Die Hochzeit<br />
meiner dicksten Freundin steht, nur um<br />
ein paar weitere Produktionen dieses Jahres<br />
zu nennen.<br />
Ganz genau lässt sich nicht verorten,<br />
wann diese neue Comedy-Welle angefangen<br />
hat, in deren Mittelpunkt ‚moderne‘ junge<br />
18<br />
Frauen stehen, die sich vom traditionellen<br />
Rollenmuster ‚Mutter & Hausfrau‘ verabschieden<br />
und auf der Suche nach Selbsterfüllung<br />
sind. Zweifelsohne erreichte sie<br />
aber ihren ersten kommerziellen Höhepunkt<br />
Ende der Neunziger Jahre im US-Fernsehen:<br />
mit Ally McBeal und natürlich mit Sex<br />
and the City. Sieht man diese Serien heute,<br />
begreift man schnell, dass eine ‚Emanzipation‘<br />
eigentlich gar nicht stattfand. Viel mehr<br />
wurde hier ein neuer medialer Frauencharakter<br />
hergestellt, der mit einem postmodernen,<br />
hoch kommerzialisierten Antlitz die alte<br />
Mär der hysterischen Frau weiter betrieb.<br />
Wurde am Anfang des 19. Jahrhunderts das<br />
Weib zur Psychoanalyse geschickt und per<br />
Vibrator geheilt, so kauft sie im 21. Jahrhundert<br />
eben Schuhe und leidet unter ihrem<br />
stets aufgescheuchten Leben voll sinnloser<br />
Promiskuität. Denn egal, ob hyperhysterische<br />
Ally McBeal oder die Damen des New<br />
UniVeRSAL PictUReS<br />
Yorker Kaffeekränzchens, im Endeffekt ging<br />
es doch nur im das eine: ‚ihn‘ finden. Dass<br />
diese Serien massiv eingeschränkt sind auf<br />
weiße, heteronormative und im Kern konservative<br />
Lebensentwürfe, ist offensichtlich.<br />
Aber jetzt ist ja alles anders, richtig?<br />
Seit Glee darf doch jeder mitmachen,<br />
egal welche Hautfarbe, welches Genderkonstrukt<br />
oder welche sexuelle Ausrichtung!<br />
Alle werden repräsentiert, alle werden<br />
wahr- und ernstgenommen, vor allem<br />
die weiblichen Charaktere. Und ja, in den<br />
Filmen tummeln sich jetzt immer mehr<br />
Modelle von Weiblichkeit: Migrantinnen,<br />
Lesben, dicke Frauen (nur alt darf man<br />
immer noch nicht sein). Doch hier entsteht<br />
er, der fahle Geschmack, denn diese neuen<br />
Figuren befinden sich stets in der Peripherie<br />
des Films. Vor allem Pitch Perfect, der sich ja<br />
mit seiner Vielfältigkeit brüstet, wartet nur<br />
mit zweidimensionalen Abziehbildern auf,<br />
deren einzige filmische Interaktion die ist,<br />
dass Witze auf ihre Kosten gemacht werden.<br />
Am deutlichsten wird dies an der Figur der<br />
‚Dicken‘, die stets besonders hyperaktiv und<br />
besonders (sexuell) hungrig sein muss. Alles,<br />
was sie sagt und tut, ist eine Anspielung auf<br />
ihren Körper, entweder als verzweifelter<br />
Vertuschungsversuch oder als permanente<br />
Zurschaustellung – eine Flucht nach vorn<br />
sozusagen. Gleiches gilt für die Lesbe, die<br />
in jeder Sekunde nichts weiter ist als das:<br />
eine Lesbe. Oder die Nymphomanin oder die<br />
Migrantin, die vor dumm-rassistischen Klischees<br />
nur so trieft. Was bleibt, ist die ‚normale‘<br />
Frau (weiß, hetera, Mittelstand), die<br />
einzige Figur, die im Fokus der filmischen<br />
Entwicklung mehr sein darf als ein Pappaufsteller<br />
mit zwei Brüsten. Ganz in der Tradition<br />
der männlich determinierten ‚Buddy‘-<br />
und ‚Gross-Out‘-Komödien der 80er Jahre<br />
wie Animal House darf sie mit ihren Schablonenfreundinnen<br />
jetzt auch mal ungezogen<br />
sein. Es wird gekotzt, gepinkelt, gefurzt und<br />
(in Brautkleider) gekackt, was das Zeug hält.<br />
Diese erfrischende Abkehr vom sonst immer<br />
perfekten Sex and the City-Mäuschen macht<br />
Spaß, jedoch ist diese Transgression hin zur<br />
banalen und ekeligen Körperlichkeit nicht<br />
mehr als nur ein kleiner Anfang und dient<br />
oft nur der Übertünchung der Tatsache, dass<br />
nach dem Scheißen doch nur das baldige<br />
Hetero-Beziehungsglück folgt. s<br />
Pitch Perfect<br />
von Jason Moore<br />
US 2012, 112 Minuten, deutsche SF<br />
Universal Pictures,<br />
www.universal-pictures.de<br />
Im Kino ab 20. Dezember 2012,<br />
www.pitchperfectmovie.com<br />
Fundamental<br />
dagegen<br />
von luKaS FoerSTer<br />
noch mehr anti geht kaum. Khavn de la cruz’ ausdrücklich so<br />
bezeichnete nicht-Filme (sein übliches „this is not a film by“<br />
negiert ja in alle Richtungen) passen sich keinem Publikum<br />
und keiner Aufführungspraxis an. Seine Abarbeitung am<br />
philippinischen Kultroman „Mondomanila“ von norman<br />
Wilwayco dauerte neun Jahre, hatte schon diverse clips und<br />
Kurzfilme zur Folge und ist nun mithilfe eines deutschen<br />
Koproduzenten in einem fast konventionellen Spielfilm<br />
gemündet. Der ist zwar inhaltlich und formal eine enorme<br />
Herausforderung, aber unser Autor und Khavn-Kenner ist fast<br />
schon ein wenig enttäuscht.<br />
Mondomanila<br />
von Khavn Dela Cruz<br />
PH/DE 2012, 85 Minuten, OmU<br />
Rapid Eye Movies, www.rapideyemovies.de<br />
Im Kino ab 29. November 2012<br />
RAPiD eYe MoVieS<br />
kino<br />
s Manila als Moloch und Faszinosum, als Objekt der Elendspornografie<br />
und gleichzeitig als spektakulär drapierte Gegenwelt zu westlichen<br />
Vorstellungen von Urbanität, als Ort auch einer wildgewordenen,<br />
sozusagen unaufgeklärt befreiten Sexualiät: Neu ist das alles<br />
nicht, ganz im Gegenteil sprechen einige der größten Klassiker des<br />
philippinischen Kinos von nichts anderem – Ishmael Bernals Manila<br />
by Night for allem, aber auch zum Beispiel Lino Brockas Manila in the<br />
Claws of Light. Khavn de la Cruz liefert mit Mondomanila jetzt das<br />
Update für die web2.0-mashup-Generation.<br />
Unter den jungen und nicht ganz so jungen philippinischen Regisseuren<br />
(und leider eher wenigen Regisseurinnen), die in den letzten<br />
Jahren auf Festivals von sich reden machten, ist Khavn de la Cruz<br />
einer der exaltiertesten, radikalsten. Und mit ziemlicher Sicherheit<br />
der produktivste: 33 Langfilme (alle in den letzten zehn Jahren entstanden)<br />
und noch einmal deutlich mehr Kurzfilme verzeichnet seine<br />
eigene Website. Khavns Filme sträuben sich gegen Narrativierung,<br />
aber auf eine sehr spezifische Art; sie sind stets zuerst Konstellationen:<br />
Verschaltungen von zwei, drei, vier unterschiedlichen Materialien,<br />
die sich an ihren Rändern eher gegeneinander verhärten, als<br />
dass sie ineinander fließen, einen fiktionalen (oder auch nur klassisch<br />
dokumentarischen) Raum entstehen lassen würden. In diesem Sinne<br />
ist Khavn der einzige unter den neuen philippinischen Regisseuren,<br />
der tatsächlich so etwas ähnliches wie post-Cinema macht. Im<br />
Grunde arbeitet er installativ, nur, dass er seine Installationen stur<br />
phasenverschoben verzeitlicht.<br />
Jetzt hat Khavn einen Erzählfilm gedreht. Von den Ordnungsprinzipien<br />
des Narrativen scheint er immer noch nicht viel zu halten,<br />
allerdings bekämpft er sie nicht mehr mit Verweigerung, sondern<br />
mit Übererfüllung, overkill. Viel zu viele Figuren tauchen auf, jede<br />
wird mit einem Steckbrief eingeführt, bzw. vor allem polymorphpervers<br />
positioniert. Dugyot: dauergeil, liebt Gänse; Ungay: verkauft<br />
Kohlen, spritzt ab, wo immer ihm danach ist; Danto: hoffnungslos<br />
romantisch, Piepsstimme, der Vater kann ihm das Schwulsein nicht<br />
austreiben. Dazwischen hingerotzte dokumentarische Miniaturen.<br />
Die gesamte erste halbe Stunde des nur 75 Minuten langen Films<br />
besteht aus einer Exposition, von der man von Anfang an ahnt, dass<br />
sie nicht daran interessiert ist, etwas vorzubereiten. Mondomanila ist<br />
die Verfilmung, vielleicht eher die Zersetzung, eines Romans, angefüllt<br />
mit Fragmenten von Geschichten, die bei jeder Gelegenheit aus<br />
dem Ruder laufen, sich in Zeitrafferaufnahmen und Musikvideosequenzen<br />
auflösen.<br />
„Das Leben hat keinen Sinn, bis der Sinn irgendwann zu leben<br />
beginnt“, heißt es in einem der vielen Lieder auf der Tonspur; man<br />
wird das Gefühl nicht los, dass sich solche Sätze dem dekonstruktivistischen<br />
Zeitgeist allzu widerstandslos andienen. Interessant ist<br />
das Feuerwerk, das Khavn in Mondomanila abbrennt, zwar schon,<br />
spektakulär auch und lustig zumindest dann, wenn „White Boy“ auftaucht,<br />
ein amerikanischer Pädophiler, der in abstruser Imperialistenpose<br />
am Klavier sitzt und über die „jämmerlichen Filipinos“ herzieht,<br />
die nur als Sexsklaven taugten – und die sich natürlich, das ist<br />
einer der stärker ausdefinierten Plots des Films, an ihm rächen werden.<br />
Gleichzeitig aber verkümmert Khavns Fundamentalopposition<br />
gegen das Kinoestablishment tendenziell zur schicken, eingängigen,<br />
popkulturell konnotierten Grafik. Mondomanila sieht, leider Gottes,<br />
wie der Film eines Regisseurs aus, der seinen eigenen, hart erarbeiteten<br />
Kultstatus nicht nur für bare Münze nimmt, sondern diese Münze<br />
auch reinvestiert, als ästhetisches Prinzip.<br />
Es hilft nichts, auch wenn es sich furchtbar cine-elitär anhört:<br />
Mondomanila ist als anarchisch-hypersexualisierter Fremdkörper in<br />
der immer noch gerne qualitätsbeflissenen Arthousekinogegenwart<br />
schon ok, wer jedoch wissen will, was Khavn wirklich drauf hat, der<br />
mache sich lieber auf die Suche nach Filmen wie Squatterpunk, Bahag<br />
Kings, Cameroon Love Story oder vor allem der großartigen Brocka-<br />
Paraphrase Manila in the Fangs of Darkness. s<br />
19
kino kino<br />
20<br />
<strong>dämmerung</strong><br />
von niKolauS PerneczKy<br />
in der surrealen Landschaft der spanischen extremadura erzählen cristina Diz und<br />
Stefan Butzmühlen in ihrem Debütfilm „Sleepless Knights“ vom Aufeinandertreffen<br />
und Aneinander-Vorbeileben einer alten, starren, verpanzerten Dorfbevölkerung und<br />
eines jungen schwulen Paares, das die Jugendarbeitslosigkeit aus den Metropolen<br />
aufs Land getrieben hat. nikolaus Pernetzky hat unterhalb der großen Scheinwerfer<br />
der Massenkultur in diesem Film die Beständigkeit kleiner Lichtquellen entdeckt. Die<br />
Filmemacherin Angela Schanelec, die „Sleepless Knights“ im diesjährigen Berlinale-<br />
Forum gesehen hat, schwärmt über einen Film, in dem vom ersten Bild an alles<br />
möglich ist.<br />
s Die Rückenansicht eines nackten Mannes, vor ihm ein Pferd, das er streichelt. Es ist eine<br />
so finstere Nacht, dass wir, wenn er sich endlich umdreht, sein Gesicht kaum erkennen können<br />
– und ob er geradewegs in die Kamera blickt oder knapp an ihr vorbei. Wen sieht er an?<br />
Und mit wessen Augen schauen wir zurück? Das Rätsel, das die erste Einstellung von Sleepless<br />
Knights, dem Langfilmdebüt von Stefan Butzmühlen und Cristina Diz, aufgibt, wird auch<br />
später nicht regelrecht gelüftet. Einige Male noch sollen sich solche subjektlosen Subjektiven<br />
einschalten, gleich einem katzenlosen Lächeln – wenn nicht irgendwann klar würde, dass es<br />
nichts zu Belächeln gibt an dieser gespenstischen Präsenz, deren Weltverhältnis eher ein Spähen,<br />
Flüchten, Sich-Ängstigen ist als ein neutraler Blick.<br />
Juan, ein junger Polizist aus Madrid, ist in eine kleine Ortschaft in der südwestspanischen<br />
Extremadura versetzt worden, wo er vornehmlich damit befasst ist, illegalen Einwanderern<br />
nachzuspüren. In einer Bar wird er Carlos kennen lernen, der bis vor kurzem ebenfalls noch<br />
in Madrid gelebt hat, aufgrund der im Hintergrund schwelenden Eurokrise aber seinen Unterhalt<br />
nicht mehr aufbringen kann und darum vorübergehend – tatsächlich: auf unbestimmte<br />
Zeit – in sein Heimatdorf zurückgekehrt ist. Ihr Flirt schlägt rasch um in handfeste Liebeshändel,<br />
mit elliptischer Plötzlichkeit fast ganz ohne Anbahnung, so unvorbereitet und ungeschützt<br />
wie auch der Rest von Sleepless Knights sich Bahn brechen wird. Eine einschlägige<br />
Szene: Unmittelbar nachdem sie einander zum ersten Mal begegnet sind, sitzen Juan und<br />
Carlos am Ufer eines Flusses, der so breit ist, dass er als zweiter Himmel durchgeht. Juan<br />
erhebt sich, pinkelt in den vorbeilaufenden Strom und eh er sich’s versieht ist Carlos nackt<br />
und springt, schwups, in die urinangereicherten Fluten: „Kommst du nicht rein?“ Außer dem<br />
Wasser ist jetzt alles klar.<br />
Es gibt einige Szenen, worin Sleepless Knights auf die für Spanien verheerenden Folgen<br />
der Eurokrise Bezug nimmt, meist jedoch indirekt, über die Bande beiläufig hingeworfener<br />
Gesten und Äußerungen gespielt. Noch dort, wo die politische Gegenwart ins Bildzentrum<br />
rückt, bleibt sie ein fernes Echo, etwa in einer frontalen Aufnahme des Fernsehapparats auf<br />
der elterlichen Wohnzimmeranrichte, von dem Bilder der Madrider Massenproteste und die<br />
Selbstdarstellung einer „Indignada“ flimmern. Vor dieser Guckkastenanordnung sitzen Carlos<br />
und sein dementer Vater, in einem der zahlreichen Momente ungerichteter Latenz, die<br />
Sleepless Knights immer wieder in einen leichten Dämmerzustand entrücken. Der nur noch<br />
zur Hälfte in dieser Welt verankerte Vater, sein Oberkörper aus unerfindlichen Gründen mit<br />
einer Plattenrüstung bewehrt, ist im nächsten Augenblick sanft entschlummert.<br />
Eingeleitet durch ein Close-Up, das uns ans selbstverlorene Gesicht des Schlafenden heranführt,<br />
lässt Sleepless Knights seine Primärwirklichkeit hinter sich, und begibt sich in das<br />
halb mythische, halb prosaische Reich sagenumwobener Ritter, die es mit einer von Mauren<br />
besetzten Festung aufnehmen wollen. Äußerlich hat diese Parallelwelt indes weniger mit<br />
mythischer Überhöhung als mit einer bestimmten Tendenz des zeitgenössischen Weltkinos<br />
zu tun – so jedenfalls der erste Eindruck: Die Ritter sind eine Gruppe alter Männer, unvollständig<br />
angetan mit mittelalterlichen Rüstungen – ein lose übergeworfener Brustpanzer<br />
hier, ein schief sitzender Helm da –, die ihnen, auch weil die Alltagsbekleidung noch darun-<br />
eDition SALzGeBeR <strong>glühwürmchen</strong>-<br />
21
kino kino<br />
ter hervorragt, so theatral-äußerlich bleiben wie die Kostüme eines<br />
Straubfilms.<br />
Bei ihrem ersten Auftritt geben sich die phantasmatischen Ritter<br />
wortkarg und undurchdringlich. Eine von vielen langen Einstellungen<br />
sieht ihnen geduldig dabei zu, wie sie, einer nach dem anderen,<br />
einen schmalen Bergpfad entlang wandeln. Auf der Tonspur: das<br />
trippelnd-hypnotische Läuten von Schafsglocken. Später machen sie<br />
vor der Kulisse des inzwischen vertrauten, breit aufgetragenen Flusses<br />
halt. Warum sollte man sich da nicht auch noch die Zeit nehmen,<br />
der Zubereitung eines gefangenen Fisches beizuwohnen? Just als<br />
man meint, sich in einem Film von Lisandro Alonso wiederzufinden,<br />
bekommt der gravitätische Ernst der Sache jedoch erste Risse. Die<br />
Ritter singen, um ein Lagerfeuer versammelt, frivole Lieder, necken<br />
und beschuldigen einander, ihren Auftrag nicht mit dem nötigen<br />
Ernst zu verfolgen, was die allmählich ins Burleske kippende Situation<br />
immer besser beschreibt: Die Ritter als Narren. Obschon hier<br />
bestimmte Klischees des Festivalkinos – etwa die Verschränkung von<br />
filmischer Referenz und theologischer Reverenz – aufgerufen und<br />
listig umgebogen werden, geht die Aneignung nicht so weit, als dass<br />
der Film im Einzelnen nicht doch (auch) in der angezeigten Weise<br />
funktionieren wollte und würde. Weniger Kritik als Umarbeitung,<br />
setzt Sleepless Knights auf unentwegte Verunreinigungen seines an<br />
sich strengen ästhetischen Konzepts.<br />
Auch die Zwei-Reiche-Lehre, nach deren Maßgabe der Film in<br />
zwei ungleichartige und nur bedingt zu vermittelnde Teile zerfällt,<br />
ist dem Fundus des festivalnahen Weltkinos entlehnt – man denke an<br />
Apichatpong Weerasethakuls Tropical Malady oder, um neben dem<br />
wahrscheinlichen Anfangspunkt noch einen rezenten Vertreter dieses<br />
Prinzips anzuführen, Nadav Lapids Policeman. Nicht aus drei,<br />
vier oder fünf Teilen soll ein Film demnach bestehen, sondern lediglich<br />
aus zweien – ein nur scheinbar schlichter Binarismus, den man<br />
durchaus als Absage an die vielgliedrigen Netzwerkerzählungen auffassen<br />
darf, die sich noch bis vor kurzem einzig imstande wähnten,<br />
unsere Gegenwart adäquat abzubilden. Die Reduktion führt nämlich<br />
nicht zu einer Vereinfachung oder Verflachung der Filme, die übrigens<br />
gar nicht mehr daran interessiert sind, eine globalisierte Wirk-<br />
lichkeit abbildlich einzuholen, sondern zu einer Ästhetik der Differenz,<br />
die auf das Uneinholbare zwischen den Bildern zielt. Sleepless<br />
Knights knüpft auch an diese Vorlage nicht in Reinform an, sondern<br />
wiederum im Modus einer irgendwie jovialen Unreinheit – Juan und<br />
Carlos, die in den Fluss der Bilder pinkeln, um dann darin zu baden.<br />
Die beiden Welten, die eine mythisch, aber in ihrer Anmutung<br />
prosaisch, die andere im Grunde realistisch, aber von zum Teil überwältigenden<br />
Naturlyrismen durchzogen, stehen in Sleepless Knights<br />
nicht wie zwei unbehauene Blöcke nebeneinander, vielmehr sind<br />
sie ineinander (auch motivisch) verwoben. Wenn sich doch so etwas<br />
wie eine Schnittmenge, ein Gemeinsames der beiden Erzählhälften<br />
herauskristallisiert, dann in dem Versuch, die verlorene Festung<br />
wieder einzunehmen. Die Strategie der Ritter ist in gewisser Weise<br />
eine direkte Umkehrung des Don Quixote, der mit echten Waffen<br />
gegen imaginäre Feinde antrat. Hier wird im Gegenteil versucht, nur<br />
mit Imagination bewaffnet gegen einen echten Feind zu gewinnen:<br />
Indem sie winzige, batteriebetriebene Lämpchen an einer Herde<br />
Schafe befestigen, so die (auf den Stand der Technik gebrachte) Sage,<br />
erwecken die zahlenmäßig unterlegenen Ritter den Anschein einer<br />
herannahenden Armee, worauf der Feind sich in alle Windesrichtungen<br />
zerstreut. Nur die Alten und Kinder bleiben zurück.<br />
Die illuminierten Schafe, die von den burlesken Rittern in einer<br />
langen, unbewegten Einstellung, derweil es Abend wird, die Anhöhe<br />
zur Maurenfeste hinaufgetrieben werden, nähern sich mit jedem<br />
Schritt, den sie sich von uns entfernen, mehr einer Glühwürmchenkolonie<br />
an, bis nur noch ein leuchtschwaches Schillern auszumachen ist.<br />
Ankommen tun sie, zumindest was den Film betrifft, nie. Den Glühwürmchen,<br />
oder vielmehr ihrem Verschwinden, hat Pier Paolo Pasolini<br />
in den 1970er Jahren einen Aufsatz gewidmet, worin ihr kaum<br />
wahrnehmbares, hundertfaches Leuchten zur Metapher für den<br />
gesellschaftlichen Anteil der Anteillosen wurde, der – auch das ist in<br />
dem Bild mitgemeint – nur in dem Maß politisch wirksam sein kann,<br />
wie er es als ästhetischer ist. Und genau diese marginale Leuchtkraft<br />
sah Pasolini bedroht, durch den Aufstieg der Massenkultur, gegen<br />
deren alles ausleuchtenden „Scheinwerfer“ (G. Didi-Huberman) die<br />
Glühwürmchen nichts mehr auszurichten vermögen.<br />
Der Kampf der Glühwürmchen gegen die Befestigungsanlage<br />
wird in Sleepless Knights zur bezugreichen Allegorie eines neuen,<br />
hinter Grenzzäunen und Sachzwängen verschanzten Europa. Erst<br />
wenn man das verstanden hat, werden die eingangs erwähnten<br />
subjektlosen Subjektiven zuordenbar, welche die Liebesgeschichte<br />
der beiden jungen Männer diesseits des Mythos in unregelmäßigen<br />
Abständen durchkreuzen: Der fliehende, angstvolle Blick könnte<br />
einem jener Flüchtlinge gehören, die dingfest zu machen Juans Beruf<br />
ist. Gegen Ende des Films gibt es eine – in jeder Hinsicht unterdeterminierte<br />
– Ansicht, die auch deshalb so rätselhaft ist, weil sie ziemlich<br />
genau zwischen die Extreme der Pasolinischen Metaphorik fällt: Eine<br />
völlig leere Diskothek, erhellt von wild herumwirbelnden Lichtpunkten.<br />
Obwohl den vorprogrammierten Routinen der Lichtmaschine<br />
jedes erratische Moment abgeht, ist in dem Flackernden, Unsteten<br />
des immer nur teilweise erleuchteten Raums ein Rest von der Utopie<br />
der Glühwürmchen noch enthalten – und sei es als deren maschinelle<br />
Objektivierung.<br />
Es ist kein Zufall, dass das vorletzte Bild von Sleepless Knights<br />
dem Licht eines Autoscheinwerfers folgt, der über eine staubige<br />
Landstraße gleitet, auf der Suche nach Carlos’ dementem Vater, der<br />
ausgebüxt ist oder vielleicht sogar in die Parallelwelt der Ritter sich<br />
verflüchtigt hat. Und es ist kein Wunder, dass im Schein jenes grellen<br />
Lichts jede Spur von ihm fehlt. s<br />
Sleepless Knights<br />
von Stefan Butzmühlen und Cristina Diz<br />
DE 2012, 85 Minuten, spanische OmU<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino ab 3. Januar 2013,<br />
www.sleeplessknights-film.de<br />
Alles ist wahr<br />
von Angela Schanelec<br />
s Sleepless Knights beginnt mit einer Einstellung bei<br />
Nacht, in der Dunkelheit erkennt man ein Pferd und<br />
davor den nackten Körper eines Mannes. Das Bild ist von<br />
merkwürdiger Reinheit und Einfachheit. Ich dachte, dass<br />
jetzt alles möglich ist, aber nichts passieren wird, was<br />
sich nicht aus sich heraus ergibt.<br />
Butzmühlen und Diz inszenieren ihre Darsteller wie<br />
Menschen, die schon längst existieren, nur wussten wir<br />
nichts von ihnen. Der Raum und die Zeit, die sie ihnen<br />
geben, ist bemessen von einem freien und völlig unvoreingenommenen<br />
Blick. Was für die Figuren gilt, gilt auch<br />
für die Landschaften und Orte, alles findet seinen Ausdruck<br />
und damit seine Bestimmung. Dadurch hat man<br />
das Gefühl: Alles ist wahr.<br />
Erlöst vom Bedürfnis nach Erklärungen sieht und<br />
hört man zu. Es sind die ungeheuerlichsten Dinge, die<br />
man erfährt. Mit Selbstverständlichkeit folgt man dem<br />
Geschehen, nicht, weil sich die Ungeheuerlichkeit im<br />
Fiktiven verwischt, sondern weil sie eben nicht mehr<br />
zu leugnen ist. Man sieht zu und glaubt daran, dass sich<br />
Liebe wirklich ereignet, wie in der Begegnung zwischen<br />
Carlos und Juan, dass alte Männer sich über Hemd und<br />
Hose Rüstungen ziehen, in denen sie eins werden mit der<br />
Welt, und dass, wer verloren geht, gesucht und irgendwie<br />
auch gefunden werden wird. s<br />
Angela Schanelec ist Filmemacherin, Drehbuchautorin<br />
und Schauspielerin. Zuletzt produzierte sie „Nachmittag“<br />
(2007) „Deutschland 09“ – Episode „Erster Tag“ (2009)<br />
und „Orly“ (2010).<br />
22 23<br />
eDition SALzGeBeR (3)
profil<br />
IcH WEISS nIcHt,<br />
WAS IcH DREHE<br />
inTervieW: enrico iPPoliTo und Jan Künemund<br />
Rosa wird am 25. november 70. Deswegen hat er jetzt 70 neue Filme gedreht, die man gerade in Kinos, auf DVD und im<br />
Fernsehen sehen kann, Miniaturen, dokumentarische Porträts, Gedichtverfilmungen, Pornos. in Berlin gibt es außerdem die große<br />
Ausstellung „Rosen haben Dornen“ und ein neues Buch ist auch erschienen, titel: „ein Penis stirbt immer zuletzt.“<br />
Mehr geht eigentlich nicht. zeit für ein 2½-stündiges interview hat Rosa trotzdem noch.<br />
RoSA Von PRAUnHeiM<br />
s Oliver, der Freund, lässt uns in die Wilmersdorfer Wohn- und<br />
Arbeitshöhle. Rosa verspätet sich und bringt Kuchen mit. Wie erwartet<br />
erst mal Fragen zu unserem Sexualleben und ethnischem Hintergrund.<br />
Nachdem das überstanden ist, wird es direkt herzlich und<br />
sehr offen. Die Waschmaschine läuft, und irgendwo in den hinteren<br />
Zimmern arbeiten Mitarbeiter gerade daran, 70 Filme für die digitale<br />
Kinoauswertung vorzubereiten.<br />
sissy: Sind die 70 Filme schon fertig?<br />
Rosa von Praunheim: Ja. Nur noch Postproduktion.<br />
Sind eigentlich alle deine Filme verfügbar? Könnten wir „Schwestern<br />
der Revolution“ jetzt kaufen?<br />
Soweit ich weiß, ja. Die sind alle digital aufgearbeitet. Mit Avid kann<br />
man Farbe und Ton wunderbar glänzend machen. Mit Filmemachen<br />
kann man aber kein Geld verdienen. Das ist höchstens ein Zusatzgeschäft.<br />
Eine harte Angelegenheit. Und für junge Filmemacher ist es<br />
fast unmöglich. Ich habe ja fünf oder sechs Jahre unterrichtet und die<br />
Stundenten haben es sehr schwer.<br />
Wieso?<br />
Die Schwulen gehen nicht mehr ins Kino und das DVD-Geschäft<br />
scheint ja auch vom Internet abgelöst zu werden. Mein Freund meint<br />
immer, das dauert noch, aber in den USA ist das ja schon zu merken.<br />
Insofern bewundere ich jeden, der sich im Geschäft hält. Das ist nämlich<br />
wirklich hart.<br />
Ich glaube, die Schwulen sind auch eher an Erotik interessiert. Da<br />
ist aber auch viel Beschiss. Da siehst du ein Cover und denkst, da ist<br />
irgendwas drin und dann guckst du im Schnelldurchlauf und siehst:<br />
Da ist ja gar nichts drin. In großen Geschäften darfst du ja was mit<br />
Sex nicht vertreiben.<br />
Du hast lange unterrichtet und Axel Ranisch war ein Schüler von dir.<br />
Freust du sich, dass er mit „Dicke Mädchen“ einen sehr erfolgreichen<br />
Film gedreht hat?<br />
Ja, aber Axel hat ja auch schon unglaublich viele Filme gedreht mit<br />
seinen jungen Jahren. Wunderbare Sachen. Ich verehre den sehr, weil<br />
er eigentlich in meinem Stil arbeitet. Wir haben ihn mit 20 Jahren<br />
aufgenommen in der Schule und der war wirklich wie so ein junger<br />
Mozart. Menschlich unheimlich toll, unheimlich warmherzig. Der<br />
ist ja so ein Fässchen. Alle Heterojungs und Mädchen haben an seinen<br />
Titten gesaugt. Und er war sehr produktiv, sehr politisch und hat<br />
Filme gegen Nazis gemacht – so Parodien. Er war immer sehr witzig.<br />
Ich habe mal eine Werkschau mit Filmen deiner Studenten gesehen,<br />
da sahen die Filme auch nicht anders aus: viel Effekte, nichts Eigenes.<br />
Viele haben versucht, sich pubertär von dir abzusetzen. Liegt das an<br />
dem starren Filmhochschul-System?<br />
Man soll das ja nicht beeinflussen. Es war nicht so, dass ich denen<br />
vorgeschrieben habe, was sie für Filme machen sollen. Die sollen<br />
sich ausprobieren und wenn sie die Gelegenheit haben, einen Film zu<br />
machen, möchten sie ihn gerne groß machen. Am besten ein Musical<br />
im Atelier mit vielen Darstellern und das versuchte ich immer zu verbieten.<br />
Verbieten ist aber auch doof. Dann müssen sie halt manchmal<br />
auch auf die Schnauze fallen, weil das dann eben eine Nummer zu<br />
groß ist – rein von der Organisation.<br />
Und was kann man als Lehrer dagegen machen?<br />
Du kannst da nur beraten, sie sollen ja auch störrisch sein und machen,<br />
was sie wollen. Ich denke aber, dass ich viele Anregungen gegeben<br />
habe, wie man es auch anders machen kann. Ich weiß nicht mehr, was<br />
wir genau gezeigt haben im Babylon, aber die Filme waren bestimmt<br />
sehr unterschiedlich, es sind ja auch unterschiedliche Talente. Und<br />
du freust dich als Lehrer überhaupt, wenn was fertig wird und sie es<br />
schaffen. Und du freust dich auch über jeden, der ein wenig Fantasie<br />
hat und irgendwie was Eigenes macht. Du kannst nur anregen. Talent<br />
gibt es relativ wenig – das ist halt so. Und kommerziell durchsetzen<br />
wird sich höchstens einer von zehn. Das ist halt ein Beruf, der sehr,<br />
sehr schwer ist. Wie alle künstlerischen Berufe.<br />
Findest du die Hochschulpolitik, so wie sie ist, richtig?<br />
Nein, ich habe mich wahnsinnig mit denen angelegt. Es war ja auch<br />
sehr lustig, wie ich aufgenommen wurde. Du wirst als Professor<br />
gefragt, ob du dich bewerben willst. Dann wurde ich ins Stalin-Haus<br />
eingeladen. Das war damals noch auf 20 Villen verteilt, die HFF in<br />
Potsdam. Da waren so vier seriöse Kandidaten. Und ich bin ja antiakademisch<br />
und drei mal sitzen geblieben. Dann habe ich zwei Koffer<br />
dabei gehabt mit so Glamour-Kostümen und die Professoren, die<br />
zusahen und beurteilten, erst mal angezogen – damit sie besser aussehen.<br />
Dann habe ich einen Film gezeigt. 1979 habe ich in San Francisco<br />
unterrichtet, und da hatte ich einen Film zum Thema Homosexualität<br />
gedreht. Ich hatte einen Pornostar gemietet, der vor den Studenten<br />
Sex mit mir gemacht hat. Und die wurden dann danach benotet, wie<br />
sie uns dabei gefilmt haben.<br />
Mussten sich die Studierenden auch ausziehen?<br />
Nee, nee. Einige hatten dann was abgelegt, aber das war nicht Pflicht.<br />
Das gab einen Riesenskandal in der Schule, weil einer sich beschwert<br />
hatte, der eine schlechte Note bekam. Dieses Video hatte ich denen<br />
an der HFF vorgeführt und gesagt, dass seien meine ersten pädagogischen<br />
Erfahrungen gewesen. Und dann habe ich einen zweiten Film<br />
gezeigt und gesagt, dass ich den in Rio de Janeiro gedreht hätte, mit<br />
Esther Schweins und weiß nicht mehr wem, und da waren lauter Szenen<br />
drin mit Vergewaltigungen und Schießereien. Der Film war gar<br />
nicht von mir, ich hatte den gerade von Sat1 aufgenommen. Und dann<br />
hab ich gesagt: Das erste, was ich machen würde beim Unterricht mit<br />
den Studenten, wären Schießübungen. Ist ja wichtig für Krimis. Und<br />
das Zweitwichtigste für Regisseure und Regisseurinnen ist zu lernen,<br />
wie man Frauen misshandelt. Das ist ja auch im kommerziellen<br />
Sinn sehr, sehr wichtig. Über mehrere Werbepausen hinweg, wie man<br />
Frauen Treppen hochjagt mit dem Bein durch die Tür und so weiter.<br />
Da lagen die erst mal alle vor Lachen auf dem Boden und dann habe<br />
ich das Licht ausgemacht und die hypnotisiert. Und nach einem halben<br />
Jahr wurde ich dann Professor.<br />
Was passierte, nachdem du die Professur angenommen hattest?<br />
Dann habe ich mich sehr schlecht benommen. Ich hab so große Plakate<br />
in die Halle gehängt und die anderen Professoren beschimpft,<br />
dass sie im Grunde genommen nichts machen würden. Und sich nicht<br />
kümmern. Ich habe also versucht, die Studenten aufzuhetzen, dass sie<br />
ihre eigenen Interessen vertreten und sich nicht alles gefallen lassen,<br />
sondern sagen, was sie verändert haben wollen. Nun sind aber Studenten<br />
sehr konservativ heutzutage. Mit der Zeit merkte ich, dass du<br />
in diesen eingefahrenen, verbeamteten Strukturen nur klarkommst,<br />
wenn du selber was machst. Deshalb war es gut, dass ich so spät Professor<br />
geworden bin, denn die anderen hörten sofort mit dem Filmemachen<br />
auf – und waren nicht mehr in der Praxis. Das ist die große<br />
Gefahr.<br />
Und die Studierenden?<br />
Die sind natürlich gut bürgerlich und verwöhnt. Auch die osteuropäischen,<br />
was mich erstaunt hat. Also, da hat jemand aus einem armen<br />
Land die Möglichkeit zu studieren und ist noch nicht mal besonders<br />
motiviert! Das hat mich immer sehr geärgert. Da nehmen die jemandem<br />
den Studienplatz weg, der vielleicht ganz hungrig ist und ganz<br />
wenig Möglichkeiten hat.<br />
Wieso wenig Möglichkeiten?<br />
Aufgenommen zu werden, ist ganz, ganz schwer. Und wenn sie einmal<br />
drauf sind, dann können sie fast auch gar nicht mehr runtergeschmissen<br />
werden. Und das ist eigentlich der Fehler, denn sie müssten<br />
immer Prüfungen ablegen und auch runtergeschmissen werden<br />
können. Das Studium ist so teuer. Du musst Handwerk lernen und das<br />
wird da nicht gelernt. Die können noch nicht mal gute Regieassistenten<br />
werden bei irgendeiner Produktion – dafür können sie zu wenig.<br />
Und das ist eigentlich wichtig, denn Regie werden nur wenige machen<br />
können, aber sie müssen in der Praxis hinterher Geld verdienen. Da<br />
ist im Grunde genommen jeder Medienlehrgang besser. Die Begabten<br />
24 25<br />
profil
profil<br />
setzen sich mit oder ohne Schule durch – denke ich. Und dann haben<br />
viele diese Illusion …<br />
Welche?<br />
Reich und berühmt zu werden. Die wollen alle eine große Familie,<br />
viel Geld, großen Erfolg, am liebsten mit Actionfilmen. Ganz süß<br />
eigentlich. Ganz naiv.<br />
Wie hebelst du das dann aus?<br />
Ich versuche, denen ganz realistisch zu sagen, dass der Beruf des<br />
Regisseurs ein Weg in die Armut ist. Und dass nur einer von zehn es<br />
kommerziell schaffen wird. Dass so ein bürgerliches Leben den meisten<br />
nicht gelingen wird, sondern ein Leben voller Entbehrungen.<br />
Wie hast du dich denn eigentlich etablieren können? Du hattest ja<br />
immer Sender, bei denen du was machen konntest.<br />
Naja, nicht von vorneherein. Die ersten drei Kurzfilme habe ich selbst<br />
produziert und konnte sie dann verkaufen. Mit den Fernsehgeldern<br />
konnte ich dann weitermachen. Aber ich habe bis auf ganz wenige<br />
Filme immer selbst produziert.<br />
Gab es denn ein Netzwerk von Leuten, die deine Arbeit unterstützt<br />
haben?<br />
Nein. Nee. Ich bin ja beeinflusst vom Umfeld des amerikanischen<br />
Undergrounds, zu der Zeit, als die 16mm-Kameras aufkamen. Das war<br />
in den 60er-Jahren. Da hattest du diese Bewegung. Ich war immer<br />
von der Beat-Generation beeinflusst. Von Allen Ginsberg, vor allem<br />
von William Seward Burroughs. Das waren meine Helden. Dann Pop-<br />
Art, deutscher Expressionismus, deutscher Stummfilm. Das waren<br />
so die Einflüsse. 1967 habe ich den ersten Film gemacht, hatte aber<br />
schon vorher ein Buch mit Gedichten und Zeichnungen veröffentlicht.<br />
Und dann habe ich halt meinen ersten Kurzfilm gemacht mit<br />
einer stummen Beaulieu-16mm-Kamera. Aber die Bolex-Kamera, die<br />
man aufziehen musste, das war die Standard-Kamera der amerikanischen<br />
Underground-Filme.<br />
Welche Underground-Filme waren das denn?<br />
Da war Jack Smith, Andy Warhol und vor allem Gregory Markopoulos,<br />
den ich ungeheuer verehrt habe und bei dem ich auch assistiert habe.<br />
Der ist ja mittlerweile völlig unbekannt.<br />
Es gibt nur so einige Museen, die was gesammelt haben. Damals hattest<br />
du viel mehr Kunstbegeisterte. Zu meiner Zeit gab es ein größeres<br />
Interesse an neuen künstlerischen Formen.<br />
Woher kam das Interesse?<br />
Das war studentisches Publikum. Ich habe 1968 Filme gezeigt, in<br />
einem Filmkunsttheater, was jetzt das Gripstheater ist. Da standen<br />
die Leute bis zum Ku’damm im Dezember Schlange und haben Filme<br />
von mir und Schroeter gesehen. Das waren Events. Man hat nachts<br />
in irgendwelchen Fabriken Filme gezeigt. Diese Events waren neu<br />
und begehrt. Das sprach sich schnell herum, weil die Filme ungewöhnlich<br />
waren, witzig, politische Parodien. Aber man redet immer<br />
nur von 1966, da wurde ja die Deutsche Film- und Fernsehakademie<br />
hier gegründet. Das waren alles sehr humorlose, linke Schwarzweiß-<br />
Filme. Sag ich mal so. Die halt so im Trend der marxistischen Linken<br />
lagen.<br />
Ende der 60er wurden da doch kaum Filme gemacht?<br />
Doch, doch. Es waren so Filme über die politische Diskussion. Man<br />
filmte Diskussionen mit – mit schlechtem Ton und Bild. Gerd Conradt<br />
hat seinen Film Die Rote Fahne oder so gemacht, wo er mit der roten<br />
Fahne durch die Stadt zieht. Das ist so ein Kultfilm. Und dann Harun<br />
Farocki mit seiner Maobibel. Es gab so einen Gruppendruck. Man<br />
musste sehr politisch sein, sonst war man Kuchenfilmer.<br />
Kuchenfilmer?<br />
Ja, das war so eine Bezeichnung für Leute, die nicht politisch waren.<br />
Also wie das heutige Popkorn-Kino.<br />
Ja, die Geschichten erzählen wollten und an Ästhetik interessiert<br />
waren, nicht an politischer Propaganda. Die wurden verachtet. Dann<br />
gab es diese kleinen Underground-Sachen, die Ottinger und den<br />
Lambert. Zu meiner Zeit gab es dann Schroeter, den ich nach Berlin<br />
26<br />
brachte. Er assistierte mir und ich später ihm. Und dann gab es … Wen<br />
gab es denn noch? Die Hamburger Filmschau, die sehr wichtig war<br />
für neue experimentelle Sachen.<br />
Wie prüde war Deutschland damals?<br />
Naja, die 68er waren auch eine sexuelle Revolution. Die Frauenbewegung,<br />
Helma Sanders und so weiter. Die Linke war prüde, die<br />
Frauen unterdrückt, Schwule nicht anerkannt. Aber sexuelle Revolution,<br />
Kommune 1 und so – das waren ja die Anfänge. Das spielte<br />
eigentlich alles zusammen. Und dann kam ich mit dem schwulen<br />
Film und hatte schon mit Schwestern der Revolution die Frauenbewegung<br />
fiktiv mit den Schwulen zusammengebracht. Das war halt<br />
so die Zeit. Die ging so bis in die Achtziger Jahre, bis der deutsche<br />
Film starr wurde.<br />
Starr im Sinne von hetero?<br />
Naja, auch dieser Kunstanspruch hat sich verfestigt und wurde uninteressant,<br />
langweilig. Wir hatten ja in dem Sinne keine konventionelle<br />
Dramaturgie – die Münchener schon eher. Und das Publikum<br />
war nicht so interessiert. Und dann kamen so Mitte der Achtziger die<br />
deutschen Komödien. Das war ein Trend, da gab es dann Publikum.<br />
Was waren das für Filme?<br />
Das fing sicher an mit May Spils, in München, auch schon früher. Hier<br />
war das Detlef Buck zum Beispiel. Es gab fünf, sechs große Komödien-Trends,<br />
die den neuen deutschen Film auf eine neue kommerzielle<br />
Ebene gebracht haben. Das war der Anfang. Man lernte wieder,<br />
Drehbuch zu schreiben und zu unterhalten und wie man ein Publikum<br />
kriegt.<br />
Der Filmwissenschaftler Richard Dyer gibt dir in „Now you see it“, seiner<br />
schwullesbischen Filmgeschichte bis 1990, fast ein ganzes Kapitel.<br />
Er nennt deine Filme „Konfrontationsfilme“, die sich geweigert hätten,<br />
nette, freundliche Schwule zu zeigen, wie es damals angesagt war,<br />
um den üblichen homophoben Bildern etwas entgegenzusetzen. Brav<br />
gefilmt, niederschwellig, konventionell – und dann tauchst du auf mit<br />
dem Homosexuellenfilm, der ja inhaltlich und formal sehr verrückt ist …<br />
Theatralisch ist der.<br />
Aber woher kam das Konfrontative – auch der eigenen Szene gegenüber?<br />
Oder anders gefragt, wie bist du auf diese formalen Verrücktheiten<br />
gekommen? Du hast ja darin Essay, Dokumentarfilm, Spielfilm,<br />
Pamphlet und alles mögliche miteinander vermischt.<br />
Ich hatte das Glück, dass ich keine Ausbildung hatte. Und ich habe<br />
mich nicht konventionell an Vorbilder gehalten, sondern alles praktisch<br />
selbst erfunden. Zum Teil aus der Not heraus, eben mit dieser<br />
stummen Kamera. Ich habe ja auch den Homosexuellenfilm stumm<br />
gedreht, und erst hinterher den Ton draufgemacht. Auch aus politischen<br />
Gründen. Das Subversive kam hinterher, nachdem der<br />
Film schon abgedreht war. Das war eine interessante künstlerische<br />
Methode. Ich kam ja aus der Malerei und habe die Kamera selbst<br />
gemacht. Ich hatte eine sehr spezielle Art, wie ich Bilder gesehen<br />
habe und konnte mich dann ganz auf diese Bilder konzentrieren – und<br />
hinterher den Ton erfinden, der mir passte. Wenn man mit Ton dreht,<br />
ist man halt sehr abhängig. Ich bin dahin gerade wieder zurückgekehrt<br />
bei den sieben Spielfilmen im 70-Filme-Projekt. Bin zurückgekehrt<br />
zu dieser experimentellen Methode, schreibe keine Drehbücher<br />
mehr. Ich sag ja immer, nicht ich mach die Filme, sondern die machen<br />
mich. Ich weiß nicht, was ich drehe.<br />
Wieso bist du zum experimentellen Kino zurückgekehrt?<br />
Weil ich heute keine Chance mehr habe, Spielfilme zu machen. Es<br />
gibt zwar noch Newcomer-Redaktionen wie das Kleine Fernsehspiel,<br />
aber sonst eben nur die 20.15-Uhr-Schiene. Die ist dermaßen restriktiv<br />
kommerziell ausgerichtet, die würden mich nie für einen Krimi,<br />
das sind ja hauptsächlich Krimis dort, engagieren, weil meine Welt<br />
zu verrückt ist. Und dann ist es ganz normal, dass man fragt: Wieso<br />
soll ich mich anpassen? Dann mach ich doch lieber ganz radikal, was<br />
mir wirklich Spaß macht. Und ich mach dann innerhalb von wenigen<br />
Tagen einen Spielfilm, mit Leuten, die fantasievoll sind. Und hab<br />
profil<br />
einen wahnsinnigen Spaß und eine Befriedigung daran, mit tollen<br />
Leuten was zu machen, was ganz ich bin. Ohne daran zu denken, ob<br />
das jemals gezeigt wird. Ich denke aber, dass man sich durchsetzt,<br />
wenn man konsequent ist – oder halt auch nicht. Das ist mir egal.<br />
Dokumentarfilm ist der einzige Bereich, in dem ich akzeptiert werde<br />
und mich durchgesetzt habe. Auch bei Redaktionen. Wo ich auch<br />
Erfolg habe und mich nicht anzupassen brauche.<br />
Hast du eigentlich Homophobie oder Restriktionen in Sendern erlebt?<br />
Ja, aber nur von Schwulen und Lesben. Das ist das Traurige.<br />
In welcher Art?<br />
Es gab Leute, die versucht haben, meine Filme zu verhindern. Und das<br />
waren meistens die ungeouteten Schwulen und Lesben. Zum Beispiel<br />
Bettina Böttinger, die gerade von Harald Schmidt geoutet worden war.<br />
Die hatte mich eingeladen in ihre Sendung. Es war schon alles fertig,<br />
die Trailer und so weiter. Dann sagte ich, dass ich sie aber vorher sprechen<br />
wollte. Ich sagte ihr, ich würde gerne auf das Outing von Schmidt<br />
eingehen. Das wollte sie auf gar keinen Fall. Ich sagte, das kann man<br />
doch charmant machen und ich würde sonst in der Sendung jedes Mal<br />
nachfragen und das wäre doch doof. Dann hat sie drei Stunden später<br />
angerufen und mich ausgeladen. Ich könnte auch Geschichten von<br />
heute erzählen, aber die würden mir schaden. Wenn ich weiß, da ist<br />
ein schwuler Redakteur, denke ich mir, hab acht, hab acht. Da wird<br />
nichts draus. Und selbst der rechte CDU-Redakteur hilft dir.<br />
Und das ist heute noch so, weil die Leute Angst haben?<br />
Das ist psychisch. Denn die Leute wissen ja, dass jemand schwul ist.<br />
Das ist immer das selbe Ding, dass es alle um dich herum wissen und<br />
nur du glaubst, dass sie es nicht wissen. Das ist ja das Blöde. Außerdem<br />
haben Schwule und Lesben eine ganz eigenen Vorstellung, wie<br />
Homosexuelle dargestellt werden müssen, und das ist meisten kurios.<br />
Wie denn?<br />
Das ist von persönlichen Sachen abhängig, wie man das gerade so<br />
sieht. Ich bin ja ein Erzengel geworden, weil meine Darstellung vielen<br />
nicht gefallen hat. Es war zu offensiv, zu politisch. Ich war sicher auch<br />
nicht immer toll.<br />
Du hast unter anderem Hape Kerkeling geoutet und bist so zur Hassfigur<br />
der Nation geworden.<br />
Das war mein Prinzip. Ich wusste natürlich, dass sich alle Feindschaft<br />
auf mich richten wird. Da dachte ich, um der Sache willen wäre es<br />
doch ganz schön. Ich war wütend auf die Schwulenszene, wie spießig<br />
die war und wie unpolitisch.<br />
Hast du dein Ziel erreicht?<br />
Ich glaube, dass der Journalismus sich entscheidend verändert hat.<br />
Das kann man nachweisen. Vorher wurden Schwule nur problematisiert.<br />
Es wurde nur über sie berichtet, wenn sie Mordopfer waren oder<br />
wenn Prominente an Aids gestorben sind. Und das ist jetzt anders. Ich<br />
denke, das hat meine Outing-Serie angestoßen.<br />
Bist du denn immer noch für ein radikales Outing von Prominenten?<br />
In meinem Herzen ja, besonders bei der Kirche. Aber ich bin jetzt alt,<br />
moderat und friedlich geworden.<br />
Du machst mittlerweile hauptsächlich dokumentarische Porträts. Wie<br />
ist da deine Methode, wie gehst du in ein Interview rein?<br />
Das habt ihr ja erlebt.<br />
Also mit provokanten Fragen.<br />
Nicht unbedingt provokativ. Ich habe aber gelernt, dass es so ein paar<br />
Tricks gibt. Schule des Journalismus. Das kommt sehr auf die Körperhaltung<br />
an. Du musst dem das Gefühl geben, dass du ihn magst. Und<br />
ich mag den Neonazi genauso wie den Kardinal. Ich verliebe mich<br />
in meine Interviewpartner – automatisch. Und auch direkte Fragen<br />
werden immer beantwortet, man muss sich trauen, direkt und spontan<br />
zu fragen.<br />
Du hast ja eine Ochsentour durch alle deutschen Talkshows hinter dir.<br />
Gab es einen Moment, wo Leute was aus dir rausbekommen haben?<br />
Hast du jemals die Kontrolle verloren?<br />
Es gab Versuche.<br />
27
profil<br />
Einer der „70 Filme“: „Ein schöner Akrobat“<br />
Es wirkt ja so, als ob du schon alles über dich<br />
erzählt hättest. Sogar deine Wohnung kennt<br />
man aus den Filmen. Hast du überhaupt noch<br />
Geheimnisse?<br />
Ich nehme auf meinen Freund Rücksicht.<br />
Er möchte nicht, dass ich über bestimmte<br />
Sachen rede. Und das ist sicherlich was<br />
Neues, weil ich sonst alles immer ausplaudere.<br />
Gerade über mein Sexleben. Ich<br />
schreibe ja auch jeden Tag Tagebuch.<br />
Wie schreibst du Tagebuch? Sind das Notizen<br />
oder richtige Einträge?<br />
Wie in Rosas Rache.<br />
Also selbst die Tagebücher sind öffentlich.<br />
In Ausschnitten. Seit siebzehn Jahren führe<br />
ich Tagebuch. Inzwischen auch am Computer.<br />
Ich habe aber ein kleines Buch, wo ich<br />
Stichworte handschriftlich hineinschreibe.<br />
Das ist sehr spannend, weil diese knappe<br />
Form sehr aufregend ist, wenn man das liest.<br />
Wenn ich im Internet so rumschwafle, ist das<br />
eher langweilig.<br />
Gehst du eigentlich ins Kino?<br />
Ja. Viel. Gerne. Sehr gern.<br />
Gibt es im queeren Bereich gerade etwas Aufregendes<br />
für dich?<br />
Gerade? Weiß ich nicht. Aber grundsätzlich<br />
gibt es ganz wunderbare Sachen. Tarnation<br />
zum Beispiel. Dann finde ich auch Shortbus<br />
toll, auch die Arbeitsweise – wie er mit denen<br />
gearbeitet hat. Das habe ich jetzt auch in New<br />
York Sisters gemacht, der auch zu den 70 Filmen<br />
gehört. Es gibt viele tolle Filme, aber<br />
einige gehen unter. Kino macht mir Spaß, das<br />
ist ja auch was für ältere Leute.<br />
Ist das queere Kino rückständig? Oder spießig?<br />
Nee, ich glaube, dass Kino grundsätzlich vorbei<br />
ist.<br />
Könntest du dir ein Filmemachen denken, das<br />
auf das Kino als Ort verzichtet? Steckt darin<br />
vielleicht sogar ein kreatives Potenzial?<br />
28<br />
In allem steckt Potential. Hat aber Vor- und<br />
Nachteile. Es ist doch spannend, wie die<br />
jungen Leute mit dem Kino umgehen. Wo<br />
das aber noch nicht angekommen ist, ist die<br />
Filmschule. Die Leute haben keine Geduld<br />
mehr. Länger als 20 Minuten ist nicht mehr.<br />
Gibt es einen Film, auf den du besonders stolz<br />
bist?<br />
Nee. Ich bin auf überhaupt nichts stolz, weil<br />
ich so ein schlechtes Gedächtnis habe. Ich<br />
kann mich an mich selbst oft gar nicht mehr<br />
erinnern.<br />
Schaust du dir deine Filme nicht an?<br />
Nein. Das ist mir so fremd, weil ich in der<br />
Gegenwart lebe und so viel gleichzeitig<br />
mache. Wenn ein Film vorbei ist, kommt<br />
der nächste. Dann habe ich alles andere vergessen.<br />
Ich arbeite viel, aber ich habe keine<br />
große Einbildung. Es gibt so viele tolle Leute.<br />
Es ist halt ein ständiger Kampf. Ich konnte ja<br />
keine Reichtümer erwerben, insofern hoffe<br />
ich, dass ich die Miete von einem Projekt<br />
zum anderen bezahlen und die Leute hier<br />
halten kann.<br />
Wenn eine Kinemathek nur einen Film von<br />
jedem Regisseur archivieren wollen und dich<br />
fragen würde – welchen würdest du wählen?<br />
Sehr schwierige Frage. Ich finde den Film<br />
von Elfi Mikesch über mich sehr schön, der<br />
heißt Ich bin ein Gedicht, wo sich mich als<br />
Dichter und Maler beschreibt. Der gefällt<br />
mir sehr gut, weil ich mich als einen großen<br />
Dichter und Maler sehe – unentdeckt. Meine<br />
eigenen Sachen kann ich schwer beurteilen.<br />
Viele junge Leute entdecken die Bettwurst<br />
immer wieder neu. Auch den Homosexuellen<br />
auf eine Weise.<br />
Und „Überleben in New York“?<br />
Eher weniger. Das war ein kommerzieller Hit.<br />
Ich wollte immer einen schwul-lesbischen<br />
Friedhof machen, wo ich in den Grabsteinen<br />
so Monitore habe. Und da würde ich gerne<br />
RoSA Von PRAUnHeiM<br />
meine Filme zeigen. Das ist aber alles so egal.<br />
Ich versuche, in der Gegenwart zu leben. Und<br />
Zukunft ist in meinem Alter etwas Beunruhigendes,<br />
weil du immer mitkriegst, wie es<br />
anderen Leuten geht. Und deswegen froh bist,<br />
dass du noch einigermaßen gehen kannst.<br />
Und solange ich noch Lust habe, mache ich<br />
weiter. Aber das kann sich ja ganz schnell<br />
ändern. Das haben wir auch durch Aids bei<br />
den Jungen gesehen. Auch bei älteren Menschen,<br />
die plötzlich aus einer Vitalität rausgerissen<br />
werden. Deswegen ist es Quatsch. Ich<br />
habe Angst vor Filmen wie Hanekes Liebe.<br />
Eine Viertelstunde zu sehen, wie jemand<br />
gewindelt wird, das will ich nicht.<br />
Aber du hast doch damals auch den kontroversen<br />
„Todesmagazin“ gedreht, als Protest<br />
gegen die mediale Tabuisierung des Todes …<br />
Ja, als junger Mensch. Als junger Mensch<br />
konnte ich unglaublich gut mit Alter und Tod<br />
und Sterben umgehen, weil es mich nicht so<br />
getroffen hat. Jetzt will ich das nicht. Ich<br />
persönlich will mich nicht damit auseinandersetzen.<br />
Man will ja diesen Lebenskampf.<br />
Das ist das Erschreckendste. Dass du durch<br />
eine furchtbare Scheiße gehst, um noch ein<br />
paar Monate zu leben. Das will ich nicht an<br />
mich ran lassen. Ich möchte produktiv bleiben,<br />
so lange ich kann. Das schätze ich auch<br />
an anderen. Jeder, der was tut, und wenn es<br />
Regenwürmer sammeln ist, jeder, der aktiv<br />
ist oder intensiv lebt, hat meine große, große<br />
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Erkenne deine Kraft<br />
von anne-K. Jung<br />
eine schwarze, lesbische Amerikanerin, Dichterin und politische Aktivistin kommt 1984 als Gastprofessorin<br />
nach Berlin. Damit beginnt eine Art Liebesaffäre zwischen ihr und dieser Stadt, die mehrere Jahre lang<br />
dauern soll und die im Leben vieler Menschen tiefe Spuren hinterlässt. Für die Berliner Frauen- und<br />
Lesbenszene und die community Schwarzer Deutscher wird Audre Lorde zur inspiratorin, zum zündenden<br />
Funken, zur Anleiterin, zur Moderatorin von Prozessen. Der Dokumentarfilm „Audre Lorde – Die Berliner<br />
Jahre 1984–1992“ von Dagmar Schultz macht diese Momente erlebbar.<br />
s Audre Lorde. Audre Geraldine Lorde.<br />
Ein Name wie Poesie. Ein Name, der zum<br />
Schreiben, Dichten und Denken bestimmt.<br />
Seine Trägerin folgte dieser Bestimmung<br />
und wurde zu einer der wichtigsten gesellschaftspolitischen<br />
Aktivistinnen des 20.<br />
Jahrhunderts. Wer wie ich in den frühen<br />
1990er Jahren eine lesbische Sozialisierung<br />
erfuhr und unter anderem so verrückte<br />
Dinge tat wie lesbische Großveranstaltungen<br />
zu organisieren, begegnete dem Mythos<br />
Audre Lorde auf Schritt und Tritt. Für nicht<br />
wenige politisch aktive Lesben meiner<br />
Altersgruppe war sie die Heldin, das Vorbild<br />
schlechthin. Nachwachsenden Generationen<br />
scheint sie weniger ein Begriff zu sein – zu<br />
Unrecht, denn ihre Botschaften sind zeitlos<br />
und beinahe universell. Was Audre Lorde<br />
über individuelle Freiheit, Stärke und die<br />
Kraft zur gesellschaftlichen Veränderung zu<br />
sagen hatte, wirkt auch heute noch wie ein<br />
Zaubertrank gegen Angst und Mutlosigkeit.<br />
I value myself more than I value my terrors.<br />
Audre Lordes Biographie war nicht gerade<br />
typisch für eine junge Schwarze ihrer Zeit:<br />
Sie kam 1934 in New York City zur Welt, als<br />
Tochter einer aus der Karibik immigrierten<br />
Arbeiterfamilie. Sie wuchs im schwarzen<br />
Stadtteil Harlem auf, besuchte die High<br />
School und anschließend das College. Ihre<br />
Ausbildung finanzierte sie aus eigener Kraft,<br />
mit Hilfe diverser Nebenjobs. Unter anderem<br />
verdiente sie ihren Lebensunterhalt als<br />
Fabrikarbeiterin, Ghostwriterin, Sozialarbeiterin,<br />
Röntgentechnikerin und Lehrerin<br />
für Kunsthandwerk. Sie entdeckte und lebte<br />
ihr Lesbischsein in Amerikas furchtbaren<br />
50er Jahren – einer Zeit, in der Homosexualität<br />
extrem stigmatisiert und unterdrückt<br />
war. Schon früh schrieb sie Gedichte und<br />
Prosa und wurde ein aktiver Teil der homosexuellen<br />
Subkultur im Greenwich Village.<br />
1961 machte Audre Lorde an der New Yorker<br />
Columbia Universität ihren Abschluss<br />
in Bibliothekswissenschaften und arbeitete<br />
zunächst als Bibliothekarin. Eine Brustkrebsdiagnose<br />
im Jahr 1968 veranlasste sie,<br />
sich auf ihre Karriere als Schriftstellerin und<br />
Dozentin zu konzentrieren. Zugleich blieb<br />
sie politisch aktiv und engagierte sich weiter<br />
in der Bürgerrechts- und der Frauenbewegung.<br />
Ich bin nicht frei, solange noch eine einzige<br />
Frau unfrei ist, auch wenn sie ganz andere Fesseln<br />
trägt als ich. Für die US-amerikanische<br />
Frauenbewegung war sie eine unbequeme<br />
Mitstreiterin: Sie konfrontierte die stark von<br />
der weißen, akademischen Mittelschicht<br />
geprägte Bewegung mit dem Rassismus in<br />
den eigenen Reihen. Sie hielt den weißen<br />
Aktivistinnen vor Augen, dass sie allein aus<br />
ihrer privilegierten Perspektive heraus argumentierten<br />
und agierten. Lorde forderte<br />
zornig und kämpferisch eine Auseinandersetzung<br />
mit der eigenen Unterschiedlichkeit<br />
und eine Solidarität über Hautfarbe, Klassenunterschiede,<br />
Alter und sexuelle Orientierung<br />
hinweg. Die Vielfalt aller Frauen,<br />
einmal erkannt und als gleichberechtigt<br />
anerkannt, sah sie als gewinnbringendes<br />
Potential im Kampf gegen die Unterdrückung<br />
des weiblichen Geschlechts. „Different,<br />
but together“ war ihr Postulat.<br />
Die Berlinerin Dagmar Schultz begegnete<br />
Audre Lorde zum ersten Mal 1980 auf<br />
der UN-Frauenkonferenz in Kopenhagen.<br />
Zwei Jahre später hörte sie bei einer Akademikerinnen-Tagung<br />
in Connecticut Reden<br />
von Audre Lorde und der bekannten jüdischen,<br />
lesbischen Feministin Adrienne Rich.<br />
Sie war von den Vorträgen derart beeindruckt,<br />
dass sie sich die Veröffentlichung in<br />
Deutschland vornahm. Daraus entstand das<br />
Buch „Macht und Sinnlichkeit“, das 1983<br />
im Berliner Frauenverlag sub rosa (später:<br />
Orlanda) erschien, herausgegeben von Dagmar<br />
Schultz, Mitgründerin des Verlags. Der<br />
Band enthielt besagte Vorträge sowie weitere<br />
Aufsätze und Gedichte beider Schriftstellerinnen.<br />
Die noch junge, deutsche Lesbenbewegung<br />
setzte sich intensiv mit diesen<br />
Texten auseinander. Sie galten vielen als die<br />
radikalsten und treffendsten Analysen von<br />
Machtverhältnissen überhaupt. Neu war ferner,<br />
dass auch die Verwerfungen innerhalb<br />
des Feminismus thematisiert wurden. Es<br />
ging um Schwarz-Sein, um Lesbisch-Sein,<br />
um Jüdisch-Sein. Es ging um Homophobie,<br />
Rassismus und Antisemitismus, um Zorn<br />
und Enttäuschung, aber auch um das produktive<br />
Überwinden von Unterschieden.<br />
Ich liebe es, zu reisen. Ich liebe es, zuzuhören.<br />
Ich liebe es, von anderen zu lernen. Im<br />
Jahr darauf kam Audre Lorde erstmals nach<br />
Berlin. Sie trat für ein Semester eine Gast-<br />
Audre Lorde am John-F.-Kennedy-Institut (1984)<br />
professur am John-F.-Kennedy-Institut für<br />
Nordamerikastudien der FU Berlin an. Dagmar<br />
Schultz, die dort als Dozentin tätig war<br />
und Kandidat_innen vorschlagen durfte,<br />
hatte ihre Berufung in die Wege geleitet. Im<br />
Sommer 1984 gab die Amerikanerin an der<br />
FU mehrere Seminare, hielt Vorträge und<br />
Lesungen. Audre Lorde beobachtete aufmerksam,<br />
dass sich in ihrem Publikum oft<br />
schwarze Deutsche einfanden. Sie sprach<br />
sie gezielt an, brachte sie zusammen und<br />
inspirierte sie zur Gründung einer afrodeutschen<br />
Bewegung, die es bis dahin nicht<br />
gegeben hatte. Sie ermutigte sie, ihre eigene<br />
Identität zu definieren und nach außen<br />
zu tragen. Unmittelbares Produkt ihrer<br />
„empowerment“-Strategie war ein weiteres,<br />
viel beachtetes Buch, das im Orlanda-Verlag<br />
erschien: „Farbe bekennen. Afro-deutsche<br />
Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“<br />
(1986), herausgegeben von Katharina Oguntoye,<br />
May Opitz/Ayim und Dagmar Schultz.<br />
In den folgenden acht Jahren bis zu<br />
ihrem Tod verbrachte Audre Lorde regelmäßig<br />
mehrere Wochen pro Jahr in Berlin.<br />
Hier arbeitete sie an weiteren Buchprojekten,<br />
pflegte intensive Freundschaften und<br />
hielt vor allem engen Kontakt zu der von<br />
ihr mitbegründeten Schwarzen Community.<br />
In zahllosen Veranstaltungen in Berlin<br />
und anderen deutschen Städten vermittelte<br />
sie ihre Gedanken und lud zu Diskussionen<br />
ein. Offenbar war die Rolle der Lehrerin,<br />
das Anstoßen, Anleiten und Weitergeben<br />
ein bedeutender Teil ihres Wesens. Zugleich<br />
blieb sie selbst eine unentwegt Lernende. Sie<br />
wurde nicht müde, sich diesen Aufgaben zu<br />
widmen, selbst als die Ärzt_innen ihr wegen<br />
einer erneuten Krebserkrankung dringend<br />
dazu rieten, sich zu schonen. In Berlin hatte<br />
sie 1984 eine naturheilkundliche Krebstherapie<br />
begonnen und überlebte viele Jahre<br />
länger, als ihr die Mediziner_innen vorausgesagt<br />
hatten. Audre Lorde starb 1992 in St.<br />
Croix auf den Virgin Islands (Karibik), wo<br />
sie in den letzten Jahren ihres Lebens ihren<br />
ständigen Wohnsitz hatte.<br />
A black lesbian feminist mother poet warrior.<br />
Lorde beschrieb sich selbst als „black lesbian<br />
feminist mother poet warrior“ – als schwarze,<br />
lesbische Feministin, Mutter, Dichterin und<br />
Kriegerin. Ihre vielen verschiedenen Identitäten<br />
begriff sie als Schichten ihrer Persönlichkeit<br />
und als Quelle ihrer Kraft. Sogar aus<br />
ihrem Kampf gegen die Krebserkrankung<br />
zog sie Lebensenergie, indem sie sich literarisch<br />
mit diesem Teil ihres Selbst auseinandersetzte.<br />
In Audre Lorde begegnet uns eine<br />
Frau mit einer immens starken Ausstrahlung<br />
– immer fordernd und dabei zugleich ermutigend,<br />
mit einem genuinen Interesse an ihrem<br />
Gegenüber. Sie hatte Humor und war bei all<br />
ihrer Freude an Auseinandersetzungen ein<br />
warmherziger und großzügiger Mensch.<br />
Die Berliner Jahre bringt uns diese<br />
authentische Audre Lorde nahe. Als Freundinnen<br />
und Weggefährtinnen konnten Dagmar<br />
Schultz und ihre Co-Autorinnen eine<br />
Fülle von bisher unveröffentlichtem Material<br />
zusammentragen – darunter private Fotos<br />
und Videos sowie Mitschnitte von Semina-<br />
ren und Lesungen. Zu einer weiteren Quelle<br />
für bewegte Bilder wurde der biographische<br />
Dokumentarfilm A Litany for Survival: The<br />
Life and Work of Audrey Lorde von Ada Gray<br />
Griffin und Michelle Parkerson aus dem Jahr<br />
1992. Das Filmteam war 1989 eigens aus den<br />
USA nach Berlin gereist, um dort mit Audre<br />
Lorde zu filmen, aber nur wenig von diesem<br />
Material wurde in der Endfassung verwendet.<br />
Sequenzen daraus sind nun erstmals in<br />
Die Berliner Jahre zu sehen.<br />
Wer sich die Zeit nimmt, der Stimme<br />
Audre Lordes im Film aufmerksam zu lauschen,<br />
findet in ihren Worten klare Botschaften<br />
– so schlicht wie bedeutsam: Misch dich<br />
ein und steh auf für deine Rechte, denn es<br />
wird niemand an deiner Stelle für dich tun.<br />
Lass dich nicht von deiner Angst lähmen.<br />
Definiere dich selbst. Erkenne deine Stärken.<br />
Erkenne deine Kraft. Nutze sie. s<br />
Audre lorde –<br />
Die Berliner Jahre 1984–1992<br />
von Dagmar Schulz<br />
US 2012, 79 Minuten,<br />
englisch-deutsche OF,<br />
teilweise deutsche UT<br />
Auf DVD bei der Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
30 31<br />
dvd<br />
eDition SALzGeBeR
dvd<br />
Porträt des Künstlers<br />
als unglücklich Verliebter<br />
von SeBaSTian marKT<br />
in Jack Hazans Film „A Bigger Splash“ stellt David Hockney einen Künstler namens<br />
David Hockney dar, der versucht, ein Portrait jenes Liebhabers anzufertigen, von<br />
dem er eben verlassen worden ist. Weder schlicht Dokument noch bloß Fantasie,<br />
ist der Film eine dem Leben abgetrotzte Fiktion, deren intimität auf den sich selbst<br />
Darstellenden Hockney eine solch schockierende Wirkung hatte, dass dieser erst von<br />
seinem Umfeld dazu bewogen werden musste, einer Veröffentlichung zuzustimmen.<br />
Was heute davon bleibt, ist das Porträt eines Künstlers, einer zeit und einer Szene,<br />
eine melancholische Liebesgeschichte, ein Werk von wunderbarer Hybridität, das nun<br />
in restaurierter Fassung auf DVD wiederveröffentlicht wird.<br />
s Am Ende entsteht ein Bild. Es zeigt eine sommerliche Szene:<br />
einen Swimming-Pool auf einer Terrasse. An dessen Grund, unter<br />
einer Oberfläche hellblau schattierten Wassers, das von feinen weißen<br />
Linien refraktierten Lichts durchzogen ist, taucht ein Schimmer,<br />
schon ganz nah am Beckenrand. Oberhalb des Pools, jenseits der<br />
Terrasse, öffnet sich der Blick in ein weites Panorama steiler Hügel,<br />
von denen die vordersten von dichter, dunkelgrüner Vegetation überzogen<br />
sind, im Hintergrund weitere Hügel, in abnehmenden Tönen<br />
von Blau, das sich dem hellen, wolkenlosen Himmel annähert. An der<br />
rechten Seite des Pools, in weißer Hose und rosarotem Jackett, steht<br />
ein junger Mann, einen Fuß etwas nach vorne gerückt, in angespannter,<br />
leicht nach vorn gebeugter Haltung. Unter einer Strähne seiner<br />
dunkelblonden Haare fällt sein Blick auf den Taucher im Wasser.<br />
Der Mann im Jackett ist Peter Schlesinger. Als das Porträt 1971<br />
begonnen wurde, war er David Hockneys Liebhaber, als es 1972 fertiggestellt<br />
wurde, hatte er ihn bereits verlassen. Das Gemälde trägt<br />
den Titel „Portrait of an Artist“, und es markiert eine Art Schlusspunkt<br />
unter eine Beziehung, die ihren Anfang 1966 an der University<br />
of California in Los Angeles nahm, an der Peter Schlesinger Kunst<br />
studierte und David Hockney ein Semester lang unterrichtete.<br />
Von dem Nachbeben dieser Liebe und der allmählichen Fertigstellung<br />
des Bildes, von David Hockney und seinem Umfeld im London<br />
der frühen Siebzigerjahre, erzählt Jack Hazans Film A Bigger<br />
Splash, der 1974 in Locarno einen Silbernen Leoparden für die beste<br />
Regie gewann.<br />
Wenn man dies möchte, kann man einiges über die Entstehungsgeschichte<br />
in Erfahrung bringen. Dass Hazans Wunsch, einen Film<br />
über Hockney zu drehen, von einer Ausstellung von dessen Porträts<br />
(für die Hockney in dieser Phase seines Werks vorrangig bekannt<br />
war) angestoßen wurde; dass der Maler von der Idee keineswegs<br />
begeistert war; dass Hazans insistierende Hartnäckigkeit erst möglich<br />
machte, über Jahre hinweg kleine Szenen zu drehen; dass Hazan<br />
mit seinem Partner und Editor David Mingay schnell übereinkam,<br />
die Liebesgeschichte zum Epizentrum des Films zu machen; dass<br />
Hazan dabei nicht nur beobachtend zu Werk ging, sondern Szenen<br />
kreierte, Dialoge herausforderte, indem er einem der Gesprächspartner<br />
Anfangsfragen soufflierte; dass, nicht zuletzt, Hockney mit dem<br />
fertigen Film anfangs fürchterlich unglücklich war. Man kann das<br />
alles, und noch mehr, nachlesen, in Interviews mit Jack Hazan etwa,<br />
oder der sanktionierten Hockney-Biographie von Christopher Simon<br />
Sykes, man muss aber nicht. Denn der Film vermag es, in ganz eigensinniger<br />
Weise in seinen Bann zu ziehen, seine Erscheinung aus sich<br />
selbst zu begründen.<br />
Als Porträtierte und als Charaktere stellt die Titelsequenz sein<br />
Personal vor, in Skizzenzeichnungen: Hockney und Peter, das Designerpaar<br />
Celia Birtwell und Ossie Clark, den Galeristen John Kasmin,<br />
den Kritiker und Kurator Henry Geldzahler, sechs hübsche Jungs,<br />
denen ein Vorname genügt. Der Blick der ersten Einstellung fällt<br />
auf ein Schlüsselloch. Dahinter sitzt Hockney einem jungen Mann<br />
gegenüber, den er beschreibt, sein Aussehen, seine Wirkung auf ihn.<br />
Genf 1973, informiert eine Schrifttafel. Was folgt, Hockney bei der<br />
Arbeit, Hockney mit Freundinnen und Freunden, Verhandlungen mit<br />
dem Galeristen, kleine Vignetten des Alltags, geschieht davor. In Mo<br />
McDermott findet der Film seinen Erzähler, fast immer aus dem Off<br />
setzt seine Stimme Akzente, die die Fragmente zu einer Geschichte<br />
fügen und sie mit ihrer emotionalen Fallhöhe ausstatten. Gleich zu<br />
Anfang berichtet er von Schlesingers Trennung von Hockney, nicht<br />
ohne hinzuzufügen, dass nach einer Trennung immer mehr als zwei<br />
Menschen leiden. In seiner gleichzeitig zentralen und marginalen<br />
Position als Hockneys Assistent, immer mitten drin im Geschehen<br />
aber nie sein Kern, scheint McDermott zum Chronisten einer von<br />
Auflösung bedrohter Idylle prädestiniert.<br />
Die Szene, die „Portrait of an Artist“ einfängt, hat sich so nie<br />
zugetragen. Die Idee zu dem Bild verdankt sich der zufälligen Montage<br />
zweier Fotografien in Hockneys Studio, des Schwimmers im<br />
Pool, und des stehenden Mannes. Ein fast filmisches Verfahren der<br />
Montage einerseits, steht es auch in einer Genealogie zu den Fotomontagen<br />
und Komposit-Polaroid-Porträts, denen sich Hockney bald<br />
nach der im Film verewigten Werkphase zuwenden wird.<br />
Zusammenfügung, Beschreibung, Portrait. Es ist gerade die<br />
Kunst von A Bigger Splash, dass er sich in der Wahl der Figurationen,<br />
aus denen der Film seine erzählerischen Möglichkeiten schöpft, von<br />
seinem Gegenstand leiten lässt. Eine Geste, die er dabei immer wieder<br />
vollführt, ist, Porträtierte und Porträts zusammen zu führen, sei<br />
es in Szenen, in denen Menschen die Bilder betrachten, auf denen sie<br />
dargestellt sind, sei es, dass Hazan die Porträt-Situation nachstellen<br />
lässt. In einer seiner eindrücklichsten Szenen taucht der Film ganz in<br />
Hockneys kalifornische Bilderwelt ein, stattet Schwenks über einige<br />
Gemälde-Szenen mit einer Tonkulisse aus, und inszeniert schließlich<br />
eine solche Szene von vergnügt nacktbadenden jungen Männern<br />
selbst, die wiederum – einmontiert zwischen Bilder des schlafenden<br />
Hockney – als Traum lesbar wird. Indem der Film es immer wieder<br />
vollbringt, Kunst und Leben ineinander zu führen, kann er nicht nur<br />
seine Geschichte erzählen, sondern findet gleichzeitig zu einer Sprache,<br />
die es ihm erlaubt, das, was auch an einem Künstlerleben ganz<br />
privat ist, im Kontext dessen zu entwerfen, was als Kunst das Private<br />
transzendiert.<br />
Es gibt Filme, die zwischen Dokument und Fantasie changieren,<br />
Filme, die einem die Unterscheidung zwischen dem, was wahr ist,<br />
weil es gefunden wurde, und dem, was wahr sein möge, weil es erfunden<br />
ist, schwer machen. Und dann gibt es Filme, die diese Unterscheidung<br />
hinter sich lassen. A Bigger Splash ist ein wunderbares Beispiel<br />
für letztere. (Hazans andere bleibende Einlassung in die Filmgeschichte,<br />
die wie auch A Bigger Splash in Zusammenarbeit mit David<br />
Mingay entstanden ist, ist Rude Boy von 1980. Ein Portrait von The<br />
Clash, das nach einem ähnlichen ästhetischen Verfahren gestrickt<br />
ist: Es verknüpft dokumentarische Aufnahmen einer Tournee mit der<br />
fiktionalisierten Erzählung eines Roadies zu einer Momentaufnahme<br />
des Punk am Beginn der Ära Thatcher.) In die Freiheiten, die der<br />
Film sich nimmt, fügt sich auch seine Unlust, das Schwulsein seiner<br />
Figuren zu erklären. Gerade weil er von dem enttäuschten Begehren<br />
so voraussetzungslos berichtet, ohne es vor einem angenommenen<br />
Außen zurechtrücken zu wollen, vermag er dieses Erzählen so konkret<br />
und so nah an seinen Figuren ins Werk zu setzen.<br />
Am Ende wird das Porträt von Peter Schlesinger vollendet sein,<br />
und es wird den Mann, der einst Hockneys Schüler war, als Künstler<br />
ausweisen, auch das ein Ende einer Geschichte. Niemand wird wissen,<br />
wo Hockney gerade steckt. John Kasmin wird seine New Bond<br />
Street Galerie geschlossen haben, Mo McDermott ein paar letzte<br />
melancholische Gedanken mit uns teilt, und in der Schließung der<br />
Klammer vom Anfang des Films wird Hockney dem jungen Mann in<br />
Genf, der vielleicht ein anderer Liebhaber ist, sagen, dass es eine paradoxe<br />
Situation ist, in der man als Maler steckt, wenn man so intim an<br />
etwas arbeitet, nur um sich dann gleich davon trennen zu müssen, zu<br />
verkaufen, um weiter arbeiten zu können, dass man manche Bilder<br />
gerne behalten möchte. Und auf die Nachfrage von Joe: dass jene, die<br />
Peter zeigen, ruhig hinaus können, in die Welt.<br />
Wie eine Flaschenpost aus dem Niemandsland zwischen Swinging<br />
Sixties und Punk liest sich der Film heute. Menschen kommen<br />
und gehen und verändern sich, Wege kreuzen und verlieren sich.<br />
Etwas ist verloren gegangen, und alles ist noch da, weil der Film es<br />
aufgehoben hat. s<br />
A Bigger Splash<br />
von Jack Hazan<br />
UK 1973, 105 Minuten, OmU<br />
Auf DVD bei der Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
32 33<br />
dvd<br />
eDition SALzGeBeR (2)
dvd dvd<br />
die bleierne<br />
leichtigkeit<br />
des seins<br />
von SaScha WeSTPhal<br />
zwei „leichte Mädchen“, Mutter und tochter (gespielt von<br />
Mutter cathérine Deneuve und tochter chiara Mastroianni),<br />
testen die Grenzen aus, die ihre zeit ihnen setzt. Die eine<br />
profitiert von der sexuellen Befreiung der 1960er, die andere<br />
geht an der entzauberung der Jugend in den 1990ern<br />
zugrunde. in christophe Honorés Musical „Die Liebenden“<br />
spiegeln sich beide erzählungen kunstvoll und verweben darin<br />
noch die Filmsprachen ihrer zeit. neu auf DVD.<br />
s 2001 … Die Jahreszahl füllt mit ihren riesigen Lettern fast die<br />
gesamte Breite der Einstellung aus. Gleich einem Stempel hat sie sich<br />
den Bildern aufgedrückt. Es ist Herbst geworden. Das Licht der Sonne<br />
hat nichts Wärmendes mehr. Es taucht die Welt in ein kaltes Licht.<br />
Die von Catherine Deneuve gespielte Madeleine geht durch ihren fast<br />
schon kahlen Garten und schneidet die Äste von Sträuchern und Bäumen<br />
zurecht. Dazu erklingt ihre Stimme aus dem Off. Sie erzählt von<br />
ihrer Tochter Vera und deren Reise nach Amerika.<br />
Ausgerechnet am 11. September 2001 hat Véra (Chiara Mastroianni)<br />
ein Flugzeug von Paris nach New York bestiegen. Nach den<br />
Anschlägen auf New York und Washington wurde ihre Maschine<br />
nach Montreal umgeleitet. Dort sitzt sie nun in einem dieser typischen<br />
Hotels für Geschäftsleute fest, die überall auf der Welt gleich<br />
aussehen. Aber auch die Stadt, durch deren Seitenstraßen sie eine Zeit<br />
lang streift, scheint ihre Individualität verloren zu haben. An diesem<br />
Morgen ist etwas zu Ende gegangen. „September, leider“ heißt es einmal<br />
in dem Lied, das Chiara Mastroianni während ihres Spaziergangs<br />
durch die wie ausgestorbene Stadt singt.<br />
September, leider … der Sommer ist unwiederbringlich vorüber,<br />
der Winter naht. Anders als Frank Sinatras „September of My Years“,<br />
von dem aus großer Ferne noch ein paar Noten und Stimmungen herüber<br />
zu wehen scheinen, wird Alex Beaupains „Jeunesse se passe“ von<br />
einem übermächtigen Eindruck des Verlusts geprägt. Auf die Jugend<br />
folgen sofort die Trauer, der Schmerz und dann schon bald das unausweichlich<br />
gewordene Ende, der Tod, der Abschied von allem.<br />
Véra wollte sich in New York mit dem Musiker Henderson (Paul<br />
Schneider) treffen. Nun wartet sie auf ihn, die Liebe ihres Lebens, in<br />
Kanada. Als er schließlich mit dem Auto eintrifft, ist er nicht allein.<br />
Der deutlich jüngere Mathieu ist bei ihm. Er beschwichtigt Véra<br />
zwar, dass er nie eine ernsthafte Beziehung mit einem Mann einge-<br />
SenAtoR HoMe enteRtAinMent<br />
hen würde, der sein Sohn sein könnte. Aber die Botschaft bleibt. Der<br />
schwule, HIV-positive Henderson wird sie nie so lieben wie sie ihn.<br />
Er hat sie immer auf Distanz gehalten und zugleich mit der Liebe zu<br />
ihr gespielt. Der Virus war in dieser Hinsicht immer eine Art Schutz.<br />
So musste er die widerstreitenden Gefühle nicht an sich heranlassen.<br />
Doch nun überschreitet Véra mit ihrem Wunsch nach einem Kind von<br />
ihm diese Grenze.<br />
Für eine kurze Zeit werden Véra, Henderson und Mathieu in dieser<br />
Nacht alles andere vergessen und einfach zusammen sein. Ein einziges<br />
Mal schlafen sie alle miteinander. Das ist ein letzter Moment<br />
einer wundervollen, alle Ängste und Bedenken auslöschenden Selbstverständlichkeit.<br />
Vielleicht sind sie wirklich erst zu Dritt vollständig.<br />
Aber es sind eben auch die Ereignisse dieses Tages, die sie so zusammen<br />
kommen lassen. Das Ende der Freiheit und der sie begleitenden<br />
Träume ist diesem Augenblick schon eingeschrieben. Nur wenig später<br />
wird sich Véra all die HIV-Medikamente Hendersons nehmen und<br />
in der Hotelbar schlucken. Während im Fernsehen ein Videoclip der<br />
Band „Everything But the Girl“ läuft, tanzt sie selbstvergessen aus<br />
dem Leben … jeunesse se passe.<br />
Über beinahe 45 Jahre erstreckt sich die Handlung von Christophe<br />
Honorés zweitem Musical Les bien-aimés. Alles beginnt 1964,<br />
dem Jahr von Jacques Demys Les parapluies de Cherbourg, mit dem<br />
auch Catherine Deneuves Legende begann, und endet im Winter<br />
2007. Nach Außen hin ist es die Geschichte einer Mutter und ihrer<br />
Tochter, deux filles légères, die sich ihre Freiheit nehmen, nur um sie<br />
dann selbst wieder aufzugeben. Aber das ist nur der rote Faden, der<br />
hier an einem Paar roter Schuhe hängt. Mit diesen High Heels von<br />
Christian Dior nimmt die Lebensodyssee der zu diesem Zeitpunkt<br />
von Ludivine Sagnier gespielten Schuhverkäuferin Madeleine ihren<br />
Anfang. Eines Abends lässt sie das Paar zum Geschäftsschluss mitgehen.<br />
Kaum hat sie die Schuhe ein paar Straßen weiter angezogen,<br />
spricht ein Mann sie an und bietet ihr Geld. Damit ist die Familienlegende<br />
geboren. Véra, ihre Tochter, wird das später so erzählen: „Ohne<br />
die Schuhe wäre Mama keine Hure geworden.“<br />
Freiheit wurde etwas selbstverständliches,<br />
nur um den Menschen dann doch<br />
durch die Finger zu rinnen<br />
Am Ende wird Madeleine das Paar auf der Straße stehen lassen,<br />
vor dem Hotel, in dem sie sich immer wieder heimlich mit ihrem ersten<br />
Mann und ersten wirklichen Geliebten getroffen hat … love in the<br />
afternoon. Doch inzwischen ist Jaromil, Véras Vater, mit dem sie einst<br />
nach Prag ging, längst tot. Das Abenteuer ist vorüber, was bleibt, sind<br />
einige letzte Jahre mit ihrem zweiten Mann in Reims. Es war eine<br />
berauschende Zeit, aber eben auch eine traurige und brutale: Ein halbes<br />
Jahrhundert, in dem Hoffnungen geboren und zu Grabe getragen<br />
wurden, in dem Freiheit etwas Selbstverständliches wurde, nur um<br />
den Menschen dann doch durch die Finger zu rinnen.<br />
Zu Beginn dieser Zeitspanne, die einem Leben gleicht, ist das Kino<br />
noch einmal neu erfunden worden, von den Regisseuren der nouvelle<br />
vague, von Jacques Demy und Jean-Luc Godard. Demy ist schon seit<br />
langem ein Fixpunkt in Honorés filmischem Universum. Schon Dans<br />
Paris, sein erstes Musical, war von ihm inspiriert. Doch mittlerweile<br />
wandelt er auch immer deutlicher auf den Pfaden Godards. Schon der<br />
mit ganz geringen Mitteln realisierte Homme au bain hatte in seiner<br />
Direktheit und seiner steten Reflexion der eigenen Mittel wie der<br />
eigenen Haltung etwas von einem Godardschen Experiment. Nun<br />
hat sich Honoré also ganz gezielt dem frühen Schaffen Godards zugewandt.<br />
Mit seinen Ludivine Sagniers Körper zerlegenden Großaufnahmen<br />
und seinen jump cuts greift er dessen Stilmittel auf. Zudem<br />
rücken die Leichtigkeit, mit der die junge Madeleine Entscheidungen<br />
trifft, und die Absolutheit, mit der sie ihr Leben selbst bestimmt, sie<br />
in die Nähe von Anna Karinas Figuren.<br />
Der Traum der frühen 60er Jahre, den Christophe Honoré noch<br />
einmal aufleben lässt und der schließlich in der ménage à trois in<br />
Véras Hotelzimmer kulminiert, um dann endgültig zu zerplatzen, ist<br />
eben auch ein Traum vom Kino, von der nouvelle vague, den neuen<br />
Wellen des osteuropäischen Kinos der 60er und 70er Jahre, dem amerikanischen<br />
Independent-Kino der 90er. Les bien-aimés und Homme<br />
au bain, den Honoré kurz zuvor, zum Teil mit den gleichen Darstellern<br />
quasi-dokumentarisch gedreht hat, gehören zusammen. Sie sind<br />
zwei Seiten einer Sehnsucht.<br />
Bei dem einen hat Honoré sich alle Freiheiten genommen, die sich<br />
Filmemachern heute in den Zeiten kleiner digitaler Kameras bieten.<br />
Mit dem anderen, dem starbesetzten Musical testet er die Möglichkeiten<br />
einer Großproduktion aus. Wenn Chiara Mastroianni durch<br />
Montreal geht und „Jeunesse se passe“ singt, ist Honoré so an der<br />
Stadt und ihrem Alltag dran wie in den New York-Szenen von Homme<br />
au bain, in denen er einfach sein Videotagebuch eines Aufenthalts in<br />
der Stadt fiktionalisiert hat. Das Leben bricht in das Musical ein und<br />
entreißt es der Welt der verträumt-melancholischen Pop-Phantasien.<br />
Das Melodramatische, das in Jacques Demys Filmen die Kehrseite des<br />
musikalischen Märchens war, weicht bei Honoré dem Alltäglichen.<br />
Auf der einen Seite ist alles ganz leicht und selbstverständlich.<br />
Madeleine kann ohne ihre Liebe zu Jaromil nicht leben, also zieht sie<br />
mit ihm nach Prag. Aber sie kann eben auch nicht mit ihm leben, also<br />
kehrt sie zurück nach Frankreich, heiratet einen anderen und nützt<br />
doch jede Chance, um mit Jaromil zusammen zu sein. Auf der anderen<br />
Seite ist gerade die Leichtigkeit unerträglich schwer. Für Véra ist<br />
alles eine Last, ihre Beziehung zu dem von Louis Garrel gespielten<br />
Lehrer und Schriftsteller Clément genauso wie die zu Henderson. Mit<br />
Clement könnte alles ganz einfach sein, mit Henderson ist die Tragödie<br />
vorgezeichnet. Diese beiden filles légères, Madeleine und Véra,<br />
spiegeln einander. Alles dreht sich um und ist seitenverkehrt. Aber<br />
zusammen sind sie die Inkarnation der Ära, die um 1960 begann und<br />
2001 an ihr Ende kam.<br />
Zuletzt bleiben nur noch die roten Schuhe zurück wie einst bei<br />
Michael Powell und Emeric Pressburger. Aber Honoré steckt in diesem<br />
letzten Bild auch eine Hoffnung. Madeleine hat nicht nur etwas<br />
verloren, sie hat auch eine andere Form von Freiheit gewonnen. Ihr<br />
Weg führt zurück in die Provinz, zu einem alltäglichen Leben. Wohin<br />
Christophe Honorés Weg noch führen wird, ist offen. Aber Homme<br />
au bain und die Szenen in Montreal lassen eine andere, nicht von der<br />
Vergangenheit und ihre Schatten belastete Freiheit erahnen. s<br />
Die liebenden<br />
von Christophe Honoré<br />
FR 2011, 134 Minuten,<br />
deutsche SF + OmU<br />
Auf DVD bei Senator<br />
Home Entertainment,<br />
www.universumfilm.de<br />
Mann im Bad<br />
von Christophe Honoré<br />
FR 2010, 72 Minuten, OmU<br />
Auf DVD bei Pierrot le Fou,<br />
www.alamodefilm.de<br />
34 35
nachruf<br />
36<br />
eDition SALzGeBeR<br />
Arbeit, sex und Essen<br />
Paul Schulz erinnerT an dirK Bach (23. aPril 1961 – 1. oKToBer 2012)<br />
s Als Dirk Bach 1974 zum ersten Mal auf einer Demo<br />
festgenommen wurde, war er zwölf Jahre alt. Es ging um<br />
den Paragraphen 218. „Ja, da habe ich relativ früh mit<br />
angefangen“, sagt er 20 Jahre später in einem Interview<br />
mit Sandra Maischberger. Und lacht. Als wäre das wirklich<br />
lustig gewesen. Er und die Interviewerin stehen gut<br />
verpackt am eiskalten Rheinufer in Köln, Maischberger<br />
so atemberaubend und begabt, wie sie Anfang der 90er<br />
war, Bach eine kleine Kugel Fröhlichkeit und Talent.<br />
Man mag sich. „Mein Vater musste kommen und mich bei<br />
der Polizei auslösen.“ Seine Augen leuchten. „Ich habe<br />
dann da auch einen Aufsatz drüber geschrieben, wegen<br />
dem mir ein Verweis angedroht wurde.“ „Warum?“, fragt<br />
Maischberger besorgt. „Na, weil er so linksradikal war“.<br />
Ein Jahr später verknallte er sich. „Warst du auch mal<br />
in Mädchen verliebt?“, will die schöne Hetera wissen.<br />
„Nein, kein Gedanke. Ich war immer in Jungen verliebt.<br />
Gibt doch schon genug von den anderen“, antwortet der<br />
kleine, dicke Schwule. Und lächelt still.<br />
Das Interview wird in Proberäumen, auf Hinterbühnen<br />
und in einer Kneipe fortgesetzt. Im Lokal sitzt Bach<br />
und schäkert mit irgendwem hinter der Kamera. Die<br />
Frage war wohl die nach dem, was ihm im Leben wirklich<br />
Spaß bringt und wie es wäre, wenn man das alles gleichzeitig<br />
machen könnte. „Ich stelle mir das gerade vor, wie<br />
ich essend auf einer Bühne sitze und dabei jemanden<br />
ficke.“ Wieder dieses Lachen aus dem Bauch, das immer<br />
größer wird, je weiter es ihm die Luftröhre hochrollt und<br />
ihn ganz zum Erzittern bringt, bevor es seinen Mund verlässt.<br />
Sein ganzer Körper freut sich. „Das wird wohl auch<br />
auf meinem Grabstein stehen: ‚Arbeit, Sex und Essen‘.“<br />
Nicht der schlechteste Spruch. „Trinken nicht zu vergessen“,<br />
fügt hinzu, während er sich grinsend etwas, das<br />
Tequila oder Wodka sein könnte, aus einem Schnapsglas<br />
in den Mund kippt.<br />
Gearbeitet hat Bach eigentlich immer. Und immer<br />
gern. Als er am 1. Oktober überraschend starb, war er<br />
gerade dabei, sich auf die erste Hauptprobe der Axel-<br />
Hacke-Adaption „Der Kleine König Dezember“ vorzubereiten,<br />
die am nächsten Morgen im Schlossparktheater<br />
in Berlin stattfinden sollte. Als er dort nicht auftauchte,<br />
begann das Team, sich Sorgen zu machen. Bach war ein<br />
fanatisch pünktlicher Mensch. Der Intendant fuhr zur<br />
Wohnung in Berlin Lichterfelde, die sein Star für die Proben-<br />
und Spielzeit gemietet hatte und informierte wenig<br />
später die Öffentlichkeit über den Tod des 51-Jährigen.<br />
Das Internet explodierte, dann die Abendnachrichten,<br />
dann die Tagespresse. Es stellte sich heraus: Deutschland<br />
hat Dirk Bach geliebt, sehr.<br />
Das war nicht zu erwarten bei jemandem, der dreimal<br />
sitzen geblieben ist und dessen erste, winzige Filmrolle in<br />
Eine kleine Kugel Fröhlichkeit und Talent: Dirk Bach in „Im Himmel ist die<br />
Hölle los“ von Helmer von Lützelburg (1986)<br />
Kiez Walter Bockmayer mit den Worten zusammenfasst<br />
„eine Nutte, die sich schminkt“. Aber da hatte Bach schon<br />
länger Theater gespielt. Erstes Stück: Heiner Müllers<br />
„Prometheus“. Die Bühne war seine große Liebe. Hella<br />
von Sinnen, die Bach mit sechzehn kennen lernte, „war<br />
die, die zum Fernsehen wollte. Ich wollte spielen.“ In die<br />
Glotze kommen sie nach dem Theater-Sensationserfolg<br />
„Geierwally“ beide, Bach wenig später sogar ins Kino. Die<br />
TV-Persiflage Im Himmel ist die Hölle los wird ein Kultfilm,<br />
ist ihrer Zeit ungefähr 20 Jahre voraus und sieht<br />
heute noch relativ gut aus.<br />
Nach Lukas und Der kleine Mönch, einer Ensemblemitgliedschaft<br />
am Kölner Schauspielhaus und dem deutschen<br />
Comedypreis dann 2004 die Entscheidung für gnadenlosen<br />
Kommerz: Ich bin ein Star, holt mich hier raus!<br />
heißt das Format, das Bach zu einem viel größeren Star<br />
macht, als es einer der Teilnehmer der Show je werden<br />
konnte. Ob fröhliche Verachtung darüber zu verbreiten,<br />
wie „derzeit arbeitslose Mitarbeiter der Unterhaltungsindustrie“<br />
durch Scheiße kriechen und Känguruhoden<br />
schlucken, der Berufswunsch des überzeugten Vegetariers<br />
war, weiß man nicht. Das Geld wird ihn wohl nicht<br />
weniger gelockt haben als die Teilnehmer.<br />
Wichtiger: Er war furchtlos, machte immer da den<br />
Mund auf, wo ein engagierter, spaßbereiter Queerling<br />
gebraucht wurde, schwang die Rassel für PETA, Amnesty<br />
International und immer wieder für HIV-Positive und<br />
brachte den Deutschen eine Selbstverständlichkeit im<br />
Umgang mit Camp bei wie sonst niemand. Der Paragraph<br />
218 war lange abgeschafft, aber „man muss was machen.<br />
Es gibt immer was besser zu machen in der Welt.“<br />
Seine Idealvorstellung vom Tod: „Ich werde in der<br />
Mitte eines kräftigen und sehr beliebten Stücks aus den<br />
Fugen gerissen, es schmettert mich auf den Bühnenboden.<br />
Alle klatschen heftig, weil sie es für einen klasse<br />
Regieeinfall halten. Und dann bin ich weg.“ Ganz so war’s<br />
nicht. Aber fast. Schade. s<br />
Im Himmel ist die Hölle los<br />
von Helmer von Lützelburg<br />
DE 1986, 84 Minuten, deutsche OF<br />
Auf DVD bei der Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
nachruf<br />
37
film-flirt<br />
der Moment<br />
SchriftSteller Sehen filme: chriStine Wunnicke<br />
zwei Absagen der tollen christine Wunnicke hatte sich die SiSSY für diese Rubrik schon eingehandelt, weil<br />
ihre Lieblingsmomente in queeren Filmen „null queer“ waren oder queere Momente in unqueeren Filmen<br />
sich beim Wiedersehen in Luft oder in schlechte Untertitel auflösten. Und nun, völlig unerwartet: Das hier!<br />
s Leon und Sonny verbringen<br />
in einer sehr engen Tiefparterre-<br />
Wohnung in Brooklyn sehr viel Zeit<br />
miteinander. Alles ist vollgestopft<br />
mit Zeug, Leons Damengarderobe<br />
und Sonnys Vietnamsouvenirs und<br />
tausend ausgerissene Zeitungsartikel<br />
über politische Schweinereien in<br />
Haufen aufgestapelt oder was weiß<br />
ich, lauter zuvieles Zeug. Leon versucht<br />
Tag und Nacht zu schlafen.<br />
Dazwischen lackiert er sich perlmuttern<br />
die Fingernägel und versucht,<br />
an weite Landschaften zu denken.<br />
Sonny schläft nie. Er rast in der vollgestopften<br />
Wohnung herum, es ist<br />
Leon ein Rätsel, wie Sonny in dieser<br />
Enge noch Wege zum Rasen findet,<br />
und redet und schreit. Sonny ist heiß<br />
in der heißen Wohnung und Leon<br />
ist kalt. Er trägt ein Secondhand-<br />
Negligé und zippelt verfroren am<br />
Kragen, und Sonny brüllt dauernd<br />
Ich krepier hier! Leon hat eine solche<br />
Angst vor Sonny, dass sich seine<br />
Liebe zu Sonny längst irgendwo hin<br />
verkrümelt hat. Sonny liebt Leon<br />
aber immer noch fürchterlich. Betonung<br />
auf „fürchterlich“. Leon lächelt<br />
sein schiefes, elegisch-dramatisches<br />
kleines Lächeln und versucht, Sonny<br />
von der Seite anzuschauen. Wenn er<br />
ihn nur mal in Ruhe von der Seite<br />
anschauen könnte, denkt Leon,<br />
würde er ihn gewiss wieder lieben,<br />
denn Sonnys Profil ist so toll. Aber<br />
Sonny hält nie lange genug still.<br />
Manchmal denkt Leon, er könnte<br />
vielleicht einfach aufstehen und<br />
seine fragile fragwürdige überfragte<br />
Person vor Sonny aufbauen und auf<br />
ihn hinunterstarren, bis Sonny die<br />
Klappe hält. Aber Leon ist müde und<br />
schläft ein. Und so geht das immer<br />
weiter. Es ist ein großartiger, quä-<br />
lender Film, der mindestens drei<br />
Stunden dauert. Zehn Tage im Leben<br />
von Leon und Sonny. Zu viele Tabletten,<br />
zu viele Zigaretten, schlechtes<br />
Essen, ziemlich schlechter Sex, und<br />
tags ist es zu dunkel, weil die Scheiben<br />
dreckig sind, und nachts zu hell,<br />
weil irgendein penetrantes gelbes<br />
Licht von irgendwo hereinscheint.<br />
Und wenn Leon in Ruhe überlegen<br />
möchte, ob er denn nun wirklich eine<br />
Frau ist, wie sein Psychiater behauptet,<br />
schreit Sonny sofort, Mann, lass<br />
dich operieren, und zwar gestern, hopp<br />
hopp, ich bezahl's dir! Da ist nichts<br />
mehr zu kitten zwischen Leon und<br />
Sonny. Wenn es wenigstens nicht<br />
Tiefparterre wäre. Da könnte man<br />
wenigstens mal auf die Feuerleiter.<br />
In Wirklichkeit sind Al Pacino und<br />
Chris Sarandon in Hundstage kein<br />
einziges Mal gemeinsam im Bild. Es<br />
ist ein bisschen wie bei Rosemary’s<br />
Baby, da zeigen sie mir das Baby auch<br />
nie und ich weiß trotzdem genau,<br />
wie es aussieht. Ich liebe Filme, die<br />
so etwas können. In Wirklichkeit<br />
sitzt Sonny in der First Brooklyn<br />
Savings Bank mit seinen Geiseln und<br />
seinem Stress und seiner Verantwortung<br />
und der kaputten Klimaanlage<br />
und seinem dämlichen Komplizen,<br />
der nicht mal weiß, wo Wyoming<br />
ist, und Leon sitzt gegenüber im Friseurladen<br />
mit Polizei und FBI, bis<br />
zur Halskrause voll mit Neuroleptika,<br />
in diesem gräulichsten Bademäntelchen<br />
der Filmgeschichte,<br />
und wird dauernd leise ausgelacht.<br />
Sie telefonieren miteinander, genau<br />
acht Minuten, eine gefühlte halbe<br />
Stunde lang, das erzählt meine<br />
ganze Geschichte. Angst und Liebe<br />
und verlorene Liebe und Sonnys<br />
Wahnsinn und Leons zerbrochene<br />
Welt und halbe Hoffnung und Sonnys<br />
pervers positives Denken und<br />
Sonnys und Leons Verzweiflung.<br />
Und Smalltalk. Hand aufs Herz, sie<br />
machen Smalltalk, eigentlich die<br />
ganze Zeit. Ich will nicht nach Algerien<br />
zu den verrückten maskierten<br />
Leuten. Besser Schweden? Dänemark?<br />
Haha. Bon Voyage. I see you<br />
in my dreams. Life’s so funny. Dann<br />
lässt Sarandon im Friseurladen den<br />
Hörer einen Momentlang zwischen<br />
Daumen und Zeigefinger baumeln<br />
und Pacino in der Bank starrt John<br />
Cazale an, mit einem Gesicht, das<br />
mich fertigmacht.<br />
Frank Pierson, der das Drehbuch<br />
schrieb, hat erzählt, dass die erste<br />
Fassung ganz anders war. Da war<br />
Leon eine lustige Transe und es gab<br />
eine lange Szene mit Leon und Sonny<br />
in der Bank, mit einem Kuss und<br />
anzüglichen Witzen. Das wollte Al<br />
Pacino aber nicht spielen. Er wollte<br />
nicht einmal mit Sarandon ins Bild.<br />
Man rief schon Dustin Hoffman an,<br />
so sehr zickte Al Pacino. Vielleicht<br />
wollte sich der frischgebackene Godfather<br />
nicht mit schwulem Kram die<br />
Karriere ruinieren. Vielleicht – so<br />
Piersons Variante – war er auch der<br />
Meinung, dass man nicht anzügliche<br />
Witze macht und sich knutscht,<br />
wenn man an der Liebe verzweifelt.<br />
Jedenfalls schrieb man Pacino<br />
zuliebe das Drehbuch um. Es gibt<br />
nicht Piersons Film mit der lustigen<br />
Transe, es gibt nicht meinen Film<br />
von der Tiefparterre-Wohnung, es<br />
gibt nur diese ewigen improvisierten<br />
todtraurigen acht glorreichen Minuten<br />
am Telefon. Warum auch immer.<br />
Gottseidank. Mein drittliebster Film<br />
aller Zeiten. s<br />
Christine Wunnicke ist Autorin und Übersetzerin. Ihr Romandebüt war „Fortescues Fabrik“. Zuletzt erschienen „Serenity“<br />
(Tukan-Preis) und die Novelle „Nagasaki, ca. 1642“. Über ihre sonstigen literarischen Aktivitäten informiert www.<br />
christine-wunnicke.com. Sie lebt und arbeitet in München.<br />
Hundstage<br />
von Sidney Lumet<br />
US 1975, 119 Minuten, deutsche SF +<br />
OmU<br />
Auf DVD bei Warner Home Video,<br />
www.warnerbros.de<br />
Fortescues Fabrik<br />
Roman, 444 Seiten,<br />
Knaus 1998/btb 2000,<br />
www.randomhouse.de/btb<br />
Serenity<br />
Roman, 240 Seiten,<br />
Osburg Verlag 2000,<br />
www.osburg-verlag.de<br />
nagasaki, ca. 1642<br />
Novelle, 112 Seiten,<br />
Edition Epoca 2010,<br />
www.epoca.ch<br />
neu auf dVd<br />
von chriSToPh meyring (cm), Paul Schulz (PS) und Jan Künemund (JK)<br />
ALLE ZEIT DER WELT<br />
nL 2011, Regie: Job Gosschalk, edition Salzgeber<br />
Ein niederländisches Melodram,<br />
das mit Gefühls-<br />
Kanonen auf alles schießt,<br />
was nicht bei drei auf dem<br />
Baum ist. Satt mit Emotionen,<br />
Geschichten, Konflikten<br />
und großartigen<br />
schauspielerischen Leistungen.<br />
Man kann ein<br />
bisschen flennen, ein bisschen lachen, sehr<br />
mitfühlen. Die Handlung: Maarten hat seine<br />
jüngere Schwester Molly allein großgezogen<br />
und muss sich jetzt, wo sie auszieht, wieder ein<br />
eigenes Leben bauen. Dabei helfen der Hübschling<br />
Arthur, Mollys untreuer Macker und<br />
Molly selbst, die plötzlich krank wird. Alle begreifen,<br />
dass sie nicht alle Zeit der Welt haben,<br />
um sie selbst zu werden. Der niederländische<br />
Starkomiker Paul de Leeuw gibt als Maarten<br />
eine bravouröse Vorstellung – Shirley MacLaine<br />
in Terms of Endearment, Julianne Moore in<br />
Dem Himmel so fern, dieses Kaliber. Und man<br />
muss das nicht mögen, kann es kitschig finden<br />
oder dem Buch vorwerfen, dass es total überfrachtet<br />
ist. Aber man kann auch einfach mitmachen<br />
und einen Heidenspaß mit Alle Zeit<br />
der Welt haben. ps<br />
KEEP THE LIGHTS ON<br />
US 2012, Regie: ira Sachs, edition Salzgeber<br />
New Wave Queer Cinema<br />
aus den USA: Zwei Männer<br />
treffen sich zum Sexdate,<br />
verlieben sich ineinander<br />
und gehen eine<br />
langjährige Liebesbeziehung<br />
ein. Nicht mehr,<br />
nicht weniger. „Auf den<br />
ersten Blick bekommen<br />
wir viele altbekannte Zutaten: das erste intensive<br />
Treffen, die Phase des Kennenlernens, der<br />
Bericht an die beste Freundin, das Zusammenziehen,<br />
die erste leichte Krise, die erste schwere<br />
Krise, der Bruch, die Wiederversöhnung, das<br />
Ende der Beziehung. Wenn ich über die Klischees<br />
des Filmes mit einem filmkritischen Klischee<br />
schreiben wollte, dann müsste es jetzt<br />
heißen: Der Film erzählt alles das konsequent<br />
aus der Perspektive von Erik. Das stimmt aber<br />
nicht oder höchstens zur Hälfte. Wir sind als<br />
Zuschauer_innen nie allein mit Paul, sondern<br />
begleiten immer nur Erik in allen Phasen der<br />
Beziehung. Das heißt aber nicht, dass wir seine<br />
Perspektive teilen. Der Film gibt uns eine Perspektive<br />
auf ihn, den wir allein, verliebt, verletzt,<br />
traurig, wichsend, schwimmend, singend sehen.<br />
Nur ganz selten nähern wir uns Erik im<br />
Close-Up. Die bevorzugte Einstellungsgröße<br />
des Filmes ist die Halbtotale. So als stünden wir<br />
einen Meter fünfzig von ihm entfernt, als säßen<br />
wir am Tisch mit ihm, als lehnten wir am Türrahmen<br />
seiner Küche. Ob und inwiefern wir<br />
uns emotional an seiner Haltung beteiligen, ist<br />
damit nicht vorbestimmt. Wir können uns ganz<br />
in Erik versenken, mit ihm mitleiden, uns mit<br />
ihm freuen, mit ihm hoffen und mit ihm erregt<br />
sein. Oder wir können aus der einigermaßen sicheren<br />
Distanz der Halbtotale auf ihn schauen<br />
und seine Motive unverständlich, seine Emotionen<br />
pathetisch, seine Handlungen nicht nachvollziehbar<br />
finden. Genau in diesem Sinn ist das<br />
hier ein Film über eine Beziehung: es geht aber<br />
um die Beziehung zwischen mir als Zuschauer_in<br />
und Erik, aus der heraus ich seine Beziehung<br />
mit Paul und die vielen anderen Beziehungen<br />
beobachten kann, die er eingeht.“ (André<br />
Wendler in SISSY 15)<br />
DER MANN, DER YNGVE LIEBTE<br />
no 2008, Regie: Stian Kristiansen, Arsenal<br />
„Ich heiße Jarle Klepp –<br />
und ich hätte gerne ein<br />
Leben!“, rotzt uns ein rothaariger<br />
Junge in einer<br />
südnorwegischen Landschaft<br />
an. Es dauert nicht<br />
lange, da hat er eins – einen<br />
besten Freund, der<br />
„Psychocandy“ von The<br />
Jesus and the Mary Chain auch für die beste<br />
Platte der Welt hält, eine Punk-Band (Hit: „Pussy<br />
Satan Anarchie Kommando Radar Chaos Power<br />
Kommando“ ) und eine Freundin, der er ein<br />
Liebeslied schreibt. Und dann verliebt er sich in<br />
seinen Mitschüler Yngve, hört David Sylvian,<br />
spielt Tennis und schenkt ihm eine Aufnahmen<br />
des Liebeslieds, ohne dass seine Freundin das<br />
weiß. Man merkt: Im Wesentlichen geht es hier<br />
um Musik. Martin Büsser bezeichnete Yngve in<br />
seiner Besprechung in SISSY 3 sogar als „große<br />
Liebeserklärung an die symbolpolitische Kraft<br />
des Pop.“ Da die Geschichte 1989 spielt, als Szenen<br />
und Subkulturen sich noch unterschieden,<br />
wird hier alles über Musik kommuniziert: Zugehörigkeit<br />
und Rebellion, kleine Fluchten und<br />
große Gesten, schließlich die Queerness, die in<br />
Gestalt des neuen Mitschülers, der fragilen<br />
elektronischen Texturen von Japan, dem zarten<br />
Gesang von David Sylvian, den flüchtigen<br />
Wolken über Stavanger in Jarles Leben auftaucht<br />
und ihm einen Raum aufmacht, der zwischen<br />
Cool und Uncool etwas Drittes möglich<br />
macht. „Es gibt keinen von Gender losgelösten<br />
Pop“, schrieb Martin Büsser. Genauso wenig<br />
gibt es einen von Gender losgelösten Film. Dass<br />
dieser hier zu einem der berührendsten Jungsfilme<br />
der Filmgeschichte werden konnte, verdankt<br />
er seiner Verschränkung von Pop und<br />
Narration. Dass die „Fortsetzung“ Ich reise allein,<br />
in der Jarles Geschichte weitererzählt<br />
wird, ebenfalls von Tore Renberg, dem Star-<br />
Autor der Vorlage, für den Film adaptiert, vollends<br />
zur spießigen Kokowäh-Variation wird,<br />
hat viel damit zu tun, dass er dort dieses Vertrauen<br />
verloren hat. Dass Jarle erwachsen wird,<br />
bedeutet hier, dass Musik genauso wie Jungs<br />
für ihn nun keine Rolle mehr spielen. Vielmehr<br />
muss er sich heteronormativ mit den Konsequenzen<br />
auseinandersetzen, die die Ambivalenzen<br />
seiner Jugend ihm beschert haben. Ich<br />
reise allein (natürlich ein viel größerer Erfolg)<br />
ist ebenso jüngst auf DVD erschienen. jk<br />
38 39<br />
MISS KICKI<br />
Se/tW 2009, Regie: Håkon Liu, GM Films<br />
frisch ausgepackt<br />
Pernilla August fährt als<br />
Miss Kicki nach Taiwan,<br />
um die späte Liebe zu verpassen.<br />
Stattdessen entdeckt<br />
sie die Mutterliebe<br />
und ihr Sohn die erste Liebe<br />
zu einem anderen Jungen.<br />
„Es ist Liu hoch anzurechnen,<br />
dass er sich nicht<br />
für die Blaupause einer Schmonzette entschied,<br />
denn wie kann es anders sein, als dass es richtig<br />
kracht, wenn sich eben Mutter und Sohn, dieses<br />
untrennbare Gestirn, neu begegnen, nach so<br />
langer Zeit, nach so vielen unterschiedlichen<br />
Erfahrungen und dennoch im richtigen Moment,<br />
als beider Leben neue Fahrt braucht und<br />
richtig Fahrt gewinnt. Und auch wenn Kicki<br />
manchmal ein großes Kind, eine ziemliche<br />
Bitch gar ist, sie weiß genau, was mit ihrem<br />
Sohn gerade passiert, was mit ihm und Didi geschieht.<br />
Das ist so angenehm selbstverständlich<br />
und ohne all das sattgehörte Outing-Gedöns erzählt.<br />
Und auch Didi ist keineswegs nur Randfigur.<br />
Seine Geschichte ist zentral, sie schwebt<br />
über dem zerbrechlichen Glück von Viktor und<br />
Kicki, denn er hat seine Mama früh verloren.<br />
Der Vater trinkt und spielt. Es gibt ihn eigent
frisch ausgepackt frisch ausgepackt<br />
lich gar nicht. Das ist die auch eine Parallele zu<br />
Viktors Leben. Damit wird Miss Kicki fast nebenher<br />
auch zu einem Film über die Absenz,<br />
das Versagen der heutigen Väter.“ (Michael<br />
Eckhardt in SISSY 14)<br />
LEB WOHL, MEINE KÖNIGIN<br />
FR/eS 2012, Regie: Benoît Jacquot, Alive<br />
„Der Blick geht nicht in die<br />
Höhe, nicht in Richtung<br />
Königin oder König oder<br />
Französische Revolution,<br />
sondern unter die Kleidung,<br />
die Stiche der Flöhe,<br />
später treten dann auch<br />
noch auf: tote Ratten. Sidonie<br />
Laborde, Marie-Antoinettes<br />
Vorleserin, kratzt sich am Arm und<br />
ahnt nichts vom Untergang ihrer Welt. Mit diesen<br />
ersten Bildern ist alles, eine Zeit, ein Milieu,<br />
der Hof von Versailles, wie auf einen Schlag da,<br />
mühelos-unangestrengt, es klopft an der Tür<br />
und die Verhältnisse beginnen sich nun, Zug für<br />
Zug, ohne große Erklärung zu erhellen. Leb<br />
wohl, meine Königin ist ein Kostümfilm, der seine<br />
Kostüme, die Fremde, die die Vergangenheit<br />
ist, von Anfang bis Ende mit Leichtigkeit trägt.<br />
(…) Wahrscheinlich ist das wahr, ohne die<br />
Wahrheit übers Geschehen zu sein. Eine Subjektive,<br />
die ihr Recht hat, der Sidonieblick gegen die<br />
Politorthodoxie, das Sidonie-Begehren gegen<br />
die Hierarchie und die Heteroliebe. Dies alles<br />
formuliert mit dem seinerseits liebenden Blick<br />
des Regisseurs, des Films auf seine Figuren, ihre<br />
Wörter und Körper, von angenehmer Stofflichkeit<br />
alles.“ (Ekkehard Knörer in SISSY 14)<br />
FRANKREICH PRIVAT –<br />
DIE SEXUELLEN GEHEIMNISSE<br />
EINER FAMILIE<br />
FR 2012, Regie: Jean-Marc Barr & Pascal Arnold, Alive<br />
Der reißerische deutsche<br />
Titel lässt an eine Sex-Reportage<br />
denken, weniger<br />
an den Aufklärungsfilm,<br />
der einen hier erwartet.<br />
„Zeig mal!“ in der französischen<br />
Bourgeoisie. Elegisches<br />
Klavierspiel ertönt,<br />
schmiedeeiserne Tore öffnen<br />
sich zum ländlichen Anwesen, das Sonnenlicht<br />
fällt in die Müslischalen einer französischen<br />
Idealfamilie, in der nur die Mutter etwas<br />
nervt, weil sie über die Sexualität ihrer Mitglieder<br />
reden möchte. Da stößt sie zwar auf Granit,<br />
der Zuschauer aber darf hinein ins pralle Leben,<br />
denn die Kamera weiht uns sehr bald ein, was es<br />
so an sexuellen Geheimnissen zu enthüllen gibt:<br />
Der jüngste wartet auf sein erstes Mal (das dann,<br />
ausführlich zelebriert, zum Höhepunkt des<br />
Films wird), die Adoptivtochter hat einen dauererregten<br />
Traummann gefunden, der ältere<br />
40<br />
Sohn steht auf Sex mit Paaren (und erkennt<br />
dann, dass er auf die Frauen darin auch verzichten<br />
könnte), der Schwiegervater geht zu einer<br />
Prostituierten. Sobald alles gestanden wird, öffnet<br />
sich die Familie schnell und alle dürfen zusammen<br />
aufs Familienfoto. Nichts ist wirklich<br />
ein Problem – nicht die jugendliche Scham,<br />
nicht das Für-Sex-bezahlt-Werden, nicht das<br />
homosexuelle Begehren, nicht der Sex im Alter,<br />
schon gar nicht der rücksichtsvoll verhütete Sex<br />
mit der Ehefrau, die keine Spirale verträgt. Eigenartig<br />
ist das schon, wie dieser Film hier von<br />
der unendlichen Flexibilität der Mittelstandsfamilie<br />
schwärmt. Bemerkenswert schön sind die<br />
Hardcore-Szenen gefilmt, in dem die Erregung<br />
sichtbar ist, aber nicht den Fokus für sich beansprucht.<br />
Das Kino von Jean-Marc Barr ist wie<br />
stets explizit bisexuell, an Männern und Frauen<br />
interessiert, die ihre Rollen nicht verlassen müssen.<br />
Die Erregung ist selbstgenügsam, es ist<br />
okay, wenn dabei die Kamera eingeschaltet<br />
wird. Triumph bürgerlicher Hygiene. jk<br />
DIE LIEBENDEN – VON DER LAST,<br />
GLÜCKLICH ZU SEIN<br />
FR 2011, Regie: christoph Honoré, Senator/Universum<br />
„Nach außen hin ist es die<br />
Geschichte einer Mutter<br />
und ihrer Tochter, deux<br />
filles légères, die sich ihre<br />
Freiheit nehmen, nur um<br />
sie dann selbst wieder<br />
aufzugeben. Aber das ist<br />
nur der rote Faden, der<br />
hier an einem Paar roter<br />
Schuhe hängt.“ (Siehe Seite 34)<br />
SUGAR ORANGE<br />
De 2004, Regie: Andreas Struck, Pro-Fun Media<br />
Leo, „Sugar“, und Clemens,<br />
„Orange“, sind 11<br />
Jahre alt und beste Freunde,<br />
bis ein Unfall ihre Zugehörigkeit<br />
auf die Probe<br />
stellt und Clemens zum<br />
Feigling wird. Sechzehn<br />
Jahre später verliebt Leo<br />
sich irgendwie in Lena<br />
und Clemens ist mit Leos Bruder zusammen.<br />
Geklärt ist nichts. Wird es aber. Die größte<br />
Qualität, die Andreas Struck in seinem mehrfach<br />
ausgezeichneten zweiten Film an den Tag<br />
legt, ist die, seine Figuren einfach beobachten<br />
zu können, ohne sie permanent mit Botschaften<br />
aufladen zu müssen. So kommen sie und der Zuschauer<br />
viel näher an den Kern der Dinge heran,<br />
nach dem sie alle auf der Suche sind. Von der<br />
Farbe über den Ton bis zur Kamera wirkt an<br />
Sugar Orange, trotz der gelegentlichen Schwere<br />
des Buches, vieles leicht, nicht notwendigerweise<br />
vergnüglich, aber einfach. Herzen sind<br />
zart und können kaputtgehen, Freundschaft ist<br />
auch nur Liebe, und wer einmal lügt … Struck<br />
hat einen sehr deutschen Film gedreht, der die<br />
Qualitäten des heimischen Kinos bündelt, ohne<br />
seine Beschränktheiten mitzubringen. Wunderbar.<br />
ps<br />
DICKE MÄDCHEN<br />
De 2011, Regie: Axel Ranisch, MissingFilms<br />
„Eine demente Oma namens<br />
Edeltraut, die mit<br />
ihrem wirklich dicken<br />
Sohn im selben Bett<br />
schläft, unter Strukturtapete,<br />
Leuchter und gesteppten<br />
Bettüberwürfen<br />
– dieses eigenartige Bild<br />
eröffnet eine der unwahrscheinlichsten<br />
Liebesgeschichten, die das Kino<br />
seit langem gesehen hat. Eine Liebesgeschichte,<br />
die (und diese Formulierung wiederholt sich)<br />
vorbei an klassischen Förder- und TV-Gremien<br />
entstanden ist, in wenigen Monaten, mit geringstem<br />
Budget: Sohn Sven mag Hausfreund<br />
und Pflegekraft Daniel. Daniel mag Sven. (…)<br />
Eine unerhörte Komplizenschaft überträgt sich<br />
auf den Zuschauer. Dabei sind diese Körper<br />
doch so anders als alles, was man – zuvörderst<br />
im schwulen Kino – sonst auf der Leinwand zu<br />
sehen bekommt. Das Gefühl von ‚Anderssein‘<br />
komplett verschwinden zu lassen – das ist vielleicht<br />
das Eigentümlichste und Beste, was<br />
queeres Kino schaffen kann.“ (Jan Krüger in<br />
SISSY 15)<br />
MÄNNER ZUM KNUTSCHEN<br />
De 2011, Regie: Robert Hasfogel, Pro-Fun Media<br />
Der eher zurückhaltend<br />
und ein wenig ernst wirkende,<br />
aber durchaus<br />
knuddelige Bankangestellte<br />
Ernst Knuddelmann<br />
− für sprechende<br />
Rollennamen und originelle<br />
Filmtitel haben die<br />
Filmemacher zweifellos<br />
ein Händchen − kommt aus der Provinz in die<br />
pulsierende Metropole Berlin und lernt dort<br />
Tobias kennen und lieben. An der Seite des −<br />
wie sagt man hier doch gleich immer? − ‚schrillen<br />
Paradiesvogels‘ und dessen − dieses Attribut<br />
darf an dieser Stelle nicht fehlen − ‚quirliger‘<br />
Entourage, die aus bestem Freund Leo, bester<br />
Freundin Steffi sowie deren Lover Kurt besteht,<br />
lernt Ernst nun das bunte Leben kennen<br />
und absolviert vor allem − aufregend, aber auch<br />
anstrengend − einen Schnellkurs im Fach<br />
schwule Partykultur. Bis plötzlich seine Jugendfreundin<br />
Uta auf der Bildfläche erscheint.<br />
Die gerade aus den USA remigrierte Ex-Botschaftsangestellte,<br />
deren Charakter an Lord<br />
Voldemort erinnert und deren Garderobe zu<br />
gleichen Teilen von Matrix Reloaded und einem<br />
Fünfziger-Jahre-Tanztee inspiriert zu sein<br />
scheint, setzt nämlich alles daran, das liebende<br />
Paar auseinander zu bringen und sich in Ernsts<br />
Wohnung festzusetzen. Wird ihr finsterer Plan<br />
am Ende aufgehen? Natürlich nicht, denn wir<br />
befinden uns ja in einer sogenannten ‚turbulenten<br />
Komödie‘, in der es zuweilen arg lustig zugeht<br />
und die unermüdlich „Ja, dit is Berlin!“<br />
auszurufen scheint: Dufte Stimmung, schräge<br />
Typen, Transen, Drinks, Joints und skurrile<br />
Taxifahrer, alles ist dabei. Weil Darsteller und<br />
Crew beim Dreh offenbar einen Mordsspaß<br />
hatten und auswärtigen Spaßbremsen die Feinheiten<br />
des Hauptstadthumors mitunter nicht<br />
wirklich zugänglich sind, sollen dies der Worte<br />
genug sein. cm<br />
CHI L’HA VISTO – WO BIST DU?<br />
De 2009, Regie: claudia Rorarius, indigo<br />
Gianni Meurer − ein halb<br />
italienischer und halb<br />
deutscher Name, an dem<br />
sich das Spielfilmdebüt<br />
von Claudia Rorarius wesentlich<br />
ausrichtet, und<br />
zwar in mehrfacher Hinsicht.<br />
Zum einen nämlich<br />
ist dies der Name des bislang<br />
nur aus Musical-Inszenierungen bekannten<br />
Hauptdarstellers, der in diesem Film eine<br />
immerhin so beachtliche Leistung zeigt, dass er<br />
demnächst neben Moritz Bleibtreu für Oliver<br />
Hirschbiegels neueste Produktion vor der Kamera<br />
stehen wird. Zum anderen heißt so aber<br />
auch der fiktive Protagonist des Films, dessen<br />
Biographie allerdings mit der seines Darstellers<br />
einige Überschneidungen aufweist. Nämlich<br />
die, dass beide bei ihrer Mutter in Deutschland<br />
aufwuchsen und ihren italienischen Vater zum<br />
letzen Mal vor 25 Jahren für eine kurze Stunde<br />
sahen. Um ihn zu suchen macht sich Gianni<br />
Meurer alias Gianni Meurer kurz nach seinem<br />
ein Film von ALEXANDRA THERESE KEINING<br />
„KÜSS MICH hat alles, was ein Film braucht,<br />
um eine aufregende Liebesgeschichte zu erzählen!“<br />
P H E N O M E N E L L E.DE<br />
„Leidenschaftlich, sinnlich und sexy.<br />
Und so witzig und dramatisch, um Euer<br />
neuer Lieblingsfilm zu werden!“<br />
A F T E R E L L E N.C O M<br />
31. Geburtstag mit dem Auto von Berlin nach<br />
Italien auf. Im Verlauf seiner kleinen Odyssee<br />
lernt er flüchtig einige Menschen kennen, denen<br />
er die wenigen Zeugnisse seines verschollenen<br />
Vaters − ein angejahrtes Foto des damals<br />
23-Jährigen sowie wenige vergilbte Briefe −<br />
zeigt und macht auch Bekanntschaft mit dem<br />
jungen Deutschen Paul, der sich ihm eine zeitlang<br />
anschließt. Ob Gianni diesen Paul einfach<br />
nur nett findet oder ob er mehr für ihn empfindet,<br />
bleibt unklar − wie vieles an seinem Verhalten.<br />
Was sucht Gianni eigentlich genau in Italien?<br />
Seine Wurzeln, seine wahre Identität?<br />
Warum bleibt seine Suche so eigentümlich unsystematisch<br />
und unentschlossen? Will er seinen<br />
Vater überhaupt finden? Die letzte Möglichkeit<br />
dazu scheint auf jedem Fall seine<br />
Teilnahme an der TV-Sendung Chi L’Ha Visto<br />
(Wer hat ihn gesehen?) darzustellen, er muss<br />
nur rechtzeitig im römischen Fernsehstudio<br />
eintreffen. Rorarius’ im dokumentarischen Wackelkamera-Stil<br />
inszeniertes Roadmovie überzeugt<br />
vor allem durch das realitätsnahe Spiel<br />
seiner Darsteller, aber auch ästhetisch, sodass<br />
man ihm, bezieht man die Frage seines Titels<br />
einmal auf ihn selbst, nur die folgende Antwort<br />
wünschen kann: möglichst viele. cm<br />
FREUNDE FÜR IMMER<br />
DK 1986, Regie: Stefan Henszelman, edition Salzgeber<br />
„Zu Beginn des Films<br />
Freunde für immer kommt<br />
ein junger Mann neu an<br />
eine Schule. Zur Begrüßung<br />
fliegt ihm auf dem<br />
Pausenhof ein gelber Tennisball<br />
an den Kopf. Ein<br />
properer Blondschopf hat<br />
ihn geworfen, der lacht,<br />
nicht unfreundlich. Der Neue verzieht keine<br />
Miene. Sein Name: Kristian, Ort der Handlung:<br />
Dänemark, genauer Kopenhagen, Zeit: 1987. Als<br />
Kristian versucht, sich an der neuen Schule zurechtzufinden,<br />
gerät er in einen Zwiespalt. Da<br />
ist zum einen die Clique um den Schulhofrabauken<br />
Patrick, zum anderen der Einzelgänger<br />
Henrik mit Pferdeschwanzfrisur, der sich in<br />
Tai Chi übt und den die Klassenkameraden als<br />
Schwuchtel verspotten. Zwar fühlt sich Kristian<br />
zunächst zu Henrik hingezogen, hat aber<br />
Angst, er könne durch sein Faible für den gemobbten<br />
Mitschüler selbst zum Außenseiter<br />
werden. Also schließt er sich immer stärker Patrick<br />
und seinen Kumpeln an. Deren Gespräche<br />
drehen sich hauptsächlich um Mädchen beziehungsweise<br />
den Sex, den die Jungs in aller Regel<br />
noch nicht hatten, was sie aber nie zugeben<br />
würden.<br />
Ein schöner Effekt des Films ist, dass sich letztlich<br />
nicht der zu allem Überfluss auch noch als<br />
Fotomodell jobbende Henrik als schwul herausstellt,<br />
sondern der kerlige Patrick. Er ist es, der<br />
in Stefan Henszelmans Film Kristians Freund<br />
für immer wird, und die beiden jungen Männer<br />
entdecken zur selben Zeit die Liebe – der eine<br />
hetero-, der andere homosexuell.“ (Dino Heicker<br />
in SISSY 14)<br />
TIEFER ATEM<br />
FR 2001, Regie: Damien odoul, edition Salzgeber<br />
Diese eigenartig schroff in<br />
der Filmgeschichte herumstehende<br />
Pubertäts-<br />
Fantasie aus dem Jahr<br />
2001 geht formal ganz auf<br />
im Schwebezustand ihres<br />
15-jährigen Helden und<br />
seiner rohen, zärtlichen,<br />
egozentrischen Wahrnehmung<br />
der Welt. Was seine Hormone mit ihm<br />
veranstalten, macht der Film mit den Männern<br />
und der Natur, die Regisseur Damien Odoul im<br />
ländlichen Limousin vorgefunden hat: Alles<br />
wird in ein eigenwilliges poetisches Fieber ver-<br />
JETZT AUF DVD
frisch ausgepackt frisch ausgepackt<br />
setzt. „Sexuelle Fantasien. Es ist heiß. Dann<br />
geht ein Gewitter nieder. Doch geht tatsächlich<br />
ein Gewitter nieder? Oder sind der heftige Regen<br />
und das Herumwälzen im Schlamm delirante<br />
Fantasien, dem Wein und dem Schnaps<br />
geschuldet? Der ungewohnte Alkohol und die<br />
verrückt spielenden Hormone des Pubertierenden<br />
gehen eine unheilige Allianz ein, Wirklichkeit<br />
und Rauschtraum fließen nahtlos ineinander.<br />
Komplizenhaft unterstützt von Pascale<br />
Granels Kinematografie, die das Natürliche des<br />
ländlichen Handlungsraums mit dem Artifiziellen<br />
scharfer Kontraste austreibt.“ (Alexandra<br />
Seitz in SISSY 15)<br />
KÜSS MICH<br />
Se 2011, Regie: Alexandra therese Keining, edition<br />
Salzgeber<br />
„Im Brautkleid ihrer<br />
Mutter, das sie unbedingt<br />
zur Hochzeit tragen wollte,<br />
obwohl es Tim nicht<br />
gefällt, steht Mia unschlüssig<br />
vor dem Spiegel.<br />
Es ist, als würde das biedere,<br />
hochgeschlossene<br />
Kleid ihr die Luft zum<br />
Atmen nehmen, sie reißt es sich vom Leibe.“<br />
(Siehe Seite 12)<br />
ATOMIC AGE<br />
FR 2011, Regie: Héléna Klotz, Pro-Fun Media<br />
Zwei Jungs fahren nach<br />
Paris, gehen in einen Club<br />
und verlaufen sich im<br />
Wald. „Atomic Age ist ein<br />
eigenwilliger Film, intim<br />
und großspurig, formlos<br />
und konsequent zugleich.<br />
Er nimmt seine Protagonisten<br />
ernst und ist entschieden<br />
in sie verliebt, enthebt sie aber gleichzeitig<br />
einer scharf konturierten Welt. Die<br />
poetische Nachtstimmung, die mitatmende Kamera<br />
und der knisternde Soundtrack liegen wie<br />
ein melancholischer Hauch über der kleinen<br />
Geschichte, in der es eigentlich um Jugendliche<br />
geht, bei denen noch gar nichts passiert ist. Die<br />
bewusstseinsverändernde Filmsprache erinnert<br />
an Werner Schroeter, der ja zuletzt auch<br />
nur noch entrückte Nächte verfilmt hat. Gleichzeitig<br />
will dieser Film mehr, er will ein Statement<br />
sein gegen die Logik hübsch aufgelöster<br />
Coming-of-Age-Geschichten, mag seine Jugendlichen<br />
nicht ambitionslos, angepasst, unpolitisch<br />
oder rebellisch finden, sondern spielt<br />
die Flucht in die Hipster-Unverbindlichkeiten<br />
(kein Produkt sein, kein Labelträger, kein User)<br />
als traurige Rettungsmaßnahme vor der drohenden<br />
Bewegungslosigkeit zurück. Die Poesie<br />
des Films ist mitfühlend: Sie ist als Freiraum<br />
für Sprache, Identitäten und Körper gedacht.<br />
Und wenn das auch nur heißen sollte, dass sie<br />
sich für einen kurzen Moment verlaufen dürfen.“<br />
(Jan Künemund in SISSY 14)<br />
LET MY PEOPLE GO<br />
FR 2011, Regie: Mikael Buch, Pro-Fun Media<br />
Allen, Almodóvar und Anderson.<br />
„Die bloße Aufzählung<br />
der künstlerischen<br />
Paten lässt beinahe<br />
schon erahnen, worum es<br />
in der Komödie geht: nämlich<br />
um eine ebenso skurrile<br />
wie verkorkste jüdische<br />
Familie in Paris und<br />
vor allem um deren ebenso tollpatschigen wie<br />
hoch nervösen homosexuellen Spross Ruben,<br />
der − und darin besteht der von der Kritik auch<br />
bereits festgestellte Kaurismäki-Einfluss − gerade<br />
von seinem finnischen Freund verlassen<br />
wurde und zuweilen genauso melancholisch<br />
dreinblickt wie Jean-Pierre Léaud. Almódovar<br />
bildet auch insofern eine gute Vergleichsfigur,<br />
als es sich bei ihm ebenfalls um einen sehr eklektizistischen<br />
Regisseur handelt, der seine Filme<br />
mit deutlichen Zitaten und subtilen Anspielungen<br />
auf die Kinogeschichte geradezu<br />
vollstopft. Im Unterschied zu Buch arrangiert<br />
er sie aber so gekonnt, dass sich dabei zahlreiche<br />
neue Sinnzusammenhänge ergeben. Zudem<br />
fügen sie sich nahtlos in einen ganz eigenen<br />
Stil ein, der mittlerweile nahezu<br />
un verwechselbar geworden ist.“ (Christoph<br />
Mey ring in SISSY 15)<br />
LEAVE IT ON THE FLOOR<br />
US 2011, Regie: Sheldon Larry, edition Salzgeber<br />
„Bradley (Ephraim Sykes,<br />
wie fast alle Darsteller<br />
eine filmische Neuentdeckung)<br />
wird zu Hause<br />
rausgeschmissen, als seine<br />
Mutter erfährt, dass er<br />
schwul ist. Er lernt den<br />
nicht weniger attraktiven<br />
Carter kennen, bevor er<br />
über Umwege in das House of Eminence und<br />
dadurch in die Ballroom-Szene von Los Angeles<br />
gerät. Zur Erklärung: Häuser sind clanähnliche<br />
Ersatzfamilien, die von Müttern ‚geleitet‘<br />
werden und deren Mitglieder in den<br />
verschiedenen Kategorien der Bälle gegeneinander<br />
antreten. Judith Butler hat die Neuformulierung<br />
der heterosexuellen Verwandtschaftsverhältnisse<br />
beschrieben, die durch<br />
die Strukturen der Häuser stattfinden. Leave<br />
It On The Floor spielt hauptsächlich in einem<br />
dieser Häuser und spinnt zudem den Gedanken<br />
der ökonomisch bedingten schwulen<br />
Patchwork-Familie in der Figur der ‚schwangeren‘<br />
Eppie Durall augenzwinkernd fort. Die<br />
Namen der Darsteller wie Barbie-Q oder Roxy<br />
Wood in den Rollen der Queef Latina oder<br />
Glam-House-Mother bezeugen dann auch das<br />
Anliegen der Macher, Mitglieder der echten<br />
Szene(n) in ihren Film mit einzubeziehen und<br />
Leave It On The Floor damit wiederum eine<br />
Form von Realness zu geben, die dem durch<br />
und durch künstlichen Film Glaubwürdigkeit<br />
verleiht. In den zahlreichen Musicaleinlagen<br />
werden strukturelle und persönliche (Beziehungs-)Probleme<br />
(schwarzer) US-Amerikaner<br />
besungen, es wird viel getanzt, es werden<br />
Sehnsüchte formuliert und Battles ausgetragen.<br />
(…) Bis hin zu den Fingernägeln von Bradleys<br />
Mutter lassen sich in Leave It On The<br />
Floor immer wieder Verweise auf die in Paris<br />
Is Burning beschriebene reale Ballroom-Welt<br />
finden. Damit betreibt der Film auf eine sehr<br />
eigenwillige Art Erinnerungskultur in Form<br />
von Entertainment. Das kann man schwierig<br />
finden, man kann sich aber auch einfach nur<br />
unterhalten lassen; von der Videoclip-Ästhetik,<br />
den Kostümen, den Lieder, der Spiel- und<br />
Tanzfreude der Darsteller, der Schönheit der<br />
Menschen und der Illusion.“ (Toby Ashraf in<br />
SISSY 15)<br />
THE LOVE PATIENT<br />
US 2011, Michael Simon, Pro-Fun Media<br />
Paul, der wie achtzig Prozent<br />
aller Protagonisten<br />
schwuler US-Komödien<br />
in der Werbebranche tätig<br />
ist, trauert immer noch<br />
seinem Ex-Freund, aber<br />
Noch-Kollegen Brad hinterher,<br />
der ihm vor einem<br />
Jahr aus gutem Grund<br />
den Laufpass gegeben hat. Alle angestrengten<br />
Versuche ihn zurückzugewinnen sind bislang<br />
kläglich gescheitert, ja Brad scheint mit dem<br />
bisexuellen Ted mittlerweile sogar einen neuen<br />
Lover gefunden zu haben. In dieser verzweifelten<br />
Lage kommt Paul eine überaus perfide<br />
Idee, die er in Komplizenschaft mit dem<br />
befreundeten Arzt Burd auch sogleich in die<br />
Tat umsetzt: Er behauptet, man habe bei ihm<br />
ein Lungenkarzinom diagnostiziert und ihm<br />
bleibe vielleicht nur noch kurze Zeit zu leben.<br />
Die dreiste Lüge zeitigt sofort durchschlagende<br />
Effekte − unbeabsichtigter wie auch wohl<br />
kalkulierter Natur. So zeigt sich auch Brad aufrichtig<br />
erschüttert und kommt seinen Ex wieder<br />
häufig besuchen. Michael Simons Filmlustspiel,<br />
das sich offensichtlich weniger an<br />
Molières „Der eingebildete Kranke“ als vielmehr<br />
an dem uralten Klotürspruch „Tumor ist,<br />
wenn man trotzdem lacht“ orientiert, ist leider<br />
kein Brüller. Und das liegt nicht so sehr daran,<br />
dass man sich über das ernste Thema Krebs<br />
nicht lustig machen darf − wie es zum Beispiel<br />
Woody Allen erfolgreich vorgemacht hat. Man<br />
kann es aber auf eine grundlegend falsche und<br />
äußerst alberne Art tun. Tröstlich, dass hier<br />
am Ende selbstverständlich niemand das Zeitliche<br />
segnen muss. cm<br />
FAMILIENTRÄUME<br />
MX 2011, Regie: Gustavo Loza, Pro-Fun Media<br />
Drei Tage lang bleibt der<br />
siebenjährige Hendrix unbeaufsichtigt<br />
und ohne<br />
jegliche Versorgung eingesperrt,<br />
bis ihn schließlich<br />
die beiden lesbischen<br />
Nachbarinnen Ivana und<br />
Gloria aus der verdreckten<br />
Wohnung seiner drogensüchtigen<br />
Mutter Nina befreien. Doch wohin<br />
jetzt mit dem Kleinen? Nachdem sie seine Mutter<br />
gegen ihren Willen in eine Entzugsklinik<br />
haben einweisen lassen, bringen die Frauen ihn<br />
in Ermangelung weiterer Alternativen vorerst<br />
bei einem befreundeten Schwulenpaar unter.<br />
Jean Paul und Chema haben in ihrem schönen<br />
Haus zwar genügend Platz für den Gast, doch<br />
mit Kindern können diese Hedonisten so gar<br />
nichts anfangen. Trotzdem entwickeln sie mit<br />
der Zeit eine tiefe Zuneigung zu Hendrix. Diese<br />
wird auf eine harte Probe gestellt, als Nina aus<br />
der Klinik entkommt und ihren Sohn vehement<br />
zurückfordert. Der Kampf um das Kind eskaliert<br />
und nimmt immer brutalere Züge an.<br />
Schonungslos, gänzlich unsentimental und<br />
sehr realistisch ist der Blick, den Regisseur<br />
Gustavo Loza auf den gegenwärtigen sozialen<br />
und moralischen Zustand der mexikanischen<br />
Gesellschaft wirft. Dennoch lässt er auch die<br />
intoleranten, homophoben und gestrauchelten<br />
Charaktere nicht zu hässlichen Fratzen verkommen,<br />
sondern zeigt sie als brüchige Figuren,<br />
indem er ihnen auch ehrliche, positive Gefühle<br />
zubilligt. Seine Art, mehrere Geschichten<br />
parallel zueinander zu erzählen und schließlich<br />
miteinander zu verweben, erinnert zuweilen an<br />
seinen berühmten Landsmann Alejandro González<br />
Iñárritu. Ein sehenswerter Film. cm<br />
42 43<br />
ECUPID<br />
US 2011, Regie: J. c. calciano, Pro-Fun Media<br />
Da schwule Männer zumindest<br />
noch insofern<br />
eine Avantgarde darstellen,<br />
als sie ihre Midlife-<br />
Crisis zehn Jahre früher<br />
erleben als der Rest der<br />
Menschheit, stellt sich<br />
auch der Werbefachmann<br />
Marshall pünktlich zu seinem<br />
dreißigsten Geburtstag die unausweichliche<br />
Frage: Führe ich wirklich ein erfülltes, aufregendes<br />
und glückliches Leben? Dabei kann er<br />
eigentlich froh sein: guter Job, nette Behausung<br />
und seit sieben Jahren eine feste Beziehung mit<br />
dem ebenso hübschen wie treuherzigen Gabe.<br />
Doch, zugegeben, das Bild, das die beiden in ih-<br />
rer Freizeit abgeben, sollten sie lieber nicht auf<br />
ihrer Facebook-Seite posten und ein Video ihrer<br />
momentanen Schlafzimmeraktivitäten würde<br />
man sich allenfalls als Einschlafhilfe bei<br />
Youporn herunterladen. Darum zögert Marshall<br />
nicht lange, als die vielversprechende App<br />
eCupid auf seinem Monitor darum bittet, gedownloadet<br />
zu werden. Kaum hat sie sich installiert,<br />
beginnt sie ein unheimlich intelligentes<br />
und unheimlich empathisches Eigenleben zu<br />
führen. Mit anderen Worten: Sie scheint Marshalls<br />
intimste Erotikphantasien zu erahnen<br />
und schafft zielsicher Gelegenheiten, diese<br />
endlich in die Tat umzusetzen. J. C. Calcianos<br />
Komödie fehlt leider auch etwas, nämlich eine<br />
gehörige Portion Biss und Scharfsinn, die nötig<br />
wäre, um die Absonderlichkeiten des Internet-<br />
Dating und die aus dem Netz sprudelnde erotische<br />
Reizüberflutung auf witzige Weise aufs<br />
Korn zu nehmen. Ein Highlight stellt aber<br />
zweifelsohne der Gastauftritt einer bewundernswert<br />
faltenfreien und fast schon computergeneriert<br />
anmutenden Morgan Fairchild dar,<br />
die als alterslose Raststättenkellnerin altersweise<br />
Kritik an der Realitätsferne des Internet-<br />
Zeitalters formulieren darf. TV-Junkies jenseits<br />
der Midlife-Crisis werden sich an sie<br />
erinnern: Teile ihres aktuellen Körpers wirkten<br />
bereits in den 1980ern in Dallas, Flamingo Road,<br />
Falcon Crest und Karussell der Puppen und damit<br />
an der gesunden Sozialisation der letzten<br />
analogen Generation mit. cm<br />
OFF SHORE<br />
De 2011, Regie: Sven J. Matten, Pro-Fun Media<br />
„Dünen, Wellen, Strand<br />
und Surfer. Ein Schiff<br />
bringt Andi nach Fuerteventura.<br />
Tina, die Surf-<br />
Lehrerin, holt Andi ab.<br />
Andi vertraut ihr direkt<br />
seine Geschichte an: Sein<br />
Vater, den er nie kennen<br />
gelernt hat, war Surfer<br />
und lebt irgendwo auf der Insel. Um ihm nahe<br />
zu kommen, hat sich Andi in einen Surfkurs<br />
eingebucht. Direkt nach seiner Ankunft macht<br />
sich Andi schließlich auf, um seinen Vater zu<br />
suchen und findet ihn auch sofort. Doch bis er<br />
es schafft, ihn anzusprechen, nimmt er erst einmal<br />
Surfstunden bei Tina, die offenbar bereits<br />
Gefühle für ihn hegt. Am Strand begegnet Andi<br />
einem jungen athletischen Surfer, Pedro, dessen<br />
Ausstrahlung ihn magisch anzieht. Dünen,<br />
Wellen, Strand und Surfer. Andi wird seinen<br />
Vater noch einmal aufsuchen, sich vor ihn stellen<br />
und sagen: ‚Hallo Vater!‘ Und der Vater wird<br />
ihn sofort freundlich aufnehmen, was Andi verwirrt.<br />
Schließlich lässt sich Andi auf die Begegnung<br />
mit dem Vater und auch auf Tina ein, immer<br />
wieder durcheinandergebracht von der<br />
Begegnung mit dem jungen geheimnisvollen<br />
Pedro, der ihn bei einer flüchtigen Begegnung<br />
liebevoll berührt und seine nassen Locken in<br />
der Abendsonne schüttelt. Dünen, Wellen,<br />
Strand und Surfer.“ (Nicky Naish in SISSY 14)<br />
SPEECHLESS<br />
cH 2012, Regie: Simon chung, Pro-Fun Media<br />
Simon Chungs Hauptthema<br />
ist der Clash von Privatsphäre<br />
und Öffentlichkeit.<br />
Die bilden in Chungs<br />
Heimatland China die<br />
Pole, zwischen denen sich<br />
Personen darstellen und<br />
an denen der Charakter<br />
eines Menschen definiert<br />
wird. In all seinen Filmen erzählt Chung vom<br />
Zusammenbruch der Balance von Privatheit<br />
und öffentlichem Leben, der immer von queerer<br />
Sexualität herbeigeführt wird. In noch keinem<br />
seiner Werke ist ihm das so gut gelungen<br />
wie in Speechless. Der Thriller, der auch ein<br />
erotisches Liebesdreieck erzählt, das auch eine<br />
Studie über Vergeltung ist, ist sein formell konventionellster<br />
Film, hat aber ein so starkes<br />
Buch und so großartige Schauspieler, dass man<br />
sich kaum satt sehen kann. Europäisches und<br />
chinesische Moralverständnis treffen aufeinander<br />
und lösen einen Gefühlstsunami aus, der<br />
alle Teilnehmer unter sich begräbt. Beherrscht,<br />
stilvoll, in tollen Bildern erzählt. Gutes<br />
asiatisches Kino. ps<br />
MIXED KEBAB<br />
Be/tR 2012, Regie: Guy Lee thys, Pro-Fun Media<br />
„Ein schwuler Türke in<br />
Antwerpen soll eine raffgierige<br />
Cousine in der<br />
Türkei heiraten, möchte<br />
aber eigentlich mit seiner<br />
neuen Flamme Kevin zusammen<br />
sein. Spätestens<br />
jetzt wächst ihm seine<br />
Mehrfachdiskriminierung<br />
über den hübschen Kopf. Ja, so sieht es<br />
aus, das Multikulti-ist-vorbei-Belgien des Regisseurs<br />
Guy Lee Thys, der aus dieser Konstellation<br />
und ganz viel Drehbuchirrsinn eine<br />
heikle Komödie strickt. (…) Was man diesem<br />
hundsgemeinen Film zugestehen muss: Er<br />
knallt in alle Richtungen. Die Türken darin<br />
sind Heuchler, kriminell, bigott, fanatisch,<br />
frauenfeindlich, homophob, raffgierig, außerdem<br />
haben sie was gegen die Polizei. Die wiederum<br />
ist rassistisch und/oder lesbisch. Lesben<br />
machen dagegen entweder unsittliche<br />
Angebote an Raubopfer, heizen mit heißen<br />
Spielern einen Dealer an oder führen mit ihrem<br />
öffentlich zur Schau gestellten Lesbischsein<br />
den belgischen Kleinbürgern vor, dass es mit<br />
ihrem Heimatland den Bach herunter geht. Für<br />
die wiederum sehen Türken natürlich alle<br />
gleich aus, auch wenn sie keine kennen. Bleiben
frisch ausgepackt<br />
die Schwulen: die sind entweder fett, haarig<br />
und haben ihr Stylingziel ‚Gautier-Matrose‘<br />
deutlich verfehlt, oder sie brauchen unendlich<br />
lange, um mal miteinander ins Bett zu gehen.<br />
Die belgischen Nicht-Kleinbürger, also die, die<br />
z.B. hippe Bars besuchen, koksen übrigens oder<br />
dealen gleich. Was soll man damit anfangen?<br />
Man schaut zu, wie ein Regisseur mit all diesen<br />
Gemeinheiten jongliert. Angestrebte Reaktion,<br />
wenn es klappt: Applaus. Also: Applaus!“ (Richard<br />
Garay in SISSY 15)<br />
THE WOLVES OF KROMER<br />
GB 1998, Regie: Will Gould, edition Salzgeber<br />
Lange bevor Taylor Lautner<br />
in der Twilight-Trilogie<br />
als oberkörperfreier<br />
Mini-Werwolf 10-jährige<br />
Mädchen und geschmacklose<br />
Homosexuelle jeden<br />
Alters um den Verstand<br />
brachte, lebten in einem<br />
dunklen, zutiefst englischen<br />
Filmwald Seth und Gabriel. Man schrieb<br />
das Jahr 1998 und es reichte noch, hübschen,<br />
langhaarigen Jungs Pelzmäntel anzuziehen und<br />
sie traurig in die Ferne starren zu lassen, während<br />
sie an ihren langen Fingernägeln kauten,<br />
um so etwas wie ironische Tiefsinnigkeit herzustellen.<br />
Regisseur Will Gould konnte sich darauf<br />
verlassen, dass die Weltabgeschiedenheit seiner<br />
Charaktere und die liebreizende Erzählerstimme<br />
von Boy George das Publikum direkt dorthin<br />
geleiten würden, wo es hinsollte: ins Unterholz<br />
der Geschlechter. Dort werden Seth und Gabriel<br />
erst von zwei alten Schrullen (die englischen<br />
Comedy-Legenden Rita Davies und Margaret<br />
Towner) angeschwärzt und dann von einem<br />
ganzen Dorf gejagt, während die Jungwölfe versuchen,<br />
ihre Liebe und sich selbst zu retten. Die<br />
„Gay Times“ befand seinerzeit: „Atmosphärisch.<br />
Sexy. Merkwürdig.“ 2012 sagt man „Anti-<br />
Twilight“. Sehr schön, immer noch. ps<br />
UNTER MÄNNERN –<br />
SCHWUL IN DER DDR<br />
De 2012, Regie: Markus Stein & Ringo Rösener,<br />
edition Salzgeber<br />
Der junge Filmemacher<br />
Ringo Rösener macht sich<br />
auf die Suche nach seinen<br />
Vorvätern: Schwulen in<br />
der DDR. Er findet sie und<br />
mit ihnen auch ein Stück<br />
von sich selbst. „Rösener<br />
und Stein lassen ihre völlig<br />
unterschiedlichen Protagonisten<br />
(vom punkig schillernden Star-Frisör<br />
bis zum verbitterten 80-Jährigen ist alles dabei)<br />
ihre eigenen Geschichten erzählen und so verdeutlichen:<br />
‚das schwule Leben‘ in der DDR gab<br />
es gar nicht. Es gab eine Menge Einzelschicksa-<br />
le, die ihre Gemeinsamkeit nur daraus bezogen,<br />
anders als der Durchschnitt zu sein und so mit<br />
dem System in Konflikt zu geraten. Wenn Coiffeur<br />
Frank Schäfer fröhlich davon berichtet,<br />
wie er von einem Stasioffizier ‚quasi vergewaltigt‘<br />
wurde, hat das mit der Biografie von Eduard<br />
Stapels, dem ‚Homopfarrer‘ des wilden Ostens,<br />
der einer der ersten war, der innerhalb der<br />
Kirche Schwulengruppen gründete, in der persönlichen<br />
Wahrnehmung des jeweils Erzählenden<br />
nichts zu tun. Beide stehen aber für eine<br />
ganze Reihe ähnlicher Schicksale.<br />
Die filmische Klammer die Rösener für seine<br />
Suche findet, Ausschnitte aus Coming Out von<br />
1989 mit seiner eigenen Perspektive des Spätgeborenen<br />
abzugleichen, funktioniert hinreichend,<br />
weil sie die Veränderung der letzten<br />
zwanzig Jahre gut illustriert, verdeutlicht aber<br />
auch, dass man den Film nicht einmal als Laser<br />
für die sechs Männer benutzen kann, die in Unter<br />
Männern beschrieben werden. Das Coming-<br />
Out des ostdeutschen Schwulen wird durch<br />
diesen Widerspruch in seiner Verschiedenheit<br />
hübsch illustriert.“ (Paul Schulz in SISSY 13)<br />
A BIGGER SPLASH<br />
UK 1973, Regie: Jack Hazan, edition Salzgeber<br />
„Wie eine Flaschenpost<br />
aus dem Niemandsland<br />
zwischen Swinging Sixties<br />
und Punk liest sich der<br />
Film heute. Menschen<br />
kommen und gehen und<br />
verändern sich, Wege<br />
kreuzen und verlieren<br />
sich. Etwas ist verloren<br />
gegangen, und alles ist noch da, weil der Film es<br />
aufgehoben hat.“ (Siehe Seite 32)<br />
DETLEF – 60 JAHRE SCHWUL<br />
De 2012, Regie: Stefan Westerwelle & Jan Rothstein,<br />
Pro-Fun Media<br />
Stefan Westerwelles und<br />
Jan Rothsteins Portrait<br />
von Detlef Stoffel, eines<br />
maßgeblichen Protagonisten<br />
der Bielefelder<br />
Schwulenbewegung der<br />
siebziger Jahre, verwebt<br />
Beobachtungen von Stoffels<br />
schwierigem Gegenwartsalltag<br />
mit einer archivarischen Erkundung<br />
von Bewegungsgeschichte. „Wovon sich<br />
Detlef, der Film, ein Bild zu machen sucht, ist<br />
ein Leben, dem man, gerade im Hinblick auf<br />
das Begehren, das es antreibt, ein Unrecht zufügen<br />
würde, wollte man es gerade biegen.<br />
Westerwelle und Rothstein tun ihr Möglichstes,<br />
genau das zu vermeiden, und finden dabei<br />
eine Form, die vermag, woran allzu viele Gesten<br />
des Biographischen scheitern: nicht dabei<br />
zu verharren, zu erzählen, wie einer wurde,<br />
was er ist, sondern Augen und Ohren zu haben<br />
und einen Ausdruck zu finden für die Lücke,<br />
die bleibt, wenn einer ‚Ich‘ sagt.“ (Sebastian<br />
Markt in SISSY 15)<br />
AUDRE LORDE –<br />
THE BERLIN YEARS 1984–1992<br />
De 2011, Regie: Dagmar Schultz, edition Salzgeber<br />
SHAME<br />
„Was Audre Lorde über<br />
individuelle Freiheit,<br />
Stärke und die Kraft zur<br />
gesellschaftlichen Veränderung<br />
zu sagen hat,<br />
wirkt auch heute noch<br />
wie ein Zaubertrank gegen<br />
Angst und Mutlosigkeit.“<br />
(Siehe Seite 30)<br />
UK 2011, Regie: Steve McQueen, Prokino/euroArts<br />
Shame, die Schande, ist<br />
das erklärte Konzept des<br />
Films. Aber der Schwanz<br />
von Brandon, dem Helden<br />
der Erzählung, ist sein visuelles<br />
Zentrum. Schon im<br />
ersten Bild, in dem die Falten<br />
der verrutschten Bettdecke<br />
ihn nachzeichnen.<br />
Später buchstäblich, bzw. bildlich. Eine Erregung,<br />
die über alles physisch Erträgliche hinausgeht,<br />
alles Soziale unmöglich macht. Die sich<br />
irgendwann löst, von Körpern, Geschlechtern.<br />
Sichtbar für uns, ab dem zweiten Bild, für die<br />
Schwester, die unangekündigt das Bad betritt,<br />
zuletzt für jedermann, der an der Glasfassade<br />
vorbeifährt, hinter der Brandon gerade eine<br />
Frau fickt. In seinen kühlen, beobachtenden<br />
Momenten erfasst Shame die Isolation dieser<br />
Erregung vom gesellschaftlichen Kodex, wo sie<br />
nicht hineinpasst, nicht tragbar ist, nicht integrierbar.<br />
Wo sie es nicht vermag, in Zoten, Aufreißertum<br />
und Doppelmoral aufzugehen (wie<br />
bei Brandons Chef). In seinen angestrengten<br />
Momenten markiert der Film moralisierend, wo<br />
die Sexsucht sich in Egozentrik versteift, nicht<br />
mehr (mit-)menschlich erscheint, Beziehungen<br />
zerstört oder von vorneherein unmöglich<br />
macht. In anschwellendem Streichergesang<br />
muss Shame die Erkenntnis des Protagonisten<br />
über seine eigene Asozialität festhalten, die<br />
Schande eben. Doch Brandon ist zwar ein Getriebener,<br />
aber kein Jäger. Er wird gejagt, aufgepickt,<br />
genommen, von Männern und Frauen.<br />
Immer wieder zieht sich die Kamera hinter Glas<br />
zurück und zeigt ihn eingesperrt, unfähig, seinen<br />
Käfig zu verlassen. Wenn seine Schwester<br />
den phallischen Eroberer-Song „New York,<br />
New York“ singt, fängt Brandon an zu weinen.<br />
Hier schließlich kann Shame berühren – als<br />
Einsamkeitsstudie, in der eine Erregung aus der<br />
Welt fällt. jk<br />
Brot und tomaten<br />
hanS Werner henze (1. Juli 1926 – 27. oKToBer 2012)<br />
Hans Werner Henze 1960<br />
„hast du schon Senso von Visconti gesehen? auch wenn die zensur jetzt alles, was wichtig war,<br />
weggeschnitten hat, erkennt man noch die handschrift eines mannes von geschmack, gewissen,<br />
kultur … daher und nicht nur aus diesen gründen muss man sich mit artischocken, pasta<br />
asciutta und wein zufrieden geben, selbst wenn man nur brot mit tomaten isst: immer noch<br />
besser als die rehrücken der bôches, bezahlt von Eisenhower, mit der sosse aus dem blut junger<br />
dummer deutscher, den lieben verstorbenen von morgen.<br />
komm! schreib! liebe grüsse hans“<br />
Henze an Ingeborg Bachmann, Ischia, Februar oder März 1955<br />
Filmmusiken von<br />
Hans Werner Henze:<br />
Muriel, ou le Temps d’un retour<br />
(Muriel oder Die Zeit der Wiederkehr)<br />
Regie: Alain Resnais, 1963<br />
Der junge Törless<br />
Regie: Volker Schlöndorff, 1966<br />
Ein unheimlicher Moment,<br />
Episode in Der Paukenspieler<br />
Regie: Volker Schlöndorff &<br />
Herbert Rimbach, 1967<br />
Die verlorene Ehre der Katharina Blum<br />
Regie: Volker Schlöndorff, 1975<br />
Abelard – Die Entmannung<br />
Regie: Franz Seitz, 1977<br />
Taugenichts<br />
Regie: Bernhard Sinkel, 1978<br />
Un amour de Swann<br />
(Eine Liebe von Swann)<br />
Regie: Volker Schlöndorff, 1984<br />
L’amour à mort<br />
(Liebe bis in den Tod)<br />
Regie: Alain Resnais, 1984<br />
Ninguém Duas Vezes<br />
Regie: Jorge Silva Melo, 1985<br />
Comrades<br />
(Rebellion der Rechtlosen)<br />
Regie: Bill Douglas, 1986<br />
Und: Schlussmusik zu The Exorcist<br />
Regie: William Friedkin, 1973<br />
44 45<br />
BUnDeSARcHiV, B 145 BiLD-F008277-0008 / UnteRBeRG, RoLF / cc-BY-SA<br />
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